Umwelt - Gesundheit, ein kostbares Gut - Bundesamt für Gesundheit BAG

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Umwelt - Gesundheit, ein kostbares Gut - Bundesamt für Gesundheit BAG
DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015
3/2015

umwelt
Natürliche Ressourcen in der Schweiz

Gesundheit, ein kostbares Gut
Dossier:   Natur, Gesundheit und Ästhetik > Problematische Heilmittelrückstände > Krank
		         durch Klimaerwärmung > Viel Grün für mehr Bewegung > Gesunde Städte planen
Weitere    Sicherer Umgang mit Ammoniak > Nachhaltige Waldentwicklung > Mehr Geld für
Themen:    die Landschaftsqualität > Umwelttrends in Europa
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umwelt 3/2015 > EDITORIAL

        Besser vorbeugen

                                 Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit
                                 von Krankheit. So sieht es zu Recht die
                                 Weltgesundheitsorganisation (WHO), wenn
                                  sie Gesundheit als «Zustand vollkomme­
                                 nen körperlichen, geistigen und sozialen
                                 ­Wohlbefindens» beschreibt. Für ihre
                                  Gesundheit sind Menschen auf eine
                   intakte Umwelt angewiesen, etwa auf sauberes Wasser,
                   gute Luft, wenig Lärm, unbelastete Lebensmittel oder
                   attraktive Naherholungsgebiete.
                     Die Qualität der Umwelt ist in der Schweiz generell
                   hoch – auch dank wirksamen Technologien, grif­­figen
                   Gesetzen und einer Bevölkerung, die der Natur Sorge
                   trägt. Unser Engagement ist aber mehr denn je gefordert,
                   insbesondere im Kampf gegen die Klimaerwärmung.
                   Unter zunehmender Hitze leiden besonders ältere und
                   geschwächte Personen. Die Europäische Umweltagentur
                   geht davon aus, dass in Europa jährlich Zehntausende
                   Menschen mehr sterben werden, wenn die Tempera­
                   turen ungebremst weiter steigen.
                     Auch wirtschaftlich und sozial hat der Klimawandel
                   schwerwiegende Folgen, wenn Millionen von Menschen
                   in den Ländern des Südens durch Dürren und andere
                   extreme Wetterereignisse ihre Existenzgrundlage ver­
                   lieren. Deshalb engagiert sich die Schweiz im In- und
                   Ausland für eine Reduktion der Treibhausgase.
                     Das vorliegende Magazin illustriert an zahlreichen
                   Beispielen den Zusammenhang zwischen Umwelt und
                   Gesundheit und macht deutlich, dass auch beim Um­
                   weltschutz die gleiche Devise gilt wie bei Krankheiten:
                   Vorbeugen ist besser als heilen.

                                                           Bundesrat Alain Berset,
                            Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern

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INHALT
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umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

EINSICHTEN AUS DER VERGANGENHEIT

                   Vom Sonnendoktor
                   zum Wahrheitsberg
                    Verqualmte Luft, durch Fäkalien verunreinigtes Wasser und mit Schlacke durchsetzte Böden
                    machen krank. Die Industrialisierung bot reiches Anschauungsmaterial für die Wechselwirkungen
                    zwischen belasteter Umwelt und gesundheitlicher Gefährdung. Argumente für den Schutz
                    von Gesundheit und Natur lieferten Wissenschaft und Medizin – und die Erfahrungen ästhetisch
                    sensibler Zeitgenossen. Text: Lucienne Rey

                    «Hie und da bekomme ich leichte, oberflächliche       an der Aare (BE) als Sohn eines Färbereibesitzers ge­
                    Übelkeiten, wenn ich (...) diese gänzlich Nackten     boren, sah er nach dem Eintritt in den elterlichen
                    langsam zwischen den Bäumen sich vorbei­bewegen       Betrieb seine Berufung zunehmend darin, kranke
                    sehe. Ihr Laufen macht es nicht besser. (...) Auch    Arbeiter zu beraten. Schliesslich gründete er 1854
                    alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen,       im ungarischen Veldes (heute Bled in Slowenien)
                    gefallen mir nicht.» Schamhafte Personen taten        eine Heilanstalt.
                    sich schwer mit den in den Naturheilanstalten            Arnold Rikli baute auf der Wassertherapie auf,
                    des frühen 20. Jahrhunderts propagierten Behand­      wie sie seit den 1830er-Jahren etwa vom heil­
                    lungsmethoden. Zumindest legt ein Eintrag aus         kundigen Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897)
                    dem Tagebuch des berühmtesten Tuberkulose­            praktiziert wurde. Rikli erweiterte aber den hydro­-
                    patienten der Literaturgeschichte diesen Schluss      therapeutischen Ansatz zu einer «atmosphä­rischen
                    nahe: Franz Kafka (1883–1924) hielt sich im Juli      Cur», indem er kalte Aufgüsse und Dampfbäder
                    1912 in der Kuranstalt Jungborn im Harz auf. Sie      mit Abhärtung, Training, einer vegetarischen Diät
                    war 1895 vom ehemaligen Buchhändler Adolf Just        und intensiven Sonnenbädern verband. Dank
                    (1859–1936) gegründet worden, der auf Lehm­           diesen «atmosphärischen Wechselreizen» sollten
                    behandlungen, Rohkost und viel Bewegung setzte,       die Patienten genesen. Die etablierte Medizin,
                                                                          die sich an den Theorien des autodidaktischen
                                                                          «Sonnendoktors» rieb, begann erst Ende der
    Die etablierte Medizin begann erst Ende der                           1860er-Jahre, Lungenkranke mit L­ iegekuren im
    1860er-Jahre, Lungenkranke mit Liegekuren                             sonnigen ­Höhenklima zu behandeln. Die soge­
                                                                          nannte L­ ebensreformbewegung dagegen wurde
    im sonnigen Höhenklima zu behandeln.                                  schon früh von Rikli inspiriert.
                                                                             Der Begriff der Lebensreform kam in der zweiten
                    um die Gesundheit seiner Gäste zu stärken. Die        Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und schloss die
                    gymnastischen Übungen hatten nackt zu erfolgen,       Erneuerung sämtlicher Bereiche der Lebensfüh­
                    denn auch Licht- und Luftbäder gehörten zum           rung ein. Genügsam, friedlich, frei von sozialen
                    Konzept des Hauses; dieser Kleiderordnung freilich    Zwängen und mit offenen Sinnen für das unge­
                    entzog sich Franz Kafka («Alles, bis auf mich, ohne   künstelt Schöne sollten die Menschen leben. «Die
                    Schwimmhosen»).                                       damalige Vision einer ‹gesunden Gesellschaft›
                                                                          war umfassend», erklärt Matthias Stremlow von
                    Schweizer Pionier der Naturheilkunde                  der Sektion Ländlicher Raum beim BAFU. «Dabei
                    Die Ehre des alternativmedizinischen Pioniers         wurden beispielsweise Vorstellungen einer iden­
                    gebührt allerdings nicht Adolf Just, sondern dem      titätsstiftenden heimatlichen Landschaft mit der
                    Schweizer Arnold Rikli (1823–1906). In Wangen         gesundheitsfördernden Bewegung in der Natur

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                 und der Freiheit verknüpft. Kurz: Es ging um ein         folgte im August 1855, und sie suchte auch Basel
                 rundum gutes Leben.»                                     und Genf heim. Typhus war ebenfalls gefürchtet und
                                                                          flammte in den grösseren Schweizer Städten bis zur
                 Zivilisation als Krankheit                               Wende ins 20. Jahrhundert immer wieder auf. Eine
                 Als Wegbereiter für die neue Wertschätzung der           schwere Typhusepidemie in den Jahren 1865 und
                 Natur gilt Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In         1866 veranlasste schliesslich die grösseren Schweizer
                 seinem 1761 erschienenen Werk «Julie ou la nouvelle      Städte, den Bau geschlossener Kanalisationssysteme
                 Héloïse» prangerte er die Zivilisation an, die «indus­   voranzutreiben.
                 trie humaine», die jedes Verlangen des kultivierten
                 Menschen («l’homme civilisé») erfülle, nur um ihn        Die Ambivalenz des Unsichtbaren
                 in einen «Abgrund neuer Bedürfnisse zu stürzen».         Dem Arzt und Mikrobiologen Robert Koch (1843–
                 Dagegen lobte der Dichter und Philosoph die stär­        1910) gelang es, im Jahr 1883 den Erreger der Cholera
                 kenden Kräfte der Natur: Im Gebirge falle das Atmen      zu isolieren und seine Verbreitung über verschmutz­
                 leichter, Erschütterungen des Gemüts fielen von          tes Wasser nachzuweisen. Ein Jahr zuvor hatte der
                 einem ab, und überhaupt erstaune es, dass «Bäder         Mediziner wissenschaftlichen Ruhm mit einer Arbeit
                 in der gesunden und wohltuenden Luft der Berge           über die Entstehung der Tuberkulose erlangt. Auch
                 nicht eines der grossen Heilmittel der Medizin und       diese «Volksseuche» grassierte vornehmlich in beeng­
                 Moral» seien.                                            ten städtischen Verhältnissen. Für die Schweiz spricht
                   Auch die Schulmedizin begann, vor den negativen        das Bundesamt für Statistik von einer bedrückenden
                 Seiten der zivilisatorischen Entwicklung zu warnen.      Bilanz und hält fest: «Um 1905 kommen in unse­
                 Klar, dass es Ärzte der Britischen Inseln waren, wo      rem Land auf 100 000 Menschen noch immer über­
                 die Industrialisierung ihren Anfang genommen             250 Tuberkulosetote.» In den grösseren Siedlungen
                 hatte, die mit Nachdruck auf ungesunde Zeiterschei­      lagen die Zahlen naturgemäss weit höher als der
                 nungen hinwiesen. Auf dem europäischen Festland          Landesdurchschnitt.
                 wurde der Ausdruck «Englische Krankheit» geläufig:         Das wachsende mikrobiologische und biochemi­
                 Der Volksmund bezeichnete damit die Rachitis, eine       sche Wissen half aber nicht nur, Krankheiten zu
                 Knochenerkrankung, die auf eine Unterversorgung          bekämpfen; auch gesundheitsstärkende Wirkungs­
                 mit Vitamin D zurückzuführen ist. Sie war bis zu Be­     zusammenhänge wurden enträtselt. So begann der
                 ginn des 20. Jahrhunderts in den grösseren Industrie­    polnische Forscher Casimir Funk (1884–1967) um
                 städten weit verbreitet. Schuld daran war der Smog,      1912 seine Forschungsarbeit über Ursachen der
                 der fatale Mix aus Nebel, Rauch und Russpartikeln,       Mangelerkrankung Beri-Beri. Er experimentierte mit
                 der die UV-Strahlen der Sonne abblockt. Diese aber       verschiedenen Diäten und kam zum Schluss, dass
                 braucht es, damit die Haut Vitamin D bilden kann.        bestimmte Speisen vitale Inhaltsstoffe enthielten;
                                                                          für diese prägte er den Ausdruck Vitamine.
                 Ungesunde Dichte                                           Die Reformhäuser – Läden, in denen sich ab 1900
                 An den Missständen in den Städten entzündete sich        die Anhänger der Lebensreformbewegung mit voll­
                 die Fortschrittskritik der Lebensreformbewegung. In      wertiger Nahrung versorgten – beriefen sich alsbald
                 den Ballungsräumen traten die Folgen mangelhaf­          gerne auf die Vitalkraft ihrer Lebensmittel. Eine
                 ter hygienischer Verhältnisse besonders deutlich         Reformbäckerei aus dem deutschen Bad Kreuznach
                 zutage, weil der Ausbau der sanitären Anlagen mit        machte zwar für ihren Zwieback «Vitanova» nicht
                 dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt hielt: So         explizit Werbung mit dem hohen Vitamingehalt, da­
                 verdoppelte sich zwischen 1830 und 1870 Basels           für aber mit dem «Zusatz der radiumhaltigen Kreuz­
                 Einwohnerzahl von etwas über 20 000 auf über             nacher Heilquellen». Auch der Naturheiler Adolf
                 44 000 Personen, während das Abwasser aus den            Just führte die Wirkung der von ihm therapeutisch
                 Fäka­liengruben bis Mitte des 19. Jahrhunderts vie­      eingesetzten «Heilerde» auf ihren Gehalt an Radium
                 lerorts immer noch einfach versickerte.                  zurück. In ihrer Faszination für die unsichtbaren
                   Seuchen folgten auf dem Fuss. Nördlich der             Kräfte der Natur waren sich Lebensreformbewegung
                 Schweizer Alpen trat im September 1854 in Zürich         und Schulmedizin einig – auch wenn sich die bei­
                 ein erster Infektionsherd der Cholera auf. «Die meis­    den Lager sonst oft skeptisch gegenüberstanden.
                 ten Erkrankungsfälle betrafen das Niederdorf, das
                 Quartier mit den ungesundesten Wohnungen und             Umbruch auf allen Feldern
                 der grössten Bevölkerungsdichte», hielt ein Zeitge­      Die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegelt
                 nosse fest. Der eigentliche Ausbruch der Epidemie        die sozialen Umwälzungen und den wissenschaf­t­

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Am 1. Juli 1912 nahm die Heilstätte
­Barmelweid (AG) als Sanatorium für Tuber­
 kulosekranke den Betrieb auf. Hygiene
 wurde stets grossgeschrieben; spezielle
 Anlagen dienten dazu, Spucknäpfe, Kleider
 und Matratzen mit Dampf zu desin­fizieren.
 Bei ­der Liegekur ruhten ­Frauen und Männer
 in ge­trennten Liegehallen (Bilder oben).

In eingeschränktem Mass gefragt war
auch d­ ie Mitarbeit der Patientinnen und
Patienten in der betriebseigenen Land­
wirtschaft, etwa beim Heuen. 1914 wurde
eine eigene Kinderabteilung samt Schul-
zimmer geschaffen; das Bild unten rechts
(aufgenommen nach 1932) zeigt Kinder
auf der Sonnenterrasse.
Bilder: Klinik Barmelweid AG

lichen Aufbruch dieser Zeit: In den Werken «Tod in      vor ausufernden Städten und anderen Beeinträch­
Venedig» (1911) oder «Der Zauberberg» (1924) befasst    tigungen zu schützen. 1905 regte die Malerin und
sich etwa der Literaturnobelpreisträger Thomas          Dichterin Marguerite Burnat-Provins (1872–1952)
Mann (1875–1955) mit Cholera und Tuberkulose.           die Gründung einer «Liga für die Schönheit»
Bildende Kunst, Handwerk und Architektur be­            an – ein erster Schritt zum Heimatschutz. Es sollte
fruchteten sich gegenseitig; Letztere entwarf mit       freilich noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis 1966
­ihren Gartenstädten eine Alternative zu den be­        das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) in Kraft
 engten Wohnverhältnissen der Städte und zielte         treten konnte, um den Schutz von Biodiversität und
 zugleich nach dem Leitprinzip der Lebensreform         Landschaft auf Bundesebene zu verankern. «Wahr­
 auf eine Einheit von Wohnen, Arbeit, Kultur und        nehmung und Ästhetik spielen in der Landschafts­
 Bildung ab. 1906 entstand die erste Gartenstadtsied­   politik nach wie vor eine grosse Rolle», hält Matthias
 lung Deutschlands in Hellerau nahe Dresden. In der     Stremlow fest. «Schöne und vielfältige Landschaften
 Schweiz folgten ab 1911 die Siedlung Schoren (SG)      bewirken eine natürliche Gesundheitsförderung und
oder das vom Bauhaus-Architekten Hannes Meyer           dienen damit dem Wohlbefinden und der Wohlfahrt.
(1889–1954) errichtete Freidorf in Muttenz (BL).        Diese gesellschaftliche Bedeutung bedingt einen be­
   Weit über die Schweizer Grenze hinaus bekannt        wussten Umgang mit den Landschaftsqualitäten.»
 wurde die im Jahr 1900 gegründete «Naturisten­         Im NHG wirkt somit der künstlerische Geist weiter,
 kolonie» auf dem Monte Verità bei Ascona (TI). In      der den Aufbruch ins 20. Jahrhundert durchwehte.
 diesem Ableger der Lebensreformbewegung spielte
 zwar die gesunde Lebensführung mit vegetarischer
                                                        Weiterführende Links zum Artikel:
 Ernährung und Licht-Luft-Bädern eine wichtige
                                                        www.bafu.admin.ch/magazin2015-3-01
 Rolle. Doch es dürfte letztlich der umfassende ge­
 sellschaftliche und musische Anspruch gewesen
 sein, der viele Intellektuelle und Kunstschaffende
 auf den «Wahrheitsberg» lockte, welcher darüber                     KONTAKT
 hinaus zu einer Keimzelle des modernen Aus­                         Matthias Stremlow
                                                                     Sektionschef Ländlicher Raum
 druckstanzes wurde.
                                                                     BAFU
   Ästhetische Argumente waren es auch, die zu­                      058 464 84 01
 nächst ins Feld geführt wurden, um die Landschaft                   matthias.stremlow@bafu.admin.ch

                                                                                                                                 7
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ANTIBIOTIKA- UND HEILMITTELRÜCKSTÄNDE IN DER UMWELT

Die versteckte Seite
des Medikamentenkonsums
Rückstände von Schmerzmitteln, Antibabypillen und generell von Medikamenten in der Umwelt sind
problematisch. Besonders verbreitet sind sie in den Gewässern, in die sie zum Teil über bereits gereinigtes
Abwasser eingetragen werden. Auch gegen Antibiotika resistente Keime gelangen mitunter trotz Abwasser­
reinigungsanlagen (ARAs) in Flüsse, Bäche und Seen. Text: Kaspar Meuli

Zürich hat die Nase vorn und vermag mit Metro­        Medikamentenrückstände weltweit
polen wie London, Amsterdam und Antwerpen             in der Umwelt präsent
mitzuhalten – jedenfalls, was den Konsum von          Hohe Konzentrationen von Arzneimittelrück­
Kokain betrifft. Das zeigte eine im Mai 2014 publi­   ständen in der Umwelt werden nicht nur in
zierte gesamteuropäische Studie, die das Abwasser     den Industriestaaten gemessen, sondern auch
aus 47 Kläranlagen in 42 Städten analysiert hatte.    in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern.
Die Ergebnisse verblüfften auch die Fachleute,        Eine Analyse des deutschen Umweltbundes­
die aufgrund der Suchtmonitoring-Befragungen          amtes ermittelte im Jahr 2014 weltweit über
für die Schweiz tiefere Werte erwartet hätten.        630 verschiedene in die Umwelt abgegebene Heil­
   Was wir zu uns nehmen, landet früher oder          mittelwirkstoffe. Neben dem bereits erwähnten
später im Abwasser. Heikel ist dies vor allem bei
biologisch wirksamen Substanzen – und zwar               Studien belegen, dass Arzneimittelrückstände
nicht nur bei illegal konsumierten, sondern
auch bei solchen, die medizinisch verschrieben           unter anderem die Fortpf lanzungsfähigkeit
werden, um beispielsweise den Blutdruck zu               von Fischen und Amphibien beeinträchtigen.
senken, das Blut zu verdünnen oder den Hor­
monhaushalt zu beeinflussen. Der eigentliche
«Blockbuster» bei den freigesetzten Arzneimitteln     Diclofenac zählen etwa auch das Antiepileptikum
ist sogar für alle in der Drogerie oder Apotheke      Carbamazepin, das Schmerzmittel Ibuprofen,
erhältlich: Es handelt sich um die Substanz Di­       das Pillenhormon Ethinylestradiol und das Anti­
clofenac, die Basis zahlreicher Schmerzmittel und     biotikum Sulfamethoxazol dazu.
Entzündungshemmer. «Dieser Wirkstoff findet             Studien belegen, dass Arzneimittelrückstän­
sich in der Schweiz in allen ARA-Abwässern»,          de unter anderem die Fortpflanzungsfähigkeit
bestätigt Saskia Zimmermann-Steffens von der          von Fischen und Amphibien beeinträchtigen.
BAFU-Sektion Gewässerschutz. Ein halbes Mikro­        Medikamente verändern aber auch das Verhalten
gramm Diclofenac pro Liter Wasser führt bei           von Tieren. So zeigten Laborexperimente, dass
­Forellen zu Nierenschäden. «In besonders belas­      Stare unter dem Einfluss des Antidepressivums
 teten Gewässern sind die hohen Konzentrationen       Fluoxetin ihre Fressgewohnheiten modifizier­
 von Arzneimitteln und anderen Stoffen mit einer      ten und an Gewicht verloren. Und bei Fischen
 biologischen Wirkung ein Problem», bestätigt         können verschiedenste Arzneien – von Antide­
 denn auch die BAFU-Fachfrau.                         pressiva über diverse andere Psychopharmaka

                                                                                                                           9
Umwelt - Gesundheit, ein kostbares Gut - Bundesamt für Gesundheit BAG
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

                       und künstliche Hormone bis zu Mitteln zur           klar. «Von einer Gefährdung zu sprechen, wäre
                       Behandlung allergischer Beschwerden – das           übertrieben», sagt Saskia Zimmermann-Steffens.
                       Werbe-, Fress- oder ­Aggressionsverhalten beein­    «Die Konzentrationen, die im als Trinkwasser
                       flussen. Unberechenbar sind aber insbesondere       genutzten Grundwasser und in den Oberflä­
                       die Folgen eines Cocktails aus unterschiedlichen    chengewässern nachgewiesen wurden, sind
                       Arzneimittelrückständen.                            nach heutigem Kenntnisstand unbedenklich.»
                                                                           Doch die Belastung der Gewässer durch Abwässer
                       Mikroverunreinigungen als Herausforderung           nehme zu, und damit gelangten vermehrt auch
                       für den Gewässerschutz                              Spurenstoffe in die Trinkwasservorkommen.
                       Medikamentenrückstände in den Gewässern sind        «Diese langlebigen Substanzen gilt es aus den
                       Teil eines grösseren Problems, das in der Schweiz   Wasserressourcen fernzuhalten, und die Belas­
                       nun angepackt wird: die sogenannten Mikrover­       tung der Trinkwasservorkommen sollte aus
                       unreinigungen, die schon in tiefer Konzentration    vorsorglichen Gründen vermieden werden», so
                       die Wasserqualität mindern. «In grossen Men­        die BAFU-Gewässerschutzexpertin.
                       gen eingesetzte langlebige Stoffe erweisen sich
                       insbesondere für kleinere Flüsse mit geringer       Widerstandsfähige Bakterien
                                                                           Unter den medizinischen Wirkstoffen stellen
                                                                           Antibiotika eine spezielle Klasse dar, denn sie
          Seit Kurzem werden in der Schweiz neue                           zielen nicht auf den Stoffwechsel des Patienten
          technologische Möglichkeiten genutzt, um                         ab, sondern auf den Erreger, der die Krankheit
          den Spurenstoffen in den Gewässern zu Leibe                      verursacht. Entsprechend können Antibiotika­
                                                                           rückstände die menschliche Gesundheit zwar
          zu rücken.                                                       nicht unmittelbar, sehr wohl aber indirekt ge­
                                                                           fährden: Wenn nämlich bakterielle Krankheits­
                       Wasserführung und hoher Abwasserbelastung als       erreger schwach dosierten Antibiotika ausgesetzt
                       problematisch», so Saskia Zimmermann-Steffens.      sind, überleben viele von ihnen den medikamen­
                       «Wenige Mikro- oder Nanogramm dieser Stoffe         tösen Angriff und werden gegen den Wirkstoff
                       pro Liter reichen, um empfindliche Wasserlebe­      resistent. Die Fähigkeit, Abwehrmechanismen
                       wesen zu schädigen.»                                gegen ihre Feinde – vorzugsweise gegen Schim­
                          In herkömmlichen ARAs werden Mikroverun­         melpilze, die Produzenten vieler natürlicher
                       reinigungen kaum entfernt. Doch seit Kurzem         Antibiotika – zu entwickeln, ist in der Natur
                       werden in der Schweiz neue technologische Mög­      vieler Bakterien angelegt. So fanden Forschende
                       lichkeiten genutzt, um den Spurenstoffen in den     im US-Bundesstaat New Mexico in einem seit vier
                       Gewässern zu Leibe zu rücken. In Dübendorf (ZH)     Millionen Jahren von der Umwelt abgeschotteten
                       hat 2014 eine zusätzliche Klärstufe zur Behand­     Höhlensystem uralte Bakterienstämme, die gegen
                       lung von Mikroverunreinigungen ihren Betrieb        zahlreiche moderne antibiotische Wirkstoffe
                       aufgenommen. Die ARA Neugut ist die erste von       resistent waren.
                       rund 100 kommunalen Kläranlagen, die in den           Besonders rasch können sich resistente Keime
                       kommenden Jahren ausgebaut werden sollen.           dort ausbilden, wo Antibiotika oft zum Einsatz
                       Um die nötigen finanziellen Mittel effizient ein­   kommen – also in Spitälern, Arztpraxen und
                       zusetzen, sollen gemäss Beschluss des Parlaments    Ställen. Gefährlich wird es, wenn Träger anti­
                       nur die wichtigsten Anlagen, die zusammen über      biotikaresistenter Keime erkranken oder operiert
                       die Hälfte des gesamten Abwassers in der Schweiz    werden und es keine Medikamente mehr gibt,
                       reinigen, ausgebaut werden. Die Aufrüstung der      die gegen die resistenten Bakterien wirken. Im
                       ARAs wird in den kommenden 20 Jahren total          Gesundheitswesen ist diese Gefahr durchaus real:
                       1,2 Milliarden Franken kosten. Finanziert wird      Deshalb erklärte die Eidgenössische Fachkom­
                       sie hauptsächlich über eine bei allen ARAs erho­    mission für biologische Sicherheit in einer
                       bene Abwasserabgabe von maximal 9 Franken           Mitteilung vom Dezember 2014 antibiotikare­
                       pro Kopf und Jahr.                                  sistente Keime zur «grössten Bedrohung für die
                          Während feststeht, dass Arzneimittelrückstän­    Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz», die
                       de und andere Mikroverunreinigungen Fische          mit mehreren hundert Personen pro Jahr gleich
                       und weitere Wasserlebewesen schädigen, sind die     viele Todesopfer wie der Strassenverkehr fordern.
                       Folgen für die menschliche Gesundheit weniger       Gemäss einer Schätzung der schweizerischen

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DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015

Expertengruppe im Bereich Infektiologie und Spi­       angesagt. Das BAFU wurde von Anfang an in
talhygiene Swissnoso treten jährlich rund 70 000       ihre Ausarbeitung eingebunden. «Hauptziel ist,
spitalbedingte Infektionsfälle auf, die bei rund       die Wirksamkeit der Antibiotika zur Erhaltung
2000 der Kranken zum Tod führen. Wie gross der         der menschlichen und tierischen Gesundheit
Anteil ist, der auf resistente Keime zurückgeht,       langfristig sicherzustellen», sagt Karin Wäfler,
ist allerdings nicht bekannt. Die Mehrkosten aus       Projektleiterin der Strategie im Bundesamt für
allen spitalbedingten Infektionen belaufen sich        Gesundheit (BAG). Dass der Bundesrat im Juni
der gleichen Quelle zufolge auf 240 Millionen          2015 beschloss, 20 Millionen Franken für ein
Franken pro Jahr. Ein erheblicher Teil der Anti­       ­neues Nationales Forschungsprogramm «Anti­
biotika wird allerdings nicht im Krankenhaus            mikrobielle Resistenz» zur Verfügung zu stellen,
angewendet, sondern in Arztpraxen verschrieben          zeigt die Dringlichkeit, die der Bund der Proble­
und von den Patientinnen und Patienten zu Hau­          matik zuweist.
se eingenommen.                                           Zu den Massnahmen, welche die Strategie
                                                        ab 2016 vorsieht, gehört die Überwachung des
Auch in der Veterinärmedizin im Einsatz                 Verbrauchs von Antibiotika. Zudem sollen Richt­
Antibiotika finden auch in der Veterinärmedizin         linien für deren Anwendung erarbeitet werden.
Verwendung. Dort landen die Rückstände zwar             In den Zuständigkeitsbereich des BAFU fällt,
nicht in der Kläranlage, sondern im Boden, von          dass künftig regelmässig Bodenproben auf das
wo wenige Prozente mit der Erosion wieder in            Vorhandensein antibiotikaresistenter Bakterien
die Gewässer ausgeschwemmt werden. Im Zuge              analysiert werden sollen. Natürlich bleibt auch
des Nationalen Forschungsprogramms «Antibio­            die Wasserqualität im Fokus: «Unter anderem
tikaresistenz» (NFP 49) stellte ein Projekt in einem    soll beim Ausbau der ARAs geprüft werden, wie
Feldversuch fest, dass mit dem Ausbringen von           sich im Rahmen der geplanten Massnahmen der
Gülle Sulfonamide – das sind in der Veterinär­          Eintrag von Resistenzen in die Gewässer eindäm­
medizin häufig eingesetzte Antibiotika – auf die        men lässt», so Saskia Zimmermann-Steffens vom
Wiesen gelangten. Die Konzentration im Boden            BAFU. «Vordringliche Massnahme bleibt aber die
nahm freilich schnell ab; dennoch blieben Rück­         Reduktion an der Quelle», betont Basil Gerber
stände über Monate hinweg nachweisbar.                  von der BAFU-Sektion Biotechnologie, der für das
  Pro Jahr werden hierzulande rund 50 bis               Amt die Arbeiten an der Strategie koordiniert.
60 Ton­­nen dieser Bakterien tötenden Medikamen­        «Und wir alle können dazu beitragen, indem wir
te an Tiere verabreicht. Obschon zwischen 2008          nicht gleich bei jedem Schnupfen zu Antibiotika
und 2012 die Zahl der in der hiesigen Veterinär­        greifen.»
medizin verkauften Antibiotika um 21 Prozent
zurückgegangen ist, liegt die Schweiz damit erst
                                                       Weiterführende Links zum Artikel:
im europäischen Mittelfeld. Und es gibt keinen
                                                       www.bafu.admin.ch/magazin2015-3-02
Grund, sich mit dem Erreichten zufriedenzu­
geben. Eine Untersuchung im Auftrag verschie­
dener Konsumentenorganisationen aus dem Jahr                        KONTAKTE
2013 zeigte, dass 19 von 40 bei Grossverteilern                     Saskia Zimmermann-Steffens
                                                                    Sektion Gewässerschutz
gekauften Poulet- und Truthahnfleischproben                         BAFU
antibiotikaresistente Bakterien enthielten – und                    058 463 17 15
zwar im importierten wie im Schweizer Fleisch.                      saskia.zimmermann-steffens@bafu.admin.ch

                                                                    Basil Gerber
Gesundheit von Menschen und Tieren                                  Stv. Sektionschef Biotechnologie
langfristig sichern                                                 BAFU
Noch lässt sich nicht sagen, ob zur Zunahme                         058 463 03 50
                                                                    basil.gerber@bafu.admin.ch
der gefährlichen Multiresistenzen auch deren
Verbreitung über die Umwelt beiträgt. Sicher ist:
Hauptursache des Problems sind unsachgemässe                        Karin Wäfler
Anwendungen von Antibiotika.                                        Projektleiterin der Nationalen Strategie
                                                                    gegen Antibiotikaresistenzen
  Nun hat der Bund den resistenten Bakterien
                                                                    Bundesamt für Gesundheit (BAG)
mit der Ende 2014 vorgestellten «Nationalen Stra­                   058 463 87 06
tegie Antibiotikaresistenzen» (StAR) den Kampf                      star@bag.admin.ch

                                                                                                                                         11
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

ERDERWÄRMUNG

Tropenklima im Tessin
 Die Klimaerwärmung bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit: Stechmücken, die Infektionskrankheiten
 übertragen, breiten sich aus, der länger andauernde Pollenflug führt zu vermehrten Allergien, und die h­ äufiger
 ­werdenden Hitzeperioden gefährden geschwächte Menschen und kleine Kinder. Als Südkanton ist das Tessin
­besonders gefordert. Text: Vera Bueller

            Tobias Suter beisst die Zähne zusammen: «Ab dem hun­     Art – etwa maschinell – zu ernähren, seien geschei­
            dertsten Mückenstich tut es weh», bemerkt er und fügt    tert, erklärt der Mückenexperte: «Es braucht Schweiss,
            nach einer kurzen Pause hinzu, dass dann auch der Arm    Blut und Körperwärme für die Aufzucht.» Ergo habe
            immer mehr anschwelle. Um die 6   ­ 00 Tigermücken zu    er sich geopfert.
            ernähren, die in ihrem Zuchtgefäss nach Blut gieren,       Kein Aufwand war dem Biologen Tobias Suter zu
            muss er täglich ebenso viele Stiche aushalten, und das   gross für seine Doktorarbeit, die er am Schweizerischen
            über Wochen. Alle Versuche, die Insekten auf andere      Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) über die

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DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015

Tigermücke (Aedes albopictus) schreibt. Während zweier       Tigermücken befänden sich nämlich auf privatem
Jahre streifte er von Juni bis Oktober alle vierzehn Tage    Grund, etwa in Regenwasserfässern, in Untersätzen
durch die Wälder im Südtessin und auf der italienischen      von Blumentöpfen, in Vasen auf Friedhöfen.
Seite, schaute in jedes Astloch, durchsuchte Vorgärten         Die Botschaft im Kampf gegen die Tigermücke lautet
und Friedhöfe, kontrollierte 280 von ihm aufgestellte        deshalb: nicht unnötig Wasser im Freien herumstehen
Mückenfallen – je 140 in der Schweiz und in Italien.         lassen oder aber dieses wöchentlich erneuern. Denn
Er entnahm den simulierten Brutstätten insgesamt             die Tigermücke, die ihren deutschen Namen wegen
230 000 Eier und wertete sie im Labor aus.                   der auffälligen hellen Streifen an Rücken und Beinen
                                                             trägt, kann Trägerin gefährlicher Krankheiten wie des
Italien als neue Heimat der Tigermücke                       Dengue- oder des West-Nil-Fiebers sein. Hauptursache
Während Italien in der Grenzregion zur Schweiz gegen         für ihre Verbreitung ist der globale Handel. Eier der
die Ausbreitung der Mücke wenig unternimmt, laufen           ursprünglich im asiatischen Raum heimischen Tiger­
im Tessin seit 2003 aufwendige Forschungs-, Aufklä­          mücke gelangten beim Transport von gebrauchten
rungs- und Bekämpfungsmassnahmen – mit Erfolg.               Autoreifen und Bambuspflanzen nach Italien. Von dort
«Es zeigte sich, dass das Problem in Italien signifikant     aus verbreitete sich das Insekt als blinder Passagier in
grösser ist als im Tessin», stellt der junge Wissenschaft­   Autos und Lastwagen weiter.
ler fest, zumal die ursprünglich in südostasiatischen
Wäldern beheimatete Tigermücke ihr Verhalten ge­             Tropenkrankheiten in den gemässigten Breiten
ändert hat und heute vor allem in urbanen Gebieten           Seit 2003 wird die Tigermücke im Tessin nachgewiesen,
vorkommt. Die meisten potenziellen Brutstätten von           wo ihre Eier auch überwintern können. «Die Klima­

                                                                                                                            13
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

                                                                             Auch das West-Nil-Virus könnte vom Klimawandel
                                                                             profitieren. «Es gab bereits Krankheitsfälle in Europa,
                                                                             etwa in Frankreich», sagt Basil Gerber. «In der Schweiz
                                                                             existieren bislang aber noch keine Nachweise, dass
                                                                             hier Krankheiten durch Mückenstiche übertragen
                                                                             worden wären», beschwichtigt er und warnt vor
                                                                             Hysterie. In der Nordschweiz werde die Tigermücke
                                                                             zudem oft mit der kaum von ihr zu unterscheidenden
                                                                             Buschmücke verwechselt. Ein Stich dieses verbreitet
                                                                             vorkommenden Insekts sei zwar schmerzhaft, aber
                                                                             bis dato seien keine von ihm ausgehenden Krank­
                                                                             heitsübertragungen bekannt.

                                                                             Die Entwicklung laufend überwachen
                                                                             Bereits konnten Eiablagen der Tigermücke nördlich
                                                                             des Gotthards beobachtet werden. Das Swiss TPH
                                                                             führt zusammen mit der Gruppo Lavoro Zanzare
                                                                             (GLZ) der Fachhochschule des Kantons Tessin seit 2013
                                                                             eine schweizweite Überwachung der Tigermücke
Tobias Suter beim Aufstellen der                                             durch. Da diese sich in Europa vor allem passiv über
Tigermückenfallen im Tessin.                                                Verkehrswege ausbreitet, wurden an Autobahnrast­
Bilder: unibas
                                                                             stätten, Flughäfen und den Rheinhäfen Mückenfal­
                                                                             len aufgestellt. Man fing jedoch weder adulte Tiere,
                                                                             noch konnten weitere Eiablagen zeitnah am selben
                                                                             Ort gefunden werden. «Das deutet darauf hin, dass
                                                                             zwar einzelne Tigermücken mit Autos oder Last­
      Tigermücken könnten Viren bei einem                                    wagen verschleppt werden, sich bisher jedoch keine
      ­infizierten Reiserückkehrer aufnehmen und                             stabilen Mückenpopulationen etablieren konnten»,
                                                                             meint Pie Müller vom Swiss TPH, der das nationale
       bei der nächsten Blutmahlzeit an weitere                              Überwachungsprogramm leitet. Das Monitoring wird
       Personen übertragen.                                                  zunächst bis 2016 entlang der Autobahnen, an den
                                                                             Flughäfen von Genf und Zürich sowie in den Basler
                                                                             Rheinhäfen durchgeführt.
                   erwärmung könnte längerfristig dazu beitragen,              Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist zusammen
                   dass die Eier eventuell auch nördlich der Alpen der       mit den Kantonen für die Überwachung, Prävention
                   kalten Jahreszeit trotzen werden», erklärt Basil Gerber   und Bekämpfung von Infektionskrankheiten zustän­
                   von der Sektion Biotechnologie des BAFU, das das          dig. Bei den durch Insekten übertragenen Krankhei­
                   Auftreten von krankheitsübertragenden gebiets­            ten stehen zum Beispiel das Chikungunya-Fieber,
                   fremden Stechmückenarten überwacht. «Eine solche          das Dengue-Fieber, das Gelbfieber, Malaria und das
                   Überwachung ist wichtig, um bei Bedarf krankheits­        West-Nil-Fieber im Fokus.
                   übertragende Mücken gezielt bekämpfen und so die
                   Ausbreitung von Krankheiten verhindern zu können.         Vermehrt Hitzetote
                   Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass es besser        Aber nicht nur Krankheitserreger werden dem Men­
                   ist, sich frühzeitig zu wappnen», so der BAFU-Experte.    schen auf einer erwärmten Erde zu schaffen machen.
                      Tigermücken könnten Viren bei einem infizierten        Auch Hitzewellen, die der Forschung zufolge häufiger
                   Reiserückkehrer aufnehmen und bei der nächsten            auftreten werden, stellen eine Gefahr dar. Obschon
                   Blutmahlzeit an weitere Personen übertragen. So           sich der Mensch an eine allmähliche Temperatur­
                   geschah es im Sommer 2007 in Ravenna (IT). Damals         zunahme anpassen kann, halten es Mediziner für
                   brachte ein infizierter Indienreisender das Chikun­       unwahrscheinlich, dass er sich auch an ausserge­
                   gunya-Virus nach Norditalien. In Ravenna wurde er         wöhnliche Hitze gewöhnt. «Diverse Studien zeigen,
                   dann von dort ansässigen Tigermücken gestochen, die       dass extreme Hitzeperioden negative gesundheit­liche
                   in der Folge den Erreger auf Hunderte von Personen        Folgen haben», betont Damiano Urbinello vom BAG.
                   übertrugen und eine lokale Epidemie auslösten.            Im «Jahrhundertsommer» 2003 verzeichnete die

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DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015

Schweiz fast 1000 Todesfälle mehr (also rund 7 Pro­        Erle dürften bereits im Dezember blühen, und Gräser
zent) als durchschnittlich in dieser Jahreszeit.           früher spriessen. Die stark allergieauslösende Pflanze
   Das BAG und das BAFU entwickelten in der Folge          Ambrosia, die sich hierzulande ausbreitet, wird die
eine Informationskampagne, um Angehörige, Pfle­            Pollensaison bis gegen Ende September verlängern,
gepersonal, Ärzteschaft und gefährdete Personen            wenn die Pollenbelastung durch die einheimischen
für die gesundheitlichen Risiken von Hitze und die         Pflanzen nur noch gering ist.
entsprechende Vorsorge zu sensibilisieren. «Anstren­          Hohe Ozonwerte wirken sich zusätzlich schädlich
gungen vermeiden, den Körper kühlen, viel trinken          aus. «Mit einer höheren Ozonkonzentration werden
und leicht essen wirkt vorbeugend. Die Sorge um die        die Atemwege und Bronchien mehr gereizt, wodurch
Gesundheit älterer Menschen während Hitzetagen             speziell für Patientinnen und Patienten, die an
geht alle an. Alleinstehende, betagte und pflegebe­        Krankheiten wie Asthma oder an der obstruktiven
dürftige Personen benötigen unsere Aufmerksam­             Lungenkrankheit (COPD) leiden, das Risiko steigt»,
keit», weiss Damiano Urbinello. Viele Kantone haben        erklärt D
                                                                   ­ enise F­ elber Dietrich von der Sektion Luft­
die Empfehlungen übernommen. Ziel ist, vor allem           qualität des BAFU. Zwar seien die Schadstoffbelastun­
bei älteren Menschen negativen gesundheitlichen            gen von Luft und Wasser in der Schweiz gesunken.
Auswirkungen vorzubeugen und dadurch eine                  Die Belastung mit Ozon und Stickoxiden ist aber
höhere Sterblichkeit zu vermeiden. Zudem wollen            weiterhin vielerorts übermässig. Vor allem im Tessin.
die Behörden hitzebedingte Notfalleinsätze und Hos­        Dort steigen die sommerlichen Ozonwerte höher als
pitalisierungen reduzieren. Mittlerweile verfügen          in anderen dicht besiedelten Regionen der Schweiz
zahlreiche Kantone über Alarmdispositive und haben         (siehe dazu auch den Artikel «Richtig durchatmen»,
ihre Präventionsmassnahmen verstärkt.                      Seiten 16 ff.).
   Im Jahr 2014 lancierte zudem das Swiss TPH das Pi­         Ozon ist ein aggressives Reizgas, das tief in die
lotprojekt «Effekt von Hitzeperioden auf die Sterblich­    Lunge einzudringen vermag. Die Folge sind Gewebe­
keit und mögliche Adaptionsmassnahmen», um den             schäden, starke Reizwirkungen und Entzündungen
Einfluss von Hitzeereignissen auf die Sterblichkeit        der Atemwege. Denise Felber Dietrich sagt: «Eine
zu untersuchen. Dabei werden besonders betroffene          Studie im Tessin hat gezeigt, dass bei Kindern bei
Bevölkerungsgruppen sowie Wettermerkmale identi­           moderater Anstrengung im Freien messbare Lun­
fiziert, die für die Gesundheit relevant sind. «Bewertet   genfunktionseinbussen auftraten. Bei empfindlichen
werden auch die Massnahmen, die seit 2003 einge­           Personen, die im Freien körperlich aktiv sind, können
leitet wurden, um die hitzebedingte Sterblichkeit zu       solche Einbussen an Tagen mit hoher Ozonbelas­
reduzieren. Gesundheitsbehörden auf kommunaler,            tung bis gegen 30 Prozent betragen.» Massnahmen
kantonaler und nationaler Ebene sollen dadurch die         gegen den Klimawandel sind also aus zahlreichen
notwendigen Grundlagen und Informationen erhal­            Gründen unabdingbar – allein schon, damit die
ten, um effiziente Präventionsmassnahmen ergreifen         Tessiner Sonnenstube nicht zum Krankenzimmer
zu können», erklärt der Projektleiter Martin Röösli        der Schweiz wird.
vom Swiss TPH.
                                                           Weiterführende Links zum Artikel:
Tessin besonders betroffen
                                                           www.bafu.admin.ch/magazin2015-3-03
Um die Folgen zu ermitteln, die die Erderwärmung
hierzulande nach sich ziehen wird, haben mehr
als 20 Forschungsgruppen aus der Schweiz 2 Jahre
lang am Bericht der «CH2014-Impacts»-Initiative
gearbeitet. Unterstützt wurden sie vom BAFU und
                                                                         KONTAKTE
von MeteoSchweiz. Das Ergebnis: Je nach Szenario                         Basil Gerber
könnte sich die Durchschnittstemperatur bis Ende                         Stv. Sektionschef Biotechnologie
dieses Jahrhunderts um 0,9 bis 5,2 Grad erhöhen. Die                     BAFU
regionalen Unterschiede sind jedoch gross: Besonders                     058 463 03 50
                                                                         basil.gerber@bafu.admin.ch
betroffen vom Klimawandel ist die Südschweiz, wo
etwa die Zahl der Tropennächte erheblich anstei­
gen wird. Dort könnten Hitzephasen künftig bis zu                        Denise Felber Dietrich
                                                                         Sektion Luftqualität
2 Monate dauern.
                                                                         BAFU
  Eine weitere Folge des Klimawandels betrifft haupt­                    058 465 47 39
sächlich die Allergiker. Frühblüher wie Hasel und                        denise.felber-dietrich@bafu.admin.ch

                                                                                                                                     15
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

FEINSTAUB BLEIBT EIN PROBLEM

Richtig durchatmen
In der Schweiz ist die Belastung mit Luftschadstoffen in den letzten 30 Jahren gesunken. Trotzdem
bleibt im Kampf gegen lungengängige Partikel noch einiges zu tun. Die Eidgenössische Kommission
für Lufthygiene etwa fordert einen Grenzwert für besonders feinkörnigen Feinstaub und eine Reduktion
der Russbelastung um 80 Prozent. Denn auch geringe Mengen dieser Partikel können Krebs oder
Herzversagen begünstigen. Text: Pieter Poldervaart

                Das Tessin gilt als Sonnenstube der Schweiz, doch        dia, dass 70 Prozent der Bevölkerung im unteren
                punkto Luftbelastung hat der Südkanton auch              Kantonsteil mit einem Tagesdurchschnittswert von
                Schattenseiten. Einerseits werden mit dem Wind           über 30 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft
                grosse Mengen an Stickstoff und Feinstaub aus der        (µg/m3) leben müssen – gesamtschweizerisch sind
                Industrieregion Mailand mit rund 10 Millionen Ein­       nur 3 Prozent der Bevölkerung einer derart starken
                wohnern in die Schweiz verfrachtet. Andererseits         Partikelbelastung ausgesetzt. Umgekehrt leben nur
                herrscht im Südtessin häufig eine Wetterlage, welche     8 Prozent der Süd­tessiner mit einer Belastung unter
                die Luft wie in einem Kessel festhält. Bleibt der Föhn   dem Grenzwert von 20 µg/m3, während es landesweit
                aus, sammeln sich in den unteren Luftschichten           immerhin 60 Prozent sind. «Zwar handelt es sich bei
                Stickoxide und Feinstaub. Unter der Einwirkung von       allen Zahlen um PM10», so Studienleiter Pons. Aber
                Sonnenlicht bildet sich daraus im Sommer Ozon, das       PM10-Feinstaub ist ein sogenannter Leitschadstoff,
                Augen und Atemwege reizt. «Insgesamt hat sich die        denn proportional dazu steigt auch die Belastung
                Luftqualität in den letzten 30 Jahren zwar verbes­       mit Stickoxid, Ozon und PM2.5 (zum Unterschied von
                sert», bilanziert Marco Pons, Medizinischer Direktor     PM10 und PM2.5 siehe Kasten unten). Insbesondere
                des Regionalspitals Lugano. Doch aus den erwähnten       der Schwebestaub PM2.5 beunruhigt Marco Pons:
                geografischen und meteorologischen Gründen sei           «Während die grösseren Partikel die Lungen vor
                das Südtessin im Vergleich zur übrigen Schweiz vom       allem reizen, dringt PM2.5 in die feinen Lungen­
                Ozonproblem besonders betroffen, so Lungenspezia­        bläschen, die sogenannten Alveolen, ein und kann
                list Pons. Dazu komme, dass das Verkehrswachstum         in der Folge Krebs und Herzinfarkt begünstigen.»
                auf der Autobahn zwischen Gotthard und Chiasso
                einen Teil der Fortschritte bei der Luftreinhaltung
                wieder zunichtegemacht habe.
                                                                           Was ist Feinstaub?
                Im Blickpunkt der Forschung
                Marco Pons ist auch Leiter des Tessiner Studienteils       Feinstaub PM10 besteht aus Partikeln mit einem Durch-
                von Sapaldia. Das Kürzel steht für die englische Be­       messer von weniger als 10 Tausendstelmillimetern, was
                zeichnung der Schweizer Studie «Luftverschmutzung          etwa einem Zehntel des Durchmessers eines mensch­
                und Atemwegserkrankungen bei Erwachsenen», die             lichen Haars entspricht. Partikel des lungengängigen
                seit 1991 das Befinden von über 8000 Personen ver­         Feinstaubs PM2.5 haben einen Durchmesser von weni-
                folgt. Neben Interviews zum Gesundheitszustand ge­         ger als 2,5 Tausendstelmillimetern. Feinstaub entsteht
                hören Allergietests, Blutdruckmessungen und Elek­          einerseits bei der unvollständigen Verbrennung von
                trokardiogramme zum Diagnose-Instrumentarium.              Treib- und Brennstoffen oder auch in der Atmosphäre
                All diese Parameter werden in einen Zusammenhang           aus Gasen wie Stickoxide oder Ammoniak. Besonders
                mit der spezifischen Schadstoffbelastung in der            schädlich sind die sehr kleinen, krebserzeugenden
                Atemluft gestellt, die am Wohnort der untersuchten         Russ­partikel.
                Person vorherrscht. Für das Südtessin zeigte Sapal­

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                                                                         Weiterführende Links zum Artikel:
                                                                         www.bafu.admin.ch/magazin2014-4-04

                                                                                       KONTAKT
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             1800 Anschläge

Schon für Ungeborene ein Problem                         Infekte, was dazu führen könne, dass sie im Erwach­
Die Resultate von Sapaldia werden in Langzeit-For­       senenalter häufiger von der chronisch obstruktiven
schungsprojekte auf europäischer Ebene eingespeist.      Lungenkrankheit (COPD) betroffen sind. Auch bei
Dazu gehört etwa die «European Study of Cohorts          erwachsenen Nichtrauchenden habe Feinstaub das
for Air Pollution Effects» (ESCAPE), die 32 Kohorten­    Risiko von COPD erhöht.
studien mit über 50 Studienorten zusammenfasst.            Laut den Messergebnissen für PM10 sind verkehrs­
Ein Resultat zeigt beispielsweise, dass die Feinstaub­   reiche Innenstädte und Agglomerationen deutlich
belastung mit einem tieferen Geburtsgewicht bei          stärker belastet als siedlungsferne Gebiete. Aus Sor­
Säuglingen korrelieren kann. «Dieses Resultat legt       ge um die eigenen Kinder aufs Land zu ziehen, sei
nahe, dass diese Schadstoffe schon in frühesten Le­      dennoch die falsche Strategie, betont Nicole Probst.
bensphasen eine Wirkung entfalten können», erklärt       Denn oft seien ländliche Gegenden zwar weniger
Nicole Probst-Hensch, Professorin für chronische         von PM10 belastet, litten dafür aber unter höheren
Krankheiten am Schweizerischen Tropen- und Public-       Sommersmogwerten. «Die Lösung ist nicht das Weg­
Health-Institut (Swiss TPH) in ­Basel, wo die Leitung    ziehen aufs Land, sondern es braucht vermehrte
von Sapaldia angesiedelt ist. Kinder mit einem tiefen    Anstrengungen der Politik, um die Luftqualität zu
Geburtsgewicht seien unter anderem anfälliger für        verbessern», betont die Professorin.

                                                                                                                            17
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

                  Massnahmen auf Partikelgrösse abstimmen                 10 Minuten Stosslüften hilft, Staub und Gerüche ins
                  Diesbezüglich hat die Schweiz eine Vorreiterrolle       Freie zu befördern. «Wer an einer stark befahrenen
                  eingenommen, als sie im Jahr 2000 den Ausstoss          Strasse wohnt, sollte ausserhalb des morgendlichen
                  von Dieselruss bei Baumaschinen zu reglementieren       und abendlichen Stossverkehrs für Luftaustausch
                  begann. «Dank des 2006 vom Bundesrat beschlos­          sorgen, aber keineswegs ganz darauf verzichten»,
                  senen Aktionsplans Feinstaub konnten unter an­          rät Roger Waeber von der Fachstelle Wohngifte
                  derem Partikelfilter bei neuen dieselbetriebenen        beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Denn nur
                  Verkehrsmitteln beschleunigt eingeführt werden.         ein Teil des Feinstaubs gelangt beim Lüften in die
                  Dies hat die Russemissionen erheblich verringert.       Wohnräume.
                  Grossen Handlungsbedarf gibt es aber noch bei der          Besonders wichtig ist es, Feinstaubquellen im
                  Holzverbrennung», so Denise Felber Dietrich von         Gebäudeinnern zu eliminieren. Dazu gehören
                  der Abteilung Luftreinhaltung und Chemikalien           etwa russende Kerzen, Räucherstäbchen und na­
                  des BAFU.                                               türlich das Rauchen in geschlossenen Räumen.
                    PM2.5 wirkt sich auf die Gesundheit teilweise an­     Konsequentes Lüften ist auch für Badezimmer und
                  ders aus als PM10, weshalb das hierzulande geltende     Küche nötig. Hingegen ist in der kalten Jahreszeit
                  Limit für PM10 nicht genügt. Den unterschiedlichen      das stundenlange Ankippen der Fenster aus energe­
                  Partikelarten lässt sich nur mit separaten Grenz­       tischen Gründen zu vermeiden. Gegen Staub und
                  werten Rechnung tragen, wie sie von der Welt­           damit auch Feinstaub hilft, regelmässig zu saugen
                  gesundheitsorganisation (WHO) empfohlen werden.         und glatte Flächen feucht abzuwischen, wobei man
                  Messungen zeigen, dass die Schweiz zwar die von         anschliessend die Fenster öffnen sollte, um sich des
                                                                          aufgewirbelten Feinstaubs zu entledigen. Moderne
     Messungen zeigen, dass die Schweiz zwar die von                      Wohnungen sind häufig mit einer mechanischen
                                                                          Lüftung ausgerüstet, was die Energieeffizienz stark
     der WHO vorgeschlagenen Zielwerte für PM10                           verbessert. «Nach einem Besuch von Freunden, nach
     einhalten kann, die Belastung durch PM2.5 aber                       dem Abbrennen von Kerzen oder nach dem Staub­
                                                                          saugen ist dennoch ein kurzes manuelles Lüften
     über der WHO-Empfehlung liegt.                                       sinnvoll», erklärt Roger Waeber. Selbst wer im Win­
                                                                          ter mehrmals täglich kurz, aber kräftig lüftet, begeht
                  der WHO vorgeschlagenen Zielwerte für PM10 ein­         übrigens keine Energiesünde: «Dabei wird nur die
                  halten kann, die Belastung durch PM2.5 aber über        verbrauchte Luft gegen frische ausgetauscht; die
                  der WHO-Empfehlung liegt. Dasselbe gilt für Russ,       meiste Wärme ist im Gebäude und in den Möbeln
                  dessen Konzentration selbst in ländlichen Regionen      gespeichert und geht im Nu wieder in die saubere
                  die WHO-Zielwerte übersteigt. Die Eidgenössische        Luft über.» Zumindest in den Wohnräumen kann
                  Kommission für Lufthygiene (EKL) schlug in ihrem        also jede und jeder selbst viel zu einem gesunden
                  Bericht von 2014 deshalb vor, für PM2.5 einen           Klima beitragen.
                  Jahresmittelgrenzwert von 10 µg/m3 einzuführen.
                  «Auch die Belastung durch den krebserregenden
                  Russ muss dringend abnehmen, die Belastung sollte       Weiterführende Links zum Artikel:
                  in den nächsten 10 Jahren um 80 Prozent gesenkt         www.bafu.admin.ch/magazin2015-3-04
                  werden. Längerfristig ist eine Reduktion um den
                  Faktor 10 bis 20 nötig», fordert Nicole Probst, die
                  auch Mitglied der EKL ist. Eine konsequente Luftrein­
                  haltepolitik allein genügt jedoch nicht, um das von
                  der EKL vorgeschlagene Ziel zu erreichen. Es braucht                  KONTAKTE
                  weitere Anstrengungen im Vollzug, aber auch in                        Denise Felber Dietrich
                  der Energie- und Landwirtschaftspolitik, damit die                    Sektion Luftqualität
                                                                                        BAFU
                  Emissionen bei allen wesentlichen Quellen reduziert
                                                                                        058 465 47 39
                  werden können.                                                        denise.felber-dietrich@bafu.admin.ch

                  Regelmässig kurz und kräftig lüften                                   Roger Waeber
                                                                                        Leiter Fachstelle Wohngifte
                  Nicht nur im Freien, auch im Gebäudeinnern ist                        Bundesamt für Gesundheit (BAG)
                  die Qualität der Luft entscheidend für Wohlbe­                        058 463 06 38
                  finden und Gesundheit. 2- bis 3-mal täglich 5 bis                     roger.waeber@bag.admin.ch

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DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015

                                                                                                                    T IG E LA N D S C H A F T
                                                                                                             VIELFÄL

                                                             G
                                                    Z   UN                                                                                                                                                                                    LÄ
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                                                                                                                                                                                                                                                                   HT
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                                                                                                                                 le En                                       Gru
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                                                                                                      ch                        erz   k re i s                              Hit                     fü
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                                                                                                                                                                                                     rn
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        ALTI

                                                                                                                    n
                                                                                  yc

                                                                                                                                                                                                          eu
                                                                                                              ite
                                                                                ps

                                                                                                                                                                                                            eM
                                                                                                                                                                                            en
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                                                                                                                                                                                                                                                                             S A U BE R E
                                                                                                                                                                                                                   edi
                                                                                                nk
G E RESS OURCENNUTZUNG

                                                                     halt

                                                                                          K ra

                                                                                                                                                                                                                            kam
                                                                                                                                                                                                    neu
                                                                 n a ch

                                                                                     ch e

                                                                                                                                                                                                         e Kr

                                                                                                                                                                                                                               ente
                                                                                 ch r o n i s

                                                                                                                                                                                                          ankheit

                                                                                                                                                                                                                                                                                S WASSER
                                                                                                                                                                                                           s e r re g e r
                                                                                  S t re s s
                                                                 Na t u r e r

                                                                                                                                                                                                                                  a s se r
                                                                                                                                                                                                                            i nk w
                                                                    l e bn

                                                                                       Unf

                                                                                                                                                                                                     s
                                                                                                                                                                                                    re b

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                                                                         is,

                                                                                            äll e

                                                                                                                                                                                               dK
                                                                                Le b

                                                                                                                                                                                                               e re
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                                                                                 en

                                                                                                                   atu
                                                                                                                                                                                      ste
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                                                                                                ali                      rka                                                     si
                                                                                          u

                                                                                                      tä t                                                                  a re
                                                                                                                                                                                                    nd

                                                                                                                        tast
                                                                                                                                rophen                                tik                            lu
                                                                                                             un                                             Antibio                           tte
                                                                                                                  dW                                                                       mi
                                                                                                                    ohlb                                                          b   e ns
                                                                                                                         e f i nd                                        e Le
                                                                                                                                  en                         ge s un d

                                                                                                                                                                                                                                                                        NG
                         KL
                         IM

                                                                                                                                                                                                                                                                    ZU
                          AE

                                                                                                                                                                                                                                                                   UT
                              RW

                                                                                                                                                                                                                                                              HM

                                   M
                               ÄR

                                                                                                                                                                                                                                                         SC

                                       UN                                                                                                                                                                                                                 E   R
                                            G                                                                                                                                                                                                          NV
                                                                                                                                                                                                                                                  DE
                                                                                                                                                                                                                                             BO

                                                                                                             R E IC H H A                                                                   SITÄT
                                                                                                                                           LTIGE BIODIVER

                                                   Eine intakte Umwelt fördert die Gesundheit und das Wohlbefinden (grüne Kreise).
                                                       Wenn die Umwelt belastet ist, schlägt dies auf den Menschen zurück, und
                                                                   das Risiko für Krankheiten steigt (rote Kreise).

                                                                                                                                                                                                                                                                             19
umwelt 3/2015 > DOSSIER GESUNDHEIT

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DOSSIER GESUNDHEIT < umwelt 3/2015

ALLGEGENWÄRTIGE STRAHLUNG

Kein direkter Weg von
der Ahnung zur Gewissheit
Zum Schutz von Mensch und Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einflüssen werden Immissionsgrenz­-
werte festgelegt. Das Fundament dafür liefert die Forschung. Wenn es allerdings, wie im Fall der Strahlung,
um gesundheitliche Langzeitfolgen von Einwirkungen aus der Umwelt geht, stellen sich besonders hohe
Anforderungen an die wissenschaftliche Methode. Text: Lucienne Rey

                        Wissenschaft braucht einen langen Atem:              lung, mit Wellenlängen im atomaren Bereich.
                        Obschon sie sich seit dem 16. Jahrhundert sys­       Sie fällt damit unter die sogenannte ionisierende
                        tematisch mit Elektrizität und Magnetismus           Strahlung, die Atombindungen aufzutrennen
                        befasst, gelang es erst James Clerk Maxwell          und damit biologisches Gewebe zu schädigen
                        (1831–1879) im Jahr 1855, mit vier Gleichungen       vermag. Am anderen Ende des Spektrums schwin­
                        den Zusammenhang zwischen elektrischen und           gen die Mikrowellen, Radiowellen und elektro­
                        magnetischen Feldern zu beschreiben und die          magnetischen Felder der Stromversorgung, mit
                        bisher getrennt behandelten Erscheinungen            Wellenlängen zwischen Millimetern und einigen
                        zusammenzuführen. Es dauerte aber weitere            tausend Kilometern. Sie alle gehören zur nicht­
                        30 Jahre, bis Heinrich Rudolf Hertz (1857–1894)      ionisierenden Strahlung (NIS).
                        nachwies, dass die elektromagnetischen Wellen,          Radio, Fernsehen, Mobilfunk, zahllose Elek­
                        die Maxwell auf dem Papier postuliert hatte, tat­    trogeräte und nicht zuletzt die flächendeckende
                        sächlich existieren. Einen weiteren Meilenstein      Stromversorgung haben dazu geführt, dass die
                                                                             elektromagnetischen Felder, denen wir ausge­
                                                                             setzt sind, immer vielfältiger werden. «Für NIS,
   Radio, Fernsehen, Mobilfunk, zahllose Elek­tro­geräte                      die von grösseren Anlagen wie Stromleitungen
   und nicht zuletzt die f lächendeckende Strom-                             oder Mobilfunkantennen in die Umwelt emit­
                                                                             tiert wird, ist das BAFU zuständig», schildert Jürg
   versorgung haben dazu geführt, dass die elektro-                          ­Baumann von der BAFU-Sektion Nichtionisieren­
   magnetischen Felder, denen wir ausgesetzt sind,                            de Strahlung die Aufgabenteilung zwischen den
                                                                              Ämtern. «In die Verantwortung des Bundesamtes
   immer vielfältiger werden.                                                 für Gesundheit (BAG) fällt dagegen der Schutz
                                                                              vor der Strahlung, die von Geräten wie Handys,
                        setzte wenig später Wilhelm Conrad Röntgen            Solarien oder Laserpointern ausgeht.» Auch die
                        (1845–1923): Durch Zufall stiess er 1895 in einem     ionisierende Strahlung, etwa von Radon, liegt in
                        Experiment auf «eine neue Art von Strahlen»,          der Kompetenz des BAG.
                        wie er in einem Aufsatz gleichen Titels festhielt.
                                                                             Hunde und Freiwillige im elektromagnetischen Feld
                        Vielfältige Strahlung                                Um Bevölkerung und Umwelt vor Schäden und
                        Die Röntgenstrahlung liegt am einen Ende des         übermässigen Belästigungen zu schützen, legt
                        elektromagnetischen Spektrums, zwischen dem          der Staat Immissionsgrenzwerte fest. Er stützt
                        kurzwelligen Ultraviolett und der Gammastrah­        sich dazu auf wissenschaftliche Ergebnisse und

                                                                                                                             21
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