WIR ALLE WAREN EINMAL JUNG - Worthaus
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DIE NEUE SCHOKOLADE- NOËMI KNOCH ÜBER BERN HAT JETZT EIN WELT VON DANIEL BLOCH IHR JAHR IN PARIS KOSCHERES RESTAURANT S. 4 S. 20 S. 24 DAS MAGAZIN DER JÜDISCHEN GEMEINDE BERN Nr. 103 01 / 2018 WIR ALLE WAREN EINMAL JUNG ODER: WAS ZEHN MITGLIEDER ÜBER 40 ZUR «JEWISH YOUTH» MEINEN – S. 10
INHALT FORUM 103 - 01 / 2018 AKTUELL PORTRAIT AGNES HIRSCHI MARTIN MÜRNER Die Stieftochter des Judenretters und Der Instrumentenbauer lädt in sein Atelier Diplomaten Carl Lutz hat ein Buch geschrieben. am Stadtrand von Bern. 16 26 BEYOND DUTY 19 AKTUELL KULTUR Ausstellung und Diskussion DER RUMÄNISCHE EX-KÖNIG 18 NEUES BUCH VON 43 über Judenretter im Käfigturm IST GESTORBEN EVE STOCKHAMMER SIG-TAGUNG ÜBER JÜDISCHE 23 GEDENKTAFEL FÜR GEORGES 45 GURLITT IM KUNSTMUSEUM 39 IDENTITÄT BRUNSCHVIG IN RIEHEN Ein Blick auf die Ausstellung über «Entartete Kunst» VOLLE SYNAGOGE IN DER 25 REISEBERICHT AUS SAFED 46 NACHT DER RELIGIONEN DER RABBI HAT DAS WORT 47 OLYMPIA-ATTENTAT 1972 40 Erinnerungen an eine GEMEINDE PEOPLE besondere Begegnung DIE JUBILÄUMSFEIER ZU 28 DAS GOKART-RENNEN 2017 49 150 JAHRE FRAUENVEREIN NAMEN & BESONDERE HAGGADOT 48 SCHABBAT WELTWEIT GEFEIERT 32 FAMILIENNACHRICHTEN 50 JGB-Mitglied Georg Eisner präsentiert seine Sammlung STUDENTEN BESUCHEN BIEL 37 IMPRESSUM 51 2 forum – 103 | 01 / 2018
EDITORIAL LIEBE LESERINNEN tät in jenem Alter damals geprägt hat, und retteten, unter ihnen auch Carl Lutz. Des- UND LESER was sie den Jungen von heute wünschen. sen Stieftochter Agnes Hirschi hat «Fo- rum»-Autor Peter Abelin empfangen. Diese Ausgabe führt Sie an einige attrak- Im Haus der Religionen spielte sich eine tive Reiseziele. Auftakt ist ein Abstecher kleine Weltsensation ab: Im Dezember Einblick in ihre persönlichen Welten ge- in die süsse Welt von Unternehmer und stellte Michael Kohn ein Koscherzertifi- währen uns zwei weitere Mitglieder: Chocolatier Daniel Bloch im Berner Jura. kat für die Küche des Hindupriesters Sa- Martin Mürner zeigt sein Atelier als Ins- Er verrät im grossen Interview, wie er Visi- sikumar Tharmalingam aus, im Februar trumentenbauer, wo auch das Alphorn onen, Leidenschaften und wirtschaftliche fand die Eröffnungsfeier des ersten Berner steht, das durch eine Plakataktion des SIG Realität auf einen Nenner bringt. Koscherrestaurants am Europaplatz statt. schweizweit bekannt wurde. Passend zu Die beiden erzählen, was es für diesen Pessach präsentiert Georg Eisner einige Geschrieben haben wir in den letzten bei- Schritt brauchte. Exemplare aus seiner Sammlung von Hag- den Ausgaben viel über die heute 18- bis gadot. 35-Jährigen und die Anstrengungen von Zu kritischen Auseinandersetzungen mit Assistenzrabbiner Michael Kohn, der «Je- der Geschichte kam es in den letzten Mo- Auch für diese Nummer gilt: Ohne die wish Youth of Bern» jüdisches Leben nä- naten in Bern gleich mehrfach. Unter dem inhaltlichen und finanziellen Beiträge von her zu bringen. Die «Forum»-Redaktion Titel «Beyond Duty» im wieder eröffne- zahlreichen Personen wäre diese Ausgabe hat sich diesmal bei den älteren Genera- ten Polit-Forum Käfigturm fand im Feb- in dieser facettenreichen Form nicht zu- tionen umgehört. Fünf Männer und fünf ruar eine Rückschau auf Diplomaten statt, stande gekommen. Herzlichen Dank! Frauen zwischen 41 und 99 Jahren be- die während der Kriegsjahre jenseits ihrer richten, was sie und ihre jüdische Identi- Pflichten Abertausenden Juden das Leben Die Redaktion ANZEIGE BILDER: PETER ABELIN / SIMON ROM forum – 103 | 01 / 2018 3
INTERVIEW Herr Bloch, Courtelary liegt nicht ge- rade an den Verkehrshauptachsen. Wie kam Ihr Grossvater Camille Bloch dazu, ausgerechnet hier zu investieren? Mein Grossvater hat bei der Schokola- defabrik Tobler die kaufmännische Leh- re gemacht. Im Krisenjahr 1929 konnte er von den Gebrüdern Lindt, die ihren Schokoladebetrieb in Bern einstellen mussten, Maschinen kaufen und begann mit der Schokoladeherstellung am Jä- gerweg im Breitenrain in Bern. Das lief relativ gut. Die anderen Chocolatiers wie Nestlé, Suchard, Tobler oder Caillier hat- ten ein Preiskartell, mein Grossvater war jedoch nicht an diese Preise gebunden. Er konnte seine Schokolade gut verkau- fen, seine Firma florierte. Und so suchte er 1935 einen neuen Standort, weil er keinen Platz mehr hatte. Hier im Jura kannte er einen Grossrat, der Bürger- meister eines Dorfs in der Gegend war. Dieser sagte meinem Grossvater, hier in Courtelary könne er etwas kaufen, das schon existiere. Ein Glückstreffer bis heute? Ich habe mir immer wieder überlegt, was Glück ist und was Zufall. Das wird ja oft gleichgesetzt. Für mich gibt es einen Unterschied: Glück ist, wenn man etwas macht. Das enthält auch ein Element des Zufalls. Man kann nicht alles beein- flussen. Aber man macht etwas daraus. Der französische Forscher Louis Pasteur sagte zu Lebzeiten im 19. Jahrhundert – ich sage es auf Englisch: «Luck stri- kes the prepared mind.» Das traf in der Geschichte dieser Firma immer zu. Das «WIR WOLLEN UNSERE heisst: Mein Grossvater, mein Vater und LEIDENSCHAFT MIT ich waren jeweils vorbereitet, aber es war auch immer etwas Zufall im Spiel. ANDEREN TEILEN» Was hat Sie dazu bewegt, den Stand- ort hier in Courtelary beizubehalten und das neue Besucherzentrum hier Eine süsse Erlebniswelt erwartet Besucherinnen und Besu- cher neu in Courtelary im Berner Jura, wo die Firma Chocolat zu bauen? Camille Bloch SA den Produktionsstandort deutlich ausgebaut Courtelary ist ein spezieller Ort. Es gab hat. Verwaltungsratspräsident und CEO Daniel Bloch verrät durchaus Überlegungen, die Fabrik an- dem «Forum» im Interview, welche Visionen ihn beschäftigen. derswo anzusiedeln. Zu berücksichtigen Interview: Daniel Eisner, Hannah Einhaus sind Faktoren wie Steuern, Strompreise oder die Logistik. Matchentscheidend ist aber, ob man die richtigen Mitar- 4 forum – 103 | 01 / 2018
beiter bekommt. Heute liegen wir hier unsere Leidenschaft mit anderen Men- Hat Ihre Firma auch etwas typisch Jü- gar nicht so schlecht. Wir sprechen hier schen zu teilen. Mein Vater hatte schon disches? Französisch und Deutsch und sind gut immer die Vorstellung, die Fabrik der Sie enthält einige typische Elemente. So aufgestellt, um in den französischen und Öffentlichkeit zugänglich zu machen. betreiben wir einen grossen Aufwand den deutschen Markt zu exportieren. Von daher ist der Grundgedanke von um koschere Schokolade zu produzie- Die Lage in der Natur ist ein Standort- dem, was wir hier realisiert haben, von ren. Dies betrifft nur etwa drei Prozent vorteil für das neue Besucherzentrum. ihm mitgetragen und geprägt. Er hatte unseres Produktionsvolumens, doch für Kommt hinzu, dass die Menschen mo- mich aber davor gewarnt, das Projekt rund zwei Wochen steht die Fabrik prak- biler geworden sind, insbesondere die zu gross zu machen. tisch still. Immerhin sind wir dank der Qualifizierteren, die einen Arbeitsweg koscheren Schokolade schon lange in von 45 Minuten auf sich nehmen. Mit Wenn er sehen könnte, was hier ent- der Lage, Rohstoffe zurückzuverfolgen. Bern, Biel, Solothurn, Neuchâtel oder standen ist, hätte er Freude? Eine Kompetenz, die heute sehr wichtig La Chaux-de-Fonds haben wir ein gutes Ja, ich denke schon, es würde ihm sehr geworden ist uns für die ganze Produkti- Einzugsgebiet. Und diejenigen, die hier- gefallen. Das Einzige, das er bedauerte, on zugute kommt. Wir pflegen das Jüdi- her zur Arbeit kommen, sind generell war, dass wir auf dem Areal eine Linde sche, solange es geht… treuere Arbeitnehmer. Wir haben viele fällen mussten. langjährige Mitarbeiter, auch solche, die ...und sind ebenso ein Beispiel für ihr ganzes Arbeitsleben hier verbracht Existiert ein Ort im neuen Besucher- Schweizer Wirtschaftsgeschichte... haben. Aber tendenziell hat die Fluktua- zentrum , der Sie persönlich berührt? ... ja, vor anderthalb Jahren wurde ich tion zugenommen. Ja, es ist der Platz in Turin, wo man vom Bundesrat eingeladen für einen sich auf ein Motorrad setzen und Sel- Vortrag auf der Reise von Biel nach St. Ist das Unternehmen mit der Neuaus- fies machen kann. Da muss ich etwas Imier. Ich bedankte mich dafür, dass wir richtung auch gewachsen? ausholen: Heute lebt man zwar bes- noch hier sind. Wären wir nicht in der Ja, wir haben mehr Leute, weil auch neue ser und gesünder und wird älter, man Schweiz, hätten wir als Juden diese Ge- Aktivitäten hinzugekommen sind. Wir hat mehr Möglichkeiten, Sicherheit schichte nicht. In anderen Ländern hät- haben eine neue Logistik aufgebaut, mit und Wohlstand, aber dennoch ma- ten wir damals verschwinden müssen. neuen Abläufen, um Prozesse zu rationa- chen sich viele Menschen Sorgen um lisieren. Das andere ist das neue Begeg- die Zukunft. Man sieht Bedrohungen Diese jüdisch-schweizerische Veran- nungszentrum «Chez Camille Bloch», wie Kriege und Klimawandel oder kerung hat sich sicher auch in Ihrer wo wir rund 30 zusätzliche Beschäftigte hat Angst vor Frustration, obwohl es familiären Kultur fortgesetzt, wenn haben. Wir sind jetzt 180 Leute anstatt einem alles in allem besser geht. Das wir an Ihren Vater Rolf Bloch denken, wie bis vor kurzem 150. Insgesamt ist beschäftigt mich. Ich möchte in einer der acht Jahre lang den Schweizeri- heute rund ein Viertel der Beschäftigten hoffnungsvollen Welt leben, in der schen Israelitischen Gemeindebund seit höchstens einem Jahr dabei. man an die Zukunft glaubt. Ich möch- präsidiert hatte. Geschah dies auch te Zuversicht für die Zukunft schaffen, aus solch einer Dankbarkeit? Ihr Vater Rolf Bloch war eine wichtige und dieser Platz mit dem Selfie soll ein Ja, er sagte es so. Er war ein ausseror- Figur. Vieles, was hier neu entstanden solcher Ort der Sorglosigkeit sein. Ich dentlich pflichtbewusster Mensch. Dass ist, hat er nicht mehr erlebt. Wie viel bewege mich gerne in einem Schwe- er sozusagen davongekommen ist, hat zu von ihm steckt dennoch drin? bezustand. «Il dolce della vita» lautet diesem Denken zweifelsfrei beigetragen. (Nach längerem Überlegen): Als mein auch der Claim, das Leben zu genies- Vater das erste Mal von meinen Plä- sen und die Leichtigkeit zu leben. Ihre Verwurzelung als Jude und nen erfuhr, dachte er, dass ich etwas Schweizer geht ja sehr tief. Man denke übermütig sei. Er war vorsichtiger als Warum gerade Turin? auch an Ihren Grossonkel Jean Nord- ich. Ohne ihn hätte ich diesen Umbau Unsere Marke Torino soll nach der mann, der wie Ihr Vater SIG-Präsi- wahrscheinlich früher in Angriff ge- Stadt Turin benannt worden sein. dent war. Ist ein solches Engagement nommen. Aber ich bin froh, habe ich Mein Grossvater war Reisen und schon eine Option für die Zeit, wenn es nicht vorher gemacht. Ich war mit dem südlichen Lebensgefühl zuge- Sie hier nicht mehr arbeiten werden? ihm in dauerndem Austausch. Wir ha- neigt. Dasselbe gilt für «Ragusa»: Nun, von heute aus gesehen rechne ich BILD: DANIEL EISNER ben uns gut ergänzt. Er war nicht der Das war einst der Name der heu- nicht damit. Aber manchmal ist es eben geborene Optimist. Was er stets gepflegt tigen Stadt Dubrovnik in Kroatien. so: Nicht ich plane das Leben, sondern hatte, war der direkte Kontakt zu den Wir schaffen mit Bildern und Ge- das Leben plant mich. Ich kann aber mit Menschen. Unsere Neuausrichtung schichten eine emotionale Welt zu meinem Grossonkel und meinem Vater steht in Verbindung mit der Vision, unseren Produkten. sehr wohl etwas teilen: Sie waren Cito- forum – 103 | 01 / 2018 5
INTERVIEW yens, nicht Bourgeois, die sich für eine Sache einsetzten, die ihnen wichtig war. Wie sieht es aus mit den Gefühlen für die JGB, wo Sie aufgewachsen sind? Ich bin sehr verbunden mit der Jüdi- schen Gemeinde Bern. Das geht klar über den Glauben hinaus, zurück zu Be- ziehungen aus der Kindheit, zu den Ski- lagern, zu den Samstagnachmittagen. Ich bin nicht sehr häufig in der Synagoge, und meine Frau ist nicht jüdisch, aber wir haben drei Kinder, und sie konnten selbst entscheiden, was ihnen lieber ist. Daniel Bloch: «Ich bevorzuge eine betriebseigene Nachwuchsförderung.» Meine älteste Tochter Salome entschied sich für den reformierten Weg, und mein kann. Doch es gab Leute, die darüber Kontakt zu Menschen zu pflegen. Hie Sohn Arsène besuchte den jüdischen staunten. Ich war schon in der Schule und da gehe ich hinüber in den öffent- Religionsunterricht. Beide mussten an- einer, der gerne vom reinen Schulstoff lichen Teil unserer Fabrik und rede mit fänglich sowohl in den Reli als auch in abschweifte. Mir wurde das damals den Besuchern. Das passt mir sehr gut. die kirchliche Unterweisung, damit sie etwas ausgetrieben, aber ich brauche Ich hätte gerne einmal einen Film ge- sich selbst ein Bild machen konnten. Bei das, bis heute. Man ist natürlich durch dreht. Wo andere Tatsachen sehen, er- seinem Übertritt in die liberale Gemein- seine Herkunft und sein Umfeld ge- kenne ich die Filmhandlung. Das neue de Or Chadasch in Zürich wurde Arsène prägt. Aber die Mission, die man hat, Besucherzentrum ist letztlich auch ein gefragt, welches Fest ihn denn anspre- soll man so erfüllen, dass es zu einem Ort von Geschichten, von Stories. che. Er erwähnte Chanukka, da erhalte passt. Für mich heisst das, den direkten man Geschenke. Die Rabbiner meinten, das sei eine jüdische Antwort. Wichtig und gut ist, dass sie sich beide für einen SCHOKOLADENDUFT der Firma im Tal von St. Imier im Kan- Glauben entschieden haben. UND BUCHLEKTÜRE ton Bern sieht und keine Auslagerungen Wer am Bahnhof Courtelary an der Li- der Produktion ins Ausland plant, nicht Worin sehen Sie momentan Ihre wich- nie Biel–La Chaux-de-Fonds aus dem einmal Teilauslagerungen. Als Familien- tigste Aufgabe? Zug steigt, riecht schokoladesüsslichen unternehmer hat er es gerne klein und Meine zentrale Mission ist aktuell sicher Duft. Die Firma Chocolat Camille Bloch kompakt. Dass er sich nicht als Manager die, dieses Unternehmen in eine sichere SA liegt nur hundert Meter entfernt. Im und Verwalter, sondern als Visionär ver- Zukunft zu führen. Während ich früher Oktober 2017 hat das Unternehmen die steht, zeigt auch sein im Jahr 2017 pu- zeigen musste, dass ich generell führen Infrastruktur erweitert und ein Besucher- bliziertes Erstlingswerk «Creating Passion kann, bin ich heute in einer neuen Lage zentrum eröffnet, welches multimedial – vom Sprung aus dem warmen Wasser». und versuche, andere Personen in Kader- und interaktiv die Geschichte des Unter- Auf rund 150 attraktiv gestalteten Seiten positionen zu fördern. Ich arbeite nicht nehmens und die Produktion von Torino- im Kleinformat geht der Autor der Frage mit Expertinnen und Experten, die etwas und Ragusa-Stengeln aufzeigt. Eine Passe- nach, was es braucht, um ein Unterneh- schon zehnmal gemacht haben, sondern relle im Obergeschoss verbindet neu den men kreativ zu führen und zugleich die ich beauftrage eigene Angestellte mit ei- produzierenden Gebäudeteil links mit der Leidenschaft der Mitarbeiter zu wecken. nem Projekt, die das dann zum ersten Verwaltung und dem neuen Besucher- Daniel Bloch versucht in lockerem Stil, die Mal machen, neue Verantwortung über- zentrum rechts der an Kantonsstrasse. 40 Geschichten hinter betriebswirtschaftli- nehmen und daran wachsen. Das ist die Millionen Franken hat das Unternehmen chen Prozessen zu verstehen und Fakten betriebseigene Nachwuchsförderung. investiert und dafür in seiner fast 90-jäh- mit seinen Sinnen zu erfassen. Entstan- rigen Geschichte erst das dritte Mal einen den ist ein Werk, das sich ursprünglich an Sie erzählen gerne Geschichten. Gibt Kredit aufgenommen. Studienabgänger von Wirtschaftsfächern es noch eine Geschichte, die noch Daniel Bloch, der nach Camille und Rolf richtete, letztlich aber – so die Eigenbe- nicht geschrieben ist? Bloch das Unternehmen in dritter Gene- schreibung – ein Publikum ansprechen Ich habe früher den Kindern selber ration führt, hat mit dieser Erweiterung will, das auch im Arbeitsleben nach über- erfundene Geschichten erzählt, für ein Signal gesetzt, dass er die Verankerung geordneten Werten strebt. (ein./dei.) mich war das normal, dass man das 6 forum – 103 | 01 / 2018
AKTUELL Die «Jewish Youth of Bern» der heu- Je nach Herkunftsfamilie spielte die te 18- bis 35-Jährigen ist in aller jüdische Tradition eine andere Rolle. Munde: Seit gut einem Jahr ist eine Jugendbünde, Israelaufenthalte und Gruppe von jungen Mitgliedern um Studien trugen ihren Teil bei. Jung Rabbiner Michael Kohn daran, ein sein bedeutete und bedeutet, das Her- jüdisches Leben in Bern aktiv zu ge- kömmliche herauszufordern, zu hin- WIR stalten. Die «Forum»-Redaktion hat terfragen, auszubrechen und die Su- mehrfach darüber berichtet. Diese che nach eigenen Lebensentwürfen zu neuen Aktivitäten stossen auch bei beginnen. Wir haben die Porträtierten ALLE Mitgliedern über 35 auf Anklang. Wir gefragt, welche Rolle die jüdische Er- haben uns für diese Ausgabe bei den ziehung in ihrer Jugend spielte, wie älteren Generationen umgehört und sie sich im Alter von 20 bis 30 Jahren WAREN zehn Mitglieder zwischen 41 und 99 persönlich und beruflich entwickelten, besucht, die sich zu unterschiedli- was ihnen damals gefiel und woran sie chen Jahrzehnten mit ihrer jüdischen sich damals rieben. Identität auseinandergesetzt hatten. Schliesslich baten wir alle um eine EINMAL Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit, die jungen Jahre der Befragten wa- ren durch das Zeitgeschehen unter- Einschätzung der heutigen «Jewish Youth». Zusammengekommen ist ein kleines Bouquet von Denkanstössen. JUNG schiedlich geprägt. (ein.) Myria Ditesheim-Zlotnicki *1919, La Chaux-de-Fonds, Sekretärin und Hausfrau meines Vaters Jacques musste meine Mutter Jeanne alleine für die Familie aufkommen. Ich war damals elf und trug als ältestes von drei Geschwistern von einem Tag auf den anderen plötzlich sehr viel Verantwortung. Nach Kriegsen- de erfuhren wir, dass fast der ganze polnische Familien- zweig von den Nazis ermordet worden war. Die jüdische Gemeinde von La Chaux-de-Fonds war sehr aktiv und der Zusammenhalt zwischen den Familien stark, und zwar auch über die Grenzen der verschiedenen religi- ösen Ausrichtungen hinaus. Trotz den beengten Raumver- hältnissen pflegten meine Eltern ein offenes Haus und lies- BILD LINKS: DANIEL EISNER / BILD RECHTS: ZVG sen es sich nicht nehmen, zum Laubhüttenfest jeweils die ganze Gemeinde in ihre Sukkah einzuladen. In lebendiger Erinnerung geblieben sind mir auch die rauschenden Bälle, welche die jüdische Gemeinde unter aktiver Mitwirkung der Jugend jeweils zu Chanukka veranstaltete. Wir Kinder besuchten zweimal wöchentlich den Cheder (Religions- unterricht). Obschon es keinen eigentlichen Jugendbund gab, trafen sich die Jungen oft und gern. In diesem Rah- men entstand auch die tiefe Freundschaft zu Anette Dites- «Mein Vater stammte aus einer religiösen Familie in Polen, heim, deren ältesten Bruder Henri (1915-2011) ich 1941 meine Mutter aus La Chaux-de-Fonds. Im Haushalt lebten heiratete. Unsere ersten Ehejahre fielen mit dem Zweiten drei Generationen. Nach dem frühen unfallbedingten Tod Weltkrieg und Henris Zeit im Aktivdienst zusammen und forum – 103 | 01 / 2018 7
AKTUELL waren von grosser Unsicherheit geprägt. Nachdem Henri Sohn Jacques André zur Welt, drei Jahre später folgte Toch- in Bern eine Stelle als Maschineningenieur gefunden hatte, ter Maryse. Der Wegzug aus La Chaux-de-Fonds war nicht zogen wir 1941 in die Bundesstadt und schlossen uns bald Ausdruck jugendlicher Rebellion, sondern eine Frage der der JGB an. Über die herzliche Aufnahme und die vielen Existenz. So waren die harten Winter das Einzige, was ich Freundschaften bin ich bis heute sehr dankbar. 1942 kam gerne hinter mir gelassen habe.» (mro.) Georg Eisner *1930, Basel, Augenarzt te, hielt man es für Propaganda. Meine Eltern, beide Ärz- te, waren seit ihrer Studienzeit Zionisten, und in diesem Sinne wuchs ich nicht-religiös jüdisch auf. Meine Mutter stammte ursprünglich aus dem aargauischen Lengnau, mein Vater war Sohn eines polnischen Juden und in Basel aufgewachsen. Weder in der Schule noch in der Freizeit wurde ich, trotz der allgegenwärtigen deutschen Propa- ganda, als Jude beschimpft. Allerdings wurde damals in Basel den Juden keine Mitgliedschaft in Vereinen oder bei den Pfandfindern zugestanden. Ich selbst war aktiv im nicht-orthodoxen Jugendbund Emuna. Nach meiner Matura 1949 ging ich mit einer Gruppe von jungen Leuten aus Frankreich und aus Nordafrika im Rahmen des Haschomer Hazair in den neu gegründeten Staat Israel. Zuerst waren wir auf Hachscharah im Kibbuz Evron bei Naharija, danach gründeten wir den neuen Kib- buz Karmiah an der Grenze zum Gazastreifen, wo ich als Schreiner und Zimmermann arbeitete. 1953 kehrte ich in die Schweiz zurück und studierte in Basel Medizin. Für «Meine ganze Jugend war geprägt durch die Kriegsjahre. das Militärische fehlte mir zwar die Begeisterung, aber Ich wuchs in der Stadt Basel auf, die zur offenen Stadt dennoch leistete ich wie viele andere Schweizer Juden deklariert worden war und im Fall eines deutschen An- aus Dankbarkeit für unsere Verschonung im Krieg meinen griffs nicht verteidigt worden wäre. Man wusste, dass Dienst. Nach dem Staatsexamen 1959 kam ich in die Offi- Juden nichts Gutes bevorstand, aber das ganze Ausmass ziersschule, lernte an deren Ende meine Frau kennen, und des Schreckens ahnte niemand. Und als es durchsicker- im Jahr 1960 heirateten wir.» (ein.) Michèle Bloch *1939, Bulle/FR, medizinische Laborantin «Als Mädchen habe ich eine glückliche und unbeschwerte Wichtig war, dass wir uns unserer jüdischen Identität be- Zeit erlebt, in einer intakten jüdischen Familie mit drei wusst waren. An die Zeit des Zweiten Weltkriegs habe ich jüngeren Brüdern. Bulle war unser Zuhause, da mein Vater fast keine Erinnerungen, ich war damals ein kleines Mäd- dort Direktor einer Möbelfabrik war. Meine Eltern haben chen. Was ich aber mitbekommen habe, waren die grossen uns Kindern ein traditionelles jüdisches Leben vorgelebt, Sorgen meiner Eltern. Und wie meine Eltern sowie mein das aber nicht besonders religiös war. Zentral waren für Onkel und dessen Frau sich für Kriegsflüchtlinge eingesetzt uns die jüdischen Festtage, die wir meistens bei meinen haben. Ich sehe noch die Flüchtlinge vor mir, die auch bei Grosseltern in Fribourg feierten. Meinen Eltern war es uns zuhause waren. Sehr gut kann ich mich an die Staats- wichtig, uns jüdische Werte zu vermitteln, wie die Freiheit gründung Israels erinnern, an die Zeit, als wir gebannt am des Denkens oder die Toleranz gegenüber Mitmenschen. Radio das Geschehen verfolgten. Damals war ich neun. 8 forum – 103 | 01 / 2018
Mit 19 machte ich in Fribourg die Handelsmatura. Ich sprach damals praktisch kein Deutsch. Also ging ich nach Zürich und Bern, um dort Laborantin zu lernen. Nach die- ser Ausbildung hatte ich eine Stelle in Lausanne, dann in Genf. Ich war 22, als mein Mann Rolf und ich heirateten, und mit 27 Jahren hatte ich drei Kinder. Für Rolf und mich war klar, dass wir unseren Kindern jüdische Tradition und jüdische Werte so vermitteln wollten, wie wir es selber mitbekommen und gelernt hatten. Unser Ziel war es, un- sere Kinder so zu erziehen, dass sie später, was ihre eigene Lebensgestaltung angeht, alle Freiheiten haben sollten.» «Unsere drei Kinder haben alle unterschiedliche Wege ge- wählt. Laurence und ihre Familie leben ein weitgehend nichtjüdisches Leben. Daniel und seine nichtjüdische Frau engagieren sich im jüdischen Umfeld und überlassen es ihren Kindern, ob und wie sie ihr religiöses Leben leben wollen. Und Stéphane und seine Frau, die konvertiert hat, sind mit ihren Kindern in einem ziemlich traditionellen jüdischen Umfeld zuhause.» Georges Hill *1946, Bern, Laborant und Fotograf «Ich bin in einem relativ liberalen Elternhaus aufgewach- sen, wobei wir die Traditionen doch ziemlich streng ein- gehalten haben, insbesondere an den Hohen Feiertagen oder an Pessach. Auch gefeiert haben wir an den Freitag- abenden den Schabbat-Eingang. Alles, was ich zuhause mitbekommen und gelernt habe, hat sich mir eingeprägt, auch wenn ich heute Gesetze und Rituale freier interpretiere. Ein Fixpunkt war der Religi- onsunterricht, wo ich gerne jüdische Basics lernte, auch wenn die Art, wie die Lehrer den Unterricht gestalteten, für meinen Geschmack etwas gar trocken war. Wichtiger war meine Zeit in der Jugendgruppe Haschomer Hazair, wo nicht nur Zionismus und Sozialismus, sondern auch lebendiges, gelebtes Judentum vermittelt wurde. In meinen späteren Jahren hat sich, was meine Einstel- lung zum Judentum angeht, in den Grundzügen nichts verändert. Ich führte schon früh ein eigenständiges Le- ben: Zwischen 16 und Mitte 20 lebte ich in Basel, wo ich meine Lehre als Laborant in der Chemieindustrie machte. Zugleich war ich politisch interessiert und im damaligen BILDER: ZVG Landesring der Unabhängigen aktiv. Das jüdische Leben in Basel genoss ich bei Verwandten, im Haschomer Hazair und im Jüdischen Turnverein JTV. Geprägt hat mich, was forum – 103 | 01 / 2018 9
AKTUELL Israel angeht, der Sechstagekrieg. Gebannt sassen wir da- gelernt und gelebt hatten, und dem real existierenden So- mals am Radio und verfolgten so das Geschehen, das uns zialismus in den kommunistischen Staaten des Ostblocks. alle aufwühlte. Wir machten uns Sorgen um unsere Ange- Es war ernüchternd festzustellen, dass in grossen Staaten, hörigen. Und gleichzeitig waren wir fasziniert von den in grossen Gebilden wie der Sowjetunion diese Ideale sich Heldengeschichten, die wir zu hören bekamen. Was mich nicht entfalten konnten beziehungsweise ad absurdum damals beschäftigte, war die Diskrepanz zwischen den so- geführt wurden. In kleinen Zellen wie in den sozialistisch zialistischen Idealen, wie wir sie im Haschomer Hazair geprägten Kibbuzim in Israel war das ganz anders.» (dei.) Renée Brands *1947, Bern, Shiatsu-Lehrerin Später, als mein Vater schon gestorben war, las sie mir alle Briefe meiner Grosseltern vor. Meine Eltern, vor allem mein Vater, hat sich aber immer aktiv für den interreligiö- sen Diskurs in Bern eingesetzt. Mit 20 habe ich mein erstes Kind geboren. Damit erwach- te in mir der Wunsch, meine Kinder jüdisch zu erziehen. Ich begann, in die Synagoge zu gehen. Ich habe oft nicht verstanden, was im Gottesdienst gemacht wird. Dafür habe ich mich geschämt, und ich wagte nicht, Fragen zu stellen. Ich war in der Folge sehr aktiv in der Wizo, und meine Mutter besuchte den Frauenverein. Das Judentum als Tradition wurde mir immer wichtiger. Eine Tradition zu haben, ähnelt einer Familie: Es bedeutet Heimat und gleicht einem Ort, an dem man sich wohl fühlt. Religion bedeutet für mich ein Bewusstsein zu schaffen, zu unter- scheiden und der Indifferenz zuvorzukommen. Mein Mann und ich hatten einen grossen Freundeskreis. Wir waren eine Gruppe junger Menschen, die viel mitei- nander unternahmen. Wir hatten damals auch sehr viele israelische Freunde, die Veterinär- und Zahnmedizin an der Universität Bern studierten, weil dies in Israel noch nicht möglich war. Ich liebte es, am Freitagabend Gäste zu empfangen. Meine schöne Zeit war die Zeit mit meiner Familie und mit meinen Freunden. Ich wuchs in einem sehr toleranten Zuhause auf, und meine Eltern haben mir «Ich wusste lange nichts von meiner jüdischen Abstam- viele Freiheiten gelassen. Darum habe ich mich wohl auch mung. Durch den traumatischen Verlust ihrer Eltern in immer am meisten an der Intoleranz und an kleingeis- Ausschwitz hat meine Mutter nicht über ihre jüdische tigen Menschen gestossen. Ausländerfeindlichkeit ist mir Herkunft gesprochen, und wir haben auch keine jüdi- ein Gräuel. Auch das sich Beklagen auf hohem Niveau und schen Traditionen gepflegt. Zwar haben wir ein paar Mal die Ernsthaftigkeit bedrücken mich. Holländer beklagen Pessach bei meinem Onkel in Holland gefeiert, ich konnte sich auch, aber sie machen es lachend. Wenn ich etwas dieses Fest aber nicht einordnen und habe es fraglos hin- anders machen würde: Ich hätte schon früher zwei Tage genommen, wie man es als Kind oft tut. Erst als ich etwa in der Woche arbeiten können. Meine jetzige Arbeit als zehn Jahre alt war, hat mich meine Mutter aufgeklärt. Shiatsu-Lehrerin erfüllt mein Leben sehr. (nik.) 10 forum – 103 | 01 / 2018
Carole Hyams-Zlot *1961, Bern, Pflegefachfrau klarmachen, dass israelisch und jüdisch nicht identisch sind. Bis 1992 lebte ich in den USA und erarbeitete mir dort Abschlüsse als Registered Nurse und als Massage-The- rapeutin. Das Jüdische ist in New York so selbstverständ- lich. Trotzdem war ich eher unglücklich und einsam. Meine Freunde und meine Familie fehlten mir sehr. Ich war schon über 30 Jahre alt, als unsere drei Kinder zur Welt kamen (1992, 1996 und 2000). In dieser Zeit lebten wir in Bern. Von 2005 bis 2012 kehrten wir nochmals zurück in die USA und führten dort ein extrem jüdisches Leben, gingen jeden Schabbes in die Synagoge und waren sehr involviert in der Gemeinde. Wir hatten einen hervorragenden Rabbi. Meine Familie väterlicherseits kam ursprünglich aus Polen und war ziemlich religiös. Als Kind fühlte ich mich immer als etwas Besonderes, (deswegen aber nicht als etwas Bes- seres!). Ich war jahrelang in der Jugendgruppe Hagoschrim und wurde später Madricha. Da spürte ich immer eine tie- fe, feierliche, warme Verbindung. Auch an den Traditionen hänge ich nach wie vor. Später war ich dann auch noch im Vorstand der Gemeinde tätig. «Nach meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau habe ich ziemlich jung geheiratet. Mit 25 Jahren zog ich zu meinem Ich selbst fühlte mich manchmal geteilt in zwei Welten, jüdischen Mann Ron nach New York. Ich war überzeugt, eine jüdische und eine nichtjüdische. Ich habe auch heute dort werde alles besser sein. Hier in Bern musste ich mein noch meine jüdischen und meine nichtjüdischen Freunde. Jüdischsein oft erklären und den nichtjüdischen Leuten Viele kennen sich allerdings.» (ein.) Daniel Gerson *1963, Basel, Historiker «Ich war als Jugendlicher in Basel aktiv in der zionistisch gepräg- ten Jugendbewegung Emuna, die damals das Auffangbecken für alle Nichtorthodoxen war. Nach meinem Studienbeginn ging diese Nestwärme verloren. Die jüdische Studentenschaft hatte für mich nicht mehr dieselbe emotionale Bindung. Dieser enge jüdische Zusammenhalt hat sich nach 20 aufgelöst. Die Geselligkeit der Samstagnachmittage und der Machanot mit Gleichaltrigen verflüchtigte sich. Einige gingen auch nach Is- rael. Im Studium in Basel von 1982 bis 1989 begann ich mich hingegen mit der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. Es folgten ein Jahr bei der Jüdischen Rundschau und Aufenthalte in New York, Berlin und Paris. Dies waren tolle Horizonterwei- terungen. Ich habe in den jungen Jahren in Basel freiwillig eine Anpas- sungsleistung an ein sehr traditionelles Religionsverständnis vollbracht. Problematisch empfand ich manchmal die soziale Kontrolle, wichtig waren die soziale Nähe und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Das Positive hat überwogen. Im Gegensatz zu forum – 103 | 01 / 2018 11
AKTUELL meinem Vater, einem Schoah-Überlebenden, wollte ich mein Es gab auch ein paar antisemitische Erlebnisse, aber die Verhältnis zum Judentum nicht nur über die traumatische Er- bestimmten meinen Alltag nicht. Ich lebte als Kind kurz fahrung des Holocaust definieren, sondern auch durch viel- in Israel, das prägte mich ebenfalls positiv, was die jüdi- schichtige kulturelle und religiöse Traditionen und durch die sche Identität anbelangt. Eine Alija war in späteren Jahren Existenz Israels. jedoch nie ein Thema.» (ein.) Richard Bloch *1968, Bern, Einkaufsleiter, BIT ist einfacher, wenn man sich innerhalb einer Beziehung die Religion teilt. So erspart man sich Diskussionen. Ich konnte mir nicht vorstellen, Weihnachten zu feiern, und ich hatte das Glück, mit Tamara eine grossartige jüdi- sche Frau kennenzulernen. Ich erinnere mich gerne, wie unbeschwert und unkom- pliziert wir etwas unternahmen. Es wurde nicht lange im Voraus geplant, man machte es einfach. Auch an die Teilnahme an Anlässen des Jüdischen Turnvereins, den Wizo-Bällen und den Gerümpelturnieren denke ich ger- ne zurück. Ein längerer Aufenthalt in New York und in der Romandie gehören zu meinen schönen Erinnerun- gen sowie eine intensive Interrail-Reise durch Europa. Ich war als Jugendlicher weniger kritisch als heute. Jetzt hinterfrage ich Haltungen und Meinungen mehr, viel- leicht weil ich Kinder habe. Ich nahm an keinen De- monstrationen teil. Heute habe ich mehr Verständnis «Wir feierten alle wichtigen Feste. Während der Hohen dafür, dass Leute auf die Strasse gehen, wenn sie etwas Feiertage erhielten wir zwei Tage schulfrei. Wir benut- nicht gut finden. zen keine Verkehrsmittel und liefen zur Synagoge. Jeden Freitag kam meine Grossmutter, und wir feierten mit der Mein unkritisches Denken gegenüber Respektpersonen Familie Schabbat. Anfangs hatten wir keinen koscheren wie Eltern und Lehrern oder auch gegenüber Informa- Haushalt. Später, als mein Bruder nach seiner Bar Mizwa tionen und Gesichtspunkten, die ich über Zeitungen er- zunehmend religiöser wurde, führten meine Eltern einen fuhr, habe ich gerne hinter mir gelassen. Ich bin froh, koscheren Haushalt ein. Bei meinen späteren Überlegun- dass ich mir mit dem Älterwerden zunehmend eine ei- gen über meine zukünftige Familie habe ich mich ent- gene Meinung bilden konnte und nun auch dafür ein- schieden, dass ich eine jüdische Frau heiraten möchte. Es stehen kann.» (nik.) Myriam Siksou *1970, Bern, Betriebsökonomin «Meine jüdische Erziehung hat mich nachhaltig geprägt: Alles Jüdische in Wissenschaft, Politik, Kunst und Litera- Meine internationale und mehrsprachige sefardische Fa- tur machten mich irgendwie stolz; sinnliche Erfahrungen milie, ihre Werte, die Disziplin von Geboten und Verbo- wie Musik, Traditionsgerichte, Rituale und Düfte aller Art ten im Alltag, Anekdoten der intellektuellen mütterlichen taten den Rest. Und dann dies: Als ich beispielsweise an Seite und bodenständige Schwänke der väterlichen Ver- Weihnachten unbedingt Blockflöte spielen wollte, wurde wandtschaft, die Macht der Geschichten und das Rühmen mir die Flöte überraschend schnell geschenkt. Überhaupt aller jüdischen und judenfreundlichen Errungenschaften kein Problem, hiess es zuhause. Schliesslich war auch Je- aus aller Welt. sus ein Jude. 12 forum – 103 | 01 / 2018
AKTUELL Irgendwann wurde mir diese Welt zu eng, das konnte nicht alles sein. Die Herkunft ist zwar wichtig, doch mein Horizont ist die Welt, und die will entdeckt und erlebt werden. Tradition war mehr Pflicht als Lust und letztlich auch Frust. Ab 20 stellte ich mir meine eigenen Sinnfragen. Mit dem Einzug meines nichtjüdischen Lebenspartners sor- tierte ich aus, was ich aus meiner jüdischen Erziehung dauerhaft behalten, verändern oder über Bord werfen wollte. Dieser Prozess dauert bis heute an. Die Frage nach meiner jüdischen Identität ist heute keine Obsession. Jü- dische Identität ist wandelbar und formt sich unabhängig von Institutionen und strengen Normen. Ich blicke gerne zurück auf alle Menschen, die mich he- rausgefordert und geprägt haben. Mitunter meine Begeg- nungen und Freundschaften aus meinen Vorstandsjahren bei der schweizerischen und den internationalen Studen- tenorganisationen. Zeitweise kam es aber zum Overkill an Networking und institutionellem Judentum.» (dei.) Michael Halpern *1977, Bern, Arzt mit ihren Festen war schon immer fester Bestandteil mei- nes Lebens. Wir besuchten oft die Synagoge, ich ging in die Dubim, und meine Eltern pflegten regen Kontakt mit Freunden innerhalb der jüdischen Gemeinde. Israel genoss einen hohen Stellenwert in meiner Familie, und ich lernte das Land durch Urlaubsreisen kennen und lieben. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an die Zeit in meinem Ulpan im Kibbuz Yotvata und an die Iwrit-Sommerkurse an den Universitäten Tel Aviv und Haifa. Ein Abend, der mein Leben verändert hat, und auf den ich gerne zurückblicke, ist ein Anlass der jüdischen Studenten im Café Kairo. An diesem Event habe ich meine jetzige Frau Lea kennenge- lernt, die mir drei wunderbare Kinder geschenkt hat. Ich fühlte mich früher häufig genötigt, am Schabbes den Got- tesdienst in der Synagoge zu besuchen und in die Dubim zu gehen. Dieses übersteigerte Pflichtgefühl konnte ich zum Glück mit der Zeit abbauen. Mich hat die öffentliche und mediale Wahrnehmung von Israel mit ihrem Doppel- standard und ihrer häufigen Funktion als Katalysator für den zeitgenössischen Antisemitismus geärgert. «Das Judentum durchdringt meine Kindheit und Jugend: Ich habe mich von empfundenen Zwängen, wie zum Bei- Jüdischer Humor und jüdische Melancholie, jüdische Kul- spiel Kaschrut befreit. Ich ‹oute› mich weniger häufig tur, jüdische Literatur und jüdische Musik, das Bewusst- öffentlich als Jude, entsage mich leidiger und einseitiger sein der Diaspora mit all seinen Facetten, auch dem inhä- Israel-Diskussionen mit Nicht-Juden und geniesse das Ju- renten Schmerz der nahen Schoah. Die jüdische Religion dentum ‹privater›.» (nik.) forum – 103 | 01 / 2018 13
AKTUELL Myria Ditesheim- Ideale, die junge Menschen beflügel- Georges Hill ten, ja, wir sahen eine geradezu mes- Zlotnicki sianische Zukunft vor uns. Heute hat sich manches als Illusion entpuppt. Die intellektuelle Zerschlagung des europäischen Judentums durch den Holocaust ist noch lange nicht bewäl- tigt. Ein bissele Anatevka und Klezmer reichen nicht für neue Inhalte. Wir benötigen ein tieferes histori- sches Bewusstsein und das Wissen über die Grundlagen des jüdischen Erbes. Wir müssen jedoch selbst ent- scheiden, wie wir damit leben wol- len. Für solche Entscheide braucht es Wissen. Und zum Erwerb des Wissens «Wenn ich sehe und beobachte, wie braucht es Neugier. Diese zu wecken die jungen Menschen heute leben ist jetzt wohl unsere wichtigste Auf- und funktionieren, fällt mir auf, dass gabe. Die neuen Lernangebote in der «Dass den heutigen jungen Erwachse- Gemeinde gehen in diese Richtung.» es für sie schwierig ist, sich zu orien- nen so viele Möglichkeiten offenste- (ein.) tieren und sich auf wenige wichtige hen, finde ich grundsätzlich positiv. Dinge zu konzentrieren. Ich beneide sie deshalb nicht wirklich. Mit dem Ich stelle aber fest, dass diese auch riesigen Angebot an Aktivitäten und eine Konkurrenz zur Religion und den sozialen Medien ist ihr Alltag un- den Angeboten einer jüdischen Ge- übersichtlich geworden. Was ich den meinde bilden. Ich wünsche der jun- Michèle Bloch Jungen mitgeben möchte: Verzettelt gen Generation mehr Zusammenhalt euch nicht. Versucht herauszufinden, und ein stärkeres Bewusstsein für die was euch wichtig ist, und konzent- jüdische Identität.» (mro.) riert euch darauf.» (dei.) Renée Brands Georg Eisner «Dass wir heute mit Michael Kohn einen Jugendrabbiner haben, der sich insbesondere für die Generation der 18- bis 35-Jährigen engagiert, ist ein ermutigendes Signal. Bevor Rabbiner Kohn in Bern war, gab es für die Jun- gen praktisch nichts, was nicht sehr Ich denke, es ist für jede Generati- motivierend war.» (dei.) on dasselbe: Es macht Spass, jung zu «Ich denke, für die heutige jüdische sein! Die Jungen von heute sollen ihre Jugend ist es schwieriger, Jude zu sein Jugend einfach geniessen. (nik.) als in den 1950er-Jahren. Israel barg 14 forum – 103 | 01 / 2018
AKTUELL einfach, die Vielfalt des Judentums zu Nachteilen verbunden. Ich wünsche ich leben. Wichtig ist, dass eine gewisse ihnen eine Eigenständigkeit im Denken, Carole Hyams-Zlot Pluralität dennoch verwirklicht wer- die sie früh pflegen und leben.» (nik.) den kann. Aufgabe der Gemeinde ist, dialogbereit und konstruktiv damit umzugehen. Myriam Siksou In meiner Jugend gab es zwischen einer konservativen Form des jü- disch-religiösen Gemeindelebens und der Alija nach Israel kaum Alternati- ven. Heute ist es anders. Das Schwei- zer Judentum ist vielfältiger gewor- den, und zugleich hat Israel nicht Da schaue ich am besten auf unsere mehr das Image eines Landes im Auf- Söhne. Beide sind oder waren freiwil- bruch. Die Diskurse über das Jüdisch- lig bei den Dubim. Rabbiner Micha- sein sind in der Diaspora breiter und el Kohn und die Jugendkommission freier geworden. (ein.) haben soeben das Projekt «Fit für «Wenn ich an die jungen Leute von die Zukunft» lanciert, mein Jüngster heute denke, kann ich ihnen kein Ge- macht dort mit. Einer meiner Söhne Richard Bloch heimrezept auf den Weg mitgeben. Das feierte seine Bar Mizwa in den USA. A und O sind Respekt, Weltoffenheit Als Juden hatten sie dort mehr Mög- und Aufmerksamkeit für unsere Mit- lichkeiten, Wissen aufzunehmen, da menschen. Das Wissen und das Erleben die Juden in den Vereinigten Staaten der eigenen Herkunft leisten erste per- viel integrierter und mehr an der Zahl sönliche Orientierungshilfe.»(dei.) sind. Unsere Söhne lieben die Tradi- tionen ebenso und nehmen gerne an Festivitäten teil. Eine Herausforde- Michael Halpern rung ist heute, angemessen auf anti- semitische Äusserungen zu reagieren. (ein.) «In Bezug auf das Judentum befürch- Daniel Gerson te ich, dass Traditionen verloren gehen, weil Jugendliche an keinen jüdischen Er- eignissen teilnehmen. In der Gemeinde Bern, aber auch in Basel haben sie des- wegen Schwierigkeiten. Das macht mich traurig. Die Eltern sollten hier unterstüt- zend wirken und die Jugendlichen dazu Bezogen auf das Judentum schätze ich ermuntern, andere jüdische Jugendliche die Situation der heutigen Jugend als zu treffen und an jüdischen Ereignissen nicht viel anders ein als zu meiner Zeit. teilzunehmen. Das ist wichtig, damit sie Ich wünsche den Jungen, dass sie sich ihre jüdische Identität entwickeln kön- die Freiheit nehmen, sich ohne auf- nen und sich nicht dafür schämen. erlegte Zwänge zu positionieren und auch immer wieder neu zu positionie- Gewisse Grundkonstellationen sind Im Allgemeinen haben die Jugendlichen ren. Sie sollten sich aber auch bewusst gleich: Man formt in diesem Alter viel mehr Möglichkeiten, sich Informati- sein, dass sie nicht darum herumkom- sein eigenes Leben. Unsere Gesell- onen durch diverse Medien zu beschaf- men, sich zu positionieren – Jude IST BILDER: ZVG schaft ist heute generell offener und fen. Das ist ein grosser Vorteil und bringt man! (nik.) mobiler. An einem Ort wie Bern, wo mehr Unabhängigkeit im Denken. Na- nur wenige Juden wohnen, ist es nicht türlich ist die Informationsflut auch mit forum – 103 | 01 / 2018 15
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AKTUELL DIE DREI LEBEN DER AGNES HIRSCHI-GRAUSZ geschichte Weitgehend hinter den Kulissen hat sich Agnes Hirschi welt- weit für die Rehabilitierung und gebührende Beachtung ihres Stiefvaters Carl Lutz engagiert, der im Zweiten Weltkrieg in Budapest über 50‘000 Ju- den gerettet hat. Erst durch die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust-Sur- vivors» und das Buch «Under Swiss Protection» wurde die frühere Berner Lokaljournalistin selbst als Holocaust-Überlebende geoutet. Auch gute Be- kannte waren völlig überrascht. – Peter Abelin dierung Budapests im folgenden Winter dem Tod im Luftschutzkeller nur knapp. Die Befreiung durch die russische Ar- mee wäre dem siebenjährigen Mädchen fast zum Verhängnis geworden, schoss ein betrunkener Soldat doch wahllos unter das Bett, wo ihre Mutter es ver- steckt hatte. Der Kontakt mit Carl Lutz brach auch nach dessen Rückkehr in die Schweiz nicht ab, wo seine Vorgesetzten sein humanitäres Engagement als Kom- petenzüberschreitung rügten. Er trennte sich von seiner Ehefrau, heiratete Mag- da Grausz und wurde zum Stiefvater von deren Tochter, für die in Bern ein zweites Leben begann. JOURNALISTIN UND KREISRICHTERIN Sie hiess nun Agnes, besuchte die Schu- len, wurde in der evangelisch-metho- distischen Tradition ihres gläubigen Von Budapest nach Münchenbuchsee: Agnes Hirschi zeigt Jugendbilder mit Mutter Stiefvaters konfirmiert und absolvierte Magda und Carl Lutz aus dem Buch «Under Swiss Protection». eine Handelsausbildung. 1962 heiratete sie Eric Hirschi und wurde bald Mut- ter von zwei Söhnen. Als Lokaljourna- Ihr erstes Leben begann am 3. Januar Religion: «Das ist ein Fluch – vergiss listin bei der «Berner Zeitung» war sie 1938 in London. Das eigentlich in Bu- es». Kein Wunder: Überleben hiess das unermüdlich auf Achse; sie berichtete dapest lebende jüdische Ehepaar Sándor vordringliche Ziel. Deshalb suchten Mut- über Parlamentsdebatten in Regionsge- und Magda Grausz wollte seiner Tochter ter und Tochter im Mai 1944 auch den meinden ebenso wie über Modeschauen Agi durch die britische Staatsbürger- Schweizer Vizekonsul Carl Lutz auf. Von und Geschäftseröffnungen in der Stadt schaft und die im Geburtsschein ver- ihm erhofften sie einen der begehrten Bern. Das SP-Mitglied amtierte auch als merkte Religion «anglikanisch» die Le- Schutzbriefe, welche die Deportation Kreisrichterin in Fraubrunnen und war bensaussichten in bedrohlichen Zeiten in ein Konzentrationslager verhindern aktiv in der reformierten Kirchgemein- verbessern. Zum Exil in England konnten konnten. Es kam sogar noch besser: Der de ihres Wohnorts Münchenbuchsee. In BILD: PETER ABELIN sich die Eltern aber nicht durchringen. Diplomat fand Gefallen an Magda Grausz, der ganzen Zeit ihrer Berufstätigkeit sei Das Jüdische im Familienleben in Buda- engagierte sie als Haushälterin und nahm sie «total ausgefüllt» gewesen und habe pest beschränkte sich in der Erinnerung sie und ihre Familie bei sich und seiner ihre Herkunft verdrängt, sagt sie im Ge- des damaligen Kindes auf ein Chanuk- Ehefrau Gertrud auf. Trotzdem entgin- spräch mit dem «Forum». Ganz war dies ka-Lied. Ihre Mutter sagte ihr über ihre gen sie während der massiven Bombar- allerdings nicht möglich: 1968 musste forum – 103 | 01 / 2018 17
AKTUELL sie den frühen Tod ihrer Mutter verarbei- nen aus drei Kontinenten – oder deren Etwas verändert hat sich inzwischen ihre ten, 1975 war sie dabei, als ihr Stiefva- Nachkommen – dokumentieren darin religiöse Identität. Zwar sei sie nach wie ter einen Herzinfarkt erlitt und starb. Am das damalige Geschehen an Hand ihres vor in der reformierten Kirche «mehr Sterbebett gelobte sie, sich für eine an- persönlichen Schicksals. Zu den so Vor- daheim». Aber sie fühle sich auch in ei- gemessene Würdigung von Carl Lutz in gestellten gehören auch Eva Bino (Mutter ner Synagoge «sehr wohl». Und, um der Öffentlichkeit zu engagieren. Vorerst von JGB-Mitglied Peter Bino) und Agnes den Kreis zu ihrer Kindheit vollends zu überliess die Vielbeschäftigte die Pfle- Heffner (Mutter von Rebbezen Nora Pol- schliessen: Sie feiert jedes Jahr Chanukka ge seines Nachlasses und die offiziellen nauer). – nun mit der Familie von JGB-Mitglied Termine aber gerne seiner ersten Frau Andreas «Bandi» Sas, dessen 1986 verstor- Gertrud Lutz-Fankhauser, mit der sie INZWISCHEN «SEHR WOHL» bene Ehefrau Wanda ihre Jugendfreundin sich nun regelmässig traf: «Es war eine IN DER SYNAGOGE in Budapest war – eine enge Beziehung, Art von allmählicher Übergabe des Ver- Betrachtet Agnes Hirschi, die im Januar ei- die später in Bern nahtlos weitergeführt mächtnisses», blickt Agnes Hirschi auf nen runden Geburtstag feiern konnte, ihre wurde. die folgenden 20 Jahre zurück. Mission nun als abgeschlossen? Beginnt für sie ein viertes, ruhigeres Leben? Vor- Buchhinweis: REISENDE IN SACHEN CARL LUTZ derhand gehe die Hektik noch weiter, lau- Agnes Hirschi und Charlotte Schallié Umso unermüdlicher stürzte sie sich tet die Antwort. Sie hoffe aber, auch mal (Hrsg): «Under Swiss Protection – nach der Pensionierung 1995 in ihr Zeit zu finden, um ihre Tagebuch-Notizen, Jewish Eyewitness Accounts from drittes Leben als «Reisende in Sachen Dossiers und Unterlagen zu ordnen. Zu- Wartime in Budapest» Carl Lutz», wie sie es gegenüber dem dem möchte sie die zahlreichen Kontakte ibidem-Verlag Stuttgart. 403 Seiten, «Forum» einmal nannte. Ausstellungen, und Freundschaften pflegen, die durch SFR 46.90. Das Buch ist auch in der Vorträge, Ehrungen, Filme und Bücher ihre Reisen und Recherchen entstanden JGB-Bibliothek vorhanden. sorgten dafür, dass Carl Lutz heute in der sind: «Diese haben mein Leben sehr be- Eine deutsche Übersetzung ist geplant. Schweiz und weltweit in seiner tatsäch- reichert», bekennt die Frau, deren Ehe- lichen historischen Bedeutung wahrge- mann vor zwei Jahren gestorben ist. nommen wird. Agnes Hirschi war zwar fast immer dabei, sah ihre Aufgabe aber vorwiegend im Hintergrund. Doch im Jahr 2017 kam sie nicht darum herum, als Person selbst im Rampenlicht zu ste- hen: In der Wanderausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», die im letz- ten Herbst mit grossem Erfolg im Berner Kornhausforum gezeigt wurde, stand die Geschichte ihrer Rettung durch Carl Lutz gleichberechtigt neben den Schilderun- gen anderer Überlebender. Sie habe diese Publizität nie gesucht, beteuert Hirschi glaubwürdig. Und doch freute sie sich über die durchwegs positiven Reaktio- ZUM TOD VON nen. Viele ihrer Bekannten seien völlig mals anlässlich einer Ehrung von Kö- überrascht gewesen, da sie ihre Vergan- RUMÄNIENS EX-KÖNIG nigsmutter Prinzessin Elena (1896– genheit «nie an die grosse Glocke ge- MICHAEL I. 1982), die während des Zweiten hängt» habe. Am 5. Dezember 2017 ist Ex-König Weltkrieges bei der Rettung vieler Michael I. von Rumänien 96-jährig rumänischer Juden geholfen hatte Gleich in der Mehrfachrolle als Mit-He- gestorben. Im Exil lebte der Monarch und von Yad Vaschem 1993 postum rausgeberin, Autorin und Porträtierte bereits seit seiner Vertreibung durch als «Gerechte unter den Völkern» an- fand sich Agnes Hirschi im umfassenden die Kommunisten im Jahr 1947, zu- erkannt wurde. Auf dem Bild zu sehen Buch «Under Swiss Protection» wieder, letzt in Aubonne (VD). Georges Hill, sind (v.l.): Israels Botschafter Raphael mit dem die offizielle Schweiz ihr Jahr jahrzehntelang «Forum»-Fotograf, Gvir und seine Frau Dvora, Ex-König als Vorsitzende der International Ho- lernte im Oktober 1993 den Ex-Kö- Michael I. von Rumänien und sei- locaust Remembrance Alliance (IHRA) nig auf der israelischen Botschaft in ne Frau, Prinzessin Anna von Bour- krönte. 36 von Carl Lutz gerettete Perso- Bern kennen. Dieses Bild entstand da- bon-Parma. – Hannah Einhaus 18 forum – 103 | 01 / 2018
AKTUELL WIE ERINNERN OHNE ÜBERLEBENDE? ausstellung und podium : holocaust remembrance day Der Ho- locaust-Gedenktag gehörte auch dieses Jahr fix in die Agenda von rund 30 diplomatischen Vertretungen. Am 29. Januar 2018 luden das Aussend- epartement EDA und die israelische Botschaft in Bern zur Eröffnung einer Ausstellung über Diplomaten ein, die im Zweiten Weltkrieg Zehntausende Menschen gerettet haben. Zehn Tage später folgte dazu im Käfigturm ein Podium mit Historikern und Diplomaten. – Hannah Einhaus Holocaust aufzustehen und sicherzustel- len, dass dies nie mehr geschieht.» An der Podiumsdiskussion im Polit-Fo- rum des Käfigturms in Bern am 8. Feb- ruar 2018 debattierten die Historiker François Wisard (EDA), Simon Erlanger (Uni Luzern) und Helena Kanyar (Uni Ba- sel) mit den beiden Diplomaten François Nordmann und Jacques Pitteloud. Wisard schilderte die Arbeit von Vizekonsul Carl Im Gespräch (v.l.): Jacques Pitteloud, François Nordmann, Hannah Einhaus, Simon Lutz und weiteren Diplomaten, die mit Erlanger, Helena Kanyar, François Wisard. Schutzpässen abertausende Menschen in Budapest vor dem Tod bewahrten. Kanyar unterstrich die wichtige Rolle von Lutz’ Die Erinnerungskultur in Bezug auf den Botschafter Jacob Keidar betonte, dass erster Frau Gertrud, die später zur Vize- Holocaust wird von Jahr zu Jahr zu ei- heute hunderttausende Menschen Nach- präsidentin des UNO-Kinderhilfswerks ner grösseren Herausforderung. In die- fahren der damaligen Geretteten sind. Unicef avancierte. Erlanger skizzierte, sem Punkt waren sich die Redner an der Nationalratspräsident Dominique de wie die Rückweisungen von Juden an der Gedenkfeier vom 29. Januar im Berner Buman (CVP/FR) erinnerte an die zu- Schweizer Grenze nicht aus Furcht vor Yehudi Menuhin-Forum einig. SIG-Prä- nehmende Gefahr, die mit dem Tod der Hitlerdeutschland stattfanden, sondern sident Herbert Winter mahnte nicht nur letzten Holocaust-Überlebenden einher- Bestandteil der schweizerischen Abwehr- vor dem dauernd lauernden Antisemi- geht: die Gefahr von Verdrängung und politik gegen die «Verjudung» seit dem tismus, sondern machte klar, dass diese Verbiegung der Geschichte sowie die Ersten Weltkrieg waren. Alt Botschafter Vorsicht in einem umfassenden Sinn nö- Verbreitung von Halbwahrheiten und Nordmann betonte, dass die Wahrung tig sei. Zum einen sei der Antisemitismus Lügen. Umso wichtiger sei es, die Me- fremder Interessen durch die schweize- nicht tot, zum anderen richte sich die chanismen zu durchschauen, wie unter rische Diplomatie eine grosse Bandbreite Gefahr der Aufhetzung nicht nur gegen gewissen Umständen aus gewöhnlichen biete. Botschafter Pitteloud berichtete von BILD LINKS: GEORGES HILL / BILD RECHTS: ZVG Juden. Daher dürfe man nie still bleiben. Männern und Frauen Mörder werden seinem Einsatz in Afrika, wo er 1994 Au- Lob erteilte Winter der International Ho- konnten – und wieder werden könnten. genzeuge des Genozids in Ruanda wurde. locaust Remembrance Alliance (IHRA), Er unterstrich die Wichtigkeit, das Gesche- die für ein Jahr – noch bis März 2018 – Konkrete Mittel, das Wissen um den Ho- hene nicht zu vergessen, zu verschweigen unter der Ägide des Aussendepartements locaust auch in Zukunft zu fördern, prä- oder schönzureden. Im Einklang mit den EDA steht. In Zusammenarbeit mit der sentierte Botschafter Benno Bättig, der Historikern forderte er eine angemessene Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem noch bis März den Vorsitz der IHRA in- und aufrichtige Erinnerungskultur. Erst und der israelischen Botschaft war auch nehat. Er erinnerte an die Zunahme von eine kritische Selbstreflexion, so Modera- die Ausstellung «Beyond Duty: Zwischen verbaler und physischer Gewalt in vielen torin Hannah Einhaus abschliessend, bilde Pflichten und Gewissen» über Diploma- IHRA-Mitgliedsstaaten: «Als Experten, die nötige Grundlage für eine echte de- ten entstanden, die im Zweiten Weltkrieg Regierungsvertreter und Menschen ist es mokratische Auseinandersetzung. Menschenleben gerettet hatten. Israels unsere Pflicht, gegen die Leugnung des forum – 103 | 01 / 2018 19
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