Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München

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Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
nr. 1 • 2019

             zeitschrift der ludwig-maximilians-universität münchen

Künstliche Intelligenz

Unverzichtbare
Helferlein
Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
Ein Stipendium –
 Deutschlandstipendium an der LMU München
                                                                   viele Gesichter
                                                                                     Daniel Meierhofer,
                                                                                     Zahnmedizin
                                                                                     Ich engagiere mich für Minderheiten wie
                                                                                     Straßenkinder oder Flüchtlinge. Am meisten
                                                                                     Freude bereitet mir aber der Einsatz als Spre-
                                                                                     cher für queere Studierende an der LMU. Ich
                                  Polina Larina,                                     weiß aus eigener Erfahrung, welche Probleme
                                  Interkulturelle Kommunikation                      ein Outing mit sich bringen kann.
                                  Nach dem Tod meines Vaters lernte ich viel,
                                  um es von Usbekistan in die große, weite Welt
                                  zu schaffen. In München kann ich meinen                              Gideon Arnold,
                                  Traum jetzt verwirklichen: lernen und lehren.                        Jura
                                  Wenn ich für immer an der Uni bleiben dürfte,                        Nach meiner Ausbildung zum Wirtschaftsme-
                                  würde ich das sofort tun.                                            diator habe ich neben meinem Studium einen
                                                                                                       Verein gegründet. Darin engagieren sich jetzt
                                                                                                       Juristen aus ganz Deutschland, um mittellosen
Caroline Schambeck,                                                                                    Menschen durch Mediation bei der außerge-
Geowissenschaft                                                                                        richtlichen Streitschlichtung zu helfen.
Neben dem Studium Geld zu verdienen ist
wegen meiner Mukoviszidose-Erkrankung
unmöglich. Durch das Deutschlandstipendi-
um habe ich bald trotzdem meinen Master in
der Tasche. Das ist ein kleiner Sieg im Kampf
gegen die unheilbare Krankheit.

                                                                                                       Sybille Veit,
                                                                                                       Medizin
                      Sinksar Ghebremedhin,
                                                                                                       Ein Baby während des Studiums bekommen?
                      Medieninformatik
                                                                                                       Das hat bei mir funktioniert – dank des
                      Meine Eltern mussten selbst vor dem Krieg                                        Deutschlandstipendiums. Jetzt helfe ich als
                      fliehen. Daher unterstütze ich mit meinem                                        Fachschaftsgruppenleiterin anderen Stu-
                      Verein »Students4Refugees« Flüchtlinge dabei,                                    dierenden mit Kind beim Organisieren des
                      ein Studium beginnen oder fortsetzen zu                                          Studienalltags.
                      können – vier haben bereits ihren Abschluss
                      geschafft.

                                                                                                                         Ich
                                                                                                                      möchte ein
                                                                                                                       Stipendium
                                                                                                                        stiften
                                     www.lmu.de/deutschlandstipendium
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                                          Zum Dank verdoppelt der Bund Ihre steuerlich absetzbare Spende.
Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
Editorial
                                                                                                                                               1
1 Die Eingangstür zur Fakultät für Wirtschafts­

                                                                                                                                             MUM • NR. 1 • 2019
wissenschaften in der Kaulbachstraße in Schwabing
                                                    EDITORIAL

                                                    Liebe Leserinnen, liebe Leser,

                                                    mit 2019 hat ein neues Wissenschaftsjahr begonnen, das im Zeichen der künst­lichen
                                                    Intelligenz, kurz KI, steht. KI bietet ein enormes Potenzial – tatsächlich kann sich
                                                    kein wissenschaftliches Forschungsgebiet diesem Thema entziehen. Die MUM-Titel­
                                                    geschichte gibt einen Überblick, wie KI an der LMU in Forschung und Lehre verankert
                                                    ist und dabei zeigt sich ein beeindruckendes Bild: Von der Informatik und der Medi-
                                                    zin, über Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaften bis hin zu Soziologie,
                                                    Rechts- und Naturwissenschaften – überall gibt es sinnvolle Ansätze zu KI. Dabei
                                                    bleiben auch kritische Einschätzungen nicht außen vor – denn jede neue Technologie
                                                    hat auch ihre Kehrseite.

                                                    Die Kehr- oder besser Originalseite wurde bei einer historischen Plastik aus dem
                                                    Mittelalter wieder herausgearbeitet: Nachdem die Originalfigur der „Sitzenden
                                                    Gottesmutter“ der verschiedenen und äußerst dilettantisch ausgeführten Bemalun-
                                                    gen und „Bearbeitungen“ der Jahrhunderte entledigt wurde, hat sie jetzt ihrem Platz
                                                    im Herzoglichen Georgianum am Professor-Huber-Platz wieder eingenommen und
                                                    strahlt dort ihre alte Würde aus.

                                                    Die positiven Seiten des Lebens versuchen die Clowns ohne Grenzen aufzuzeigen,
                                                    wenn sie in die Krisengebiete dieser Welt reisen. Ihre wichtige Arbeit hat ein Mädchen
                                                    aus einem rumänischen Waisenhaus gut beschrieben: „Wenn du so aufwächst wie ich,
                                                    dann zählt jede schöne Erinnerung.“ Wissenschaftlich beraten werden die Clowns
                                                    durch den Traumaforscher Willi Butollo von der LMU.

                                                    Eine Kehrtwende vom Soziologen zu einem Kartoffelimbissbetreiber auf dem Mün-
                                                    chener Viktualienmarkt – hat der LMU-Alumnus Dominik Klier vollzogen, der in dieser
                                                    Ausgabe porträtiert wird.

                                                    Viel Freude beim Lesen!
                                                    Ihre MUM-Redaktion
Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
MUM • NR.1 • 2019
                                                           ■ news
                                                           3    meldungen

                                                           ■ titel
                                                                Künstliche Intelligenz
                                                           6    Unverzichtbare Helferlein

                                                           ■ essay
                                                                Künstliche Intelligenz
                                                           10   Kassandra geht steil zur Prime Time

                                                           ■ profile
                                                           	Serie: Kooperationen – LMU und Tel Aviv University
                     6                                     12	So funktioniert moderne Wissenschaft
                         Künstliche Intelligenz
                     Unverzichtbare Helferlein
Inhalt

                                                           	Literaturpreis für Slata Kozakova
                                                           14   „Schreibend den Lauf der Dinge
                                                                aufhalten“

                                                           	Begabungspsychologische Beratungsstelle
   2                                                       16   Potenzial von Kindern zuverlässig
                                                                erkennen
MUM • NR. 1 • 2019

                                                           	Herzogliches Georgianum
                                                           18   "Thronende Gottesmutter"
                                                                restauriert

                                                           	Artist in Residence-Programm
                                                           20	Bindeglied zwischen Kunstbetrieb
                                                    14
                                                           	und Universität

                                                           	EU Careers Ambassador Cornelia Nissen
                                                           22   Botschafterin für Karriere und Werte
                                       Literaturpreis
                                   für Slata Kozakova      	Clowns ohne Grenzen
                               „Schreibend den Lauf        24   Humor hilft heilen
                                 der Dinge aufhalten“
                                                                Kindertransporte im Nationalsozialismus
                                                           26   Arthur und Lilly

                                                    26     	ScienceHistory
                                                           28   „Der bayerische Humboldt“

                                                           ■ Alumni
                                                           	LMU-Alumnus Dominik Klier ist Mitinhaber des
                                      Kindertransporte          „Caspar Plautz“
                                 im Nationalsozialismus
                                                           30   „Kartoffeln aus Akademikerhand“
                                      Arthur und Lilly

                                                           ■ menschen
                                                    28
                                                           32 neuberufen
                                                           34 preise & ehrungen
                                                           39	Verstorben

                                                           ■ service
                                                           42   tipps & terminE
                                          ScienceHistory
                         „Der bayerische Humboldt“
                                                           ■ impressum
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                               16 Preise für eine innovative Lehre

                               Im Dezember vergangenen Jahres hat die LMU 16 Preise im Rahmen des
                               Programms Lehre@LMU vergeben. Der LMU Lehrinnovationspreis würdigt

                                                                                                               news
                               Lehrende, die innovative Lehrkonzepte erarbeiten und umsetzen. Die besten
                               studentischen Forschungsprojekte werden mit dem LMU Forscherpreis für ex-
                               zellente Studierende prämiert. Die systematische Integration von Forschungs-
                               und Praxisorientierung in die Lehre ist ein Ziel des Programms im Rahmen
                               des Qualitätspakts Lehre. Dazu gehört unter anderem, dass Studierende bereits     3
                               während des Studiums die Gelegenheit haben, ein Forschungsprojekt weitge-

                                                                                                               MUM • NR. 1 • 2019
                               hend selbstständig durchzuführen. Die Preise werden von der LMU jährlich
                               vergeben. Im vergangenen Jahr konnten mit freundlicher Unterstützung der
                               Münchener Universitätsgesellschaft erstmals zwei zusätzliche LMU Forscher-
                               preise vergeben werden.

                               Für den LMU Forscherpreis für exzellente Studierende waren 21 Vorschläge aus
                               elf Fakultäten eingegangen. Eine Jury, in der alle vier Fächergruppen und die
                               verschiedenen Statusgruppen der LMU vertreten sind, hat aus den Vorschlägen
                               der Fakultäten zwölf Preisträger ausgewählt. ZDie Projekte werden nach den
                               Kriterien der erfolgreichen Durchführung des Projektes, Umfang und Originali-
                               tät des Erkenntnisgewinns sowie Potenzial für Anschlussprojekte bewertet. Der
                               Preis ist mit 1.000 Euro pro Projekt dotiert.                          ■ red

                                                                                              drive.tech
                                                                                              by maxon motor

                                                                                              YEP
Das Scewo-Team mit seinem treppensteigenden Rollstuhl ist im Young Engineers Program von maxon.
Auch du kannst Teil von YEP werden! Mehr: drive.tech
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                     Neuer Studierendenausweis

                     Die LMUcard kommt ab Februar – und mit ihr nicht nur der
                     Dienstausweis, sondern auch der neue Studierendenausweis.
                     Ob dieser auch Auswirkungen auf Beschäftigte der LMU hat,
                     beantwortet Dr. Oliver Diekamp, Leiter des IT-Dezernats, im
                     Interview.

                     Was sind – abgesehen von den Funktionen der LMUcard als
                     Chipkarte – die Unterschiede zwischen dem neuen und alten
                     Studierendenausweis?
                     Dr. Oliver Diekamp: Die LMUcard für Studierende unterschei-
                     det sich in vielfacher Hinsicht vom aktuellen Ausweis. Die Stu-    1  In einem selbstironischen Film hat die LMU die späte Einführung des Studien­
                     dierenden werden in Zukunft den Ausweis online beantragen,         ausweises im Chipkartenformat angekündigt.
                     dieser Prozess wird mit der Aktivierung der LMU-Benutzer-
                     kennung erfolgen. Studierende behalten darüber hinaus den
                     Ausweis grundsätzlich für die Dauer des gesamten Studiums.         in Fachbibliotheken der Fall sein. Bei diesen Gelegenheiten könn-
News

                     Jedes Semester erneuern die Studierenden selber die Gültigkeit     ten Studierende auf die Online-Immatrikulationsbescheinigung
                     der LMUcard. Hierfür validieren sie die Karte an Terminals,        zurückgreifen. Ebenso ist es möglich, dass bei solchen Prozessen
                     die an vielen Standorten der LMU installiert werden. Wichtig       zukünftig direkt auf die Online-Systeme, zum Beispiel auf das Stu-
                     ist zudem, dass auf dem Ausweis zwar ein Foto aufgedruckt          dierendenverwaltungssystem, zugegriffen wird. Die Karte selber ist
   4                 werden kann, jedoch weniger Platz für die Informationen zu         mit einem RFID-Chip ausgestattet, über den die Matrikelnummer
                     den eingeschriebenen Studiengängen vorhanden ist und wir           sehr bequem durch Auflegen auf einen entsprechend konfigurierten
MUM • NR. 1 • 2019

                     deshalb planen, nur die Namen der Fakultäten, der die Studi-       Kartenleser ausgelesen werden kann.
                     engänge zugeordnet sind, mit der Validierung auf den Ausweis
                     zu drucken.                                                        An wen kann man sich wenden, wenn man von der Einführung
                                                                                        des neuen Studierendenausweises betroffen ist, und wie geht es
                     Welche Prozesse sind durch diese Änderung betroffen?               dann weiter?
                     Grundsätzlich alle Prozesse, bei denen die detaillierten Infor-    Am einfachsten ist eine Kontaktaufnahme per E-Mail an den IT-
                     mationen zum Studiengang auf dem bisherigen Studierenden-          Servicedesk (it-servicedesk@lmu.de). Je nach Anliegen können wir
                     ausweis wichtig waren. Das könnte beispielsweise in Bera-          dann Ansprechpartner ermitteln, die sich mit Ihnen in Verbindung
                     tungsgesprächen oder bei Einlasskontrollen zu Prüfungen oder       setzen werden.                                               ■ ski

                                                                      Die Kunstkammern der Universität Ingolstadt

                                                                      Ein neuer Band der Reihe Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Univer­
                                                                      sität München von Dr. Claudius Stein befasst sich mit den Kunstkammern der Uni-
                                                                      versität Ingolstadt, insbesondere mit den Schenkungen des Domherrn Johann Egolph
                                                                      von Knöringen und des Jesuiten Ferdinand Orban. In dieser Hinsicht wies dieUni-
                                                                      versität Ingolstadt – die heutige LMU – im Bereich ihrer dinglichen Kultur ein Allein­
                                                                      stellungsmerkmal auf: An keiner anderen alteuropäischen Universität gab es bereits
                                                                      im 16. Jahrhundert eine Kunstkammer. Darüber hinaus erhielt die Hohe Schule im
                                                                      18. Jahrhundert eine zweite derartige Sammlung. In beiden Fällen handelte es sich um
                                                                      Initiativen von Einzelpersonen: Der Augsburger Domherr Johann Egolph von Knörin-
                                                                      gen (1537–1575) vermachte 1573 der Universität Ingolstadt seine Kunstkammer. Der
                                                                      Ingolstädter Jesuitenpater Ferdinand Orban (1655–1732) überließ seine Sammlung
                                                                      dem dortigen Kolleg, dessen Inventar 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens
                                                                      der Hohen Schule zufiel. Für beide Bestände existierten eigene Sammlungsgebäude.
                                                                      Die darin aufbewahrten Objekte bildeten den Grundstock der wissenschaftlichen
                                                                      Sammlungen der LMU, lassen sich heute jedoch zumeist nicht mehr identifizieren.
                                                                      Auf breiter Quellenbasis werden in der vorliegenden Monographie die Geschichte
                                                                      dieser Kunstkammern nachgezeichnet und ihre Bestände rekonstruiert.            ■ red

                                                                      8 Exponate aus den Kunstkammern: Das Birett von Johann, dem größten „altkirchlichen“ Gegner
                                                                      des Reformators Martin Luther
                                                                      7 Ein von Johann Egolph von Knöringen wahrscheinlich in Italien erworbenes Grabrelief. Es zeigt
                                                                      zwei Togati (römische Bürger). Es wurde in der Augsburger Domkustodie vermauert.
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                                                                                                                      news
Office-Campuslizenz: Word, Excel und Co kostenlos
für Studierende
Die LMU hat nun mit Microsoft einen Campusvertrag geschlossen:
Ab sofort können LMU-Studierende Microsoft Office 365 kostenlos
nutzen. Infos, wie sich Studierende das Office-Paket holen können,                                                     5
sind auf der Webseite des IT-Servicedesk abrufbar.            ■ ski

                                                                                                                      NR. 1 • 2019
www.it-servicedesk.uni-muenchen.de

                                                 Professionelle Software für
                                          Qualitative & Mixed Methods-Forschung
                                          Daten erheben - organisieren - analysieren - visualisieren - präsentieren

                                                  Effiziente Analyse
                                                  Interviews, Artikel, Bilder, Webseiten, Social Media,
                                                  Audio/Video, Umfragen, u.v.m.

                                                  Transkription on Board
                                                  Selbstgeführte Interviews zeitsparend transkribieren.

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Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
Künstliche Intelligenz

                         Unverzichtbare Helferlein
thema

                                           Das Wissenschaftsjahr 2019 steht im Zeichen künstlicher Intelligenz (KI). Auch an der LMU setzen Wissenschaft-
                                           ler auf die lernenden Roboter. Am LMU-Klinikum wurde ein fliegender Assistent für Astronauten entwickelt, am
                                                               Institut für Informatik wird durch maschinelles Lernen Kreditkartenbetrug vorgebeugt und an
   6                                                                 der Fakultät für Psychologie durch KI depressiven Menschen geholfen – oft interdiszipli-
                                                                         när. Kommunikationswissenschaftler untersuchen den Einfluss schlauer Algorithmen
MUM • NR. 1 • 2019

                                                                            auf die öffentliche Kommunikation, und Professor Julian Nida-Rümelin beschäftigt
                                                                              sich mit den philosophischen Dimensionen des Themas. Selbst in der Kunst und
                                                                                Theologie setzt man auf KI.

                                                                                  „Wach auf, Cimon!“ Mit diesen Worten erweckte der deutsche Astronaut Alex-
                                                                                   ander Gerst auf der Internationalen Raumstation ISS Ende letzten Jahres seinen
                                                                                   künstlichen Mitbewohner zum Leben. Das fliegende Helferlein reagierte prompt:
                                                                                   „Was kann ich für dich tun?“, fragte er. Cimon ist der weltweit erste fliegende
                                                                                   und autonom agierende Assistenzroboter mit künstlicher Intelligenz (KI). Die
                                                                                   menschlichen Aspekte haben ihm LMU-Mediziner beigebracht. „Cimon kann als
                                                                                 Partner und Begleiter Astronauten bei ihrem hohen Pensum an Experimenten,
                                                                                Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten unterstützen“, erklärt LMU-Medizinerin
                                                                               Dr. Judith-Irina Buchheim. Denkbare Ansätze auf der Erde sind laut ihrem Kollegen,
                                                                            Professor Alexander Choukèr, die Unterstützung von Ingenieuren, Forschern und Ärz-
                                                                          ten, das KI-basierte Erfragen von Symptomen oder das Begleiten von alleinstehenden
                                                                       Senioren im Alltag.

                                                                     Um den Anschluss an China und die USA nicht zu verlieren, will die Bundesregierung bis 2025
                                                                     bundesweit insgesamt drei Milliarden Euro investieren. Mit dem Geld sollen unter anderem
                                                                    100 neue Professuren geschaffen und die Projektfinanzierung erleichtert werden. Auch sind
                                                                   Pseudonymisierungs- und Anonymisierungsverfahren geplant, damit Forschern mehr Daten zur
                                                                 Verfügung stehen. Die LMU erhält vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für das
                                                               Munich Center for Machine Learning, ein Kompetenzzentrum für Maschinelles Lernen, bis 2022
                                                            sechs Millionen Euro. Weitere rund 730.000 Euro bekommt sie bis 2021 im Rahmen des Verbundpro-
                                                            jekts „MLwin – Maschinelles Lernen mit Wissensgraphen“. Insgesamt stehen der LMU in den nächsten
                                                            drei Jahren rund 9,3 Millionen für KI-Projekte zur Verfügung. Dabei stehen keine Roboter, sondern die
                                                            körperlose KI im Fokus, „Embodiment“ lautet das Schlagwort. Auch die bayerische Staatsregierung hat
                                                            angekündigt, rund 300 Millionen Euro in das Kompetenznetzwerk Künstliche Maschinelle Intelligenz
                                                            zu investieren.

                                                            Wie sinnvoll das ist, zeigt das Beispiel von Christian Wachinger. Er leitet eine Nachwuchsforscher-
                                                            gruppe zur Auswertung medizinischer Bilder durch KI an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und
                                                            Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU. Durch ein neues Verfahren können
                                                            Gehirnstrukturen in 3D-MRT-Aufnahmen durch neuronale Netze automatisch segmentiert werden.
                                                            Klingt kompliziert? Kurz gesagt müssen Ärzte auf die Auswertung klinischer Bilder nicht mehr Stunden,
                                                            sondern nur noch weniger als 20 Sekunden warten. „Das hat auch weitreichende Folgen für die Verar-
                     1                                      beitung großer Studien“, erklärt Wachinger. Da alle Modelle und der Quellcode öffentlich sind, können
                     Der Roboter Cimon mit Astronaut        auch andere Wissenschaftler die Methode nutzen – zudem steht sie einfach zugänglich als Webservice
                     Alexander Gerst in der Internationa-   zur Verfügung. Künftig, ist der Neuroinformatiker überzeugt, haben Ärzte durch KI-Systeme deutlich
                     len Raumstation ISS                    mehr Zeit für den Kontakt mit den Patienten.
Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
Krankheiten mittels KI früher er-                 zahl physikalischer Daten – selbst Supercompu-
                      kennen                                            ter kommen damit an ihre Kapazitätsgrenzen. Die
                      Professor Nikolaos Koutsouleris von der Kli-      Meteorologen haben daher einen Algorithmus für
                      nik für Psychiatrie und Psychotherapie am         Klimavorhersagen trainiert, indem sie ihn mit Daten

                                                                                                                                                thema
                      LMU-Klinikum nutzt Mustererkennungsalgo-          aus hochauflösenden Simulationen gefüttert haben.
                      rithmen und maschinelle Lernverfahren, um         „Am Ende konnte der Algorithmus die Ergebnisse der
Diagnosen, Prognosestellungen und Therapieauswahl bei Patien-           herkömmlichen Modelle sehr gut reproduzieren, hat dabei aber
ten mit schweren psychischen Erkrankungen besser und schneller          deutlich schneller gearbeitet“, veranschaulicht Rasp. Auch Craig ist
zu treffen. Dabei benötigt der trainierte Lernalgorithmus nur acht      überzeugt, dass die Methodik das Potenzial hat, die Klimasimulation
klinische Variablen, die in fünf Minuten erhoben werden können          zu verbessern. Vielleicht ist die Wettervorhersage also eines Tages       7
– beispielsweise der Schweregrad der Erkrankung oder die Symp-          tatsächlich das: eine Vorhersage, keine Einschätzung.

                                                                                                                                                MUM • NR. 1 • 2019
tombelastung. In Zukunft wird diese Modellbibliothek um weitere
prognostische und diagnostische Modelle erweitert werden. „Wir          Selbstötungen durch KI verhindern
hoffen, ein breites Portfolio an Instrumenten für eine verbesserte      KI spielt auch am Institut für Kommunikationswissenschaft und Me-
Früherkennung und damit natürlich auch Prävention psychischer           dienforschung eine Rolle. Dr. Mario Haim zum Beispiel beschäftigt
Erkrankungen bereitstellen zu können“, erläutert Koutsouleris.          sich mit dem Einfluss von Algorithmen und künstlicher Intelligenz
Künftig will er auch eng mit Professor Markus Bühner vom Depart-        auf Journalismus und öffentliche Kommunikation. Dazu zählen etwa
ment Psychologie zusammenarbeiten.                                      Fragen, ob politisch oder gesundheitlich relevante Suchergebnisse
                                                                        bei prominenten Suchmaschinen systematisch bevorzugt werden.
Der Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Psychologie und Pädago-        Bisher scheint die Angst vor sogenannten Filterblasen wohl über-
gik hat sich auf die Erhebung und Analyse von Auto- oder Handy-         höht, sagt Haim. Ein weiteres Forschungsfeld ist die Suizidpräven-
daten spezialisiert – daraus kann er zum Beispiel das Geschlecht        tion durch KI. Manche Suchmaschinenbetreiber blenden bei be-
des Nutzers ablesen. „Diese Informationen können dafür genutzt          stimmten Suchbegriffen Angebote der Telefonseelsorge ein — das
werden, Systeme und Inhalte besser an einzelne Personen anzupas-        wird häufig genutzt. Haims Forschung soll dazu beitragen, dass häu-
sen“, erklärt Bühner. Aktuell arbeitet sein Team interdisziplinär mit   figer im richtigen Moment solche Hilfsangebote angezeigt werden.
Statistikern und Informatikern der LMU an einer App zur mobilen
Verhaltensdatensammlung. Durch Mobile Sensing können einer-             Da KI viele Potenziale für Anwendungen in sämtlichen Industrien
seits Vorhersagen von Persönlichkeitsmerkmalen auf den beruf­           bietet, verändert das Thema ebenso die betriebswirtschaftlichen
lichen Erfolg getroffen werden. Andererseits können die Daten zur       Seiten von Lehre und Forschung. Die Forschungsgruppe „KI-ba-
Prävention psychischer Erkrankungen genutzt werden. „Dadurch            sierte Informationssysteme“ untersucht zum Beispiel das Entschei-
können wir Personen helfen, die nicht merken, dass sie sich in          dungsverhalten von Menschen bei Konversationen mit KI-Robotern.
ärztliche oder psychologische Behandlung begeben sollten“, erklärt      Im Cluster „Marketing and Strategy“ wird diskutiert, wie maschinell
Bühner.                                                                 generierte Kreativität im Marketing genutzt wird und beim Kunden
                                                                        ankommt. Forschungsarbeiten im Cluster „Technology and Innova-
Dr. Alexander Fraser von der Fakultät für Sprach-und Literaturwis-      tion“ befassen sich mit der Frage, ob KI bessere Empfehlungen ge-
senschaften ist Spezialist für automatische Übersetzungen. „Früher      ben kann als der Mensch. Bisher noch nicht, verrät BWL-Professor
schrieben Computerlinguisten viele Regeln auf, um zu erklären, wie      Tobias Kretschmer. „Algorithmisch erzeugte Empfehlungen werden
Computer übersetzen sollen. Bei unserem Ansatz geht es darum,           aber immer besser.“
Computer selbst lernen zu lassen“, sagt Fraser. Kürzlich half er dem
National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitssystem        Am Genzentrum der Fakultät für Chemie und Pharmazie werden
in Großbritannien, die Informationen auf ihrer Webseite in anderen      verschiedene Deep-Learning-Methoden verglichen — ein Teilgebiet
Sprachen anbieten zu können. Speziell in Schottland gibt es viele       der KI. Damit sollen 2D-Projektionen von Molekülen in der Kryo-
Haushalte, in denen polnisch oder rumänisch gesprochen wird. Aber       Elektronenmikroskopie automatisch erkannt werden, was die Struk-
was ist, wenn es bisher nicht viele Übersetzungen in eine Sprache       turbestimmung einfacher macht. Am LMU-Institut für Statistik wur-
gibt? Künftig sollen durch „Unsupervised Learning“, also unüber-        de bereits vor vier Jahren der erste deutsche Elitestudiengang Data
wachtes Lernen, auch Übersetzungen in solche Sprachen möglich           Science angeboten (siehe auch Seite 12). Big Data gilt als Vorstufe
sein – zum Beispiel Minderheitssprachen wie Niedersorbisch, das         für den eigentlichen Problemlöser, die KI. „Der Rohstoff Daten muss
in der Niederlausitz gesprochen wird.                                   aber für sie erst sinnvoll veredelt werden“, erklärt Studiengangspre-
                                                                        cher Professor Göran Kauermann. KI verändert auch die Lehrinhalte
Auf ein ähnliches Konzept setzten die Klimaforscher Stephan Rasp        von angehenden Juristen. Das Schlagwort heißt hier „Legal Tech“
und Professor George Craig von der Fakultät für Physik. Für die         (siehe Interview auf Seite 9). Dürfen Juristen Datenbanken nutzen,
Vorhersage von Klimaentwicklungen braucht es eine enorme An-            die ohne jede Wertung mathematisch betrieben werden?
Unverzichtbare helferlein - Künstliche intelligenz - LMU München
Vermittler, der die Sachverhalte dahinter erklärt,
                                                                                                             der das Fachwissen greifbar macht“, veranschau-
                                                                                                             licht Seidl.

                                                                                                             Mit der philosophischen Dimension von KI be-
                                                                                                             schäftigt sich Professor Julian Nida-Rümelin vom
thema

                                                                                                             Philosophischen Seminar der LMU. „Die Entwick-
                                                                                                             lung von und die Interaktion mit Software-gesteu-
                                                                                                             erten Systemen von der Mustererkennung bis zur
                                                                                                             Robotik beeinflusst nicht nur die menschlichen Le-
                                                                                                             bensformen, sondern hat auch Rückwirkungen auf
   8                                                                                                         unser Selbstbild als Menschen“, erklärt er. Ethi-
                                                                                                             sche Fragen müssten daher sowohl hinsichtlich
MUM • NR. 1 • 2019

                     Keilschriften durch KI entschlüsseln                                                    der Entwicklung von Softwaresystemen, als auch
                     Auch an anderen Fakultäten wird zunehmend im KI-Bereich geforscht. Der Altorien-        über die Verfügbarkeit privater Nutzerdaten ge-
                     talist Professor Enrique Jiménez von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissen-      stellt werden. Weitere Beispiele seien die Entwick-
                     schaften erforscht in Kooperation mit der Universität Bagdad babylonische Literatur     lung zum autonomen Fahren, die Veränderung po-
                     mithilfe von KI. Das Problem: Bisher lagern unzählige Tonfragmente mit Keilschriften    litischer Öffentlichkeit durch Social Media und die
                     in verschiedenen Sammlungen und Museen weltweit. Einzeln ergeben die teils sehr         Rolle von Chatbots in der Firmenkommunikation
                     kleinen Überbleibsel jedoch wenig Sinn. Jiménez’ Forschungsgruppe will daher die        sowie der politischen Meinungsbildung.
                     steinernen Manuskripte digitalisieren und dann Algorithmen entwickeln, die mitein-
                     ander in Verbindung stehende Textfragmente automatisch zusammenführen.                  Sogar die Evangelisch-Theologische Fakultät
                                                                                                             beschäftigt sich mit KI. Der Lehrstuhl für Ethik
                     Nicht alles, was unter der Rubrik KI läuft, fällt auch wirklich darunter. Intelligenz   ist an einem von LMU-Professor Moritz Grosse-
                     kommt dann ins Spiel, wenn Systeme ohne das Eingreifen des Menschen schlauer            Wentrup, Department für Statistik, initiierten Pro-
                     werden und selbstständige Entscheidungen treffen. „Ich wusste lange nicht, dass ich     jekt mit dem Titel „Shaping AI“ beteiligt. In dem
                     mich mit KI beschäftige“, sagt Professor Thomas Seidl vom Institut für Informatik an    theologisch-ethischen Teilprojekt soll es darum
                     der LMU und lacht. Inzwischen spielen die Techniken der Datenanalyse eine wichtige      gehen, die Dimensionen gesellschaftlicher Verant-
                     Rolle in der KI. Sein Fachgebiet ist maschinelles Lernen, die Grundlage von KI. Er      wortung im KI-Bereich näher auszuleuchten. „Was
                     und sein Team suchen in der Fülle von Daten nach Regelmäßigem und Unregelmä-            aus der Perspektive des Einzelnen wünschenswert
                     ßigkeiten. In der Praxis kommt das zum Beispiel bei Finanztransaktionen zum Einsatz.    erscheint, kann in der Summe zu Folgen führen,
                     Mit einer deutschen Kreditkarte wird plötzlich ein großer Geldbetrag in Südamerika      die sich für die Gesellschaft als sehr problematisch
                     bezahlt? Das könnte ein Betrugsversuch sein.                                            erweisen“, konkretisiert Professor Reiner Anselm.
                                                                                                             „Darum sollen Wege gesucht werden, diese Fra-
                     Seidl beschäftigen aber auch die sozialen Konsequenzen von KI. Die Bundesregierung      gen einer breiteren gesellschaftlichen Debatte und
                     schätzt, dass durch Automatisierung bis 2025 rund 1,6 Millionen herkömmliche Ar-        eben auch einer ethisch-normativen Bewertung
                     beitsplätze verloren gehen. „Das führt zu sozialen Umbrüchen“, ist der LMU-Professor    zuzuführen.“ Noch macht KI vielen Menschen
                     überzeugt. Gleichzeitig sei KI auch eine Chance, weil neue Arbeitsplätze entstünden.    Angst. Gut, wenn an der Schwelle zum nächsten
                     Das Bundesarbeitsministerium schätzt die Zahl auf 2,3 Millionen, also unter dem         Technologieschub auch über solche Themen ge-
                     Strich ein dickes Plus. „Es braucht immer einen Menschen hinter der Maschine, einen     sprochen wird.                                   ■ dl

                                           ■ Mehr Informationen zum Astronautenroboter Cimon: http://kurzelinks.de/zx9g
                                           ■ Einsatz von KI bei der Auswertung medizinischer Bilder: http://ai-med.de
                                           ■ Mustererkennungsalgorithmen und Maschinelle Lernverfahren von Professor Nikolaos Koutsouleris:
                                             www.pronia.eu/neurominer
                                           ■ Infos zum neuen Buch von Professor Nida-Rümelin „Digitaler Humanismus“: http://kurzelinks.de/snqo
Interview mit Juraprofessor Stephan Lorenz
„Letztlich ist immer der Mensch
 verantwortlich“
Wer haftet bei einem Unfall mit einem selbstfahrenden Auto? Sollen die autonomen Fahrzeuge
im Notfall lieber ein Kind oder Senioren überfahren? Und sind selbstlernende Maschinen die
besseren Richter? Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Lehrinhalte von Jurastudierenden
und die Arbeit von Juristen. LMU-Professor Stephan Lorenz warnt im MUM-Interview vor
Panikmache.

                                                                                                                                             thema
                                                                                                                                               9

                                                                                                                                             MUM • NR. 1 • 2019
                      MUM: Professor Lorenz, ist KI auch an der Juristischen       MUM: In letzter Zeit kam es immer wieder zu Un-
                      Fakultät ein Thema?                                          fällen mit selbstfahrenden Autos. Wer ist verant-
                      Stephan Lorenz: Es gibt selbstverständlich auch an der Fa-   wortlich, wenn selbstlernende Maschinen falsche
                      kultät Kollegen, die sich mit KI im Bereich Rechtswissen-    Entscheidungen treffen oder sogenannte Killer-
                      schaften beschäftigen. Das Schlagwort heißt hier „Legal      Roboter Menschen töten?
                      Tech“ und ist in aller Munde. Ich selbst nehme an einem      Lorenz: Ganz einfach. Verantwortlich ist nach dem
                      entsprechenden Arbeitskreis der bayerischen Justiz teil.     Straßenverkehrsgesetz immer der Fahrzeughalter –
                      Man kann sagen, dass dieses Thema unter Juristen gerade      und zwar ohne Rücksicht auf eigenes Verschulden.
                      sehr aktuell ist. In weiten Bereichen wird es aber auch      Diese sogenannte Gefährdungshaftung greift auch
                      überschätzt. Manche definieren auch das, was wir bereits     bei selbstfahrenden Autos.
                      seit Langem tun, also zum Beispiel die Arbeit mit Daten-
                      banken, als „Legal Tech“.                                    MUM: Werden in der Juristerei auch moralische
                                                                                   Fragen diskutiert, beispielsweise, ob ein Auto im
                      MUM: Welche Anwendungsmöglichkeiten bieten sich              Notfall eher ein Kind oder Senioren überfahren soll?
                      durch „Legal Tech“?                                          Lorenz: Ja, das wird lebhaft diskutiert. Eine wirkliche
                      Lorenz: In der Praxis wird das derzeit etwa benützt in       Antwort hat das Recht darauf nicht, denn der Wert
                      Rechtsgebieten, die ohne jede Wertung nachgerade ma-         von Leben kann nicht am Alter eines oder einer Be-
                      thematisch betrieben werden können. So arbeiten etwa         troffenen gemessen werden. Es handelt sich eher um
                      Anbieter wie „flightright.de“, wo man bei Flugverspätun-     eine ethisch-philosophische Debatte.
                      gen die Entschädigung durchsetzen kann oder „geblitzt.
                      de“ für Geschwindigkeitsübertretungen im Straßenver-         MUM: KI wird für Kredite, Gesundheitsversorgung
                      kehr. Echte KI-Anwendungen sind hier aber in weiter Fer-     und Sozialhilfe zuständig sein. Braucht es eine Art
                      ne. Deshalb wird das Thema zwar in Seminaren diskutiert,     Algorithmen-TÜV oder ein Gesetz zur Verwen-
                      ist aber nicht zentraler Gegenstand der Ausbildung.          dung von künstlicher Intelligenz?
                                                                                   Lorenz: Nein, sicherlich nicht. Denn hinter dem Com-
                      MUM: Immer mehr Unternehmen setzen bei der Per-              puter steht immer ein Mensch oder eine Behörde,
                      sonalauswahl auf KI – hilft das, Diskriminierung vor-        die für dessen „Entscheidung“ verantwortlich sind.
                      zubeugen?                                                    Es macht insoweit keinen Unterschied, ob zum Bei-
                      Lorenz: Allenfalls dann, wenn KI auch über die letztendli-   spiel ein Sozialhilfebescheid von einem Menschen
                      che Einstellung entscheidet. Das kann ich mir aber nicht     oder einer Maschine geschrieben wird.
                      vorstellen.
                                                                                   MUM: Nachdem es bereits erste Roboter-Anwälte
                      MUM: In den USA nutzen Richter schon routinemäßig            gibt, die dank KI Kanzleien bei der Arbeit unter-
                      KI bei der Urteilsfindung – können Sie sich Judge KI         stützen: Müssen sich Anwälte Sorgen um ihre Jobs
                      auch in Deutschland vorstellen?                              machen?
                      Lorenz: Dass Richter in den USA routinemäßig KI einset-      Lorenz: Nein, sicherlich nicht. Es wird sicher dazu
                      zen, ist mir schlicht unbekannt. Ich halte es auch für un-   kommen, dass bestimmte Routinearbeiten nicht mehr
                      wahrscheinlich. Datenbankrecherche und Textproduktion        anfallen, aber dafür haben Anwälte dann Zeit für die
                      sind bei der Urteilsfindung aber natürlich eine Selbstver-   Dinge, in welchen Sie unersetzbar sind.
                      ständlichkeit, auch in Deutschland.                                                                  ■ Interview: dl
Künstliche Intelligenz
                                                                   E S Sa y
                             Kassandra geht steil zur Prime Time
                                          Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, in beinahe jeder Ausgabe jeder Tageszeitung. Das führt bei Lesern nicht zwangs­
                                          läufig zu mehr Erkenntnis. Doch es führt bei Autoren garantiert zu immer fetteren Schlagzeilen, die sich sensationalistisch
                                          überbieten und aufmerksamkeitsheischend Klicks fangen wollen. Selten geht es bei KI aktuell um das Faktische. Kaum
                                          um das kurzfristig Mögliche, das mittelfristig Erwartbare, wenig um konkrete Chancen und Anwendungen, oft um über­
                                          zogene Erwartungen oder obskure Vorbehalte. Leser allerdings fühlen sich existenziell bedroht, die Gesellschaft wird
essay

                                          zunehmend nervös. Das ist nicht notwendig!

                                                                   Die Wolkenschieber haben Hochkonjunktur. Kassandra geht steil zur Prime Time. Aber wie so oft kann
10                                                                 der Blick zurück die Zukunft erhellen. Kassandra. Ja, sie hat die Trojaner davor gewarnt, das hölzerne
                                                                   Pferd in die Stadt zu ziehen. Und ja, im Ergebnis hat sie recht behalten. Troja war zerstört. Was also hät-
M U M • N R. 1 • 2 0 1 9

                                                                   te getan werden sollen? Kassandra konstruktiv zuhören. Das könnte die Lehre für 2019 sein. Nicht auf
                                                                   Vorurteile hören. Kassandra ernst nehmen. Nicht auf die eigenen oder die Reflexe der anderen reinfallen.
                                                                   Besser: hinsehen, hingehen, verstehen! Die kulturhistorische Frage ist doch, warum haben die Trojaner
                                                                   das hölzerne Pferd am Strand nicht auseinandergenommen? Aufmachen, reinschauen!

                                                                   Bitte heute auch! Was kann KI? Was können künstliche neuronale Netze leisten? Wozu kann man sie ein-
                                                                   setzen? Und wieso lassen einige und oft das „künstliche” weg? Möglicherweise, weil die mathematischen
                                                                   Grundlagen durch Marketing-Sprech emotional aufgewertet werden sollen. Weil Analogien wirkmächtig
                                                                   sind, und das ist gut, wenn es primär um Wirkung geht. Dafür zahlen wir gesellschaftlich einen Preis:
                                                                   Verwirrung liegt in der Luft, und die eigentlichen Fragen entgleiten, so dass die Beteiligten und die
                                                                   Betroffenen vorhersehbar aneinander vorbeireden. Was sind die prinzipiellen Grenzen der Leistungsfä-
                                                                   higkeit? Was sind selbstlernende Systeme? Und was heißt Selbstlernen bei Maschinen? Was genau ist
                                                                   menschliches Lernen? Welche Dimensionen haben die Anwendungschancen? Wie können Wirtschaft
                                                                   und Zivilgesellschaft profitieren?

                                                                   Ein Anwendungsbeispiel: Spracherkennung kann jeder ausprobieren und wird feststellen: Respekt! Nicht
                                                                   schlecht, schon gut, nicht wirklich perfekt. Vielmehr so, dass Nutzer unmittelbar Anwendungsfantasien
                                                                   und Ansprüche formulieren, was man alles erreichen könnte, wäre es denn nun wirklich gut. Journalis-
                           1 Reinhard Karger studierte theore­     ten, die gerade noch darüber diskutiert haben, ob Algorithmen die besseren Redakteure sind, wollen
                           tische Linguistik und Philosophie in    umgehend spracherkennende Systeme, die Interviews verschriftlichen können. Am besten auch dann,
                           Wuppertal, war Assistent am Lehr­       wenn die Gesprächspartner sich ins Wort fallen und so, dass man das Gesagte eindeutig einem Sprecher
                           stuhl Computer­linguistik der Univer­   zuordnen kann – also klar mit Sprecheridentifikation und mit Interpunktion, obwohl die natürlich nicht
                           sität des Saarlandes, wechselte 1993    gesprochen wurde, aber inhaltsbildend sein kann. „Die Eltern glauben, die Kinder haben im Lotto ge-
                           zum Deutschen Forschungszentrum         wonnen” bedeutet offensichtlich etwas ganz anderes als „Die Eltern, glauben die Kinder, haben im Lotto
                           für Künstliche Intelligenz (DFKI)       gewonnen”. Die gleichen Wörter in derselben Reihenfolge – und eine ganz andere Welt. Und wenn man
                           in Saarbrücken. Seit 2000 leitet        dabei ist, gerne auch noch die Zusammenfassung als Teaser für das Gespräch und eine Schlagzeile, die
                           Reinhard Karger die Unternehmens­       alles auf den Punkt bringt.
                           kommunikation, seit 2011 ist er
                           Unternehmenssprecher des DFKI.          Journalisten, die die wirkmächtigen Schlagzeilen entwerfen, sind selber im Kern beeindruckt, sind exis-
                                                                   tentiell verunsichert. Wortreich werden Sorgen aufgeworfen und intensiv diskutiert: beim Journalistentag
                           Er ist unter anderem Mitglied der       NRW Mitte 2018 November in Dortmund befeuert ein virtueller Nachrichtensprecher der staatlichen chi-
                           Jury des „Ausgezeichnete Orte”–         nesischen Nachrichtenagentur Xinhua eine Diskussion (http://kurzelinks.de/jgne), ob KI bald den Nach-
                           Wettbewerbs von „Deutschland –          richtensprecher ersetzen kann und wird. Und vielleicht rasch auch den Reporter und den Redakteur und
                           Land der Ideen“ und ist seit            bestimmt auch den Chef vom Dienst. Und überhaupt!
                           Februar 2017 MINT-Botschafter
                           des Saarlandes. Im März 2018            Erstaunlich, dass Nervosität die kühle Abwägung auch bei Journalisten überlagert. Verblüffend, wie
                           wurde er zu einem der 100 Fellows       schnell sich die gefühlte persönliche Betroffenheit in den Vordergrund drängt. Wie gut ist dieses Angebot
                           des Kompetenzzentrums für Kultur-       aus China? Na ja. Wird es in China akzeptiert werden? Möglich. In Europa? Mal sehen. Die eigentliche
                           und Kreativwirtschaft des Bundes        Frage: Warum ein virtueller Nachrichtensprecher und kein virtueller Moderator? Nun, beim Nachrich-
                           ernannt.                                tensprecher nähert sich das aktuell technisch Machbare der vom Zuschauer erwarteten Ergebnisquali-
                                                                   tät. Denn: Ein Ergebnis der Ausbildung eines Nachrichtensprechers ist das Kunststück, die Artikulati-
on gerade möglichst neutral zu halten, ohne persönliche Wertung,          Voraussetzungen sind für die grundlastfähige Nutzung von erneu-
unbeeinflusst von politischer Einstellung, sexueller Orientierung,        erbarer Energie.
privater Lebenssituation oder religiöser Überzeugung. Das gleiche
gilt für Körperhaltung, Mimik, Gestik oder Satzmelodie. Das Ideal ist     Mustererkennung kann die Finanzwirtschaft bei der Abschätzung
der objektive, unpersönliche oder eben marginalisiert menschliche         von Kreditausfallrisiken, die Versicherungen bei der Abschätzung
Sprecher. Die obige Frage beantwortet sich fast von selbst: Wenn die      von Schadenssummen unterstützen und kann beide Prozesse für die
Aufgabenbeschreibung den Menschen zu einem „Roboter“ macht,               Kunden beschleunigen. Der nachhaltige Erfolg für den aktiven Bör-
dann ist es wenig verwunderlich, dass virtuelle Präsentationsagenten,     senhandel steht noch aus, aber als persönlicher Finanzberater oder
die gerade keine menschlichen Emotionen angemessen ausdrücken             Produktauswahlassistent ist der Einsatz vorstellbar – und braucht
können, diese Aufgaben so übernehmen, dass die Ergebnisse sich            dann ein Geschäftsmodell.
kaum von menschlichen Ergebnissen unterscheiden lassen. Wenn
sich Menschen robotisch verhalten, können Roboter eben täuschend          Selbstfahrende Autos werden nicht zu einer unfallfreien Mobilität füh-
menschlich wirken. Avatare oder Präsentationsagenten artikulieren         ren. Aber hochautomatisiertes oder später autonomes Fahren wird
und präsentieren faktische Nachrichten; Journalisten schreiben Ge-        Leben retten und lebensgefährliche Unfälle vermeiden helfen. Zahl-
schichten, analysieren Zusammenhänge, kommentieren die Gescheh-           reiche der täglich etwa 7.200 polizeilich erfassten Verkehrsunfälle
nisse in der Welt, vertreten ihre Position und haben eine Haltung.        und jährlich über 390.000 Verletzte könnten vermieden werden – das
                                                                          sind die Zahlen für 2017 (http://kurzelinks.de/003u).
Natürlich wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Qualität der
Visualisierungstechnologie zu einem entscheidenden Faktor für den         KI ermöglicht neue Arbeitsbedingungen und wird ergonomisch be-
kommerziellen Produkterfolg der Film- und Spieleindustrie – also          lastende Aktionen übernehmen können. Dramatisch ist die Situation

                                                                                                                                                   essay
wurde investiert. Die grafische Qualität der Präsentationsagenten ist     in der Pflege. In den kommenden Jahrzehnten wird der Pflegeauf-
beeindruckend – bezogen auf die Aufgabe „Nachrichtensprecher”.            wand weiter zunehmen, der Aufbau des Pflegepersonals wird aber
Auch die künstlichen Stimmen, Sprachsynthese, sind deutlich bes-          kaum Schritt halten können. Auch hier können hybride Teams aus
ser geworden. Google Deepmind – WaveNet setzt „Deep Neuronal              Menschen und KI-basierten Assistenzsystemen einen wesentlichen
Networks” ein und erzeugt damit künstliche gesprochene Sprache            Beitrag leisten, um dem Pflegepersonal die Arbeit zu erleichtern und        11
(http://kurzelinks.de/7ogz). Bei der letzten Entwicklerkonferenz,         von lästigen Verwaltungsaufgaben zu befreien, so dass es sich auf

                                                                                                                                                   M U M • N R. 1 • 2 0 1 9
Mai 2018, hat Google eine konkrete Anwendung vorgestellt (http://         sein Gegenüber konzentrieren kann.
kurzelinks.de/hbqd). Das Duplex-System kann als aktiver Stellver-
treter einen Telefondialog zur Terminverhandlung führen. Bei den          Das alles soll nicht ablenken von der wichtigen Debatte über den
vorgeführten Beispielen ging es um eine Tischreservierung und ei-         möglichen Missbrauch dieser KI-Werkzeuge. Im Zusammenhang mit
nen Friseurtermin. Hinsichtlich Natürlichkeit und Verständlichkeit        Plattform-Kapitalismus, im Kontext der geheimdienstlichen Überwa-
bestehen Stimme und Dialogführung bei dieser Anwendung den                chung und der Verwendung gegen Bürgerinteressen und Menschen-
Turing-Test: Sie lassen sich kaum – eigentlich gar nicht mehr – von       rechte in autoritären Regimen. Natürlich sollten die Vereinten Natio-
einer menschlichen Stimme unterscheiden. Um sich an das Ziel des          nen einen KI-Waffen-Sperrvertrag initiieren und weltweit verhandeln,
naturidentischen Dialogs anzunähern, werden typische Häsitationen         so dass sich die militärische Nutzung autonomer Systeme etwa auf
(„äh”) oder Affirmationspartikel („Mm-hmm”) verwendet. Man kann           Kampfmittelräumdienste beschränkt – und die mögliche Abwehr au-
darüber diskutieren, ob die Angerufene getäuscht wurde oder sich          ßerirdischer Invasoren.
getäuscht fühlte, ob sich ein solcher „Anrufer” also als maschineller
Service identifizieren sollte oder ob computergenerierte Texte durch      Die Diskussion um die Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz er-
einen Button gekennzeichnet werden müssen.                                öffnet eine überraschende Perspektive: Das Menschliche, das man
                                                                          mit Maschinen simulieren möchte, zeigt sich das erste Mal in seiner
Die Anwendungsszenarien für KI, für Deep Learning, für künstliche         prachtvollen emotionalen, sozialen und körperlichen Komplexität.
neuronale Netze sind zahlreich und vielfältig, verändern die Wirtschaft   Der Mensch wird sich wieder selbst zum Faszinosum. Und um diesen
und bereichern das private Leben. Mustererkennung löst das Klassi-        Austausch zu führen und zu qualifizieren, bietet 2019 das Wissen-
fikationsproblem und führt zu mächtigen Werkzeugen, zu agileren           schaftsjahr Künstliche Intelligenz eine extrem wichtige Chance. Es
Abläufen, hoffentlich zu mehr Erkenntnis und flexibleren Prozessen,       ermöglicht eine Fülle unterschiedlicher Veranstaltungen, damit eine
aber offensichtlich zu besserer maschineller Übersetzung von Texten.      breite Auseinandersetzung, schafft Anschauung und Anlässe für Neu-
Und auch hier – immer ausprobieren: https://www.deepl.com/home            gier. Und Neugier ist wichtig, denn eine neugierige Gesellschaft hat
                                                                          eine innewohnende Affinität zur Innovation, eine offene Haltung für
Visuelle Objekterkennung ist vorteilhaft für Konsumenten, die textu-      Chancen, vergisst dabei nicht die Risiken und bewertet eine Entwick-
ell auf dem Smartphone in ihrer Fotosammlung nach Motiven suchen          lung mit einer ergebnisoffenen und informierten Diskursintelligenz.
können, aber wichtig auch für Erdbeobachtung und Katastophen-
prävention, für die Erschließung der globalen Bildarchive und die         Das Wissenschaftsjahr Künstliche Intelligenz wird den aktuellen
Sicherung des visuellen kulturellen Erbes. Genauso kann Spracher-         Stand und die Leistungsfähigkeit der Forschung vermitteln, sodass
kennung alle Radioaufzeichnungen und Parlamentsdebatten durch-            mehr Menschen die Unterschiede der verschiedenen KI-Technologi-
suchbar machen. Mustererkennung kann bei bildgebenden Verfahren           en und die Chancen verstehen. Es wird einen Raum für die Debatte
in der Medizin eingesetzt werden und diagnostische Unterstützung          eröffnen, was der Mensch eigentlich ist, was ihn auszeichnet und was
für Ärzte liefern, etwa bei der Erkennung von Hautkrebs (http://kur-      ihn von Maschinen abgrenzt. Denn nur so kann Skepsis abgebaut
zelinks.de/1fj0).                                                         werden, und wir können die Diskussion darüber beginnen, wie KI
                                                                          jedem Einzelnen helfen kann, seine persönlichen Ziele zu erreichen.
Visuelle Anomalieerkennung beschleunigt die Qualitätssicherung            Und wie KI helfen kann, dass wir in der Gesellschaft leben können,
in der Produktion. Die Auswertung von Maschinendaten kann vo-             in der wir leben wollen.
rausschauende Wartung ermöglichen und Maschinengesundheit
fördern oder erhalten. Prognoseverfahren für Stromproduktion und          KI ist keine Fata Morgana, sondern ein Scheinriese. In der Entfernung
-verbrauch unterstützen die Energieversorger, Kraftwerk- und Ver-         gewaltig, aus der Nähe sehr nahbar. Und nach ein wenig Überlegung
teilnetzbetreiber und verbessern das Lastmanagement, schaffen             genau die Lösung für das initiale Problem! Wenn man an Jim Knopf,
Robustheit und Resilienz, die wegen der Erzeugungsvolatilität die         Lukas, Herrn Turtur und Lummerland denkt...
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MUM • NR. 1 • 2019

                               Serie Kooperationen: LMU und Tel Aviv University

                               So funktioniert
                               moderne Wissenschaft
                     Seit 2017 kooperiert die LMU in Forschung und Lehre mit der Tel Aviv University, kurz TAU, in Israel. Obwohl im Bereich
                     der Physik gestartet, ist die Kooperation, die finanziell von beiden Universitäten getragen wird, fächerübergreifend. Und sie
                     ist schon jetzt sehr erfolgreich.

                                      In der Workshop-Pause hat Professor Saharon Rosset nur für ein kurzes Interview Zeit, denn er will die verbleibende Zeit
                                      nutzen, um zwischen den Vorträgen mit einem LMU-Kollegen über mögliche gemeinsame Forschungsansätze zu sprechen.
                                      Schließlich ist für den Workshop nur ein Tag anberaumt, und es gibt viel Diskussionsbedarf. Ja, er findet die Kooperation
                                      wichtig, München sei klasse, die Kollegen seien großartig – und schon ist er fort und im Gespräch mit dem LMU-Kollegen.
                                      Genau das ist Sinn des Workshops: gemeinsame Themen finden, das Know-how von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
                                      schaftler zweier hervorragender Universitäten nutzen und die Forschung voranbringen.

                                      Um Datenanalyse mit modernen statistischen und informatischen Methoden geht es in dem von Professor Göran Kauermann
                                      vom Institut für Statistik der LMU initiierten Workshop im Oktober 2018. Dessen Ziel: eine enge Verzahnung der beiden
                                      Fächer. Denn aufgrund der schieren Datenfülle, die sich in den vergangenen Jahren angesammelt hat, ist ein Umdenken in
                                      der Analyse gefragt. Statistiker interessiert hierbei, was konkret passiert, welche Inputgrößen welche Outputgrößen gene-
                                      rieren, während die Informatiker im Sinne eines „what happens next?“ nach Lösungen suchen, wie die Analyse verbessert
                                      werden kann, etwa durch maschinelles Lernen oder durch künstliche neuronale Netzwerke. „Genau diese beiden Ansätze zu
                                      kombinieren bietet ein großes Potenzial“, ist sich Göran Kauermann sicher. Initiales Ereignis bei der Bündelung statistischer
                                      und informatischer Methoden war die Einrichtung des Elitestudiengangs Data Science, der genau diese Verzahnung im
                                      Rahmen eines ausschließlich englischsprachigen Masterprogamms forcierte. Und die Kooperation mit der TAU unterstützt
                                      dies hervorragend, da beide Universitäten sowohl im Bereich der Statistik als auch in den Computerwissenschaften über
                                      sich sehr gut ergänzende Forschungsprofile verfügten, so Göran Kauermann. Er sieht in dieser Hinsicht den Vorteil, auch
                                      Randbereiche zum Thema Data Science stärker zu akzentuieren. So etwa, indem ethische oder juristische Fragestellungen
                                      berücksichtigt werden und das ganze Thema in Bezug auf angewandte Forschung positioniert wird. Denn nicht nur die
                                      Statistik ist sehr anwendungsorientiert, sondern etwa auch die Sozial- oder Geisteswissenschaften – Stichwort „Digital Hu-
■ LMU-TAU Research Cooperation Program: http://kurzelinks.de/LMU-TAU

manities“. Gerade hier passen auch die Profile beider    der LMU“, sagt Professor Hans van Ess, Vizepräsi-
Universitäten als klassische Volluniversitäten perfekt   dent für Internationales an der LMU. „Ein wichtiges
zueinander. „In dieser Hinsicht sehen wir den Work-      Instrument sind dabei unsere strategischen Koope-
shop auch als Kick-off-Veranstaltung für den Ausbau      rationen mit ausgewählten Partnern weltweit, zu
der gemeinsamen Aktivitäten.“                            denen neben der TAU unter anderen auch Harvard,
                                                         Berkeley, Cambridge, Tokio oder unser Netzwerk

                                                                                                               Profile
Kooperation für die LMU                                  mit den führenden Universitäten in China zählen.
Genau das sieht die Kooperation vor, denn die Work-      Mit diesen hochrangigen Partnern wollen wir nach-
shops und die daraus resultierenden Forschungsthe-       haltige Forschungszusammenarbeit fördern und
men sind zwei ihrer wichtigen Bausteine. Der dritte      institutionalisieren“, so van Ess.
sind Visiting Professorships, in deren Rahmen TAU-       Und sein Kollege im Präsidium der LMU, Dr. Sig-
Wissenschaftler für ein Jahr an der LMU forschen         mund Stintzing, ergänzt: „Die Schlüsselkoopera-
können. „Die Visiting Professors müssen auch Vorle-      tion mit der TAU baut nicht nur die erfolgreiche        13
sungen anbieten“, betont der Physiker Professor Die-     Zusammenarbeit beider Universitäten in allen

                                                                                                               MUM • NR. 1 • 2019
ter Lüst, der die Kooperation LMU-seitig koordiniert,    Fachbereichen aus. Sie ist auch ein wichtiger Be-
denn die Lehre sowie die Nachwuchsförderung sind         standteil der Internationalisierungsstrategie der
fester Bestandteil. Die ersten beiden Visiting Profes-   LMU im Rahmen des Zukunftskonzeptes LMUex-
sors der TAU stehen bereits fest: Professor Haim Wolf-   cellent“, sagt der Vizepräsident.
son, ein Computerwissenschaftler mit dem Schwer-
punkt Structural Bioinformatics, wird an die Lehr- und   Und außerdem: „Moderne Wissenschaft funkti-
Forschungseinheit Bioinformatik von Professor Ralf       oniert am besten im Rahmen internationaler Ko-
Zimmer kommen. Und der Historiker und Philosoph          operationen“, bringt es Daniel Nevo auf den Punkt,
Professor Yossi Schwartz wird bei Professor Michael      der seit Kurzem als Professor an der TAU zur Ana-
Brenner und Professorin Eva Haverkamp im Bereich         lyse hochdimensionaler Daten forscht. Er ist be-
Jüdische Geschichte zur Entstehung des mittelalterli-    geistert von der Kooperation im Allgemeinen und
chen philosophischen und wissenschaftlichen Voka-        dem Workshop zu Data Science im Besonderen und
bulars im Hebräischen forschen.                          sieht seine Erwartungen mehr als erfüllt. „Wir ha-
                                                         ben unterschiedliche Hintergründe. Und nur durch
Strategische Bedeutung                                   Zusammenarbeit können wir unser Wissen effizient
„Eine verstärkte internationale Ausrichtung in For-      nutzen. Wir müssen voneinander lernen.“       ■ cg
schung, Lehre, Nachwuchsförderung und Governance
ist die Basis der langfristigen Entwicklungsplanung
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MUM • NR. 1 • 2019

                     Für ihre Promotion an der LMU war Slata Kozakova erst jüngst von Mecklenburg-Vorpommern nach
                     München gezogen. Nun reiste die Slawistin wieder dorthin zurück – um in Schwerin den wichtigsten
                     Literaturpreis des Landes entgegenzunehmen. Gerade ihre „stille und melancholische“ Lyrik hatte
                     nicht nur die Jury überzeugt, sondern auch das Publikum.

                                                  Manche Gedichte beginnen morgens in der S-Bahn. Auf ihrer Fahrt von Sauerlach nach München, zur Gra-
                                                  duiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der LMU, notiert Slata Kozakova sich Ideen und Textfrag-
                                                  mente ins Handy. „Das fällt nicht so auf wie mit einem dicken Papierblock“, sagt die 26-Jährige mit einem
                                                  Lachen. Auch auf Kassenzettel oder Briefumschläge kritzelt sie ihre Einfälle und hält bildliche Eindrücke mit
                                                  Fotos fest: „Aufhängungen oder Beschriftungen etwa, die mir seltsam vorkommen.“ Zuhause am Computer
                                                  fließt das Gesammelte dann in Kozakovas Lyrik und Kurzprosa ein.

                                                  Insbesondere ihre Gedichte haben der Slawistin nun den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern einge-
                                                  bracht. Die Auszeichnung wird seit 2016 von einem Verbund literarischer Institutionen des Bundeslandes
                                                  verliehen. Neben dem Preisgeld ist er unter anderem mit einem einmonatigen Schreibaufenthalt in einem
                                                  Künstlerhaus verbunden. Slata Kozakovas Gedichte beschrieb die Jury als im Ton „so unspektakulär, still
                                                  und melancholisch“, dass sie den Leser „auf Anhieb atmosphärisch in ihren Bann“ zögen. So verwundert es
                                                  nicht, dass sie auch den ersten Publikumspreis erhielt.

                                                  Für Slata Kozakova, die meist unter ihrem Mädchen- und Künstlernamen Slata Roschal veröffentlicht, ist der
                                                  Preis in mehrfacher Weise „sehr aufgeladen“. „Er ist beinah ein Abschiedspreis, nachdem ich ja fast mein
                                                  ganzes bisheriges Leben in Mecklenburg-Vorpommern verbracht habe – Kindheit, Schule, Studium.“ In St.
                                                  Petersburg geboren, war sie als Vierjährige mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. In Schwerin
                                                  wuchs sie zweisprachig auf – mit Deutsch und Russisch – und trug schon ihrer Grundschulklasse selbst
                                                  geschriebene Geschichten vor. „Über Elfen und Füchse“, erinnert sie sich. „Ich wollte Schriftstellerin wer-
                                                  den, mit Lyrik habe ich aber erst später, vielleicht mit 14, angefangen.“ Am Gymnasium zeigte sie die Texte
                                                  ihren Deutschlehrern. „Manchmal haben sie etwas dazu gesagt, manchmal hatten sie aber auch keine Zeit.“
Abschied und Rückkehr
Nach dem Abitur wechselte Kozakova nach Greifswald, um an der             kommen viele andere Dinge: ein Seminar in Slawistik, in das sie viel
dortigen Universität Slawistik und Germanistik zu studieren. Dort         Zeit investiert, andere Veranstaltungen an der Graduiertenschule,
schloss sie sich einer „tollen Lyrikergruppe“ an. „Die Treffen, bei de-   und nicht zuletzt ihr Kind, das im September eingeschult wurde. Der-
nen wir unsere Texte besprachen, haben mich sehr vorangebracht“,          zeit sieht die 26-Jährige sich nach Verlagen um – für einen Lyrikband,
sagt sie heute. Neben einem Master-Studium in Vergleichender              aber auch einen „längeren Prosatext“. „Wenn dann noch irgendetwas
Literaturwissenschaft in Greifswald begann sie, Lyrik und Prosa in        dazu kommt – etwa ein Umzug –, dann bin ich ziemlich überwältigt
Literaturzeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen, darunter       von dem Ganzen“, sagt sie. „Es ist ein ständiges Jonglieren. Aber
mosaik, entwürfe, oder hEFt. Zudem begann sie, sich an Schreib-           bislang habe ich immer noch alles hinbekommen.“

                                                                                                                                                   Profile
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                                                                                                                                                   UM • NR. 1 • 2019
werkstätten wie dem „Poetencamp Mecklenburg-Vorpommern“ oder              Entspannung für ihr straffes Zeitpensum dürfte das einmonatige
der „Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung im Herrenhaus             Schreibstipendium im Künstlerhaus Lukas im Ostseebad Ahrenshoop
Edenkoben“ zu beteiligen. Der Literaturpreis sei für sie „wie der Ab-     bringen, das mit dem Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern ein-
schluss dieser Epoche“. „Nun glaube ich, von dort alles mitgenom-         hergeht. „In dieser Zeit lebt und schreibt man dort. Und am Schluss
men zu haben, was es mitzunehmen gab.“ Der Preis habe aber auch           gibt es eine Lesung.“ Auch wenn sie den Aufenthalt auf zwei mal
eine versöhnliche, nostalgische Note: „Vorletztes Jahr wollte ich so      zwei Wochen aufteilen wird: „So viel Zeit am Stück hatte ich noch
sehr weg aus Greifswald, von diesem grauen verregneten Meer. Und          nie für meine Texte. Ich bin gespannt, wie ich auf diese Situation
nun bin ich für die Preisverleihung doch freiwillig wieder in diese       reagiere.“                                                    ■ ajb
Richtung gefahren.“

Das Schreiben empfindet Slata Kozakova, die im vergangenen Jahr
auch den 2. Preis des Nachwuchswettbewerbs der Literaturstiftung
Bayern erhalten hatte, als „in gewisser Weise sinnstiftend“. „Alles,
was passiert, würde ja zum großen Teil vergehen und verschwinden,
wenn man nicht darüber schreiben würde.“ Vor allem müsse man
über schwierige Sachen schreiben. „Über etwas wie Ängste, Einsam-
keit, oder scheinbar normale Banalitäten mit aggressivem Potenzial.“
Ihre Gedichte und Prosastücke, in Deutsch oder auch Russisch ver-
fasst, handeln von Mehrsprachigkeit und Sprachlosigkeit, von fehl-
geschlagenen Verhaltensnormen und -erwartungen. „Es macht mir
Freude, mit dem Schreiben den Lauf der Dinge zu bremsen, in den
Alltag einzugreifen, durch eine bloßgelegte, ruhiggestellte Sprache.
Wenn ich schreibe, glaube ich, einen Platz in der Welt eingenommen
zu haben.“

Seit dem Wintersemester 2017/18 schreibt Kozakova nun auch an
ihrer Doktorarbeit. An der Graduiertenschule für Ost- und Südosteu-
ropastudien der LMU promoviert sie über den literarischen Typus des
„Untergrundmenschen“, eines einsamen Mannes in der russischen
Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Es ist schön, mich
bei der Dissertation mit dem beschäftigen zu können, was mich in-
teressiert, mit Literaturtheorie und guten literarischen Texten, etwa
denen von Dostojewski, meinem Lieblingsautor.“

„Ein ständiges Jonglieren“
Wie sich die Dissertation zeitlich mit Lyrik und Prosa arrangieren
lässt? „Das ist generell sehr schwierig“, sagt Slata Kozakova. „Einer-
seits möchte ich natürlich die Doktorarbeit zustande bringen, ande-
rerseits aber auch meine Texte schreiben, verschicken, Bewerbungen
verfassen, mich bei Texttreffen und Lesungen blicken lassen.“ Dazu                       http://www.gs-oses.de/slata-kozakova.html
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