Verhaltenstherapie und psychodynamische therapien - Verfahrensdialogische und Vergleichende - IVAH

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Verhaltenstherapie   und   Psychodynamische Therapien               379

                                                                  Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin
                                                                                   2020, 41 (4), 379–395

                                     Verhaltenstherapie
                              und Psychodynamische Therapien –
                            verfahrensdialogische und vergleichende
                                         Überlegungen
                                              Gerhard Z arbock

                          Psychotherapie –                   grundsätzliches Modell der Störungsent-
                      schon eine Wissenschaft?               stehung und abgeleiteter Therapieprinzi-
                                                             pien) geeinigt hat (vgl. Kuhn, 1967/1996).
               Im Gegensatz zu anderen Wissenschaf-          Es lässt sich nun überlegen, ob dies je an-
               ten hat die Psychotherapie bisher den gro-    ders sein kann. Nach Meinung des Autors
               ßen Nachteil, dass sie ihre Erkenntnisse      ist Psychotherapie immer stark beeinflusst
               und Vorgehensweisen in verschiedenen          von zu Grunde liegenden Menschenbil-
               Therapieschulen, im deutschen Sprach-         dern, Werthaltungen und anderen welt-
               bereich auch als Therapieverfahren be-        anschaulichen Prämissen, sodass es, wie
               nannt, organisiert. Dies führt dazu, dass     es bei der Religion oder der Philosophie,
               ein echter wissenschaftlicher Austausch       keine Einheitsreligion oder Einheitsphi-
               zwischen den Verfahren mit dem Ziel           losophie gibt, auch keine allgemein ak-
               des Erkenntnisgewinnes und des Kompe-         zeptierte „Einheitspsychotherapie“ oder
               tenzzuwachses fast unmöglich ist, da es       „Allgemeine Psychotherapie“ wird geben
               sich um konkurrierende, sich gegenseitig      können. Dennoch sind Verfahrensver-
               ausschließende Schulen handelt. Ähnlich       gleiche, Dialoge zwischen den Verfah-
               wie in der Philosophie oder in der Reli-      ren und auch Ansätze möglich, die ver-
               gion liegen damit also konkurrierende,        suchen, vom jeweils anderen Verfahren
               oft auch unvereinbare Erklärungsansätze       zu lernen, um das eigene Vorgehen zu
               mit verschiedenen Vorgehensweisen bei         verbessern. Jedes Verfahren hat Stärken
               der Erkenntnisgewinnung und den mögli-        und Schwächen, insbesondere unscharfe
               chen Wegen zur Heilung oder Besserung         oder diagnostisch wie therapeutisch nicht
               psychischen und psychosomatischen Lei-        gut „ausgeleuchtete“ und operationali-
               dens vor.                                     sierte Bereiche. Die Begegnung mit dem
                   Wissenschaftstheoretisch könnte man       anderen Verfahren kann solche Bereiche
               daher sagen, dass sich die Psychotherapie-    deutlicher werden lassen und konstruk-
               (wissenschaft) – anders als die Naturwis-     tive Verfahrenserweiterungen anstoßen.
               senschaften – noch in einem vorparadig-       Zentral hierfür ist immer eine genaue
               matischen Zustand befindet, sich also         Begriffsexplikation („Was genau meinst
               noch nicht auf ein aktuell „gültiges“ Pa-     Du damit, wenn Du sagst, …“) und eine
               radigma (= grundsätzliche Denkweise,          Rückführung der verwandten Begriffe auf

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               umgangssprachlich beschreibbare Pra-        Steuerung unter verschiedenen inneren
               xisbeobachtungen. Hiermit folgen wir        und äußeren Bedingungen. Dadurch ist
               der Auffassung, dass die letzliche Meta-    der Gegenstand der Psychologie meist
               Sprache, mit der man über Fachsprachen      ein wesentlich sprachlich vermittelter,
               sprechen kann, zwangsläufig die Um-         ein sozial vor seiner Beobachtung erst zu
               gangssprache sein muss.                     konstruierender. Intelligenz, Motivation,
                   Im Folgenden sollen daher solche        Konflikt, Antrieb, Bedürfnis, Frustration,
               verfahrensdialogische Überlegungen vor-     Verstärkung, Verdrängung – all das sind
               gestellt werden, die einerseits von den     Gegenstände der Erkenntnis, die sich
               Überlegungen Klaus Grawes und Ergeb-        nicht direkt beobachten lassen, sondern
               nissen der Psychotherapieforschung aus-     die zuerst sprachlich definiert werden
               gehen, andererseits aber ihren Ausgangs-    müssen. In der Psychologie wird dies als
               punkt von ganz konkreten praktischen        Operationalisierung (= Messbarmachung)
               Erfahrungen und Problemstellungen aus       der Konstrukte beschrieben. In Operati-
               dem psychotherapeutischen Alltag ei-        onalisierungen fließen immer Auswahl-
               ner breitgefächerten Versorgungspraxis      entscheidungen ein. Das heißt, es könnte
               nehmen.                                     oft auch mit anderen Argumenten anders
                   Gerade die Praxis, die sich nicht wie   entschieden oder formuliert werden. Da-
               die Forschung in ihren Studien durch Ein-   her sind psychologische Erkenntnisse
               und Ausschlussindikationen beschränkt,      sehr oft kontextabhängig und verändern
               sondern erstmal jeden mit psychischem       sich unter bestimmten zeitlichen, sozi-
               Leiden annimmt, um zu helfen, kann im-      alen und geopolitischen Rahmenbedin-
               mer wieder zu den Grenzen des eigenen       gungen.
               diagnostischen und therapeutischen Re-
               pertoires führen. Solche „Begrenzungser-         Psychologie und Psychotherapie sind
               fahrungen“ sind dann Anlass zum Fragen           also in weiten Teilen nicht in der glei-
               und zur Suche nach bisher Übersehe-              chen Weise Naturwissenschaft wie
               nem, nach dem, was im Schatten des bis-          Physik, Chemie oder Biologie.
               herigen Wissens und Könnens liegt.
                   Besonders hilfreich bei solchen Über-   Und da, wo die Psychologie sehr „siche-
               legungen sind natürlich auch Erkenntnis-    re“ quasi naturwissenschaftliche Erkennt-
               se, Ergebnisse und Vorgehensweisen aus      nisse vorweisen kann, ist sie immer nahe
               der Grundwissenschaft Psychologie, die      an biologischen, neurologischen und
               ja beansprucht, die Gesetzmäßigkeiten       physikalischen Prozessen.
               von Erleben und Verhalten quasi natur-
               wissenschaftlich beschreiben zu können.
               Aber auch hier haben wir vor kurzem zur                  Narrative
               Kenntnis nehmen müssen, dass bis zu              und naturwissenschaftliche
               Zweidrittel aller empirisch-experimentell               Wahrheiten
               gewonnenen Erkenntnisse nicht replizier-
               bar waren (Loannidis, 2005; Open Sci-       Für die folgenden Überlegungen wol-
               ence Collaboration, 2015). Vermutlich       len wir daher auch narrative Wahrheiten
               gerade aus einem ähnlichen Grund, aus       von sogenannten experimentellen, na-
               dem es auch verschiedene Psychothe-         turwissenschaftlichen Wahrheiten unter-
               rapieschulen gibt: Die Erkenntnisse der     scheiden. Unter einer narrativen Wahr-
               Psychologie beziehen sich auf mensch-       heit wollen wir eine aus der Praxis oder
               liches Erleben und Verhalten und ihre       auch durch theoretische Überlegungen

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               gewonnene Feststellung oder Vorgehens-        sich eben nicht auf naturwissenschaft-
               weise verstehen, die durch bestimmte          liche Wahrheiten und nach dem Hem-
               Weltanschauungen, bestimmte Voran-            pel-Oppenheim-Schema prinzipiell fal-
               nahmen und Werthaltungen, durch eine          sifizierbare, allgemeingültige Gesetze
               bestimmte „Erzählautorität“ und einen         zurückführen lassen (Esser, Klenovits &
               „Erzählrahmen“ im Sinne einer Tradition       Zehnpfennig, 1977). Das „tertium non
               geprägt ist (Payne, 2006).                    datur“ einer positivistischen Falsifizie-
                   Wenn man die Brücke zu den Na-            rungslogik muss bei Erkenntnissen im Be-
               turwissenschaften noch einmal schla-          reich des Seelischen einem „sowohl als
               gen will, kann man sagen, dass je stärker     auch“, einer „immer möglichen Verkeh-
               psychotherapeutische Vorgehensweisen          rung ins Gegenteil“ und einer funktiona-
               oder Erklärungsmodelle abgeleitet sind        len Dominanz „subjektiver Bewertungen
               aus der Neurobiologie, der Hirnanato-         über objektive Fakten“ weichen. Zum
               mie, der Evolutionsbiologie, der verglei-     Verständnis des Seelischen gilt gerade-
               chenden Verhaltensforschung und der           zu „tertium necesse est“. Mehrdeutigkei-
               genau beobachtenden Entwicklungspsy-          ten, Ambivalenzen und Wandelbarkeit in
               chologie, desto eher liegen dem Vorge-        Form und Funktion sind im Erleben und
               hen quasi naturwissenschaftliche Wahr-        Verhalten die Regel, nicht die Ausnahme.
               heiten zu Grunde, die relativ unabhängig      Die Forderung positivistischer Wissen-
               vom sozialen und historischen Kontext         schaft nach Ein-Eindeutigkeit im Sinne
               Gültigkeit haben.                             einer 1:1-Zuordnung von Elementen des
                   Je mehr es aber um subjektives Erle-      empirischen Relativs (der Erfahrungstat-
               ben und seine Ausdeutungen geht, desto        sache) zu einem Element des numeri-
               mehr Freiheitsgrade haben wir und des-        schen Relativs (dem Messwert) ist für das
               to abhängiger wird das erklärende theo-       Seelische nicht gegenstandsadäquat.
               retische Konstrukt von zahlreichen Vor-            Zur Beschreibung der Psychothera-
               entscheidungen und Vorannahmen sein.          pie können wir Demokrit auf den Kopf
               Das heißt also, ein „subjektiver“ Sachver-    stellen: „Es gibt nur Meinung (d. i. „Sub-
               halt (wie z. B. Motivation, Leidensdruck)     jektivität“), alles andere sind nur Atome
               kann sehr unterschiedlich beschrieben         und der leere Raum“. Es geht in der Psy-
               werden. In solchen Fällen würden wir da-      chotherapie immer zentral um subjekti-
               her von narrativen Wahrheiten sprechen.       ves Erleben und subjektive Bedeutungs-
                   Im Rahmen der folgenden Betrach-          zuschreibungen und Erwartungen, die
               tung werden wir also den Unterschied          entweder überhaupt nicht oder nur sehr
               zwischen quasi experimentellen natur-         verkürzt experimentell zugänglich sind.
               wissenschaftlichen Wahrheiten und nar-        Eine Psychotherapie nur auf Basis natur-
               rativen Wahrheiten mitdenken müssen.          wissenschaftlicher Gesetze, Befunde und
               In der Psychotherapie können wir na-          Methoden wäre streng genommen eine
               türlich keinesfalls auf die so genannten      Wissenschaft ohne adäquaten Gegen-
               narrativen Wahrheiten verzichten, da das      stand.
               menschliche Seelen- und Sozialleben
               komplex und vielschichtig ist, und sich                Multiperspektivität
               in großem Umfang eben gerade durch              und   Psychotherapieverfahren
               Narrative konstituiert. Das heißt, die Stö-
               rungen des menschlichen Sozial- und           Die narrative Gebundenheit und Fundie-
               Seelenlebens begründen sich vorrangig         rung der Psychotherapie spiegelt sich na-
               aus Prozessen und Geschehnissen, die          türlich auch in der Existenz einer Vielzahl

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               psychotherapeutischer Schulen wider.          kungen im Sinne der VT); langfristig aber
               Man kann eben prinzipiell verschiedene        sowohl für das Individuum wie für seine
               Geschichten oder eben auch eine Ge-           sozialen Interaktionen, ggf. auch für be-
               schichte verschieden erzählen.                troffene Dritte negative Folgen auftreten.
                    Im Folgenden soll unter Mitgeltung           Auf Basis dieser relativ allgemein ge-
               dieser erkenntniskritischen Reflexionen       haltenen Ätiologietheorie psychopatho-
               ein Versuch einer verfahrensübergrei-         logischer Symptome werden wir versu-
               fenden Perspektiventwicklung („Mul-           chen, psychotherapeutisches Handeln im
               tiperspektivität“) gemacht werden, die        Sinne multipler Perspektiven zu reflek-
               schwerpunktmäßig die Verfahren Verhal-        tieren.
               tenstherapie (inklusive 3. Welle) und die
               psychodynamischen Verfahren umfasst.                Grawes Perspektiven
               Die zu Grunde liegende theoretische Ba-        auf den Psychotherapieprozess
               sis ist die von Klaus Grawe formulierte
               Inkonsistenz- bzw. Konsistenztheorie des      Bei der vergleichenden Reflexion können
               psychischen Erlebens (Grawe, 2004). Die       die Überlegungen von Klaus Grawe zur
               Konsistenztheorie sagt kurzgefasst, dass      Existenz verschiedener therapeutischer
               der menschliche Organismus bestrebt ist,      Perspektiven helfen. Grawe hat diese
               Konsistenz herzustellen, die als Überein-     Perspektiven auf Basis seiner Metaana-
               stimmung von Wunsch bzw. Erwartung            lysen über alle Psychotherapieverfah-
               einerseits und konkreter Wahrnehmung          ren hinweg in dem Versuch formuliert,
               oder Erwartungserfüllung andererseits         jenseits therapieverfahrensspezifischer
               verstanden werden kann (Grosse Holt-          Sprachregelungen gemeinsame Wirkfak-
               forth & Grawe, 2004).                         toren von psychotherapeutischen Prozes-
                    Kommt es zu intensiven und länger-       sen auf psychologischer Grundlage zu
               dauernden Inkonsistenzen, das heißt zu        formulieren. Die psychotherapeutischen
               „mismatches“ zwischen Wünschen und            Perspektiven sensu Grawe sind:
               Erwartungen einerseits und aktueller
               Wahrnehmung und Erwartungserfüllung
               andererseits, entsteht hohe Inkonsistenz.                    Erstens:
               Inkonsistenz kann als ein bewusst erleb-              Beziehungsperspektive
               barer psychophysischer Spannungszu-                   (Welche Rolle spielen
               stand beschrieben werden. Solche psy-                   Beziehungsstile?)
               chophysischen Inkonsistenzspannungen
               legen dann die Basis dafür, dass sich         Hiermit wird herausgestellt, dass das Er-
               singuläre Symptombildungen oder aber          leben und die Gestaltungsweisen von
               generalisierte maladaptive Bewältigungs-      Beziehungen des Patienten ein wichti-
               mechanismen in den Bereichen Wahr-            ger und zentraler Faktor sowohl bei der
               nehmung, Verhalten und Selbststeuerung        Entwicklung, der Aufrechterhaltung wie
               entwickeln, beide mit dem „Ziel“, Inkon-      auch der „Auflösung“ psychischer Stö-
               sistenzspannung schnell zu reduzieren.        rungen sind. Unter der Beziehungspers-
                    Leidensdruck entsteht in der Regel da-   pektive wird im Therapieprozess zentral
               durch, dass diese organismischen Versu-       formuliert, wie sich die Therapeut-Pati-
               che der Inkonsistenzreduktion maladap-        ent-Beziehung gestaltet und welche Aus-
               tiv, das heißt so gestaltet sind, dass zwar   tausch- und Interaktionsprozesse gerade
               kurzfristige Spannungserleichterungen         zwischen Therapeut und Patient stattfin-
               auftreten (sogenannte negative Verstär-       den (Grawe, 1998). Weiterhin wird unter

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               dieser Perspektive reflektiert, wie der Pa-     (genetisch = auf lebensgeschichtliche Ur-
               tient regelhaft oder häufig mit wichtigen       sachen zurückführen, Abwehrdeutungen
               signifikanten Anderen in seinem Umfeld          = Etwas dient als Abwehr von …, Über-
               interagiert. Persönlichkeitsstörungen oder      tragungsdeutungen = Die Therapeutin,
               -akzentuierungen sind immer auch Be-            die Therapeut-Patient-Beziehung wird im
               ziehungsstörungen im zwischenmensch-            Lichte früherer Bezugspersonen verzerrt
               lichen Bereich.                                 erlebt).
                                                                    Bei den Deutungen lassen sich also
                                                               verschiedene Deutungstypen unterschei-
                                 Zweitens:                     den. Mit einer genetischen Deutung wird
                            Klärungsperspektive                dem Patienten „erklärt“, wie seine Biogra-
                                                               fie mit seinem Erleben oder auch seiner
               Unter dieser Perspektive wird herausgear-       Symptomatik im Hier und Jetzt verbun-
               beitet, wie gemeinsam mit dem Patienten         den werden könnte. Die Abwehrdeutung
               Erklärungen für das ihm unverständliche         stellt einen Zusammenhang her zwischen
               Verhalten und Erleben gesucht werden            bestimmten Abwehrmechanismen wie
               (Grawe, 1998b, 2004). Klärung befriedigt        z. B. Intellektualisieren, dem Vergessen
               das Grundbedürfnis nach Orientierung            oder der Spaltung und dem, was damit
               und Kontrolle (das im Ansatz der Biogra-        unbewusst beabsichtigt ist, nämlich das
               fisch-Systemischen VT [Zarbock, Stürzel,        Abgewehrte außerhalb des Bewusstseins
               Semmler, 2021] der Autonomie beige-             zu halten. Dieses Abgewehrte wird dann
               ordnet ist). Prototyp für die Klärungsper-      in einem weiteren Schritt erkundet.
               spektive ist die psychoanalytische Idee              Die Übertragungsdeutung veran-
               der psychischen Determinierung allen            schaulicht die Wiederholung früherer Er-
               Verhaltens und aller bewussten psychi-          lebnisweisen und Erfahrungen, früherer
               schen Phänomene. Die Psychoanalyse              Beziehungsmotive, im Hier und Jetzt der
               geht davon aus, dass jedes bewusste Phä-        therapeutischen Beziehung (Binnenüber-
               nomen eine unterliegende, verursachen-          tragung) und mit anderen wichtigen ak-
               de unbewusste Dynamik hat. Bewusstes            tuellen Bezugspersonen (Außenübertra-
               Erleben ist also immer durch das vor-           gung) des Patienten.
               gängige, unbewusste Wechselspiel von                 Auch die Gesprächspsychotherapie
               Wunsch/Affekt und Abwehr oder durch             nach Rogers kann der Klärungsperspekti-
               Strukturdefekte und zugehörige Kom-             ve zugeordnet werden. Durch die Verba-
               pensationsversuche determiniert (Hil-           lisation emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)
               ler, Leibling, Leichsenring & Sulz, 2004).      hilft der Therapeut dem Patienten sich
               Unter der Klärungsperspektive hieße es          selbst besser und umfassender als bisher
               dann, genau diese Dynamiken zu erken-           zu verstehen.
               nen, bewusst zu machen und auch durch                Die verhaltenstherapeutische Sicht
               Erklärungen, also explizite Offenlegung         der Klärungsperspektive liegt natürlich in
               von      Ursache-Wirkungsverknüpfungen          den Modellen und Konzepten der Belas-
               erstmal verständlich und dann auch der          tungsverarbeitung, wie z. B. der erlernten
               Veränderung zugänglich zu machen. In            Hilfslosigkeit, der Fehlattributionen, der
               der Psychoanalyse geschieht dieses oft in       kognitiven und metakognitiven Fehler
               der Reihenfolge von Klarifizieren (klären,      und Verzerrungen, oder dem Modell des
               näher beschreiben lassen), Konfrontieren        Verstärkerverlustes, der Unterscheidung
               (den Patienten auf Erlebnislücken oder          kurzfristiger (steuernder) von langfristigen
               Erlebniskonflikte hinweisen) und Deuten         (schädigenden) Verhaltenskonsequenzen.

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                  Aufgegriffen wird diese Perspektive in      dem Patienten hilft – meist durch situa-
               der VT auch durch die Psychoedukation          tives Coaching oder Modellvorgaben –
               des Patienten, mit der der Patient über        Probleme zu bewältigen und verbesserte
               Art und Umstände seiner Erkrankung in          Selbst- und Interpersonelle Regulation zu
               verständlicher Form informiert wird.           erlernen.
                                                                   Wichtigste Fähigkeit der Problem-
                                                              bewältigung wäre in der Psychoanalyse
                            Drittens:                         wohl auch die zu erwerbende Fähigkeit
                  Problembewältigungsperspektive              zur Selbstanalyse. Durch die Verinnerli-
                                                              chung der Analytikerin als (hinreichend)
               Dies ist die Perspektive, unter der dem        gutes und steuerndes Objekt und der
               Patienten konkrete Hinweise zur Ver-           durch Teilhabe und auch Modelllernen
               änderung seiner Problematik durch den          erworbenen Kompetenz zur Selbstana-
               Erwerb neuer Kompetenzen gegeben               lyse (Ausgangspunkt Problemgefühl oder
               werden (Grawe, 1998). Die Kompetenz-           irritierender Gedanke, gleichschweben-
               perspektive ist geradezu das Paradigma         de Selbstaufmerksamkeit (statt schneller
               der VT, da psychische Störungen sowohl         Ablenkung, Unterdrückung, Beruhigung),
               in ihrer Entstehung (Störungen sind ge-        freie Assoziation, Klarifikation, autoge-
               mäß der VT meist Ausdruck von Defizi-          ne Deutungsversuche) kann der analyti-
               ten) als auch in ihrer Therapie (durch das     sche/tiefenpsychologische Patient diese
               Erlernen neuer Kompetenzen) unter der          Kompetenz erwerben. Durch einen er-
               Kompetenzperspektive aufgefasst wer-           folgreichen Akt der Selbstanalyse sollte
               den. Beispiele hierfür sind das Skills-Trai-   es dann idealiter zu einer anschließen-
               ning der DBT, das soziale Kompetenztrai-       den Inkonsistenzreduktion kommen, da
               ning, und eine Vielzahl von „Trainings“        unbewusste Ursachen bewusst gemacht
               für fast jeden Bereich menschlichen Erle-      und versprachlicht wurden. Im psycho-
               bens und Verhaltens (Emotionsregulation,       analytischen Sinne gelingt es durch den
               Stressbewältigung,      Angstbewältigung,      Prozess der Bewusstmachung (der topi-
               Sexualität etc.). Auch die klassische Ex-      sche Aspekt) und damit auch der Ver-
               positionstherapie lässt sich als Kompe-        sprachlichung bisher unbewusster Kon-
               tenzerwerb darstellen: Es geht um das          glomerate (i. S. von Wunsch-Abwehr-,
               Training von Annäherungskompetenzen            Trauma-Abwehr-, Strukturdefekt-Kom-
               durch den Erwerb von Distresstoleranz          pensations-Dyaden) dem unbewussten
               (= Angst aushalten lernen).                    Konglomerat energetische Besetzung zu
                   Zur Problembewältigungsperspektive         entziehen und es damit quasi dynamisch
               zählen auch die metakognitiven Ansätze         unwirksam zu machen. Als Benanntes
               und die kognitive Umstrukturierung. Zen-       und damit Bewusstes kann es nicht mehr
               tral auch Anleitungen des Patienten zur        im gleichen Sinne „drängen“ wie als un-
               Tagesstrukturierung und zur Ausübung           bewusst-dynamisches. Im Anschluss an
               positiver Aktivitäten und natürlich auch       solche Bewusstmachung sollten dann
               sämtliche Formen des Reattribuierungs-         dem Subjekt idealiter auch andere Hand-
               trainings bei Panik und somatoformen           lungsoptionen möglich sein: umfassen-
               Störungen.                                     dere Selbsterkenntnis führt zur Neuent-
                   Aber auch die Psychoanalyse hat mitt-      scheidung und diese führt im Anschluss
               lerweile in der Strukturbezogenen Thera-       zur Verwirklichung von bisher blockier-
               pie nach Rudolf zahlreiche Vorgehens-          ten Handlungsalternativen (Hiller, Leib-
               weisen entwickelt, wie der Therapeut           ling, Leichsenring & Sulz, 2004).

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Verhaltenstherapie   und   Psychodynamische Therapien             385

                            Viertens:                             Problemaktualisierungen sind auch
                 Problemaktualisierungsperspektive            die Angebote des imaginativen Um-
                                                              schreibens als einer Form der Exposition
               Unter dem Prinzip der Problemaktuali-          in sensu. Rollenspiele und soziale Kompe-
               sierung versteht Grawe, dass Therapie          tenzgruppen sind Formen der Problem­
               auch immer darauf abzielt, dass sich           aktualisierung. Auch alle so genannten
               das bisher nur berichtete Problem in der       „experiential techniques“, im Deutschen
               Therapie greifbar aktualisiert. Statt kalter   am ehesten als „Emotions- und Erfah-
               Problembeschreibungen können dann              rungsbezogene Interventionstechniken“
               so genannte „hot cognitions“ behandelt         zu übersetzen, sind als eine Form der
               werden. Das heißt also, die Problematik        Problemaktualisierung anzusprechen.
               des Patienten soll sich im Hier und Jetzt
               fühlbar aktivieren, was immer auch da-                      Fünftens:
               mit einhergeht, dass intensive Emotionen               Ressourcenperspektive
               und Körperreaktionen zusätzlich zu den
               Gedanken, Bewertungen und Beschrei-            Niemand kann „überhaupt nichts“. Un-
               bungen aktiviert werden (Grawe, 1998;          ter der Ressourcenperspektive geht es
               Grosse Holtforth, 2017).                       darum, das, was schon positiv als Kom-
                   Die klassische Problemaktualisierung       petenz oder Vorteil da ist, zu benennen
               aus Sicht der Tiefenpsychologie ist na-        und auch für den Therapieprozess zu
               türlich eine intensive Übertragung, wenn       nutzen. Es geht um Wertschätzung und
               der Patient vergangene Problematiken auf       Nutzung (im Sinne der „Utilisation“ von
               den Therapeuten überträgt, z. B. befürch-      Milton Erickson) der jeweiligen Lebens-
               tet, vom Therapeuten ebenso kritisiert         und Lernerfahrungen und der Kompeten-
               und abgelehnt zu werden, wie von seiner        zen des Patienten (Grawe & Grawe-Ger-
               Mutter. Weitere Problemaktualisierungen        ber, 1999; Willutzki & Teismann, 2013).
               aus Sicht der Tiefenpsychologie beste-         Auch z. B. Obdachlose benötigen für ihr
               hen in sogenannten Handlungsdialogen           Straßenleben Kompetenzen, Prostituierte
               oder szenischen Inszenierungen. Dieses         und Gangmitglieder würden nicht lange
               Konzept beschreibt, dass Patient und           „überleben“, wenn sie nicht auch sehr
               Therapeut – beidseitig unbewusst – die         spezifische Kompetenzen hätten. Diese
               Problematik des Patienten inszenieren,         „krassen“ Beispiele sollen deutlich ma-
               indem vom Patienten unbewusst gehalte-         chen, dass die Ressourcenperspektive ra-
               ne Befürchtungen und Einstellungen sich        dikal „empowert“, indem sie die Anpas-
               im Sinne eines miteinander aufgeführten        sungsleistungen auch an sehr spezielle
               Theaterstücks unter aktiver, aber „unbe-       gesellschaftliche Lebensräume („Habita-
               wusster“ Mitwirkung des Psychothera-           te“) und individuelle „ökologische Ni-
               peuten reinszenieren.                          schen“ als aktive Leistungen beschreibt
                   Problemaktualisierungen sind natür-        und eben nicht als Defizite. In der The-
               lich auch die Expositionsangebote der          rapie kann sich so der „extreme“ Patient
               Verhaltenstherapie. Exposition in vivo         unter dieser Perspektive besser verstan-
               oder auch in sensu aktualisiert ja die Pro-    den und wertgeschätzt fühlen.
               blematik im Hier und Jetzt und macht sie           Ressourcen können natürlich auch
               daher auch im Detail genau beobachtbar         gesucht und aktiv entwickelt werden.
               und aus der Innenperspektive des Patien-       Ggf. hat der Patient aktuell „schlafende“
               ten beschreibbar.                              Fähigkeiten, Interessen oder Kontakte,

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               die in der Therapie darauf warten, reakti-   brechen und neue begründen. Aber ein
               viert zu werden.                             Psychotherapieverfahren ohne Tradition
                   Unter dem Aspekt des Aufbaus von         und Lehr- und Lernkontexte wird es nicht
               Ressourcen ist die therapeutische Bezie-     geben können.
               hung zum Therapeuten oder zu einer               Die Propagierung und Entwicklung ei-
               Therapiegruppe zentral. Durch Regelmä-       ner „integrativen Therapie“ ist tendenziell
               ßigkeit, den festen und geschützten Rah-     aber versucht, genau das zu unterneh-
               men, die Angebote von Sicherheit und         men. Ein solches Unterfangen ist damit
               Vorhersagbarkeit, durch sozialen Kontakt     konfrontiert, dass es eben nicht gelingen
               und soziale Verstärkung kann die Thera-      kann, kontextfrei das Beste aus allen Ver-
               pie und die Therapeutin selbst eine wich-    fahren zuerst zu isolieren und dann zu
               tige Ressource im Leben des Patienten        integrieren, um damit wirksamer als alle
               werden.                                      Ausgangsverfahren zu werden. Und dies
                                                            aus dem einfachen Grunde, dass Psycho-
                                                            therapieverfahren immer organisierte und
                          Verfahrensdialog,                 Erfahrungen und Kompetenzen organisie-
                        Verfahrensintegration               rende Gesamtheiten sind, also sowohl in
                        und Kontextbindung                  einem spezifischen historischen wie sozi-
                                                            alen Kontext entstanden sind und auch in
               Generell gilt, dass verfahrenseigenge-       einem solchen aktuell gelehrt und gelernt
               setzliche Überlegungen und Vorgehens-        werden.
               weisen erhalten bleiben müssen, da sie           Weiterhin werden Verfahren auch
               oft einen sehr langjährigen praktisch-kli-   durch einen spezifischen Anwendungs-
               nischen, oft aber auch noch zusätzlich       kontext, die Angebote und Regulari-
               wissenschaftlich empirisch überprüften       en des jeweiligen Gesundheitssystems,
               Erfahrungsschatz darstellen. Auch gilt       durch das vorherrschende Inanspruch-
               für Therapieverfahren, dass sie nicht nur    nahme-Verhalten und die Behandlungs-
               in ihrer Anwendung kontextabhängig           erwartungen wie auch die Finanzierungs-
               wirken, sondern eben auch kontextge-         möglichkeiten erheblich beeinflusst.
               bunden, innerhalb spezifischer wissen-       Kurz gesagt: Psychotherapie sowohl als
               schaftlich-therapeutischer     Traditionen   zu erlernendes Handwerk als auch als
               und Institutionen vermittelt, gelehrt und    ausgeübte Heilkunde ist in besonderem
               gelernt werden müssen (Senf & Broda,         Maße kontextabhängig. Das fängt schon
               2000).                                       bei den jeweiligen Begrifflichkeiten der
                   Psychotherapie ist eben auch in ihren    Therapieschule an und umfasst das ex-
               Professionalisierungsprozessen kontext-      plizite wie implizite Menschenbild der
               sensitiv. Ich kann ein Psychotherapie-       Therapieschule ebenso wie Professionali-
               verfahren eben nicht aus seinen Vermitt-     sierungs- und persönliche Entwicklungs-
               lungskontexten herauspräparieren, in der     prozesse der Therapeuten und die „tra-
               Hoffnung es dann noch effektiver vermit-     gende“ Institution als Ort der Vermittlung
               teln zu können. Wie ein Gehirn alleine       und des Austausches.
               nicht ohne den Körper existieren kann,           Wenn es nun keine „das Beste aller
               kann auch ein Psychotherapieverfahren        Welten“ vereinigende „Supertherapie“
               nicht ohne vermittelnde Institutionen mit    geben kann, kann es für den einzelnen
               ihren Traditionen existieren. Sicher, man    Therapeuten doch sinnvoll und möglich
               kann Institutionen verändern oder neu        sein, verfahrensübergreifende Perspek-
               gründen, man kann mit alten Traditionen      tiven im Sinne einer Multiperspektivität

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Verhaltenstherapie   und   Psychodynamische Therapien               387

               zu entwickeln, also z. B. mit anderen Psy-      zeitvergleich postulieren (Zimmermann
               chotherapieverfahren in einen neugieri-         et al., 2015).
               gen und (selbst-)kritischen Dialog zu tre-          Eine Erklärung für das Dodo Bird-Ver-
               ten.                                            dikt („Alle haben gewonnen und kriegen
                   Ausgangspunkt einer solchen Multi-          einen Preis“) bei hinreichend langen The-
               perspektivität können die „Begrenzungs-         rapieverläufen liegt sicherlich auch in der
               erfahrungen“, die man mit jedem Verfah-         so genannten adaptiven Indikation. Das
               ren machen kann, sein: In der VT ändert         bedeutet, dass Therapeuten und Patienten
               sich z. B. eine Problematik trotz aller An-     die Möglichkeiten nutzen, im Therapie-
               leitung und Übung, in der TP trotz aller        verlauf Interventionen, aber auch die Ge-
               Einsicht und allen emotionalen Durchar-         staltung der therapeutischen Beziehung
               beitens nicht.                                  den jeweiligen Erfordernissen anzupas-
                   Auch zeigen Ergebnisse der Psycho-          sen. Der Therapeut und auch der Patient
               therapieforschung, dass ein klarer und          sind aktive Teilnehmer in dem Therapie-
               vor allem eindeutiger Wirksamkeitsun-           prozess und werden bei impliziter Rück-
               terschied zwischen den Verfahren ent-           meldung (subjektive Verlaufswahrneh-
               weder nicht vorhanden ist oder nur eine         mung durch Therapeut und Patient), wie
               sehr kleine Effektstärke bis maximal 0.3        auch durch explizite Rückmeldungen des
               erreicht. Eine Effektstärke, die somit meist    Verlaufes (Einsatz von psychometrischen
               die Größenordnung des Allegiance-Ef-            Verfahren oder Zielerreichungsskalen)
               fektes (= Verfahrensorientierung der Stu-       oder auch durch zusätzliche Supervision
               dienleitung, pro domo Ergebnisse der            im Sinne einer Triangulierung der Pers-
               Studie) nicht überschreiten kann (Gra-          pektive Schritte unternehmen, den The-
               we, Bernauer & Donati, 1990; Luborsky,          rapieverlauf zu optimieren. Wenn sich
               Singer & Luborsky, 1975; Smith & Glass,         herausstellt, dass bestimmte Therapiezie-
               1977).                                          le nicht erreicht werden können und sich
                   Lambert (2013) stellt auch 20 Jahre         das Allgemeinbefinden oder die Symp-
               später in der „Bibel der Psychotherapie-        tomatik des Patienten nicht verbessern,
               forschung“, dem Handbook of Psycho-             sondern verschlechtern, werden sowohl
               therapy and Behavior Change, das Glei-          Therapeut, Patient und in vielen Studien
               che fest.                                       eben auch die Supervisoren überlegen,
                                                               woran das liegt und wie man das ändern
                    „There is a strong trend toward no dif-    kann. Insofern sind Psychotherapiepro-
                    ferences between techniques or mo-         zesse immer auch selbstrückkoppeln-
                    des in amount of change produced,          de Prozesse. Wenn Therapien auch nur
                    which is counterbalanced by indica-        „halbwegs gut“ laufen, werden sie auto-
                    tions that, under some circumstances,      matisch durch zwei Teilnehmer gestaltet,
                    certain methods (generally cognitive-      die sich um Lösungen bei etwaigen Prob-
                    behavioral) or modes (family therapy)      lemen und um eine verbesserte Zielerrei-
                    are superior.“ (S. 195, unten)             chung aktiv bemühen.
                                                                   Weiterhin zeigt ja die Psychothera-
               Dieser leichte „Vorsprung“ der CBT wird         pieforschung, dass ein großer Teil der Er-
               aktuell von psychodynamisch orientier-          folgs- oder Misserfolgsvarianz überhaupt
               ten Forschern konterkariert, die z. B. eine     nicht bekannt ist oder mit operationali-
               Überlegenheit psychoanalytischer Ver-           sierenden Messverfahren statistisch nicht
               fahren gegenüber „CBT“ bei der Behand-          erfasst werden kann (ca. 50%). Von den
               lung von depressiven Störungen im Lang-         verbleibenden 50 Prozent sind wiederum

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               ca. 25 Prozent der Varianz durch Varia-      weisheiten“) darstellen oder sich sehr eng
               blen, die im Patienten liegen, wie z. B.     an neuro- oder soziobiologischen Gege-
               Umstellungsfähigkeit, Chronizität der Er-    benheiten anschließen. Zu den Truismen
               krankung, vorhandene Ressourcen etc.         und Binsenweisheiten könnte man rech-
               bedingt (Lambert & Bergin, 1994).            nen, dass eine entwürdigende, autoritäre
                   Entweder überhaupt unbekannte Va-        und herabsetzende Behandlung des Pati-
               riablen oder Variablen, die der Therapeut    enten in der Regel keine positiven thera-
               nur sehr schwer bis gar nicht beeinflus-     peutischen Effekte oder sonstige positive
               sen kann, beeinflussen das Therapiege-       Verhaltensänderungen wird hervorrufen
               schehen statistisch gesehen (!) also im      können. Weiterhin dürfte eine Ignoranz
               Ausmaß von 75 Prozent. Die verbleiben-       der Ziele und Anliegen des Patienten für
               den 25 Prozent der Erfolgsvarianz, die       den Therapieerfolg fast immer abträglich
               der Therapeut überhaupt noch beeinflus-      (Bordin: bond, goal and tasks) sein und
               sen kann, verteilen sich auf die Realisie-   auch eine große Unterschiedlichkeit der
               rung einer guten Arbeitsbeziehung (Pati-     Lebenswelten von Therapeut und Pati-
               ent fühlt sich verstanden und es besteht     ent, zumindest eine explizite Unkenntnis
               Einigkeit über Ziele und therapeutische      und ein Unverständnis des Therapeuten
               Aufgaben bei einer hinreichenden Ver-        für die soziale und gesellschaftliche Lage,
               trauensbeziehung), auf spezifische thera-    in der sich der Patient befindet, dürf-
               peutische Techniken und darüber hinaus       te ebenfalls nicht mit einem positiven
               auch auf positive Erwartungshaltungen        Therapieverlauf einhergehen (Lambert,
               und Einstellungen des Patienten hinsicht-    2013).
               lich der Psychotherapie und seiner damit         In Bezug auf die im weiten Sinne bio-
               verbundenen möglichen Veränderung.           logisch fundierten Gesetzlichkeiten or-
                   Wenn nun selbst durch über 50 Jahre      ganismischen Erlebens und Verhaltens
               andauernde, durchaus gekonnte und ela-       wären hier die Ergebnisse von Lern- und
               borierte Forschung keine grundsätzlich       Gedächtnispsychologie anzusprechen,
               neuen und den Verfahrensstreit entschei-     die berücksichtigt werden müssen. Bei
               denden Ergebnisse zu Tage gefördert          extremer Unter- oder Übererregung kann
               werden konnten, sollte man daraus end-       schlecht konstruktiv gelernt werden. Im
               lich Schlussfolgerungen ziehen. Es spricht   Kontrast dazu können exzessive Überer-
               eben sehr viel dafür, dass Psychotherapie    regungszustände mit Todesangst zur pa-
               besser und dem Gegenstand angemes-           thogenen Hypermnesie führen. Konsoli-
               sener im Rahmen narrativer Wahrheiten        dierung von Gedächtnisspuren brauchen
               und eben nicht experimenteller Ergebnis-     in der Regel Wiederholungen. Belohnte
               se verstanden werden kann. Psychothe-        Verhaltensweisen werden häufiger wie-
               rapieschulen wären also „Erzählungsrah-      derholt, bestrafte unterdrückt. Aversi-
               men“, in die Patienten sozialisiert werden   onsabfall als Verhaltenskonsequenz kann
               und in denen sie dann die Entstehung, die    auch extrem maladaptive Reaktionen
               Aufrechterhaltung, aber auch die Thera-      schnell fixieren. Auch entwicklungspsy-
               pie und die „Heilung“ ihrer Beschwerden      chopathologische Befunde zur Auswir-
               erleben und erzählen können (Persuasion      kung von frühen und massiven Mangel-
               and Healing; Frank & Frank, 1993).           situationen und Schädigungen wären
                   Gleichzeitig gibt es natürlich im Be-    hier zu berücksichtigen. Aber selbst in
               reich des Psychischen quasi naturwissen-     diesem Bereich können solche Befunde
               schaftliche Befunde und Prozesse, die        nur Orientierungspunkte sein. Bekann-
               sich aber entweder als Truismen („Binsen-    terweise ist eine Retrognose fast immer

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Verhaltenstherapie   und   Psychodynamische Therapien               389

               leicht. Man kann im Rückblick immer                  retisch konzeptuell und auch statistisch
               Erklärungen in dem Sinne von: „Wie es                empirisch stützbare Überlegungen und
               dazu kam, dass …“, finden. Eine Progno-              Anweisungen für eine „gute Praxis“, die
               se, die mit großer Sicherheit angibt, dass           immer auch selbstkritisch reflektierte Pra-
               unter diesen Anfangsbedingungen in ei-               xis sein muss.
               nigen Jahren dieser Endzustand (z. B. der
               psychischen Erkrankung oder der psychi-
               schen Gesundheit) zu erwarten sei, lässt                       Fünf Prinzipien
               sich nur sehr schwer und sehr unsicher                     psychotherapeutischer
               stellen. Zu komplex ist das Feld, zu viele                Handlungsorganisation
               Faktoren spielen eine Rolle und individu-             als Hilfe zum Verfahrensdialog
               elle Resilienzen wie auch Vulnerabilitä-
               ten interagieren mit Risikofaktoren und              Im Folgenden wird unter pragmatischen
               Schutzfaktoren und setzen Prozesse der               Gesichtspunkten versucht, Vorgehens-
               Kompensation oder Dekompensation in                  weisen aus der Psychodynamik wie auch
               Gang. Vor allem dürften Metakognitio-                aus der Verhaltenstherapie fünf Hand-
               nen wichtig sein: Wie stellt sich das Sub-           lungsprinzipien zuzuordnen. Diese Prin-
               jekt zu dem Erlebten? Was bedeutet das               zipien sollen es im Sinne einer Multiper-
               Erlebte? Hier kann der subjektive innere             spektivität erleichtern, Erfahrungsschätze
               Dialog von entscheidender Bedeutung                  aus dem jeweils anderen Verfahren in die
               sein.                                                eigene Diagnostik wie Therapiedurch-
                   Dieses alles kondensiert sich nach               führung einbeziehen zu können, ohne
               Meinung des Autors zu der Aussage, dass              die Eigengesetzlichkeit und die traditio-
               es den Stein der Weisheit in der Psycho-             nellen Kontexte des eigenen Verfahrens
               therapie eben nicht gibt und auch nicht              aufgeben zu müssen. Dieses Vorgehen
               geben kann. Ebenso kann es auch kein                 ähnelt natürlich dem Versuch der Formu-
               „one fits all“ kostenoptimiertes Modell              lierung von Bausteinen einer „Allgemei-
               einer Einheitspsychotherapie geben. Was              nen Psychotherapie“. Es gilt aber: „Je ab-
               es jedoch geben kann, sind sowohl erfah-             strakter man formuliert, desto ähnlicher
               rungsmäßig pragmatisch wie auch theo-                werden sich alle psychotherapeutischen

                                                                  ● Prinzip Antwort

                                                                  ● Prinzip Erklärung

                               ●                                ●                                 ●
                            Prinzip                          Prinzip                           Prinzip
                            Deutung                        Umschreiben                         Training

               Abbildung: Die fünf Prinzipien

VuV2020-4 inhalt.indd 389                                                                                         2021.02.10 09:06
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               Verfahren“. Auf dem höchsten Abstrakti-       im Sinne der Beantwortung eines Bezie-
               onsniveau ist allen Psychotherapien ge-       hungstests beantworten können. Prinzip
               meinsam, dass sie nicht-medikamentöse         Antwort heißt auch, dass der Therapeut
               Heilungsangebote seelischer, psychoso-        den Patienten „wirklich sieht“ und sich in
               matischer wie psychosozialer Störun-          den Worten von Gerd Rudolf (2013) fle-
               gen durch sprachliche oder zumindest          xibel einmal an die Seite des Patienten
               sprachgeleitete Interventionen sind. Je       stellen kann, um mit ihm gemeinsam ein
               konkreter man dann aber wird, desto un-       Problem zu lösen, einmal sich dem Pa-
               terschiedlicher sind die psychotherapeu-      tienten zuwendet, um ihn auch zu kon-
               tischen Vorgehensweisen in ihren Men-         frontieren oder aber emotional beant-
               schenbildern, ihren pathogenetischen          wortend und bestärkend zu spiegeln und
               Grundannahmen, ihren Störungsmodel-           das andere Mal sich hinter den Patienten
               len, den Therapiezielen und den spe-          stellen kann, um ihm den Rücken zu stär-
               zifischen therapeutischen Settings und        ken, ihn anzuleiten und zur Autonomie
               Interventionen, mit denen diese Ziele er-     zu ermutigen. Im Ausnahmefall sollte sich
               reicht werden sollen. Die im Folgenden        der Therapeut auch vor den Patienten
               vorgestellten Prinzipien verstehen sich als   stellen können, um ihn vor institutionel-
               „bottom up“ generierte Heuristiken zum        len oder anderen Zumutungen aktiv zu
               Dialog zwischen der VT und den psy-           schützen, z. B. durch die Ausstellung von
               chodynamischen Verfahren. Ob der An-          Gutachten oder im ärztlichen Bereich
               spruch eingelöst werden kann, dass diese      auch durch Krankschreibungen.
               Prinzipien praxisnäher sind als die Gra-          Zum Prinzip Antwort gehören natür-
               weschen Perspektiven, und daher einen         lich auch Konzepte wie die komplemen-
               konkreteren Austausch im Verfahrensdia-       täre Beziehungsgestaltung, die Reflexion
               log VT-TP/PA ermöglichen, muss der Le-        von sozialen Interaktionen durch den
               ser beurteilen.                               Kiesler Kreis und der Einsatz von Validie-
                                                             rungstechniken.
                                  Erstens:
                            Das Prinzip Antwort                           Zweitens:
                                                                    Das Prinzip Erklärung
               Dieses Prinzip (Heigl-Evers & Heigl,
               1973, 1983, 1991; Heigl-Evers & Nitzsch-      Dieses Prinzip soll das Grundbedürfnis
               ke, 1991) macht deutlich, dass der Patient    nach Orientierung und Kontrolle befrie-
               in seiner Notlage eine Antwort möchte,        digen. Psychische Störungen stellen im-
               braucht und auch verdient. Das Prinzip        mer eine Form des Kontrollverlustes dar.
               Antwort geht davon aus, dass beim Pa-         Eine Erklärung im Sinne einer Psycho-
               tienten in einer psychischen Krise das        edukation hilft dabei, die unverstande-
               Bindungssystem aktiviert ist. Und je          ne psychische Symptomatik symbolisch
               nach Bindungsmuster kann es entweder          wieder in den eigenen Lebenskontext,
               zur Anlehnungssuche, zum ambivalen-           aber auch in die eigene Lebensgeschich-
               ten Schwanken zwischen Hoffnung und           te einzugliedern. Vorher nur bedrohend
               Misstrauen oder aber auch zu primär           und als unverständlich erlebtes Befinden
               misstrauisch geprägtem Kontrollverlust-       wird nun durch die Besprechung und die
               und Schädigungsängsten in Bezug auf die       Erklärungen in der Therapie verstanden.
               Therapie kommen. Alle diese initialen         Die „verstörende“ Symptomatik („seeli-
               Angebote sollte der Therapeut entspre-        scher Fremdkörper“, „Kontrollverlust“)
               chend erkennen und auch kompetent,            wird wieder in einen sprachlich vermit-

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Verhaltenstherapie   und   Psychodynamische Therapien                391

               telten Sinnzusammenhang eingegliedert.           der Abwehr, den maladaptiven Bewälti-
               Zum Prinzip Erklärung gehören die Psy-           gungsmodi, den Ängsten, Aggressionen
               choedukation, das gemeinsame Erstel-             oder anderen als aversiv empfundenen
               len eines Störungsmodells oder die Mit-          Emotionen oder Empfindungen steht. Ei-
               teilung von Ergebnissen diagnostischer           nen großen Raum wird auch die soge-
               Interviews und psychometrischer Instru-          nannte genetische oder rekonstruktive
               mente. Erklärung ist eher „top down“ or-         biographische Deutung einnehmen. Hier
               ganisiert und erklärt das Individuelle als       wird es darum gehen, gegenwärtiges Er-
               Spielart oder Beispiel des Allgemeinen.          leben und Verhalten auf biographisch
                                                                verankerte Motive, Schablonen oder
                                 Drittens:                      „Wiederholungszwänge“ zurückzufüh-
                            Das Prinzip Deutung                 ren. Auch die Idee der vertikalen Ver-
                                                                haltensanalyse mit der Formulierung von
               (Vgl. Heigl-Evers & Heigl, 1973, 1983,           Annäherungs- und Vermeidungszielen
               1991; Heigl-Evers & Nitzschke, 1991.)            kann man dem Prinzip Deutung zuord-
               Deutungen deuten, d. h., Zeichen wer-            nen. Auch das Vorgehen, in bestimmten
               den als „Anzeichen für etwas“, als „Hin-         Situationen Grundannahmen, Lebensbot-
               weise auf etwas“ ausgelegt. Deutungen            schaften oder Schemata als aktiviert und
               stellen oft auch kausale („warum“) und           somit als Erlebnis bestimmend zu sehen,
               finale („wozu“) Zusammenhänge her.               ist eine Form der Deutung. Im Vergleich
               Aus dem erst einmal unstrukturierten             zur Erklärung ist eine Deutung also eher
               Material des Patienten werden in einem           ein „bottom up“-Prozess. Aus der Viel-
               ersten Schritt durch Klarifikation (Nach-        fältigkeit von individuellen Erfahrungen
               fragen, Vergenauern, Fokussieren) rele-          werden schrittweise übergeordnete in-
               vante Themen herausgearbeitet. Ganz              dividuelle Themen oder Motive kristal-
               so, wie in der qualitativen Inhaltsanalyse       lisiert, die die Vielfalt des Erlebten unter
               von Interviews wiederkehrende Themen             eine Überschrift stellen und so ordnen
               erst erkannt und dann benannt werden.            und zusammenfassen können.
               In einem zweiten Schritt – der so genann-
               ten Konfrontation – kann der Patient dann                     Viertens:
               mit Widersprüchlichkeiten in seiner Schil-             Das Prinzip Umschreiben
               derung oder seinem Erleben und Ver-
               halten (Ambivalenzen und Tendenzen)              Das Prinzip des Umschreibens ist ein aus
               konfrontiert werden. Außerdem können             der Gedächtnispsychologie abgeleitetes
               Wahrnehmungs- oder Handlungslücken               Prinzip, dass auf der Grundüberlegung
               aufgezeigt werden. In einem nächsten             beruht, dass das Gedächtnis kein Foto-
               Schritt kann der Patient auch mit malad-         album und auch kein Lagerhaus ist, in-
               aptiven Bewältigungsmechanismen im               dem die Lebenseindrücke unbeeinflusst
               Sinne einer Abwehrdeutung konfrontiert           aufbewahrt werden. Vielmehr wird jede
               werden. Hier ist es möglich, dass der            Erinnerung bei jedem Wiederabruf („Er-
               Therapeut bestimmte Weisen der Erleb-            innern der Erinnerung“) verändert (Zar-
               nisschilderung oder der Erlebnisgestal-          bock, 1994). Man geht davon aus, dass
               tung als Abwehr herausstellt oder – im           Gedächtnisinhalte in passager schnell
               Sprachgebrauch der Schematherapie –              (de-)aktivierbaren neuronalen Netzwer-
               den maladaptiven Bewältigungsmodi zu-            ken über ein größeres Hirnareal hinweg,
               ordnet. Gemeinsam mit dem Patienten              wohl auch immer unter Beteiligung sub-
               kann dann untersucht werden, was hinter          kortikale Hirnareale, kodiert sind. Somit

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               sind sie also immer auch von den jewei-       Sulz, 2004). Auch dieses hat regelhaft
               ligen Co-Aktivierungen des Hirns, die bei     einen Trainingsaspekt. Der Aspekt des
               der Abrufsituation („recall“) vorliegen,      Trainings impliziert zielorientiertes Wie-
               beeinflussbar („neurons that fire together,   derholen und dies so lange, bis ein vor-
               wire together“).                              her formuliertes Zielkriterium möglichst
                   Diese Grundüberlegungen und der           auch erreicht worden ist. Für die klassi-
               Befund, dass real erlebtes und imaginier-     schen verhaltenstherapeutischen Ansätze
               tes Geschehen quasi identische Hirnare-       des Kompetenztrainings liegt der Begriff
               ale aktivieren, legt es nahe, ungünstige      des Trainings natürlich schon im Namen.
               oder traumatisierende Erfahrungen noch        Auch bei Expositionstherapie geht es um
               einmal intensiv in der Vorstellung nach-      ein Training von Annäherungsverhalten.
               erleben zu lassen und während dieses          Wenn wir das Konzept des Inhibitionsler-
               Nacherlebens dann hilfreiche, emotions-       nens zugrunde legen, geht es dann im-
               regulierende,     bewertungsverändernde       mer auch um ein Training der Inhibition
               und auch aversionsinkompatible Inhal-         im Anblick eines ursprünglich angstaus-
               te zu imaginieren. Das Prinzip des Um-        lösenden Stimulus. Auch das wiederhol-
               schreibens soll nicht die ursprüngliche       te Einüben von Selbstinstruktion oder die
               Erinnerung „verfälschen“, sondern da-         Umstrukturierung negativer Gedanken
               bei helfen, dass aus der intensiv erlebten    nach dem ABC-Modell (Ellis) enthält in
               Ursprungs-Erfahrung extrahierte, überge-      dem Punkt der Disputation, des D, ex-
               neralisierte Selbst-und Situations-Bewer-     pliziert den Trainingsaspekt. Training und
               tungen und Kausalattributionen und kon-       Übung liegen natürlich begrifflich nahe
               ditionierte Reaktionen „zurückgebaut“         bei einander. Übung ist Wiederholung,
               werden können. Unter diesem Prinzip           möglichst bis man „es“ kann. Training be-
               des Umschreibens sind besonders die           inhaltet darüber hinaus noch abgestufte
               therapeutischen Techniken der Expositi-       Anforderungen und die Zerlegung kom-
               on in sensu, der emotional imaginativen       plexer Anforderungen in Teilkomponen-
               Umstrukturierung, des Imagery Rescrip-        ten, die erstmal einzeln und unter sehr
               ting und Reprocessing, des EMDR und           spezifischen Bedingungen isoliert ange-
               vergleichbare Ansätze zu fassen.              leitet und gestuft geübt werden können
                                                             (das „chaining“ und „shaping“ der VT;
                                 Fünftens:                   Maercker, 2009).
                            Das Prinzip Training

               Das Prinzip Training ist ebenfalls ein ver-            Zusammenfassung
               fahrensübergreifendes Prinzip. In der Tie-              und Diskussion
               fenpsychologie und der Psychoanalyse
               gibt es das Konzept des Durcharbeitens.       Die vorgestellten fünf Prinzipien können
               Auch einmal bewusst gewordene Kon-            in Therapieplanung, Therapiedurchfüh-
               flikte oder Defizite müssen immer wieder      rung, Selbstreflexion und Supervision
               im therapeutischen Prozess, möglichst         helfen. Mit der Verwendung der fünf The-
               in der Übertragung zwischen Therapeut         rapieprinzipien können wir auch immer
               und Patient, aber auch in der so genann-      fragen, wie das jeweils andere Verfahren
               ten Außenübertragung, in den szeni-           dieses Prinzip realisiert. Kommen wir mit
               schen Konstellationen in der Außenwelt,       unserem eigenen Verfahren an Grenzen
               erzählt, analysiert und durchgearbeitet       oder wollen wir unser eigenes diagnosti-
               werden (Hiller, Leibing, Leichsenring &       sches und therapeutisches Repertoire er-

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               weitern, können wir dies durch die Prin-      meldung? Oder aber wird – wie in der
               zipien geleitet tun. Die fünf Prinzipien      Kindererziehung – durch Vorbild, Teilha-
               eröffnen aus der therapeutischen Praxis       be und implizite und explizite Rückmel-
               „bottom up“ ebenso wie die Graweschen         dungen und Anleitungen „geübt“?
               Perspektiven aus der Perspektive der Psy-          Die vorgestellten fünf Prinzipien und
               chotherapieforschung „top down“ einen         die Graweschen Perspektiven können
               Blick für das Gemeinsame oder zumin-          uns helfen, das zu tun, was Schoen (1983)
               dest Ähnliche des therapeutischen Han-        in seinem Konzept „reflection in action“
               delns von Verhaltenstherapie und der          und „reflection on action“ nennt. Zur
               psychodynamischen Verfahren.                  Handlungssteuerung während unserer
                    Gleichzeitig werden die Unterschie-      Handlungen brauchen wir gute und ge-
               de verschiedener Vorgehensweisen aber         übte Routinen, damit wir uns ganz in den
               sehr deutlich.                                Moment der therapeutischen Interaktion
                    Wird z. B. die therapeutische Bezie-     „loslassen“ können. Hier können die fünf
               hung aktiv reflektiert und gestaltet, ggf.    Prinzipien helfen, sich sicher in einem
               als „Antwort“ konzipiert? Oder herrscht       Handlungsgebiet zu bewegen oder aber
               strikte Neutralität und Abstinenz? Oder       zu bemerken, wann man „in einen ande-
               ist die Beziehung eher als Lehrer-Schüler-    ren Topf“ greifen muss, d. h. die Prinzipi-
               oder Coach-Coachee-Beziehung defi-            en und Heuristiken seines aktuellen Han-
               niert?                                        delns ändern muss. Dieses Reflektieren
                    Erhält der Patient viel Informationen    in Aktion muss aber nach der Entlastung
               und Erklärungen im Sinne des „informed        vom akuten Handlungsdruck, nach unse-
               consent“?                                     rem „Einsatz“, immer auch ergänzt wer-
                    Wie wird gedeutet? Was sind die je-      den können durch eine Reflexion nach
               weiligen (hermeneutischen) Hintergrün-        der und über die Aktion („reflection on
               de und theoretischen Modelle, von de-         action“).
               nen Deutungen abgeleitet werden? Wie               Hierzu ist der ideale Ort – neben der
               stark spielt hier die Biografie eine Rolle?   Selbstreflexion – auch die Supervision.
               Wie werden reale Erfahrungen und Trau-        Die Supervision in einem Kreis von in-
               mata im Vergleich zur subjektiven Verar-      teressierten Kollegen mit einem fachlich
               beitung oder gar phantasierenden Verzer-      versierten Anleiter gehört zur verantwort-
               rungen berücksichtigt? Sind Emotionen,        lichen Durchführung gerade auch multi-
               Motive, Identitäten, wichtige Beziehun-       perspektivisch ausgerichteter Therapie­
               gen in Vergangenheit und Gegenwart ex-        stile und -vorgehensweisen unverzichtbar
               plizite Bezugspunkte der Deutungsarbeit?      hinzu (Zarbock, 2016).
                    Wird das Konzept des Umschreibens             Gerade multiperspektivische Thera-
               explizit genutzt und technisch durch          piekonzepte betreten ja oft Neuland oder
               Übungen angesteuert? Oder wird ver-           bewegen sich in einem Gebiet mit vielen
               sucht durch eine emotional intensive und      Freiheitsgraden bei der Wahl diagnosti-
               empathische Beziehung die Problemge-          scher und therapeutischer Alternativen.
               nese in Form von Reaktivierungen und          Auch hier können sowohl Grawes Pers-
               Reinszenierungen wieder zugänglich und        pektiven wie auch die vorgestellten fünf
               somit auch umschreibbar zu machen?            Handlungsprinzipien durch ihre Begriff-
                    Welche Rolle spielen Übungs- und         lichkeiten helfen, Prozesse präzise zu be-
               Trainingsaspekte? Gibt es Hausaufgaben        schreiben und zu reflektieren.
               und explizite Übungsanleitungen oder               Die Einbettung der vorgestellten
               gar modellierte live Übungen mit Rück-        Überlegungen in die wissenschaftstheo-

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               retischen Vorüberlegungen macht auch              Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1983). Das interak-
               deutlich, dass man der Verantwortung                  tionelle Prinzip in der Einzel- und Grup-
               für begründete, aber trotzdem letztlich               penpsychotherapie. Zeitschrift für psycho-
               nicht zwingende Entscheidungen und                    somatische Medizin und Psychoanalyse,
               Auswahlen („es ginge immer mit guten                  29 (1), 1–14.
               Gründen auch anders“) nicht ausweichen            Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1994). Das Göt-
               kann. Psychotherapie sollte sich immer                tinger Modell der Anwendung der Psy-
               bewusst sein, dass ihre Entscheidungen                choanalyse in Gruppen unter besonderer
               zwangsläufig Entscheidungen unter Unsi-               Berücksichtigung der psychoanalytisch-in-
               cherheit sind. Trotzdem sollte therapeuti-            teraktionellen Methode. Gruppenpsycho-
               sches Handeln aber immer Handeln mit                  therapie und Gruppendynamik, 30, 1–29.
               ganzem Herzen sein.                               Heigl-Evers, A. & Nitzschke, B. (1991). Das
                                                                     Prinzip „Deutung“ und das Prinzip „Ant-
                                                                     wort“ in der psychoanalytischen Therapie.
                               Literatur                             Anmerkungen zur theoretischen Begrün-
                                                                     dung zweier therapeutischer Angebote,
               Esser, H., Klenovits, K. & Zehnpfennig, H.            die an unterschiedliche Patientengruppen
                   (1977). Probleme der wissenschaftlichen           gerichtet sind. Zeitschrift für psychosoma-
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