Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
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nr. 1 • 2019 zeitschrift der ludwig-maximilians-universität münchen Künstliche Intelligenz Unverzichtbare Helferlein
Ein Stipendium – Deutschlandstipendium an der LMU München viele Gesichter Daniel Meierhofer, Zahnmedizin Ich engagiere mich für Minderheiten wie Straßenkinder oder Flüchtlinge. Am meisten Freude bereitet mir aber der Einsatz als Spre- cher für queere Studierende an der LMU. Ich Polina Larina, weiß aus eigener Erfahrung, welche Probleme Interkulturelle Kommunikation ein Outing mit sich bringen kann. Nach dem Tod meines Vaters lernte ich viel, um es von Usbekistan in die große, weite Welt zu schaffen. In München kann ich meinen Gideon Arnold, Traum jetzt verwirklichen: lernen und lehren. Jura Wenn ich für immer an der Uni bleiben dürfte, Nach meiner Ausbildung zum Wirtschaftsme- würde ich das sofort tun. diator habe ich neben meinem Studium einen Verein gegründet. Darin engagieren sich jetzt Juristen aus ganz Deutschland, um mittellosen Caroline Schambeck, Menschen durch Mediation bei der außerge- Geowissenschaft richtlichen Streitschlichtung zu helfen. Neben dem Studium Geld zu verdienen ist wegen meiner Mukoviszidose-Erkrankung unmöglich. Durch das Deutschlandstipendi- um habe ich bald trotzdem meinen Master in der Tasche. Das ist ein kleiner Sieg im Kampf gegen die unheilbare Krankheit. Sybille Veit, Medizin Sinksar Ghebremedhin, Ein Baby während des Studiums bekommen? Medieninformatik Das hat bei mir funktioniert – dank des Meine Eltern mussten selbst vor dem Krieg Deutschlandstipendiums. Jetzt helfe ich als fliehen. Daher unterstütze ich mit meinem Fachschaftsgruppenleiterin anderen Stu- Verein »Students4Refugees« Flüchtlinge dabei, dierenden mit Kind beim Organisieren des ein Studium beginnen oder fortsetzen zu Studienalltags. können – vier haben bereits ihren Abschluss geschafft. Ich möchte ein Stipendium stiften www.lmu.de/deutschlandstipendium Verantwortung übernehmen, Vielfalt fördern: Unterstützen jetzt auch Sie besonders engagierte und talentierte Studierende mit 150 Euro im Monat. Zum Dank verdoppelt der Bund Ihre steuerlich absetzbare Spende.
Editorial 1 1 Die Eingangstür zur Fakultät für Wirtschafts MUM • NR. 1 • 2019 wissenschaften in der Kaulbachstraße in Schwabing EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, mit 2019 hat ein neues Wissenschaftsjahr begonnen, das im Zeichen der künstlichen Intelligenz, kurz KI, steht. KI bietet ein enormes Potenzial – tatsächlich kann sich kein wissenschaftliches Forschungsgebiet diesem Thema entziehen. Die MUM-Titel geschichte gibt einen Überblick, wie KI an der LMU in Forschung und Lehre verankert ist und dabei zeigt sich ein beeindruckendes Bild: Von der Informatik und der Medi- zin, über Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaften bis hin zu Soziologie, Rechts- und Naturwissenschaften – überall gibt es sinnvolle Ansätze zu KI. Dabei bleiben auch kritische Einschätzungen nicht außen vor – denn jede neue Technologie hat auch ihre Kehrseite. Die Kehr- oder besser Originalseite wurde bei einer historischen Plastik aus dem Mittelalter wieder herausgearbeitet: Nachdem die Originalfigur der „Sitzenden Gottesmutter“ der verschiedenen und äußerst dilettantisch ausgeführten Bemalun- gen und „Bearbeitungen“ der Jahrhunderte entledigt wurde, hat sie jetzt ihrem Platz im Herzoglichen Georgianum am Professor-Huber-Platz wieder eingenommen und strahlt dort ihre alte Würde aus. Die positiven Seiten des Lebens versuchen die Clowns ohne Grenzen aufzuzeigen, wenn sie in die Krisengebiete dieser Welt reisen. Ihre wichtige Arbeit hat ein Mädchen aus einem rumänischen Waisenhaus gut beschrieben: „Wenn du so aufwächst wie ich, dann zählt jede schöne Erinnerung.“ Wissenschaftlich beraten werden die Clowns durch den Traumaforscher Willi Butollo von der LMU. Eine Kehrtwende vom Soziologen zu einem Kartoffelimbissbetreiber auf dem Mün- chener Viktualienmarkt – hat der LMU-Alumnus Dominik Klier vollzogen, der in dieser Ausgabe porträtiert wird. Viel Freude beim Lesen! Ihre MUM-Redaktion
MUM • NR.1 • 2019 ■ news 3 meldungen ■ titel Künstliche Intelligenz 6 Unverzichtbare Helferlein ■ essay Künstliche Intelligenz 10 Kassandra geht steil zur Prime Time ■ profile Serie: Kooperationen – LMU und Tel Aviv University 6 12 So funktioniert moderne Wissenschaft Künstliche Intelligenz Unverzichtbare Helferlein Inhalt Literaturpreis für Slata Kozakova 14 „Schreibend den Lauf der Dinge aufhalten“ Begabungspsychologische Beratungsstelle 2 16 Potenzial von Kindern zuverlässig erkennen MUM • NR. 1 • 2019 Herzogliches Georgianum 18 "Thronende Gottesmutter" restauriert Artist in Residence-Programm 20 Bindeglied zwischen Kunstbetrieb 14 und Universität EU Careers Ambassador Cornelia Nissen 22 Botschafterin für Karriere und Werte Literaturpreis für Slata Kozakova Clowns ohne Grenzen „Schreibend den Lauf 24 Humor hilft heilen der Dinge aufhalten“ Kindertransporte im Nationalsozialismus 26 Arthur und Lilly 26 ScienceHistory 28 „Der bayerische Humboldt“ ■ Alumni LMU-Alumnus Dominik Klier ist Mitinhaber des Kindertransporte „Caspar Plautz“ im Nationalsozialismus 30 „Kartoffeln aus Akademikerhand“ Arthur und Lilly ■ menschen 28 32 neuberufen 34 preise & ehrungen 39 Verstorben ■ service 42 tipps & terminE ScienceHistory „Der bayerische Humboldt“ ■ impressum
NEWS 16 Preise für eine innovative Lehre Im Dezember vergangenen Jahres hat die LMU 16 Preise im Rahmen des Programms Lehre@LMU vergeben. Der LMU Lehrinnovationspreis würdigt news Lehrende, die innovative Lehrkonzepte erarbeiten und umsetzen. Die besten studentischen Forschungsprojekte werden mit dem LMU Forscherpreis für ex- zellente Studierende prämiert. Die systematische Integration von Forschungs- und Praxisorientierung in die Lehre ist ein Ziel des Programms im Rahmen des Qualitätspakts Lehre. Dazu gehört unter anderem, dass Studierende bereits 3 während des Studiums die Gelegenheit haben, ein Forschungsprojekt weitge- MUM • NR. 1 • 2019 hend selbstständig durchzuführen. Die Preise werden von der LMU jährlich vergeben. Im vergangenen Jahr konnten mit freundlicher Unterstützung der Münchener Universitätsgesellschaft erstmals zwei zusätzliche LMU Forscher- preise vergeben werden. Für den LMU Forscherpreis für exzellente Studierende waren 21 Vorschläge aus elf Fakultäten eingegangen. Eine Jury, in der alle vier Fächergruppen und die verschiedenen Statusgruppen der LMU vertreten sind, hat aus den Vorschlägen der Fakultäten zwölf Preisträger ausgewählt. ZDie Projekte werden nach den Kriterien der erfolgreichen Durchführung des Projektes, Umfang und Originali- tät des Erkenntnisgewinns sowie Potenzial für Anschlussprojekte bewertet. Der Preis ist mit 1.000 Euro pro Projekt dotiert. ■ red drive.tech by maxon motor YEP Das Scewo-Team mit seinem treppensteigenden Rollstuhl ist im Young Engineers Program von maxon. Auch du kannst Teil von YEP werden! Mehr: drive.tech
NEWS Neuer Studierendenausweis Die LMUcard kommt ab Februar – und mit ihr nicht nur der Dienstausweis, sondern auch der neue Studierendenausweis. Ob dieser auch Auswirkungen auf Beschäftigte der LMU hat, beantwortet Dr. Oliver Diekamp, Leiter des IT-Dezernats, im Interview. Was sind – abgesehen von den Funktionen der LMUcard als Chipkarte – die Unterschiede zwischen dem neuen und alten Studierendenausweis? Dr. Oliver Diekamp: Die LMUcard für Studierende unterschei- det sich in vielfacher Hinsicht vom aktuellen Ausweis. Die Stu- 1 In einem selbstironischen Film hat die LMU die späte Einführung des Studien dierenden werden in Zukunft den Ausweis online beantragen, ausweises im Chipkartenformat angekündigt. dieser Prozess wird mit der Aktivierung der LMU-Benutzer- kennung erfolgen. Studierende behalten darüber hinaus den Ausweis grundsätzlich für die Dauer des gesamten Studiums. in Fachbibliotheken der Fall sein. Bei diesen Gelegenheiten könn- News Jedes Semester erneuern die Studierenden selber die Gültigkeit ten Studierende auf die Online-Immatrikulationsbescheinigung der LMUcard. Hierfür validieren sie die Karte an Terminals, zurückgreifen. Ebenso ist es möglich, dass bei solchen Prozessen die an vielen Standorten der LMU installiert werden. Wichtig zukünftig direkt auf die Online-Systeme, zum Beispiel auf das Stu- ist zudem, dass auf dem Ausweis zwar ein Foto aufgedruckt dierendenverwaltungssystem, zugegriffen wird. Die Karte selber ist 4 werden kann, jedoch weniger Platz für die Informationen zu mit einem RFID-Chip ausgestattet, über den die Matrikelnummer den eingeschriebenen Studiengängen vorhanden ist und wir sehr bequem durch Auflegen auf einen entsprechend konfigurierten MUM • NR. 1 • 2019 deshalb planen, nur die Namen der Fakultäten, der die Studi- Kartenleser ausgelesen werden kann. engänge zugeordnet sind, mit der Validierung auf den Ausweis zu drucken. An wen kann man sich wenden, wenn man von der Einführung des neuen Studierendenausweises betroffen ist, und wie geht es Welche Prozesse sind durch diese Änderung betroffen? dann weiter? Grundsätzlich alle Prozesse, bei denen die detaillierten Infor- Am einfachsten ist eine Kontaktaufnahme per E-Mail an den IT- mationen zum Studiengang auf dem bisherigen Studierenden- Servicedesk (it-servicedesk@lmu.de). Je nach Anliegen können wir ausweis wichtig waren. Das könnte beispielsweise in Bera- dann Ansprechpartner ermitteln, die sich mit Ihnen in Verbindung tungsgesprächen oder bei Einlasskontrollen zu Prüfungen oder setzen werden. ■ ski Die Kunstkammern der Universität Ingolstadt Ein neuer Band der Reihe Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Univer sität München von Dr. Claudius Stein befasst sich mit den Kunstkammern der Uni- versität Ingolstadt, insbesondere mit den Schenkungen des Domherrn Johann Egolph von Knöringen und des Jesuiten Ferdinand Orban. In dieser Hinsicht wies dieUni- versität Ingolstadt – die heutige LMU – im Bereich ihrer dinglichen Kultur ein Allein stellungsmerkmal auf: An keiner anderen alteuropäischen Universität gab es bereits im 16. Jahrhundert eine Kunstkammer. Darüber hinaus erhielt die Hohe Schule im 18. Jahrhundert eine zweite derartige Sammlung. In beiden Fällen handelte es sich um Initiativen von Einzelpersonen: Der Augsburger Domherr Johann Egolph von Knörin- gen (1537–1575) vermachte 1573 der Universität Ingolstadt seine Kunstkammer. Der Ingolstädter Jesuitenpater Ferdinand Orban (1655–1732) überließ seine Sammlung dem dortigen Kolleg, dessen Inventar 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens der Hohen Schule zufiel. Für beide Bestände existierten eigene Sammlungsgebäude. Die darin aufbewahrten Objekte bildeten den Grundstock der wissenschaftlichen Sammlungen der LMU, lassen sich heute jedoch zumeist nicht mehr identifizieren. Auf breiter Quellenbasis werden in der vorliegenden Monographie die Geschichte dieser Kunstkammern nachgezeichnet und ihre Bestände rekonstruiert. ■ red 8 Exponate aus den Kunstkammern: Das Birett von Johann, dem größten „altkirchlichen“ Gegner des Reformators Martin Luther 7 Ein von Johann Egolph von Knöringen wahrscheinlich in Italien erworbenes Grabrelief. Es zeigt zwei Togati (römische Bürger). Es wurde in der Augsburger Domkustodie vermauert.
NEWS news Office-Campuslizenz: Word, Excel und Co kostenlos für Studierende Die LMU hat nun mit Microsoft einen Campusvertrag geschlossen: Ab sofort können LMU-Studierende Microsoft Office 365 kostenlos nutzen. Infos, wie sich Studierende das Office-Paket holen können, 5 sind auf der Webseite des IT-Servicedesk abrufbar. ■ ski NR. 1 • 2019 www.it-servicedesk.uni-muenchen.de Professionelle Software für Qualitative & Mixed Methods-Forschung Daten erheben - organisieren - analysieren - visualisieren - präsentieren Effiziente Analyse Interviews, Artikel, Bilder, Webseiten, Social Media, Audio/Video, Umfragen, u.v.m. Transkription on Board Selbstgeführte Interviews zeitsparend transkribieren. Literaturreviews leicht gemacht Artikel und Bücher in MAXQDA importieren, exzerpieren, “ verschlagworten und nachhaltig und schnell analysieren. Kostenloser Literature Review Guide auf unserer Webseite. Mit MAXQDA komme ich schneller ans Ziel und kann meine Ergebnisse leichter präsentieren 14 Tage kostenlos testen ab 37 € Für Studierende/ - Berlin, Germany www.maxqda.de Promovierende
Künstliche Intelligenz Unverzichtbare Helferlein thema Das Wissenschaftsjahr 2019 steht im Zeichen künstlicher Intelligenz (KI). Auch an der LMU setzen Wissenschaft- ler auf die lernenden Roboter. Am LMU-Klinikum wurde ein fliegender Assistent für Astronauten entwickelt, am Institut für Informatik wird durch maschinelles Lernen Kreditkartenbetrug vorgebeugt und an 6 der Fakultät für Psychologie durch KI depressiven Menschen geholfen – oft interdiszipli- när. Kommunikationswissenschaftler untersuchen den Einfluss schlauer Algorithmen MUM • NR. 1 • 2019 auf die öffentliche Kommunikation, und Professor Julian Nida-Rümelin beschäftigt sich mit den philosophischen Dimensionen des Themas. Selbst in der Kunst und Theologie setzt man auf KI. „Wach auf, Cimon!“ Mit diesen Worten erweckte der deutsche Astronaut Alex- ander Gerst auf der Internationalen Raumstation ISS Ende letzten Jahres seinen künstlichen Mitbewohner zum Leben. Das fliegende Helferlein reagierte prompt: „Was kann ich für dich tun?“, fragte er. Cimon ist der weltweit erste fliegende und autonom agierende Assistenzroboter mit künstlicher Intelligenz (KI). Die menschlichen Aspekte haben ihm LMU-Mediziner beigebracht. „Cimon kann als Partner und Begleiter Astronauten bei ihrem hohen Pensum an Experimenten, Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten unterstützen“, erklärt LMU-Medizinerin Dr. Judith-Irina Buchheim. Denkbare Ansätze auf der Erde sind laut ihrem Kollegen, Professor Alexander Choukèr, die Unterstützung von Ingenieuren, Forschern und Ärz- ten, das KI-basierte Erfragen von Symptomen oder das Begleiten von alleinstehenden Senioren im Alltag. Um den Anschluss an China und die USA nicht zu verlieren, will die Bundesregierung bis 2025 bundesweit insgesamt drei Milliarden Euro investieren. Mit dem Geld sollen unter anderem 100 neue Professuren geschaffen und die Projektfinanzierung erleichtert werden. Auch sind Pseudonymisierungs- und Anonymisierungsverfahren geplant, damit Forschern mehr Daten zur Verfügung stehen. Die LMU erhält vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für das Munich Center for Machine Learning, ein Kompetenzzentrum für Maschinelles Lernen, bis 2022 sechs Millionen Euro. Weitere rund 730.000 Euro bekommt sie bis 2021 im Rahmen des Verbundpro- jekts „MLwin – Maschinelles Lernen mit Wissensgraphen“. Insgesamt stehen der LMU in den nächsten drei Jahren rund 9,3 Millionen für KI-Projekte zur Verfügung. Dabei stehen keine Roboter, sondern die körperlose KI im Fokus, „Embodiment“ lautet das Schlagwort. Auch die bayerische Staatsregierung hat angekündigt, rund 300 Millionen Euro in das Kompetenznetzwerk Künstliche Maschinelle Intelligenz zu investieren. Wie sinnvoll das ist, zeigt das Beispiel von Christian Wachinger. Er leitet eine Nachwuchsforscher- gruppe zur Auswertung medizinischer Bilder durch KI an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU. Durch ein neues Verfahren können Gehirnstrukturen in 3D-MRT-Aufnahmen durch neuronale Netze automatisch segmentiert werden. Klingt kompliziert? Kurz gesagt müssen Ärzte auf die Auswertung klinischer Bilder nicht mehr Stunden, sondern nur noch weniger als 20 Sekunden warten. „Das hat auch weitreichende Folgen für die Verar- 1 beitung großer Studien“, erklärt Wachinger. Da alle Modelle und der Quellcode öffentlich sind, können Der Roboter Cimon mit Astronaut auch andere Wissenschaftler die Methode nutzen – zudem steht sie einfach zugänglich als Webservice Alexander Gerst in der Internationa- zur Verfügung. Künftig, ist der Neuroinformatiker überzeugt, haben Ärzte durch KI-Systeme deutlich len Raumstation ISS mehr Zeit für den Kontakt mit den Patienten.
Krankheiten mittels KI früher er- zahl physikalischer Daten – selbst Supercompu- kennen ter kommen damit an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Professor Nikolaos Koutsouleris von der Kli- Meteorologen haben daher einen Algorithmus für nik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klimavorhersagen trainiert, indem sie ihn mit Daten thema LMU-Klinikum nutzt Mustererkennungsalgo- aus hochauflösenden Simulationen gefüttert haben. rithmen und maschinelle Lernverfahren, um „Am Ende konnte der Algorithmus die Ergebnisse der Diagnosen, Prognosestellungen und Therapieauswahl bei Patien- herkömmlichen Modelle sehr gut reproduzieren, hat dabei aber ten mit schweren psychischen Erkrankungen besser und schneller deutlich schneller gearbeitet“, veranschaulicht Rasp. Auch Craig ist zu treffen. Dabei benötigt der trainierte Lernalgorithmus nur acht überzeugt, dass die Methodik das Potenzial hat, die Klimasimulation klinische Variablen, die in fünf Minuten erhoben werden können zu verbessern. Vielleicht ist die Wettervorhersage also eines Tages 7 – beispielsweise der Schweregrad der Erkrankung oder die Symp- tatsächlich das: eine Vorhersage, keine Einschätzung. MUM • NR. 1 • 2019 tombelastung. In Zukunft wird diese Modellbibliothek um weitere prognostische und diagnostische Modelle erweitert werden. „Wir Selbstötungen durch KI verhindern hoffen, ein breites Portfolio an Instrumenten für eine verbesserte KI spielt auch am Institut für Kommunikationswissenschaft und Me- Früherkennung und damit natürlich auch Prävention psychischer dienforschung eine Rolle. Dr. Mario Haim zum Beispiel beschäftigt Erkrankungen bereitstellen zu können“, erläutert Koutsouleris. sich mit dem Einfluss von Algorithmen und künstlicher Intelligenz Künftig will er auch eng mit Professor Markus Bühner vom Depart- auf Journalismus und öffentliche Kommunikation. Dazu zählen etwa ment Psychologie zusammenarbeiten. Fragen, ob politisch oder gesundheitlich relevante Suchergebnisse bei prominenten Suchmaschinen systematisch bevorzugt werden. Der Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Psychologie und Pädago- Bisher scheint die Angst vor sogenannten Filterblasen wohl über- gik hat sich auf die Erhebung und Analyse von Auto- oder Handy- höht, sagt Haim. Ein weiteres Forschungsfeld ist die Suizidpräven- daten spezialisiert – daraus kann er zum Beispiel das Geschlecht tion durch KI. Manche Suchmaschinenbetreiber blenden bei be- des Nutzers ablesen. „Diese Informationen können dafür genutzt stimmten Suchbegriffen Angebote der Telefonseelsorge ein — das werden, Systeme und Inhalte besser an einzelne Personen anzupas- wird häufig genutzt. Haims Forschung soll dazu beitragen, dass häu- sen“, erklärt Bühner. Aktuell arbeitet sein Team interdisziplinär mit figer im richtigen Moment solche Hilfsangebote angezeigt werden. Statistikern und Informatikern der LMU an einer App zur mobilen Verhaltensdatensammlung. Durch Mobile Sensing können einer- Da KI viele Potenziale für Anwendungen in sämtlichen Industrien seits Vorhersagen von Persönlichkeitsmerkmalen auf den beruf bietet, verändert das Thema ebenso die betriebswirtschaftlichen lichen Erfolg getroffen werden. Andererseits können die Daten zur Seiten von Lehre und Forschung. Die Forschungsgruppe „KI-ba- Prävention psychischer Erkrankungen genutzt werden. „Dadurch sierte Informationssysteme“ untersucht zum Beispiel das Entschei- können wir Personen helfen, die nicht merken, dass sie sich in dungsverhalten von Menschen bei Konversationen mit KI-Robotern. ärztliche oder psychologische Behandlung begeben sollten“, erklärt Im Cluster „Marketing and Strategy“ wird diskutiert, wie maschinell Bühner. generierte Kreativität im Marketing genutzt wird und beim Kunden ankommt. Forschungsarbeiten im Cluster „Technology and Innova- Dr. Alexander Fraser von der Fakultät für Sprach-und Literaturwis- tion“ befassen sich mit der Frage, ob KI bessere Empfehlungen ge- senschaften ist Spezialist für automatische Übersetzungen. „Früher ben kann als der Mensch. Bisher noch nicht, verrät BWL-Professor schrieben Computerlinguisten viele Regeln auf, um zu erklären, wie Tobias Kretschmer. „Algorithmisch erzeugte Empfehlungen werden Computer übersetzen sollen. Bei unserem Ansatz geht es darum, aber immer besser.“ Computer selbst lernen zu lassen“, sagt Fraser. Kürzlich half er dem National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitssystem Am Genzentrum der Fakultät für Chemie und Pharmazie werden in Großbritannien, die Informationen auf ihrer Webseite in anderen verschiedene Deep-Learning-Methoden verglichen — ein Teilgebiet Sprachen anbieten zu können. Speziell in Schottland gibt es viele der KI. Damit sollen 2D-Projektionen von Molekülen in der Kryo- Haushalte, in denen polnisch oder rumänisch gesprochen wird. Aber Elektronenmikroskopie automatisch erkannt werden, was die Struk- was ist, wenn es bisher nicht viele Übersetzungen in eine Sprache turbestimmung einfacher macht. Am LMU-Institut für Statistik wur- gibt? Künftig sollen durch „Unsupervised Learning“, also unüber- de bereits vor vier Jahren der erste deutsche Elitestudiengang Data wachtes Lernen, auch Übersetzungen in solche Sprachen möglich Science angeboten (siehe auch Seite 12). Big Data gilt als Vorstufe sein – zum Beispiel Minderheitssprachen wie Niedersorbisch, das für den eigentlichen Problemlöser, die KI. „Der Rohstoff Daten muss in der Niederlausitz gesprochen wird. aber für sie erst sinnvoll veredelt werden“, erklärt Studiengangspre- cher Professor Göran Kauermann. KI verändert auch die Lehrinhalte Auf ein ähnliches Konzept setzten die Klimaforscher Stephan Rasp von angehenden Juristen. Das Schlagwort heißt hier „Legal Tech“ und Professor George Craig von der Fakultät für Physik. Für die (siehe Interview auf Seite 9). Dürfen Juristen Datenbanken nutzen, Vorhersage von Klimaentwicklungen braucht es eine enorme An- die ohne jede Wertung mathematisch betrieben werden?
Vermittler, der die Sachverhalte dahinter erklärt, der das Fachwissen greifbar macht“, veranschau- licht Seidl. Mit der philosophischen Dimension von KI be- schäftigt sich Professor Julian Nida-Rümelin vom thema Philosophischen Seminar der LMU. „Die Entwick- lung von und die Interaktion mit Software-gesteu- erten Systemen von der Mustererkennung bis zur Robotik beeinflusst nicht nur die menschlichen Le- bensformen, sondern hat auch Rückwirkungen auf 8 unser Selbstbild als Menschen“, erklärt er. Ethi- sche Fragen müssten daher sowohl hinsichtlich MUM • NR. 1 • 2019 Keilschriften durch KI entschlüsseln der Entwicklung von Softwaresystemen, als auch Auch an anderen Fakultäten wird zunehmend im KI-Bereich geforscht. Der Altorien- über die Verfügbarkeit privater Nutzerdaten ge- talist Professor Enrique Jiménez von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissen- stellt werden. Weitere Beispiele seien die Entwick- schaften erforscht in Kooperation mit der Universität Bagdad babylonische Literatur lung zum autonomen Fahren, die Veränderung po- mithilfe von KI. Das Problem: Bisher lagern unzählige Tonfragmente mit Keilschriften litischer Öffentlichkeit durch Social Media und die in verschiedenen Sammlungen und Museen weltweit. Einzeln ergeben die teils sehr Rolle von Chatbots in der Firmenkommunikation kleinen Überbleibsel jedoch wenig Sinn. Jiménez’ Forschungsgruppe will daher die sowie der politischen Meinungsbildung. steinernen Manuskripte digitalisieren und dann Algorithmen entwickeln, die mitein- ander in Verbindung stehende Textfragmente automatisch zusammenführen. Sogar die Evangelisch-Theologische Fakultät beschäftigt sich mit KI. Der Lehrstuhl für Ethik Nicht alles, was unter der Rubrik KI läuft, fällt auch wirklich darunter. Intelligenz ist an einem von LMU-Professor Moritz Grosse- kommt dann ins Spiel, wenn Systeme ohne das Eingreifen des Menschen schlauer Wentrup, Department für Statistik, initiierten Pro- werden und selbstständige Entscheidungen treffen. „Ich wusste lange nicht, dass ich jekt mit dem Titel „Shaping AI“ beteiligt. In dem mich mit KI beschäftige“, sagt Professor Thomas Seidl vom Institut für Informatik an theologisch-ethischen Teilprojekt soll es darum der LMU und lacht. Inzwischen spielen die Techniken der Datenanalyse eine wichtige gehen, die Dimensionen gesellschaftlicher Verant- Rolle in der KI. Sein Fachgebiet ist maschinelles Lernen, die Grundlage von KI. Er wortung im KI-Bereich näher auszuleuchten. „Was und sein Team suchen in der Fülle von Daten nach Regelmäßigem und Unregelmä- aus der Perspektive des Einzelnen wünschenswert ßigkeiten. In der Praxis kommt das zum Beispiel bei Finanztransaktionen zum Einsatz. erscheint, kann in der Summe zu Folgen führen, Mit einer deutschen Kreditkarte wird plötzlich ein großer Geldbetrag in Südamerika die sich für die Gesellschaft als sehr problematisch bezahlt? Das könnte ein Betrugsversuch sein. erweisen“, konkretisiert Professor Reiner Anselm. „Darum sollen Wege gesucht werden, diese Fra- Seidl beschäftigen aber auch die sozialen Konsequenzen von KI. Die Bundesregierung gen einer breiteren gesellschaftlichen Debatte und schätzt, dass durch Automatisierung bis 2025 rund 1,6 Millionen herkömmliche Ar- eben auch einer ethisch-normativen Bewertung beitsplätze verloren gehen. „Das führt zu sozialen Umbrüchen“, ist der LMU-Professor zuzuführen.“ Noch macht KI vielen Menschen überzeugt. Gleichzeitig sei KI auch eine Chance, weil neue Arbeitsplätze entstünden. Angst. Gut, wenn an der Schwelle zum nächsten Das Bundesarbeitsministerium schätzt die Zahl auf 2,3 Millionen, also unter dem Technologieschub auch über solche Themen ge- Strich ein dickes Plus. „Es braucht immer einen Menschen hinter der Maschine, einen sprochen wird. ■ dl ■ Mehr Informationen zum Astronautenroboter Cimon: http://kurzelinks.de/zx9g ■ Einsatz von KI bei der Auswertung medizinischer Bilder: http://ai-med.de ■ Mustererkennungsalgorithmen und Maschinelle Lernverfahren von Professor Nikolaos Koutsouleris: www.pronia.eu/neurominer ■ Infos zum neuen Buch von Professor Nida-Rümelin „Digitaler Humanismus“: http://kurzelinks.de/snqo
Interview mit Juraprofessor Stephan Lorenz „Letztlich ist immer der Mensch verantwortlich“ Wer haftet bei einem Unfall mit einem selbstfahrenden Auto? Sollen die autonomen Fahrzeuge im Notfall lieber ein Kind oder Senioren überfahren? Und sind selbstlernende Maschinen die besseren Richter? Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Lehrinhalte von Jurastudierenden und die Arbeit von Juristen. LMU-Professor Stephan Lorenz warnt im MUM-Interview vor Panikmache. thema 9 MUM • NR. 1 • 2019 MUM: Professor Lorenz, ist KI auch an der Juristischen MUM: In letzter Zeit kam es immer wieder zu Un- Fakultät ein Thema? fällen mit selbstfahrenden Autos. Wer ist verant- Stephan Lorenz: Es gibt selbstverständlich auch an der Fa- wortlich, wenn selbstlernende Maschinen falsche kultät Kollegen, die sich mit KI im Bereich Rechtswissen- Entscheidungen treffen oder sogenannte Killer- schaften beschäftigen. Das Schlagwort heißt hier „Legal Roboter Menschen töten? Tech“ und ist in aller Munde. Ich selbst nehme an einem Lorenz: Ganz einfach. Verantwortlich ist nach dem entsprechenden Arbeitskreis der bayerischen Justiz teil. Straßenverkehrsgesetz immer der Fahrzeughalter – Man kann sagen, dass dieses Thema unter Juristen gerade und zwar ohne Rücksicht auf eigenes Verschulden. sehr aktuell ist. In weiten Bereichen wird es aber auch Diese sogenannte Gefährdungshaftung greift auch überschätzt. Manche definieren auch das, was wir bereits bei selbstfahrenden Autos. seit Langem tun, also zum Beispiel die Arbeit mit Daten- banken, als „Legal Tech“. MUM: Werden in der Juristerei auch moralische Fragen diskutiert, beispielsweise, ob ein Auto im MUM: Welche Anwendungsmöglichkeiten bieten sich Notfall eher ein Kind oder Senioren überfahren soll? durch „Legal Tech“? Lorenz: Ja, das wird lebhaft diskutiert. Eine wirkliche Lorenz: In der Praxis wird das derzeit etwa benützt in Antwort hat das Recht darauf nicht, denn der Wert Rechtsgebieten, die ohne jede Wertung nachgerade ma- von Leben kann nicht am Alter eines oder einer Be- thematisch betrieben werden können. So arbeiten etwa troffenen gemessen werden. Es handelt sich eher um Anbieter wie „flightright.de“, wo man bei Flugverspätun- eine ethisch-philosophische Debatte. gen die Entschädigung durchsetzen kann oder „geblitzt. de“ für Geschwindigkeitsübertretungen im Straßenver- MUM: KI wird für Kredite, Gesundheitsversorgung kehr. Echte KI-Anwendungen sind hier aber in weiter Fer- und Sozialhilfe zuständig sein. Braucht es eine Art ne. Deshalb wird das Thema zwar in Seminaren diskutiert, Algorithmen-TÜV oder ein Gesetz zur Verwen- ist aber nicht zentraler Gegenstand der Ausbildung. dung von künstlicher Intelligenz? Lorenz: Nein, sicherlich nicht. Denn hinter dem Com- MUM: Immer mehr Unternehmen setzen bei der Per- puter steht immer ein Mensch oder eine Behörde, sonalauswahl auf KI – hilft das, Diskriminierung vor- die für dessen „Entscheidung“ verantwortlich sind. zubeugen? Es macht insoweit keinen Unterschied, ob zum Bei- Lorenz: Allenfalls dann, wenn KI auch über die letztendli- spiel ein Sozialhilfebescheid von einem Menschen che Einstellung entscheidet. Das kann ich mir aber nicht oder einer Maschine geschrieben wird. vorstellen. MUM: Nachdem es bereits erste Roboter-Anwälte MUM: In den USA nutzen Richter schon routinemäßig gibt, die dank KI Kanzleien bei der Arbeit unter- KI bei der Urteilsfindung – können Sie sich Judge KI stützen: Müssen sich Anwälte Sorgen um ihre Jobs auch in Deutschland vorstellen? machen? Lorenz: Dass Richter in den USA routinemäßig KI einset- Lorenz: Nein, sicherlich nicht. Es wird sicher dazu zen, ist mir schlicht unbekannt. Ich halte es auch für un- kommen, dass bestimmte Routinearbeiten nicht mehr wahrscheinlich. Datenbankrecherche und Textproduktion anfallen, aber dafür haben Anwälte dann Zeit für die sind bei der Urteilsfindung aber natürlich eine Selbstver- Dinge, in welchen Sie unersetzbar sind. ständlichkeit, auch in Deutschland. ■ Interview: dl
Künstliche Intelligenz E S Sa y Kassandra geht steil zur Prime Time Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, in beinahe jeder Ausgabe jeder Tageszeitung. Das führt bei Lesern nicht zwangs läufig zu mehr Erkenntnis. Doch es führt bei Autoren garantiert zu immer fetteren Schlagzeilen, die sich sensationalistisch überbieten und aufmerksamkeitsheischend Klicks fangen wollen. Selten geht es bei KI aktuell um das Faktische. Kaum um das kurzfristig Mögliche, das mittelfristig Erwartbare, wenig um konkrete Chancen und Anwendungen, oft um über zogene Erwartungen oder obskure Vorbehalte. Leser allerdings fühlen sich existenziell bedroht, die Gesellschaft wird essay zunehmend nervös. Das ist nicht notwendig! Die Wolkenschieber haben Hochkonjunktur. Kassandra geht steil zur Prime Time. Aber wie so oft kann 10 der Blick zurück die Zukunft erhellen. Kassandra. Ja, sie hat die Trojaner davor gewarnt, das hölzerne Pferd in die Stadt zu ziehen. Und ja, im Ergebnis hat sie recht behalten. Troja war zerstört. Was also hät- M U M • N R. 1 • 2 0 1 9 te getan werden sollen? Kassandra konstruktiv zuhören. Das könnte die Lehre für 2019 sein. Nicht auf Vorurteile hören. Kassandra ernst nehmen. Nicht auf die eigenen oder die Reflexe der anderen reinfallen. Besser: hinsehen, hingehen, verstehen! Die kulturhistorische Frage ist doch, warum haben die Trojaner das hölzerne Pferd am Strand nicht auseinandergenommen? Aufmachen, reinschauen! Bitte heute auch! Was kann KI? Was können künstliche neuronale Netze leisten? Wozu kann man sie ein- setzen? Und wieso lassen einige und oft das „künstliche” weg? Möglicherweise, weil die mathematischen Grundlagen durch Marketing-Sprech emotional aufgewertet werden sollen. Weil Analogien wirkmächtig sind, und das ist gut, wenn es primär um Wirkung geht. Dafür zahlen wir gesellschaftlich einen Preis: Verwirrung liegt in der Luft, und die eigentlichen Fragen entgleiten, so dass die Beteiligten und die Betroffenen vorhersehbar aneinander vorbeireden. Was sind die prinzipiellen Grenzen der Leistungsfä- higkeit? Was sind selbstlernende Systeme? Und was heißt Selbstlernen bei Maschinen? Was genau ist menschliches Lernen? Welche Dimensionen haben die Anwendungschancen? Wie können Wirtschaft und Zivilgesellschaft profitieren? Ein Anwendungsbeispiel: Spracherkennung kann jeder ausprobieren und wird feststellen: Respekt! Nicht schlecht, schon gut, nicht wirklich perfekt. Vielmehr so, dass Nutzer unmittelbar Anwendungsfantasien und Ansprüche formulieren, was man alles erreichen könnte, wäre es denn nun wirklich gut. Journalis- 1 Reinhard Karger studierte theore ten, die gerade noch darüber diskutiert haben, ob Algorithmen die besseren Redakteure sind, wollen tische Linguistik und Philosophie in umgehend spracherkennende Systeme, die Interviews verschriftlichen können. Am besten auch dann, Wuppertal, war Assistent am Lehr wenn die Gesprächspartner sich ins Wort fallen und so, dass man das Gesagte eindeutig einem Sprecher stuhl Computerlinguistik der Univer zuordnen kann – also klar mit Sprecheridentifikation und mit Interpunktion, obwohl die natürlich nicht sität des Saarlandes, wechselte 1993 gesprochen wurde, aber inhaltsbildend sein kann. „Die Eltern glauben, die Kinder haben im Lotto ge- zum Deutschen Forschungszentrum wonnen” bedeutet offensichtlich etwas ganz anderes als „Die Eltern, glauben die Kinder, haben im Lotto für Künstliche Intelligenz (DFKI) gewonnen”. Die gleichen Wörter in derselben Reihenfolge – und eine ganz andere Welt. Und wenn man in Saarbrücken. Seit 2000 leitet dabei ist, gerne auch noch die Zusammenfassung als Teaser für das Gespräch und eine Schlagzeile, die Reinhard Karger die Unternehmens alles auf den Punkt bringt. kommunikation, seit 2011 ist er Unternehmenssprecher des DFKI. Journalisten, die die wirkmächtigen Schlagzeilen entwerfen, sind selber im Kern beeindruckt, sind exis- tentiell verunsichert. Wortreich werden Sorgen aufgeworfen und intensiv diskutiert: beim Journalistentag Er ist unter anderem Mitglied der NRW Mitte 2018 November in Dortmund befeuert ein virtueller Nachrichtensprecher der staatlichen chi- Jury des „Ausgezeichnete Orte”– nesischen Nachrichtenagentur Xinhua eine Diskussion (http://kurzelinks.de/jgne), ob KI bald den Nach- Wettbewerbs von „Deutschland – richtensprecher ersetzen kann und wird. Und vielleicht rasch auch den Reporter und den Redakteur und Land der Ideen“ und ist seit bestimmt auch den Chef vom Dienst. Und überhaupt! Februar 2017 MINT-Botschafter des Saarlandes. Im März 2018 Erstaunlich, dass Nervosität die kühle Abwägung auch bei Journalisten überlagert. Verblüffend, wie wurde er zu einem der 100 Fellows schnell sich die gefühlte persönliche Betroffenheit in den Vordergrund drängt. Wie gut ist dieses Angebot des Kompetenzzentrums für Kultur- aus China? Na ja. Wird es in China akzeptiert werden? Möglich. In Europa? Mal sehen. Die eigentliche und Kreativwirtschaft des Bundes Frage: Warum ein virtueller Nachrichtensprecher und kein virtueller Moderator? Nun, beim Nachrich- ernannt. tensprecher nähert sich das aktuell technisch Machbare der vom Zuschauer erwarteten Ergebnisquali- tät. Denn: Ein Ergebnis der Ausbildung eines Nachrichtensprechers ist das Kunststück, die Artikulati-
on gerade möglichst neutral zu halten, ohne persönliche Wertung, Voraussetzungen sind für die grundlastfähige Nutzung von erneu- unbeeinflusst von politischer Einstellung, sexueller Orientierung, erbarer Energie. privater Lebenssituation oder religiöser Überzeugung. Das gleiche gilt für Körperhaltung, Mimik, Gestik oder Satzmelodie. Das Ideal ist Mustererkennung kann die Finanzwirtschaft bei der Abschätzung der objektive, unpersönliche oder eben marginalisiert menschliche von Kreditausfallrisiken, die Versicherungen bei der Abschätzung Sprecher. Die obige Frage beantwortet sich fast von selbst: Wenn die von Schadenssummen unterstützen und kann beide Prozesse für die Aufgabenbeschreibung den Menschen zu einem „Roboter“ macht, Kunden beschleunigen. Der nachhaltige Erfolg für den aktiven Bör- dann ist es wenig verwunderlich, dass virtuelle Präsentationsagenten, senhandel steht noch aus, aber als persönlicher Finanzberater oder die gerade keine menschlichen Emotionen angemessen ausdrücken Produktauswahlassistent ist der Einsatz vorstellbar – und braucht können, diese Aufgaben so übernehmen, dass die Ergebnisse sich dann ein Geschäftsmodell. kaum von menschlichen Ergebnissen unterscheiden lassen. Wenn sich Menschen robotisch verhalten, können Roboter eben täuschend Selbstfahrende Autos werden nicht zu einer unfallfreien Mobilität füh- menschlich wirken. Avatare oder Präsentationsagenten artikulieren ren. Aber hochautomatisiertes oder später autonomes Fahren wird und präsentieren faktische Nachrichten; Journalisten schreiben Ge- Leben retten und lebensgefährliche Unfälle vermeiden helfen. Zahl- schichten, analysieren Zusammenhänge, kommentieren die Gescheh- reiche der täglich etwa 7.200 polizeilich erfassten Verkehrsunfälle nisse in der Welt, vertreten ihre Position und haben eine Haltung. und jährlich über 390.000 Verletzte könnten vermieden werden – das sind die Zahlen für 2017 (http://kurzelinks.de/003u). Natürlich wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Qualität der Visualisierungstechnologie zu einem entscheidenden Faktor für den KI ermöglicht neue Arbeitsbedingungen und wird ergonomisch be- kommerziellen Produkterfolg der Film- und Spieleindustrie – also lastende Aktionen übernehmen können. Dramatisch ist die Situation essay wurde investiert. Die grafische Qualität der Präsentationsagenten ist in der Pflege. In den kommenden Jahrzehnten wird der Pflegeauf- beeindruckend – bezogen auf die Aufgabe „Nachrichtensprecher”. wand weiter zunehmen, der Aufbau des Pflegepersonals wird aber Auch die künstlichen Stimmen, Sprachsynthese, sind deutlich bes- kaum Schritt halten können. Auch hier können hybride Teams aus ser geworden. Google Deepmind – WaveNet setzt „Deep Neuronal Menschen und KI-basierten Assistenzsystemen einen wesentlichen Networks” ein und erzeugt damit künstliche gesprochene Sprache Beitrag leisten, um dem Pflegepersonal die Arbeit zu erleichtern und 11 (http://kurzelinks.de/7ogz). Bei der letzten Entwicklerkonferenz, von lästigen Verwaltungsaufgaben zu befreien, so dass es sich auf M U M • N R. 1 • 2 0 1 9 Mai 2018, hat Google eine konkrete Anwendung vorgestellt (http:// sein Gegenüber konzentrieren kann. kurzelinks.de/hbqd). Das Duplex-System kann als aktiver Stellver- treter einen Telefondialog zur Terminverhandlung führen. Bei den Das alles soll nicht ablenken von der wichtigen Debatte über den vorgeführten Beispielen ging es um eine Tischreservierung und ei- möglichen Missbrauch dieser KI-Werkzeuge. Im Zusammenhang mit nen Friseurtermin. Hinsichtlich Natürlichkeit und Verständlichkeit Plattform-Kapitalismus, im Kontext der geheimdienstlichen Überwa- bestehen Stimme und Dialogführung bei dieser Anwendung den chung und der Verwendung gegen Bürgerinteressen und Menschen- Turing-Test: Sie lassen sich kaum – eigentlich gar nicht mehr – von rechte in autoritären Regimen. Natürlich sollten die Vereinten Natio- einer menschlichen Stimme unterscheiden. Um sich an das Ziel des nen einen KI-Waffen-Sperrvertrag initiieren und weltweit verhandeln, naturidentischen Dialogs anzunähern, werden typische Häsitationen so dass sich die militärische Nutzung autonomer Systeme etwa auf („äh”) oder Affirmationspartikel („Mm-hmm”) verwendet. Man kann Kampfmittelräumdienste beschränkt – und die mögliche Abwehr au- darüber diskutieren, ob die Angerufene getäuscht wurde oder sich ßerirdischer Invasoren. getäuscht fühlte, ob sich ein solcher „Anrufer” also als maschineller Service identifizieren sollte oder ob computergenerierte Texte durch Die Diskussion um die Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz er- einen Button gekennzeichnet werden müssen. öffnet eine überraschende Perspektive: Das Menschliche, das man mit Maschinen simulieren möchte, zeigt sich das erste Mal in seiner Die Anwendungsszenarien für KI, für Deep Learning, für künstliche prachtvollen emotionalen, sozialen und körperlichen Komplexität. neuronale Netze sind zahlreich und vielfältig, verändern die Wirtschaft Der Mensch wird sich wieder selbst zum Faszinosum. Und um diesen und bereichern das private Leben. Mustererkennung löst das Klassi- Austausch zu führen und zu qualifizieren, bietet 2019 das Wissen- fikationsproblem und führt zu mächtigen Werkzeugen, zu agileren schaftsjahr Künstliche Intelligenz eine extrem wichtige Chance. Es Abläufen, hoffentlich zu mehr Erkenntnis und flexibleren Prozessen, ermöglicht eine Fülle unterschiedlicher Veranstaltungen, damit eine aber offensichtlich zu besserer maschineller Übersetzung von Texten. breite Auseinandersetzung, schafft Anschauung und Anlässe für Neu- Und auch hier – immer ausprobieren: https://www.deepl.com/home gier. Und Neugier ist wichtig, denn eine neugierige Gesellschaft hat eine innewohnende Affinität zur Innovation, eine offene Haltung für Visuelle Objekterkennung ist vorteilhaft für Konsumenten, die textu- Chancen, vergisst dabei nicht die Risiken und bewertet eine Entwick- ell auf dem Smartphone in ihrer Fotosammlung nach Motiven suchen lung mit einer ergebnisoffenen und informierten Diskursintelligenz. können, aber wichtig auch für Erdbeobachtung und Katastophen- prävention, für die Erschließung der globalen Bildarchive und die Das Wissenschaftsjahr Künstliche Intelligenz wird den aktuellen Sicherung des visuellen kulturellen Erbes. Genauso kann Spracher- Stand und die Leistungsfähigkeit der Forschung vermitteln, sodass kennung alle Radioaufzeichnungen und Parlamentsdebatten durch- mehr Menschen die Unterschiede der verschiedenen KI-Technologi- suchbar machen. Mustererkennung kann bei bildgebenden Verfahren en und die Chancen verstehen. Es wird einen Raum für die Debatte in der Medizin eingesetzt werden und diagnostische Unterstützung eröffnen, was der Mensch eigentlich ist, was ihn auszeichnet und was für Ärzte liefern, etwa bei der Erkennung von Hautkrebs (http://kur- ihn von Maschinen abgrenzt. Denn nur so kann Skepsis abgebaut zelinks.de/1fj0). werden, und wir können die Diskussion darüber beginnen, wie KI jedem Einzelnen helfen kann, seine persönlichen Ziele zu erreichen. Visuelle Anomalieerkennung beschleunigt die Qualitätssicherung Und wie KI helfen kann, dass wir in der Gesellschaft leben können, in der Produktion. Die Auswertung von Maschinendaten kann vo- in der wir leben wollen. rausschauende Wartung ermöglichen und Maschinengesundheit fördern oder erhalten. Prognoseverfahren für Stromproduktion und KI ist keine Fata Morgana, sondern ein Scheinriese. In der Entfernung -verbrauch unterstützen die Energieversorger, Kraftwerk- und Ver- gewaltig, aus der Nähe sehr nahbar. Und nach ein wenig Überlegung teilnetzbetreiber und verbessern das Lastmanagement, schaffen genau die Lösung für das initiale Problem! Wenn man an Jim Knopf, Robustheit und Resilienz, die wegen der Erzeugungsvolatilität die Lukas, Herrn Turtur und Lummerland denkt...
Profile 12 MUM • NR. 1 • 2019 Serie Kooperationen: LMU und Tel Aviv University So funktioniert moderne Wissenschaft Seit 2017 kooperiert die LMU in Forschung und Lehre mit der Tel Aviv University, kurz TAU, in Israel. Obwohl im Bereich der Physik gestartet, ist die Kooperation, die finanziell von beiden Universitäten getragen wird, fächerübergreifend. Und sie ist schon jetzt sehr erfolgreich. In der Workshop-Pause hat Professor Saharon Rosset nur für ein kurzes Interview Zeit, denn er will die verbleibende Zeit nutzen, um zwischen den Vorträgen mit einem LMU-Kollegen über mögliche gemeinsame Forschungsansätze zu sprechen. Schließlich ist für den Workshop nur ein Tag anberaumt, und es gibt viel Diskussionsbedarf. Ja, er findet die Kooperation wichtig, München sei klasse, die Kollegen seien großartig – und schon ist er fort und im Gespräch mit dem LMU-Kollegen. Genau das ist Sinn des Workshops: gemeinsame Themen finden, das Know-how von Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler zweier hervorragender Universitäten nutzen und die Forschung voranbringen. Um Datenanalyse mit modernen statistischen und informatischen Methoden geht es in dem von Professor Göran Kauermann vom Institut für Statistik der LMU initiierten Workshop im Oktober 2018. Dessen Ziel: eine enge Verzahnung der beiden Fächer. Denn aufgrund der schieren Datenfülle, die sich in den vergangenen Jahren angesammelt hat, ist ein Umdenken in der Analyse gefragt. Statistiker interessiert hierbei, was konkret passiert, welche Inputgrößen welche Outputgrößen gene- rieren, während die Informatiker im Sinne eines „what happens next?“ nach Lösungen suchen, wie die Analyse verbessert werden kann, etwa durch maschinelles Lernen oder durch künstliche neuronale Netzwerke. „Genau diese beiden Ansätze zu kombinieren bietet ein großes Potenzial“, ist sich Göran Kauermann sicher. Initiales Ereignis bei der Bündelung statistischer und informatischer Methoden war die Einrichtung des Elitestudiengangs Data Science, der genau diese Verzahnung im Rahmen eines ausschließlich englischsprachigen Masterprogamms forcierte. Und die Kooperation mit der TAU unterstützt dies hervorragend, da beide Universitäten sowohl im Bereich der Statistik als auch in den Computerwissenschaften über sich sehr gut ergänzende Forschungsprofile verfügten, so Göran Kauermann. Er sieht in dieser Hinsicht den Vorteil, auch Randbereiche zum Thema Data Science stärker zu akzentuieren. So etwa, indem ethische oder juristische Fragestellungen berücksichtigt werden und das ganze Thema in Bezug auf angewandte Forschung positioniert wird. Denn nicht nur die Statistik ist sehr anwendungsorientiert, sondern etwa auch die Sozial- oder Geisteswissenschaften – Stichwort „Digital Hu-
■ LMU-TAU Research Cooperation Program: http://kurzelinks.de/LMU-TAU manities“. Gerade hier passen auch die Profile beider der LMU“, sagt Professor Hans van Ess, Vizepräsi- Universitäten als klassische Volluniversitäten perfekt dent für Internationales an der LMU. „Ein wichtiges zueinander. „In dieser Hinsicht sehen wir den Work- Instrument sind dabei unsere strategischen Koope- shop auch als Kick-off-Veranstaltung für den Ausbau rationen mit ausgewählten Partnern weltweit, zu der gemeinsamen Aktivitäten.“ denen neben der TAU unter anderen auch Harvard, Berkeley, Cambridge, Tokio oder unser Netzwerk Profile Kooperation für die LMU mit den führenden Universitäten in China zählen. Genau das sieht die Kooperation vor, denn die Work- Mit diesen hochrangigen Partnern wollen wir nach- shops und die daraus resultierenden Forschungsthe- haltige Forschungszusammenarbeit fördern und men sind zwei ihrer wichtigen Bausteine. Der dritte institutionalisieren“, so van Ess. sind Visiting Professorships, in deren Rahmen TAU- Und sein Kollege im Präsidium der LMU, Dr. Sig- Wissenschaftler für ein Jahr an der LMU forschen mund Stintzing, ergänzt: „Die Schlüsselkoopera- können. „Die Visiting Professors müssen auch Vorle- tion mit der TAU baut nicht nur die erfolgreiche 13 sungen anbieten“, betont der Physiker Professor Die- Zusammenarbeit beider Universitäten in allen MUM • NR. 1 • 2019 ter Lüst, der die Kooperation LMU-seitig koordiniert, Fachbereichen aus. Sie ist auch ein wichtiger Be- denn die Lehre sowie die Nachwuchsförderung sind standteil der Internationalisierungsstrategie der fester Bestandteil. Die ersten beiden Visiting Profes- LMU im Rahmen des Zukunftskonzeptes LMUex- sors der TAU stehen bereits fest: Professor Haim Wolf- cellent“, sagt der Vizepräsident. son, ein Computerwissenschaftler mit dem Schwer- punkt Structural Bioinformatics, wird an die Lehr- und Und außerdem: „Moderne Wissenschaft funkti- Forschungseinheit Bioinformatik von Professor Ralf oniert am besten im Rahmen internationaler Ko- Zimmer kommen. Und der Historiker und Philosoph operationen“, bringt es Daniel Nevo auf den Punkt, Professor Yossi Schwartz wird bei Professor Michael der seit Kurzem als Professor an der TAU zur Ana- Brenner und Professorin Eva Haverkamp im Bereich lyse hochdimensionaler Daten forscht. Er ist be- Jüdische Geschichte zur Entstehung des mittelalterli- geistert von der Kooperation im Allgemeinen und chen philosophischen und wissenschaftlichen Voka- dem Workshop zu Data Science im Besonderen und bulars im Hebräischen forschen. sieht seine Erwartungen mehr als erfüllt. „Wir ha- ben unterschiedliche Hintergründe. Und nur durch Strategische Bedeutung Zusammenarbeit können wir unser Wissen effizient „Eine verstärkte internationale Ausrichtung in For- nutzen. Wir müssen voneinander lernen.“ ■ cg schung, Lehre, Nachwuchsförderung und Governance ist die Basis der langfristigen Entwicklungsplanung
Profile 14 MUM • NR. 1 • 2019 Für ihre Promotion an der LMU war Slata Kozakova erst jüngst von Mecklenburg-Vorpommern nach München gezogen. Nun reiste die Slawistin wieder dorthin zurück – um in Schwerin den wichtigsten Literaturpreis des Landes entgegenzunehmen. Gerade ihre „stille und melancholische“ Lyrik hatte nicht nur die Jury überzeugt, sondern auch das Publikum. Manche Gedichte beginnen morgens in der S-Bahn. Auf ihrer Fahrt von Sauerlach nach München, zur Gra- duiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU, notiert Slata Kozakova sich Ideen und Textfrag- mente ins Handy. „Das fällt nicht so auf wie mit einem dicken Papierblock“, sagt die 26-Jährige mit einem Lachen. Auch auf Kassenzettel oder Briefumschläge kritzelt sie ihre Einfälle und hält bildliche Eindrücke mit Fotos fest: „Aufhängungen oder Beschriftungen etwa, die mir seltsam vorkommen.“ Zuhause am Computer fließt das Gesammelte dann in Kozakovas Lyrik und Kurzprosa ein. Insbesondere ihre Gedichte haben der Slawistin nun den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern einge- bracht. Die Auszeichnung wird seit 2016 von einem Verbund literarischer Institutionen des Bundeslandes verliehen. Neben dem Preisgeld ist er unter anderem mit einem einmonatigen Schreibaufenthalt in einem Künstlerhaus verbunden. Slata Kozakovas Gedichte beschrieb die Jury als im Ton „so unspektakulär, still und melancholisch“, dass sie den Leser „auf Anhieb atmosphärisch in ihren Bann“ zögen. So verwundert es nicht, dass sie auch den ersten Publikumspreis erhielt. Für Slata Kozakova, die meist unter ihrem Mädchen- und Künstlernamen Slata Roschal veröffentlicht, ist der Preis in mehrfacher Weise „sehr aufgeladen“. „Er ist beinah ein Abschiedspreis, nachdem ich ja fast mein ganzes bisheriges Leben in Mecklenburg-Vorpommern verbracht habe – Kindheit, Schule, Studium.“ In St. Petersburg geboren, war sie als Vierjährige mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. In Schwerin wuchs sie zweisprachig auf – mit Deutsch und Russisch – und trug schon ihrer Grundschulklasse selbst geschriebene Geschichten vor. „Über Elfen und Füchse“, erinnert sie sich. „Ich wollte Schriftstellerin wer- den, mit Lyrik habe ich aber erst später, vielleicht mit 14, angefangen.“ Am Gymnasium zeigte sie die Texte ihren Deutschlehrern. „Manchmal haben sie etwas dazu gesagt, manchmal hatten sie aber auch keine Zeit.“
Abschied und Rückkehr Nach dem Abitur wechselte Kozakova nach Greifswald, um an der kommen viele andere Dinge: ein Seminar in Slawistik, in das sie viel dortigen Universität Slawistik und Germanistik zu studieren. Dort Zeit investiert, andere Veranstaltungen an der Graduiertenschule, schloss sie sich einer „tollen Lyrikergruppe“ an. „Die Treffen, bei de- und nicht zuletzt ihr Kind, das im September eingeschult wurde. Der- nen wir unsere Texte besprachen, haben mich sehr vorangebracht“, zeit sieht die 26-Jährige sich nach Verlagen um – für einen Lyrikband, sagt sie heute. Neben einem Master-Studium in Vergleichender aber auch einen „längeren Prosatext“. „Wenn dann noch irgendetwas Literaturwissenschaft in Greifswald begann sie, Lyrik und Prosa in dazu kommt – etwa ein Umzug –, dann bin ich ziemlich überwältigt Literaturzeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen, darunter von dem Ganzen“, sagt sie. „Es ist ein ständiges Jonglieren. Aber mosaik, entwürfe, oder hEFt. Zudem begann sie, sich an Schreib- bislang habe ich immer noch alles hinbekommen.“ Profile 15 UM • NR. 1 • 2019 werkstätten wie dem „Poetencamp Mecklenburg-Vorpommern“ oder Entspannung für ihr straffes Zeitpensum dürfte das einmonatige der „Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung im Herrenhaus Schreibstipendium im Künstlerhaus Lukas im Ostseebad Ahrenshoop Edenkoben“ zu beteiligen. Der Literaturpreis sei für sie „wie der Ab- bringen, das mit dem Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern ein- schluss dieser Epoche“. „Nun glaube ich, von dort alles mitgenom- hergeht. „In dieser Zeit lebt und schreibt man dort. Und am Schluss men zu haben, was es mitzunehmen gab.“ Der Preis habe aber auch gibt es eine Lesung.“ Auch wenn sie den Aufenthalt auf zwei mal eine versöhnliche, nostalgische Note: „Vorletztes Jahr wollte ich so zwei Wochen aufteilen wird: „So viel Zeit am Stück hatte ich noch sehr weg aus Greifswald, von diesem grauen verregneten Meer. Und nie für meine Texte. Ich bin gespannt, wie ich auf diese Situation nun bin ich für die Preisverleihung doch freiwillig wieder in diese reagiere.“ ■ ajb Richtung gefahren.“ Das Schreiben empfindet Slata Kozakova, die im vergangenen Jahr auch den 2. Preis des Nachwuchswettbewerbs der Literaturstiftung Bayern erhalten hatte, als „in gewisser Weise sinnstiftend“. „Alles, was passiert, würde ja zum großen Teil vergehen und verschwinden, wenn man nicht darüber schreiben würde.“ Vor allem müsse man über schwierige Sachen schreiben. „Über etwas wie Ängste, Einsam- keit, oder scheinbar normale Banalitäten mit aggressivem Potenzial.“ Ihre Gedichte und Prosastücke, in Deutsch oder auch Russisch ver- fasst, handeln von Mehrsprachigkeit und Sprachlosigkeit, von fehl- geschlagenen Verhaltensnormen und -erwartungen. „Es macht mir Freude, mit dem Schreiben den Lauf der Dinge zu bremsen, in den Alltag einzugreifen, durch eine bloßgelegte, ruhiggestellte Sprache. Wenn ich schreibe, glaube ich, einen Platz in der Welt eingenommen zu haben.“ Seit dem Wintersemester 2017/18 schreibt Kozakova nun auch an ihrer Doktorarbeit. An der Graduiertenschule für Ost- und Südosteu- ropastudien der LMU promoviert sie über den literarischen Typus des „Untergrundmenschen“, eines einsamen Mannes in der russischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Es ist schön, mich bei der Dissertation mit dem beschäftigen zu können, was mich in- teressiert, mit Literaturtheorie und guten literarischen Texten, etwa denen von Dostojewski, meinem Lieblingsautor.“ „Ein ständiges Jonglieren“ Wie sich die Dissertation zeitlich mit Lyrik und Prosa arrangieren lässt? „Das ist generell sehr schwierig“, sagt Slata Kozakova. „Einer- seits möchte ich natürlich die Doktorarbeit zustande bringen, ande- rerseits aber auch meine Texte schreiben, verschicken, Bewerbungen verfassen, mich bei Texttreffen und Lesungen blicken lassen.“ Dazu http://www.gs-oses.de/slata-kozakova.html
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