Verhaltenstherapie und psychodynamische therapien - Verfahrensdialogische und Vergleichende - IVAH
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Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 379 Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin 2020, 41 (4), 379–395 Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien – verfahrensdialogische und vergleichende Überlegungen Gerhard Z arbock Psychotherapie – grundsätzliches Modell der Störungsent- schon eine Wissenschaft? stehung und abgeleiteter Therapieprinzi- pien) geeinigt hat (vgl. Kuhn, 1967/1996). Im Gegensatz zu anderen Wissenschaf- Es lässt sich nun überlegen, ob dies je an- ten hat die Psychotherapie bisher den gro- ders sein kann. Nach Meinung des Autors ßen Nachteil, dass sie ihre Erkenntnisse ist Psychotherapie immer stark beeinflusst und Vorgehensweisen in verschiedenen von zu Grunde liegenden Menschenbil- Therapieschulen, im deutschen Sprach- dern, Werthaltungen und anderen welt- bereich auch als Therapieverfahren be- anschaulichen Prämissen, sodass es, wie nannt, organisiert. Dies führt dazu, dass es bei der Religion oder der Philosophie, ein echter wissenschaftlicher Austausch keine Einheitsreligion oder Einheitsphi- zwischen den Verfahren mit dem Ziel losophie gibt, auch keine allgemein ak- des Erkenntnisgewinnes und des Kompe- zeptierte „Einheitspsychotherapie“ oder tenzzuwachses fast unmöglich ist, da es „Allgemeine Psychotherapie“ wird geben sich um konkurrierende, sich gegenseitig können. Dennoch sind Verfahrensver- ausschließende Schulen handelt. Ähnlich gleiche, Dialoge zwischen den Verfah- wie in der Philosophie oder in der Reli- ren und auch Ansätze möglich, die ver- gion liegen damit also konkurrierende, suchen, vom jeweils anderen Verfahren oft auch unvereinbare Erklärungsansätze zu lernen, um das eigene Vorgehen zu mit verschiedenen Vorgehensweisen bei verbessern. Jedes Verfahren hat Stärken der Erkenntnisgewinnung und den mögli- und Schwächen, insbesondere unscharfe chen Wegen zur Heilung oder Besserung oder diagnostisch wie therapeutisch nicht psychischen und psychosomatischen Lei- gut „ausgeleuchtete“ und operationali- dens vor. sierte Bereiche. Die Begegnung mit dem Wissenschaftstheoretisch könnte man anderen Verfahren kann solche Bereiche daher sagen, dass sich die Psychotherapie- deutlicher werden lassen und konstruk- (wissenschaft) – anders als die Naturwis- tive Verfahrenserweiterungen anstoßen. senschaften – noch in einem vorparadig- Zentral hierfür ist immer eine genaue matischen Zustand befindet, sich also Begriffsexplikation („Was genau meinst noch nicht auf ein aktuell „gültiges“ Pa- Du damit, wenn Du sagst, …“) und eine radigma (= grundsätzliche Denkweise, Rückführung der verwandten Begriffe auf VuV2020-4 inhalt.indd 379 2021.02.10 09:06
380 Z arbock umgangssprachlich beschreibbare Pra- Steuerung unter verschiedenen inneren xisbeobachtungen. Hiermit folgen wir und äußeren Bedingungen. Dadurch ist der Auffassung, dass die letzliche Meta- der Gegenstand der Psychologie meist Sprache, mit der man über Fachsprachen ein wesentlich sprachlich vermittelter, sprechen kann, zwangsläufig die Um- ein sozial vor seiner Beobachtung erst zu gangssprache sein muss. konstruierender. Intelligenz, Motivation, Im Folgenden sollen daher solche Konflikt, Antrieb, Bedürfnis, Frustration, verfahrensdialogische Überlegungen vor- Verstärkung, Verdrängung – all das sind gestellt werden, die einerseits von den Gegenstände der Erkenntnis, die sich Überlegungen Klaus Grawes und Ergeb- nicht direkt beobachten lassen, sondern nissen der Psychotherapieforschung aus- die zuerst sprachlich definiert werden gehen, andererseits aber ihren Ausgangs- müssen. In der Psychologie wird dies als punkt von ganz konkreten praktischen Operationalisierung (= Messbarmachung) Erfahrungen und Problemstellungen aus der Konstrukte beschrieben. In Operati- dem psychotherapeutischen Alltag ei- onalisierungen fließen immer Auswahl- ner breitgefächerten Versorgungspraxis entscheidungen ein. Das heißt, es könnte nehmen. oft auch mit anderen Argumenten anders Gerade die Praxis, die sich nicht wie entschieden oder formuliert werden. Da- die Forschung in ihren Studien durch Ein- her sind psychologische Erkenntnisse und Ausschlussindikationen beschränkt, sehr oft kontextabhängig und verändern sondern erstmal jeden mit psychischem sich unter bestimmten zeitlichen, sozi- Leiden annimmt, um zu helfen, kann im- alen und geopolitischen Rahmenbedin- mer wieder zu den Grenzen des eigenen gungen. diagnostischen und therapeutischen Re- pertoires führen. Solche „Begrenzungser- Psychologie und Psychotherapie sind fahrungen“ sind dann Anlass zum Fragen also in weiten Teilen nicht in der glei- und zur Suche nach bisher Übersehe- chen Weise Naturwissenschaft wie nem, nach dem, was im Schatten des bis- Physik, Chemie oder Biologie. herigen Wissens und Könnens liegt. Besonders hilfreich bei solchen Über- Und da, wo die Psychologie sehr „siche- legungen sind natürlich auch Erkenntnis- re“ quasi naturwissenschaftliche Erkennt- se, Ergebnisse und Vorgehensweisen aus nisse vorweisen kann, ist sie immer nahe der Grundwissenschaft Psychologie, die an biologischen, neurologischen und ja beansprucht, die Gesetzmäßigkeiten physikalischen Prozessen. von Erleben und Verhalten quasi natur- wissenschaftlich beschreiben zu können. Aber auch hier haben wir vor kurzem zur Narrative Kenntnis nehmen müssen, dass bis zu und naturwissenschaftliche Zweidrittel aller empirisch-experimentell Wahrheiten gewonnenen Erkenntnisse nicht replizier- bar waren (Loannidis, 2005; Open Sci- Für die folgenden Überlegungen wol- ence Collaboration, 2015). Vermutlich len wir daher auch narrative Wahrheiten gerade aus einem ähnlichen Grund, aus von sogenannten experimentellen, na- dem es auch verschiedene Psychothe- turwissenschaftlichen Wahrheiten unter- rapieschulen gibt: Die Erkenntnisse der scheiden. Unter einer narrativen Wahr- Psychologie beziehen sich auf mensch- heit wollen wir eine aus der Praxis oder liches Erleben und Verhalten und ihre auch durch theoretische Überlegungen VuV2020-4 inhalt.indd 380 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 381 gewonnene Feststellung oder Vorgehens- sich eben nicht auf naturwissenschaft- weise verstehen, die durch bestimmte liche Wahrheiten und nach dem Hem- Weltanschauungen, bestimmte Voran- pel-Oppenheim-Schema prinzipiell fal- nahmen und Werthaltungen, durch eine sifizierbare, allgemeingültige Gesetze bestimmte „Erzählautorität“ und einen zurückführen lassen (Esser, Klenovits & „Erzählrahmen“ im Sinne einer Tradition Zehnpfennig, 1977). Das „tertium non geprägt ist (Payne, 2006). datur“ einer positivistischen Falsifizie- Wenn man die Brücke zu den Na- rungslogik muss bei Erkenntnissen im Be- turwissenschaften noch einmal schla- reich des Seelischen einem „sowohl als gen will, kann man sagen, dass je stärker auch“, einer „immer möglichen Verkeh- psychotherapeutische Vorgehensweisen rung ins Gegenteil“ und einer funktiona- oder Erklärungsmodelle abgeleitet sind len Dominanz „subjektiver Bewertungen aus der Neurobiologie, der Hirnanato- über objektive Fakten“ weichen. Zum mie, der Evolutionsbiologie, der verglei- Verständnis des Seelischen gilt gerade- chenden Verhaltensforschung und der zu „tertium necesse est“. Mehrdeutigkei- genau beobachtenden Entwicklungspsy- ten, Ambivalenzen und Wandelbarkeit in chologie, desto eher liegen dem Vorge- Form und Funktion sind im Erleben und hen quasi naturwissenschaftliche Wahr- Verhalten die Regel, nicht die Ausnahme. heiten zu Grunde, die relativ unabhängig Die Forderung positivistischer Wissen- vom sozialen und historischen Kontext schaft nach Ein-Eindeutigkeit im Sinne Gültigkeit haben. einer 1:1-Zuordnung von Elementen des Je mehr es aber um subjektives Erle- empirischen Relativs (der Erfahrungstat- ben und seine Ausdeutungen geht, desto sache) zu einem Element des numeri- mehr Freiheitsgrade haben wir und des- schen Relativs (dem Messwert) ist für das to abhängiger wird das erklärende theo- Seelische nicht gegenstandsadäquat. retische Konstrukt von zahlreichen Vor- Zur Beschreibung der Psychothera- entscheidungen und Vorannahmen sein. pie können wir Demokrit auf den Kopf Das heißt also, ein „subjektiver“ Sachver- stellen: „Es gibt nur Meinung (d. i. „Sub- halt (wie z. B. Motivation, Leidensdruck) jektivität“), alles andere sind nur Atome kann sehr unterschiedlich beschrieben und der leere Raum“. Es geht in der Psy- werden. In solchen Fällen würden wir da- chotherapie immer zentral um subjekti- her von narrativen Wahrheiten sprechen. ves Erleben und subjektive Bedeutungs- Im Rahmen der folgenden Betrach- zuschreibungen und Erwartungen, die tung werden wir also den Unterschied entweder überhaupt nicht oder nur sehr zwischen quasi experimentellen natur- verkürzt experimentell zugänglich sind. wissenschaftlichen Wahrheiten und nar- Eine Psychotherapie nur auf Basis natur- rativen Wahrheiten mitdenken müssen. wissenschaftlicher Gesetze, Befunde und In der Psychotherapie können wir na- Methoden wäre streng genommen eine türlich keinesfalls auf die so genannten Wissenschaft ohne adäquaten Gegen- narrativen Wahrheiten verzichten, da das stand. menschliche Seelen- und Sozialleben komplex und vielschichtig ist, und sich Multiperspektivität in großem Umfang eben gerade durch und Psychotherapieverfahren Narrative konstituiert. Das heißt, die Stö- rungen des menschlichen Sozial- und Die narrative Gebundenheit und Fundie- Seelenlebens begründen sich vorrangig rung der Psychotherapie spiegelt sich na- aus Prozessen und Geschehnissen, die türlich auch in der Existenz einer Vielzahl VuV2020-4 inhalt.indd 381 2021.02.10 09:06
382 Z arbock psychotherapeutischer Schulen wider. kungen im Sinne der VT); langfristig aber Man kann eben prinzipiell verschiedene sowohl für das Individuum wie für seine Geschichten oder eben auch eine Ge- sozialen Interaktionen, ggf. auch für be- schichte verschieden erzählen. troffene Dritte negative Folgen auftreten. Im Folgenden soll unter Mitgeltung Auf Basis dieser relativ allgemein ge- dieser erkenntniskritischen Reflexionen haltenen Ätiologietheorie psychopatho- ein Versuch einer verfahrensübergrei- logischer Symptome werden wir versu- fenden Perspektiventwicklung („Mul- chen, psychotherapeutisches Handeln im tiperspektivität“) gemacht werden, die Sinne multipler Perspektiven zu reflek- schwerpunktmäßig die Verfahren Verhal- tieren. tenstherapie (inklusive 3. Welle) und die psychodynamischen Verfahren umfasst. Grawes Perspektiven Die zu Grunde liegende theoretische Ba- auf den Psychotherapieprozess sis ist die von Klaus Grawe formulierte Inkonsistenz- bzw. Konsistenztheorie des Bei der vergleichenden Reflexion können psychischen Erlebens (Grawe, 2004). Die die Überlegungen von Klaus Grawe zur Konsistenztheorie sagt kurzgefasst, dass Existenz verschiedener therapeutischer der menschliche Organismus bestrebt ist, Perspektiven helfen. Grawe hat diese Konsistenz herzustellen, die als Überein- Perspektiven auf Basis seiner Metaana- stimmung von Wunsch bzw. Erwartung lysen über alle Psychotherapieverfah- einerseits und konkreter Wahrnehmung ren hinweg in dem Versuch formuliert, oder Erwartungserfüllung andererseits jenseits therapieverfahrensspezifischer verstanden werden kann (Grosse Holt- Sprachregelungen gemeinsame Wirkfak- forth & Grawe, 2004). toren von psychotherapeutischen Prozes- Kommt es zu intensiven und länger- sen auf psychologischer Grundlage zu dauernden Inkonsistenzen, das heißt zu formulieren. Die psychotherapeutischen „mismatches“ zwischen Wünschen und Perspektiven sensu Grawe sind: Erwartungen einerseits und aktueller Wahrnehmung und Erwartungserfüllung andererseits, entsteht hohe Inkonsistenz. Erstens: Inkonsistenz kann als ein bewusst erleb- Beziehungsperspektive barer psychophysischer Spannungszu- (Welche Rolle spielen stand beschrieben werden. Solche psy- Beziehungsstile?) chophysischen Inkonsistenzspannungen legen dann die Basis dafür, dass sich Hiermit wird herausgestellt, dass das Er- singuläre Symptombildungen oder aber leben und die Gestaltungsweisen von generalisierte maladaptive Bewältigungs- Beziehungen des Patienten ein wichti- mechanismen in den Bereichen Wahr- ger und zentraler Faktor sowohl bei der nehmung, Verhalten und Selbststeuerung Entwicklung, der Aufrechterhaltung wie entwickeln, beide mit dem „Ziel“, Inkon- auch der „Auflösung“ psychischer Stö- sistenzspannung schnell zu reduzieren. rungen sind. Unter der Beziehungspers- Leidensdruck entsteht in der Regel da- pektive wird im Therapieprozess zentral durch, dass diese organismischen Versu- formuliert, wie sich die Therapeut-Pati- che der Inkonsistenzreduktion maladap- ent-Beziehung gestaltet und welche Aus- tiv, das heißt so gestaltet sind, dass zwar tausch- und Interaktionsprozesse gerade kurzfristige Spannungserleichterungen zwischen Therapeut und Patient stattfin- auftreten (sogenannte negative Verstär- den (Grawe, 1998). Weiterhin wird unter VuV2020-4 inhalt.indd 382 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 383 dieser Perspektive reflektiert, wie der Pa- (genetisch = auf lebensgeschichtliche Ur- tient regelhaft oder häufig mit wichtigen sachen zurückführen, Abwehrdeutungen signifikanten Anderen in seinem Umfeld = Etwas dient als Abwehr von …, Über- interagiert. Persönlichkeitsstörungen oder tragungsdeutungen = Die Therapeutin, -akzentuierungen sind immer auch Be- die Therapeut-Patient-Beziehung wird im ziehungsstörungen im zwischenmensch- Lichte früherer Bezugspersonen verzerrt lichen Bereich. erlebt). Bei den Deutungen lassen sich also verschiedene Deutungstypen unterschei- Zweitens: den. Mit einer genetischen Deutung wird Klärungsperspektive dem Patienten „erklärt“, wie seine Biogra- fie mit seinem Erleben oder auch seiner Unter dieser Perspektive wird herausgear- Symptomatik im Hier und Jetzt verbun- beitet, wie gemeinsam mit dem Patienten den werden könnte. Die Abwehrdeutung Erklärungen für das ihm unverständliche stellt einen Zusammenhang her zwischen Verhalten und Erleben gesucht werden bestimmten Abwehrmechanismen wie (Grawe, 1998b, 2004). Klärung befriedigt z. B. Intellektualisieren, dem Vergessen das Grundbedürfnis nach Orientierung oder der Spaltung und dem, was damit und Kontrolle (das im Ansatz der Biogra- unbewusst beabsichtigt ist, nämlich das fisch-Systemischen VT [Zarbock, Stürzel, Abgewehrte außerhalb des Bewusstseins Semmler, 2021] der Autonomie beige- zu halten. Dieses Abgewehrte wird dann ordnet ist). Prototyp für die Klärungsper- in einem weiteren Schritt erkundet. spektive ist die psychoanalytische Idee Die Übertragungsdeutung veran- der psychischen Determinierung allen schaulicht die Wiederholung früherer Er- Verhaltens und aller bewussten psychi- lebnisweisen und Erfahrungen, früherer schen Phänomene. Die Psychoanalyse Beziehungsmotive, im Hier und Jetzt der geht davon aus, dass jedes bewusste Phä- therapeutischen Beziehung (Binnenüber- nomen eine unterliegende, verursachen- tragung) und mit anderen wichtigen ak- de unbewusste Dynamik hat. Bewusstes tuellen Bezugspersonen (Außenübertra- Erleben ist also immer durch das vor- gung) des Patienten. gängige, unbewusste Wechselspiel von Auch die Gesprächspsychotherapie Wunsch/Affekt und Abwehr oder durch nach Rogers kann der Klärungsperspekti- Strukturdefekte und zugehörige Kom- ve zugeordnet werden. Durch die Verba- pensationsversuche determiniert (Hil- lisation emotionaler Erlebnisinhalte (VEE) ler, Leibling, Leichsenring & Sulz, 2004). hilft der Therapeut dem Patienten sich Unter der Klärungsperspektive hieße es selbst besser und umfassender als bisher dann, genau diese Dynamiken zu erken- zu verstehen. nen, bewusst zu machen und auch durch Die verhaltenstherapeutische Sicht Erklärungen, also explizite Offenlegung der Klärungsperspektive liegt natürlich in von Ursache-Wirkungsverknüpfungen den Modellen und Konzepten der Belas- erstmal verständlich und dann auch der tungsverarbeitung, wie z. B. der erlernten Veränderung zugänglich zu machen. In Hilfslosigkeit, der Fehlattributionen, der der Psychoanalyse geschieht dieses oft in kognitiven und metakognitiven Fehler der Reihenfolge von Klarifizieren (klären, und Verzerrungen, oder dem Modell des näher beschreiben lassen), Konfrontieren Verstärkerverlustes, der Unterscheidung (den Patienten auf Erlebnislücken oder kurzfristiger (steuernder) von langfristigen Erlebniskonflikte hinweisen) und Deuten (schädigenden) Verhaltenskonsequenzen. VuV2020-4 inhalt.indd 383 2021.02.10 09:06
384 Z arbock Aufgegriffen wird diese Perspektive in dem Patienten hilft – meist durch situa- der VT auch durch die Psychoedukation tives Coaching oder Modellvorgaben – des Patienten, mit der der Patient über Probleme zu bewältigen und verbesserte Art und Umstände seiner Erkrankung in Selbst- und Interpersonelle Regulation zu verständlicher Form informiert wird. erlernen. Wichtigste Fähigkeit der Problem- bewältigung wäre in der Psychoanalyse Drittens: wohl auch die zu erwerbende Fähigkeit Problembewältigungsperspektive zur Selbstanalyse. Durch die Verinnerli- chung der Analytikerin als (hinreichend) Dies ist die Perspektive, unter der dem gutes und steuerndes Objekt und der Patienten konkrete Hinweise zur Ver- durch Teilhabe und auch Modelllernen änderung seiner Problematik durch den erworbenen Kompetenz zur Selbstana- Erwerb neuer Kompetenzen gegeben lyse (Ausgangspunkt Problemgefühl oder werden (Grawe, 1998). Die Kompetenz- irritierender Gedanke, gleichschweben- perspektive ist geradezu das Paradigma de Selbstaufmerksamkeit (statt schneller der VT, da psychische Störungen sowohl Ablenkung, Unterdrückung, Beruhigung), in ihrer Entstehung (Störungen sind ge- freie Assoziation, Klarifikation, autoge- mäß der VT meist Ausdruck von Defizi- ne Deutungsversuche) kann der analyti- ten) als auch in ihrer Therapie (durch das sche/tiefenpsychologische Patient diese Erlernen neuer Kompetenzen) unter der Kompetenz erwerben. Durch einen er- Kompetenzperspektive aufgefasst wer- folgreichen Akt der Selbstanalyse sollte den. Beispiele hierfür sind das Skills-Trai- es dann idealiter zu einer anschließen- ning der DBT, das soziale Kompetenztrai- den Inkonsistenzreduktion kommen, da ning, und eine Vielzahl von „Trainings“ unbewusste Ursachen bewusst gemacht für fast jeden Bereich menschlichen Erle- und versprachlicht wurden. Im psycho- bens und Verhaltens (Emotionsregulation, analytischen Sinne gelingt es durch den Stressbewältigung, Angstbewältigung, Prozess der Bewusstmachung (der topi- Sexualität etc.). Auch die klassische Ex- sche Aspekt) und damit auch der Ver- positionstherapie lässt sich als Kompe- sprachlichung bisher unbewusster Kon- tenzerwerb darstellen: Es geht um das glomerate (i. S. von Wunsch-Abwehr-, Training von Annäherungskompetenzen Trauma-Abwehr-, Strukturdefekt-Kom- durch den Erwerb von Distresstoleranz pensations-Dyaden) dem unbewussten (= Angst aushalten lernen). Konglomerat energetische Besetzung zu Zur Problembewältigungsperspektive entziehen und es damit quasi dynamisch zählen auch die metakognitiven Ansätze unwirksam zu machen. Als Benanntes und die kognitive Umstrukturierung. Zen- und damit Bewusstes kann es nicht mehr tral auch Anleitungen des Patienten zur im gleichen Sinne „drängen“ wie als un- Tagesstrukturierung und zur Ausübung bewusst-dynamisches. Im Anschluss an positiver Aktivitäten und natürlich auch solche Bewusstmachung sollten dann sämtliche Formen des Reattribuierungs- dem Subjekt idealiter auch andere Hand- trainings bei Panik und somatoformen lungsoptionen möglich sein: umfassen- Störungen. dere Selbsterkenntnis führt zur Neuent- Aber auch die Psychoanalyse hat mitt- scheidung und diese führt im Anschluss lerweile in der Strukturbezogenen Thera- zur Verwirklichung von bisher blockier- pie nach Rudolf zahlreiche Vorgehens- ten Handlungsalternativen (Hiller, Leib- weisen entwickelt, wie der Therapeut ling, Leichsenring & Sulz, 2004). VuV2020-4 inhalt.indd 384 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 385 Viertens: Problemaktualisierungen sind auch Problemaktualisierungsperspektive die Angebote des imaginativen Um- schreibens als einer Form der Exposition Unter dem Prinzip der Problemaktuali- in sensu. Rollenspiele und soziale Kompe- sierung versteht Grawe, dass Therapie tenzgruppen sind Formen der Problem auch immer darauf abzielt, dass sich aktualisierung. Auch alle so genannten das bisher nur berichtete Problem in der „experiential techniques“, im Deutschen Therapie greifbar aktualisiert. Statt kalter am ehesten als „Emotions- und Erfah- Problembeschreibungen können dann rungsbezogene Interventionstechniken“ so genannte „hot cognitions“ behandelt zu übersetzen, sind als eine Form der werden. Das heißt also, die Problematik Problemaktualisierung anzusprechen. des Patienten soll sich im Hier und Jetzt fühlbar aktivieren, was immer auch da- Fünftens: mit einhergeht, dass intensive Emotionen Ressourcenperspektive und Körperreaktionen zusätzlich zu den Gedanken, Bewertungen und Beschrei- Niemand kann „überhaupt nichts“. Un- bungen aktiviert werden (Grawe, 1998; ter der Ressourcenperspektive geht es Grosse Holtforth, 2017). darum, das, was schon positiv als Kom- Die klassische Problemaktualisierung petenz oder Vorteil da ist, zu benennen aus Sicht der Tiefenpsychologie ist na- und auch für den Therapieprozess zu türlich eine intensive Übertragung, wenn nutzen. Es geht um Wertschätzung und der Patient vergangene Problematiken auf Nutzung (im Sinne der „Utilisation“ von den Therapeuten überträgt, z. B. befürch- Milton Erickson) der jeweiligen Lebens- tet, vom Therapeuten ebenso kritisiert und Lernerfahrungen und der Kompeten- und abgelehnt zu werden, wie von seiner zen des Patienten (Grawe & Grawe-Ger- Mutter. Weitere Problemaktualisierungen ber, 1999; Willutzki & Teismann, 2013). aus Sicht der Tiefenpsychologie beste- Auch z. B. Obdachlose benötigen für ihr hen in sogenannten Handlungsdialogen Straßenleben Kompetenzen, Prostituierte oder szenischen Inszenierungen. Dieses und Gangmitglieder würden nicht lange Konzept beschreibt, dass Patient und „überleben“, wenn sie nicht auch sehr Therapeut – beidseitig unbewusst – die spezifische Kompetenzen hätten. Diese Problematik des Patienten inszenieren, „krassen“ Beispiele sollen deutlich ma- indem vom Patienten unbewusst gehalte- chen, dass die Ressourcenperspektive ra- ne Befürchtungen und Einstellungen sich dikal „empowert“, indem sie die Anpas- im Sinne eines miteinander aufgeführten sungsleistungen auch an sehr spezielle Theaterstücks unter aktiver, aber „unbe- gesellschaftliche Lebensräume („Habita- wusster“ Mitwirkung des Psychothera- te“) und individuelle „ökologische Ni- peuten reinszenieren. schen“ als aktive Leistungen beschreibt Problemaktualisierungen sind natür- und eben nicht als Defizite. In der The- lich auch die Expositionsangebote der rapie kann sich so der „extreme“ Patient Verhaltenstherapie. Exposition in vivo unter dieser Perspektive besser verstan- oder auch in sensu aktualisiert ja die Pro- den und wertgeschätzt fühlen. blematik im Hier und Jetzt und macht sie Ressourcen können natürlich auch daher auch im Detail genau beobachtbar gesucht und aktiv entwickelt werden. und aus der Innenperspektive des Patien- Ggf. hat der Patient aktuell „schlafende“ ten beschreibbar. Fähigkeiten, Interessen oder Kontakte, VuV2020-4 inhalt.indd 385 2021.02.10 09:06
386 Z arbock die in der Therapie darauf warten, reakti- brechen und neue begründen. Aber ein viert zu werden. Psychotherapieverfahren ohne Tradition Unter dem Aspekt des Aufbaus von und Lehr- und Lernkontexte wird es nicht Ressourcen ist die therapeutische Bezie- geben können. hung zum Therapeuten oder zu einer Die Propagierung und Entwicklung ei- Therapiegruppe zentral. Durch Regelmä- ner „integrativen Therapie“ ist tendenziell ßigkeit, den festen und geschützten Rah- aber versucht, genau das zu unterneh- men, die Angebote von Sicherheit und men. Ein solches Unterfangen ist damit Vorhersagbarkeit, durch sozialen Kontakt konfrontiert, dass es eben nicht gelingen und soziale Verstärkung kann die Thera- kann, kontextfrei das Beste aus allen Ver- pie und die Therapeutin selbst eine wich- fahren zuerst zu isolieren und dann zu tige Ressource im Leben des Patienten integrieren, um damit wirksamer als alle werden. Ausgangsverfahren zu werden. Und dies aus dem einfachen Grunde, dass Psycho- therapieverfahren immer organisierte und Verfahrensdialog, Erfahrungen und Kompetenzen organisie- Verfahrensintegration rende Gesamtheiten sind, also sowohl in und Kontextbindung einem spezifischen historischen wie sozi- alen Kontext entstanden sind und auch in Generell gilt, dass verfahrenseigenge- einem solchen aktuell gelehrt und gelernt setzliche Überlegungen und Vorgehens- werden. weisen erhalten bleiben müssen, da sie Weiterhin werden Verfahren auch oft einen sehr langjährigen praktisch-kli- durch einen spezifischen Anwendungs- nischen, oft aber auch noch zusätzlich kontext, die Angebote und Regulari- wissenschaftlich empirisch überprüften en des jeweiligen Gesundheitssystems, Erfahrungsschatz darstellen. Auch gilt durch das vorherrschende Inanspruch- für Therapieverfahren, dass sie nicht nur nahme-Verhalten und die Behandlungs- in ihrer Anwendung kontextabhängig erwartungen wie auch die Finanzierungs- wirken, sondern eben auch kontextge- möglichkeiten erheblich beeinflusst. bunden, innerhalb spezifischer wissen- Kurz gesagt: Psychotherapie sowohl als schaftlich-therapeutischer Traditionen zu erlernendes Handwerk als auch als und Institutionen vermittelt, gelehrt und ausgeübte Heilkunde ist in besonderem gelernt werden müssen (Senf & Broda, Maße kontextabhängig. Das fängt schon 2000). bei den jeweiligen Begrifflichkeiten der Psychotherapie ist eben auch in ihren Therapieschule an und umfasst das ex- Professionalisierungsprozessen kontext- plizite wie implizite Menschenbild der sensitiv. Ich kann ein Psychotherapie- Therapieschule ebenso wie Professionali- verfahren eben nicht aus seinen Vermitt- sierungs- und persönliche Entwicklungs- lungskontexten herauspräparieren, in der prozesse der Therapeuten und die „tra- Hoffnung es dann noch effektiver vermit- gende“ Institution als Ort der Vermittlung teln zu können. Wie ein Gehirn alleine und des Austausches. nicht ohne den Körper existieren kann, Wenn es nun keine „das Beste aller kann auch ein Psychotherapieverfahren Welten“ vereinigende „Supertherapie“ nicht ohne vermittelnde Institutionen mit geben kann, kann es für den einzelnen ihren Traditionen existieren. Sicher, man Therapeuten doch sinnvoll und möglich kann Institutionen verändern oder neu sein, verfahrensübergreifende Perspek- gründen, man kann mit alten Traditionen tiven im Sinne einer Multiperspektivität VuV2020-4 inhalt.indd 386 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 387 zu entwickeln, also z. B. mit anderen Psy- zeitvergleich postulieren (Zimmermann chotherapieverfahren in einen neugieri- et al., 2015). gen und (selbst-)kritischen Dialog zu tre- Eine Erklärung für das Dodo Bird-Ver- ten. dikt („Alle haben gewonnen und kriegen Ausgangspunkt einer solchen Multi- einen Preis“) bei hinreichend langen The- perspektivität können die „Begrenzungs- rapieverläufen liegt sicherlich auch in der erfahrungen“, die man mit jedem Verfah- so genannten adaptiven Indikation. Das ren machen kann, sein: In der VT ändert bedeutet, dass Therapeuten und Patienten sich z. B. eine Problematik trotz aller An- die Möglichkeiten nutzen, im Therapie- leitung und Übung, in der TP trotz aller verlauf Interventionen, aber auch die Ge- Einsicht und allen emotionalen Durchar- staltung der therapeutischen Beziehung beitens nicht. den jeweiligen Erfordernissen anzupas- Auch zeigen Ergebnisse der Psycho- sen. Der Therapeut und auch der Patient therapieforschung, dass ein klarer und sind aktive Teilnehmer in dem Therapie- vor allem eindeutiger Wirksamkeitsun- prozess und werden bei impliziter Rück- terschied zwischen den Verfahren ent- meldung (subjektive Verlaufswahrneh- weder nicht vorhanden ist oder nur eine mung durch Therapeut und Patient), wie sehr kleine Effektstärke bis maximal 0.3 auch durch explizite Rückmeldungen des erreicht. Eine Effektstärke, die somit meist Verlaufes (Einsatz von psychometrischen die Größenordnung des Allegiance-Ef- Verfahren oder Zielerreichungsskalen) fektes (= Verfahrensorientierung der Stu- oder auch durch zusätzliche Supervision dienleitung, pro domo Ergebnisse der im Sinne einer Triangulierung der Pers- Studie) nicht überschreiten kann (Gra- pektive Schritte unternehmen, den The- we, Bernauer & Donati, 1990; Luborsky, rapieverlauf zu optimieren. Wenn sich Singer & Luborsky, 1975; Smith & Glass, herausstellt, dass bestimmte Therapiezie- 1977). le nicht erreicht werden können und sich Lambert (2013) stellt auch 20 Jahre das Allgemeinbefinden oder die Symp- später in der „Bibel der Psychotherapie- tomatik des Patienten nicht verbessern, forschung“, dem Handbook of Psycho- sondern verschlechtern, werden sowohl therapy and Behavior Change, das Glei- Therapeut, Patient und in vielen Studien che fest. eben auch die Supervisoren überlegen, woran das liegt und wie man das ändern „There is a strong trend toward no dif- kann. Insofern sind Psychotherapiepro- ferences between techniques or mo- zesse immer auch selbstrückkoppeln- des in amount of change produced, de Prozesse. Wenn Therapien auch nur which is counterbalanced by indica- „halbwegs gut“ laufen, werden sie auto- tions that, under some circumstances, matisch durch zwei Teilnehmer gestaltet, certain methods (generally cognitive- die sich um Lösungen bei etwaigen Prob- behavioral) or modes (family therapy) lemen und um eine verbesserte Zielerrei- are superior.“ (S. 195, unten) chung aktiv bemühen. Weiterhin zeigt ja die Psychothera- Dieser leichte „Vorsprung“ der CBT wird pieforschung, dass ein großer Teil der Er- aktuell von psychodynamisch orientier- folgs- oder Misserfolgsvarianz überhaupt ten Forschern konterkariert, die z. B. eine nicht bekannt ist oder mit operationali- Überlegenheit psychoanalytischer Ver- sierenden Messverfahren statistisch nicht fahren gegenüber „CBT“ bei der Behand- erfasst werden kann (ca. 50%). Von den lung von depressiven Störungen im Lang- verbleibenden 50 Prozent sind wiederum VuV2020-4 inhalt.indd 387 2021.02.10 09:06
388 Z arbock ca. 25 Prozent der Varianz durch Varia- weisheiten“) darstellen oder sich sehr eng blen, die im Patienten liegen, wie z. B. an neuro- oder soziobiologischen Gege- Umstellungsfähigkeit, Chronizität der Er- benheiten anschließen. Zu den Truismen krankung, vorhandene Ressourcen etc. und Binsenweisheiten könnte man rech- bedingt (Lambert & Bergin, 1994). nen, dass eine entwürdigende, autoritäre Entweder überhaupt unbekannte Va- und herabsetzende Behandlung des Pati- riablen oder Variablen, die der Therapeut enten in der Regel keine positiven thera- nur sehr schwer bis gar nicht beeinflus- peutischen Effekte oder sonstige positive sen kann, beeinflussen das Therapiege- Verhaltensänderungen wird hervorrufen schehen statistisch gesehen (!) also im können. Weiterhin dürfte eine Ignoranz Ausmaß von 75 Prozent. Die verbleiben- der Ziele und Anliegen des Patienten für den 25 Prozent der Erfolgsvarianz, die den Therapieerfolg fast immer abträglich der Therapeut überhaupt noch beeinflus- (Bordin: bond, goal and tasks) sein und sen kann, verteilen sich auf die Realisie- auch eine große Unterschiedlichkeit der rung einer guten Arbeitsbeziehung (Pati- Lebenswelten von Therapeut und Pati- ent fühlt sich verstanden und es besteht ent, zumindest eine explizite Unkenntnis Einigkeit über Ziele und therapeutische und ein Unverständnis des Therapeuten Aufgaben bei einer hinreichenden Ver- für die soziale und gesellschaftliche Lage, trauensbeziehung), auf spezifische thera- in der sich der Patient befindet, dürf- peutische Techniken und darüber hinaus te ebenfalls nicht mit einem positiven auch auf positive Erwartungshaltungen Therapieverlauf einhergehen (Lambert, und Einstellungen des Patienten hinsicht- 2013). lich der Psychotherapie und seiner damit In Bezug auf die im weiten Sinne bio- verbundenen möglichen Veränderung. logisch fundierten Gesetzlichkeiten or- Wenn nun selbst durch über 50 Jahre ganismischen Erlebens und Verhaltens andauernde, durchaus gekonnte und ela- wären hier die Ergebnisse von Lern- und borierte Forschung keine grundsätzlich Gedächtnispsychologie anzusprechen, neuen und den Verfahrensstreit entschei- die berücksichtigt werden müssen. Bei denden Ergebnisse zu Tage gefördert extremer Unter- oder Übererregung kann werden konnten, sollte man daraus end- schlecht konstruktiv gelernt werden. Im lich Schlussfolgerungen ziehen. Es spricht Kontrast dazu können exzessive Überer- eben sehr viel dafür, dass Psychotherapie regungszustände mit Todesangst zur pa- besser und dem Gegenstand angemes- thogenen Hypermnesie führen. Konsoli- sener im Rahmen narrativer Wahrheiten dierung von Gedächtnisspuren brauchen und eben nicht experimenteller Ergebnis- in der Regel Wiederholungen. Belohnte se verstanden werden kann. Psychothe- Verhaltensweisen werden häufiger wie- rapieschulen wären also „Erzählungsrah- derholt, bestrafte unterdrückt. Aversi- men“, in die Patienten sozialisiert werden onsabfall als Verhaltenskonsequenz kann und in denen sie dann die Entstehung, die auch extrem maladaptive Reaktionen Aufrechterhaltung, aber auch die Thera- schnell fixieren. Auch entwicklungspsy- pie und die „Heilung“ ihrer Beschwerden chopathologische Befunde zur Auswir- erleben und erzählen können (Persuasion kung von frühen und massiven Mangel- and Healing; Frank & Frank, 1993). situationen und Schädigungen wären Gleichzeitig gibt es natürlich im Be- hier zu berücksichtigen. Aber selbst in reich des Psychischen quasi naturwissen- diesem Bereich können solche Befunde schaftliche Befunde und Prozesse, die nur Orientierungspunkte sein. Bekann- sich aber entweder als Truismen („Binsen- terweise ist eine Retrognose fast immer VuV2020-4 inhalt.indd 388 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 389 leicht. Man kann im Rückblick immer retisch konzeptuell und auch statistisch Erklärungen in dem Sinne von: „Wie es empirisch stützbare Überlegungen und dazu kam, dass …“, finden. Eine Progno- Anweisungen für eine „gute Praxis“, die se, die mit großer Sicherheit angibt, dass immer auch selbstkritisch reflektierte Pra- unter diesen Anfangsbedingungen in ei- xis sein muss. nigen Jahren dieser Endzustand (z. B. der psychischen Erkrankung oder der psychi- schen Gesundheit) zu erwarten sei, lässt Fünf Prinzipien sich nur sehr schwer und sehr unsicher psychotherapeutischer stellen. Zu komplex ist das Feld, zu viele Handlungsorganisation Faktoren spielen eine Rolle und individu- als Hilfe zum Verfahrensdialog elle Resilienzen wie auch Vulnerabilitä- ten interagieren mit Risikofaktoren und Im Folgenden wird unter pragmatischen Schutzfaktoren und setzen Prozesse der Gesichtspunkten versucht, Vorgehens- Kompensation oder Dekompensation in weisen aus der Psychodynamik wie auch Gang. Vor allem dürften Metakognitio- aus der Verhaltenstherapie fünf Hand- nen wichtig sein: Wie stellt sich das Sub- lungsprinzipien zuzuordnen. Diese Prin- jekt zu dem Erlebten? Was bedeutet das zipien sollen es im Sinne einer Multiper- Erlebte? Hier kann der subjektive innere spektivität erleichtern, Erfahrungsschätze Dialog von entscheidender Bedeutung aus dem jeweils anderen Verfahren in die sein. eigene Diagnostik wie Therapiedurch- Dieses alles kondensiert sich nach führung einbeziehen zu können, ohne Meinung des Autors zu der Aussage, dass die Eigengesetzlichkeit und die traditio- es den Stein der Weisheit in der Psycho- nellen Kontexte des eigenen Verfahrens therapie eben nicht gibt und auch nicht aufgeben zu müssen. Dieses Vorgehen geben kann. Ebenso kann es auch kein ähnelt natürlich dem Versuch der Formu- „one fits all“ kostenoptimiertes Modell lierung von Bausteinen einer „Allgemei- einer Einheitspsychotherapie geben. Was nen Psychotherapie“. Es gilt aber: „Je ab- es jedoch geben kann, sind sowohl erfah- strakter man formuliert, desto ähnlicher rungsmäßig pragmatisch wie auch theo- werden sich alle psychotherapeutischen ● Prinzip Antwort ● Prinzip Erklärung ● ● ● Prinzip Prinzip Prinzip Deutung Umschreiben Training Abbildung: Die fünf Prinzipien VuV2020-4 inhalt.indd 389 2021.02.10 09:06
390 Z arbock Verfahren“. Auf dem höchsten Abstrakti- im Sinne der Beantwortung eines Bezie- onsniveau ist allen Psychotherapien ge- hungstests beantworten können. Prinzip meinsam, dass sie nicht-medikamentöse Antwort heißt auch, dass der Therapeut Heilungsangebote seelischer, psychoso- den Patienten „wirklich sieht“ und sich in matischer wie psychosozialer Störun- den Worten von Gerd Rudolf (2013) fle- gen durch sprachliche oder zumindest xibel einmal an die Seite des Patienten sprachgeleitete Interventionen sind. Je stellen kann, um mit ihm gemeinsam ein konkreter man dann aber wird, desto un- Problem zu lösen, einmal sich dem Pa- terschiedlicher sind die psychotherapeu- tienten zuwendet, um ihn auch zu kon- tischen Vorgehensweisen in ihren Men- frontieren oder aber emotional beant- schenbildern, ihren pathogenetischen wortend und bestärkend zu spiegeln und Grundannahmen, ihren Störungsmodel- das andere Mal sich hinter den Patienten len, den Therapiezielen und den spe- stellen kann, um ihm den Rücken zu stär- zifischen therapeutischen Settings und ken, ihn anzuleiten und zur Autonomie Interventionen, mit denen diese Ziele er- zu ermutigen. Im Ausnahmefall sollte sich reicht werden sollen. Die im Folgenden der Therapeut auch vor den Patienten vorgestellten Prinzipien verstehen sich als stellen können, um ihn vor institutionel- „bottom up“ generierte Heuristiken zum len oder anderen Zumutungen aktiv zu Dialog zwischen der VT und den psy- schützen, z. B. durch die Ausstellung von chodynamischen Verfahren. Ob der An- Gutachten oder im ärztlichen Bereich spruch eingelöst werden kann, dass diese auch durch Krankschreibungen. Prinzipien praxisnäher sind als die Gra- Zum Prinzip Antwort gehören natür- weschen Perspektiven, und daher einen lich auch Konzepte wie die komplemen- konkreteren Austausch im Verfahrensdia- täre Beziehungsgestaltung, die Reflexion log VT-TP/PA ermöglichen, muss der Le- von sozialen Interaktionen durch den ser beurteilen. Kiesler Kreis und der Einsatz von Validie- rungstechniken. Erstens: Das Prinzip Antwort Zweitens: Das Prinzip Erklärung Dieses Prinzip (Heigl-Evers & Heigl, 1973, 1983, 1991; Heigl-Evers & Nitzsch- Dieses Prinzip soll das Grundbedürfnis ke, 1991) macht deutlich, dass der Patient nach Orientierung und Kontrolle befrie- in seiner Notlage eine Antwort möchte, digen. Psychische Störungen stellen im- braucht und auch verdient. Das Prinzip mer eine Form des Kontrollverlustes dar. Antwort geht davon aus, dass beim Pa- Eine Erklärung im Sinne einer Psycho- tienten in einer psychischen Krise das edukation hilft dabei, die unverstande- Bindungssystem aktiviert ist. Und je ne psychische Symptomatik symbolisch nach Bindungsmuster kann es entweder wieder in den eigenen Lebenskontext, zur Anlehnungssuche, zum ambivalen- aber auch in die eigene Lebensgeschich- ten Schwanken zwischen Hoffnung und te einzugliedern. Vorher nur bedrohend Misstrauen oder aber auch zu primär und als unverständlich erlebtes Befinden misstrauisch geprägtem Kontrollverlust- wird nun durch die Besprechung und die und Schädigungsängsten in Bezug auf die Erklärungen in der Therapie verstanden. Therapie kommen. Alle diese initialen Die „verstörende“ Symptomatik („seeli- Angebote sollte der Therapeut entspre- scher Fremdkörper“, „Kontrollverlust“) chend erkennen und auch kompetent, wird wieder in einen sprachlich vermit- VuV2020-4 inhalt.indd 390 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 391 telten Sinnzusammenhang eingegliedert. der Abwehr, den maladaptiven Bewälti- Zum Prinzip Erklärung gehören die Psy- gungsmodi, den Ängsten, Aggressionen choedukation, das gemeinsame Erstel- oder anderen als aversiv empfundenen len eines Störungsmodells oder die Mit- Emotionen oder Empfindungen steht. Ei- teilung von Ergebnissen diagnostischer nen großen Raum wird auch die soge- Interviews und psychometrischer Instru- nannte genetische oder rekonstruktive mente. Erklärung ist eher „top down“ or- biographische Deutung einnehmen. Hier ganisiert und erklärt das Individuelle als wird es darum gehen, gegenwärtiges Er- Spielart oder Beispiel des Allgemeinen. leben und Verhalten auf biographisch verankerte Motive, Schablonen oder Drittens: „Wiederholungszwänge“ zurückzufüh- Das Prinzip Deutung ren. Auch die Idee der vertikalen Ver- haltensanalyse mit der Formulierung von (Vgl. Heigl-Evers & Heigl, 1973, 1983, Annäherungs- und Vermeidungszielen 1991; Heigl-Evers & Nitzschke, 1991.) kann man dem Prinzip Deutung zuord- Deutungen deuten, d. h., Zeichen wer- nen. Auch das Vorgehen, in bestimmten den als „Anzeichen für etwas“, als „Hin- Situationen Grundannahmen, Lebensbot- weise auf etwas“ ausgelegt. Deutungen schaften oder Schemata als aktiviert und stellen oft auch kausale („warum“) und somit als Erlebnis bestimmend zu sehen, finale („wozu“) Zusammenhänge her. ist eine Form der Deutung. Im Vergleich Aus dem erst einmal unstrukturierten zur Erklärung ist eine Deutung also eher Material des Patienten werden in einem ein „bottom up“-Prozess. Aus der Viel- ersten Schritt durch Klarifikation (Nach- fältigkeit von individuellen Erfahrungen fragen, Vergenauern, Fokussieren) rele- werden schrittweise übergeordnete in- vante Themen herausgearbeitet. Ganz dividuelle Themen oder Motive kristal- so, wie in der qualitativen Inhaltsanalyse lisiert, die die Vielfalt des Erlebten unter von Interviews wiederkehrende Themen eine Überschrift stellen und so ordnen erst erkannt und dann benannt werden. und zusammenfassen können. In einem zweiten Schritt – der so genann- ten Konfrontation – kann der Patient dann Viertens: mit Widersprüchlichkeiten in seiner Schil- Das Prinzip Umschreiben derung oder seinem Erleben und Ver- halten (Ambivalenzen und Tendenzen) Das Prinzip des Umschreibens ist ein aus konfrontiert werden. Außerdem können der Gedächtnispsychologie abgeleitetes Wahrnehmungs- oder Handlungslücken Prinzip, dass auf der Grundüberlegung aufgezeigt werden. In einem nächsten beruht, dass das Gedächtnis kein Foto- Schritt kann der Patient auch mit malad- album und auch kein Lagerhaus ist, in- aptiven Bewältigungsmechanismen im dem die Lebenseindrücke unbeeinflusst Sinne einer Abwehrdeutung konfrontiert aufbewahrt werden. Vielmehr wird jede werden. Hier ist es möglich, dass der Erinnerung bei jedem Wiederabruf („Er- Therapeut bestimmte Weisen der Erleb- innern der Erinnerung“) verändert (Zar- nisschilderung oder der Erlebnisgestal- bock, 1994). Man geht davon aus, dass tung als Abwehr herausstellt oder – im Gedächtnisinhalte in passager schnell Sprachgebrauch der Schematherapie – (de-)aktivierbaren neuronalen Netzwer- den maladaptiven Bewältigungsmodi zu- ken über ein größeres Hirnareal hinweg, ordnet. Gemeinsam mit dem Patienten wohl auch immer unter Beteiligung sub- kann dann untersucht werden, was hinter kortikale Hirnareale, kodiert sind. Somit VuV2020-4 inhalt.indd 391 2021.02.10 09:06
392 Z arbock sind sie also immer auch von den jewei- Sulz, 2004). Auch dieses hat regelhaft ligen Co-Aktivierungen des Hirns, die bei einen Trainingsaspekt. Der Aspekt des der Abrufsituation („recall“) vorliegen, Trainings impliziert zielorientiertes Wie- beeinflussbar („neurons that fire together, derholen und dies so lange, bis ein vor- wire together“). her formuliertes Zielkriterium möglichst Diese Grundüberlegungen und der auch erreicht worden ist. Für die klassi- Befund, dass real erlebtes und imaginier- schen verhaltenstherapeutischen Ansätze tes Geschehen quasi identische Hirnare- des Kompetenztrainings liegt der Begriff ale aktivieren, legt es nahe, ungünstige des Trainings natürlich schon im Namen. oder traumatisierende Erfahrungen noch Auch bei Expositionstherapie geht es um einmal intensiv in der Vorstellung nach- ein Training von Annäherungsverhalten. erleben zu lassen und während dieses Wenn wir das Konzept des Inhibitionsler- Nacherlebens dann hilfreiche, emotions- nens zugrunde legen, geht es dann im- regulierende, bewertungsverändernde mer auch um ein Training der Inhibition und auch aversionsinkompatible Inhal- im Anblick eines ursprünglich angstaus- te zu imaginieren. Das Prinzip des Um- lösenden Stimulus. Auch das wiederhol- schreibens soll nicht die ursprüngliche te Einüben von Selbstinstruktion oder die Erinnerung „verfälschen“, sondern da- Umstrukturierung negativer Gedanken bei helfen, dass aus der intensiv erlebten nach dem ABC-Modell (Ellis) enthält in Ursprungs-Erfahrung extrahierte, überge- dem Punkt der Disputation, des D, ex- neralisierte Selbst-und Situations-Bewer- pliziert den Trainingsaspekt. Training und tungen und Kausalattributionen und kon- Übung liegen natürlich begrifflich nahe ditionierte Reaktionen „zurückgebaut“ bei einander. Übung ist Wiederholung, werden können. Unter diesem Prinzip möglichst bis man „es“ kann. Training be- des Umschreibens sind besonders die inhaltet darüber hinaus noch abgestufte therapeutischen Techniken der Expositi- Anforderungen und die Zerlegung kom- on in sensu, der emotional imaginativen plexer Anforderungen in Teilkomponen- Umstrukturierung, des Imagery Rescrip- ten, die erstmal einzeln und unter sehr ting und Reprocessing, des EMDR und spezifischen Bedingungen isoliert ange- vergleichbare Ansätze zu fassen. leitet und gestuft geübt werden können (das „chaining“ und „shaping“ der VT; Fünftens: Maercker, 2009). Das Prinzip Training Das Prinzip Training ist ebenfalls ein ver- Zusammenfassung fahrensübergreifendes Prinzip. In der Tie- und Diskussion fenpsychologie und der Psychoanalyse gibt es das Konzept des Durcharbeitens. Die vorgestellten fünf Prinzipien können Auch einmal bewusst gewordene Kon- in Therapieplanung, Therapiedurchfüh- flikte oder Defizite müssen immer wieder rung, Selbstreflexion und Supervision im therapeutischen Prozess, möglichst helfen. Mit der Verwendung der fünf The- in der Übertragung zwischen Therapeut rapieprinzipien können wir auch immer und Patient, aber auch in der so genann- fragen, wie das jeweils andere Verfahren ten Außenübertragung, in den szeni- dieses Prinzip realisiert. Kommen wir mit schen Konstellationen in der Außenwelt, unserem eigenen Verfahren an Grenzen erzählt, analysiert und durchgearbeitet oder wollen wir unser eigenes diagnosti- werden (Hiller, Leibing, Leichsenring & sches und therapeutisches Repertoire er- VuV2020-4 inhalt.indd 392 2021.02.10 09:06
Verhaltenstherapie und Psychodynamische Therapien 393 weitern, können wir dies durch die Prin- meldung? Oder aber wird – wie in der zipien geleitet tun. Die fünf Prinzipien Kindererziehung – durch Vorbild, Teilha- eröffnen aus der therapeutischen Praxis be und implizite und explizite Rückmel- „bottom up“ ebenso wie die Graweschen dungen und Anleitungen „geübt“? Perspektiven aus der Perspektive der Psy- Die vorgestellten fünf Prinzipien und chotherapieforschung „top down“ einen die Graweschen Perspektiven können Blick für das Gemeinsame oder zumin- uns helfen, das zu tun, was Schoen (1983) dest Ähnliche des therapeutischen Han- in seinem Konzept „reflection in action“ delns von Verhaltenstherapie und der und „reflection on action“ nennt. Zur psychodynamischen Verfahren. Handlungssteuerung während unserer Gleichzeitig werden die Unterschie- Handlungen brauchen wir gute und ge- de verschiedener Vorgehensweisen aber übte Routinen, damit wir uns ganz in den sehr deutlich. Moment der therapeutischen Interaktion Wird z. B. die therapeutische Bezie- „loslassen“ können. Hier können die fünf hung aktiv reflektiert und gestaltet, ggf. Prinzipien helfen, sich sicher in einem als „Antwort“ konzipiert? Oder herrscht Handlungsgebiet zu bewegen oder aber strikte Neutralität und Abstinenz? Oder zu bemerken, wann man „in einen ande- ist die Beziehung eher als Lehrer-Schüler- ren Topf“ greifen muss, d. h. die Prinzipi- oder Coach-Coachee-Beziehung defi- en und Heuristiken seines aktuellen Han- niert? delns ändern muss. Dieses Reflektieren Erhält der Patient viel Informationen in Aktion muss aber nach der Entlastung und Erklärungen im Sinne des „informed vom akuten Handlungsdruck, nach unse- consent“? rem „Einsatz“, immer auch ergänzt wer- Wie wird gedeutet? Was sind die je- den können durch eine Reflexion nach weiligen (hermeneutischen) Hintergrün- der und über die Aktion („reflection on de und theoretischen Modelle, von de- action“). nen Deutungen abgeleitet werden? Wie Hierzu ist der ideale Ort – neben der stark spielt hier die Biografie eine Rolle? Selbstreflexion – auch die Supervision. Wie werden reale Erfahrungen und Trau- Die Supervision in einem Kreis von in- mata im Vergleich zur subjektiven Verar- teressierten Kollegen mit einem fachlich beitung oder gar phantasierenden Verzer- versierten Anleiter gehört zur verantwort- rungen berücksichtigt? Sind Emotionen, lichen Durchführung gerade auch multi- Motive, Identitäten, wichtige Beziehun- perspektivisch ausgerichteter Therapie gen in Vergangenheit und Gegenwart ex- stile und -vorgehensweisen unverzichtbar plizite Bezugspunkte der Deutungsarbeit? hinzu (Zarbock, 2016). Wird das Konzept des Umschreibens Gerade multiperspektivische Thera- explizit genutzt und technisch durch piekonzepte betreten ja oft Neuland oder Übungen angesteuert? Oder wird ver- bewegen sich in einem Gebiet mit vielen sucht durch eine emotional intensive und Freiheitsgraden bei der Wahl diagnosti- empathische Beziehung die Problemge- scher und therapeutischer Alternativen. nese in Form von Reaktivierungen und Auch hier können sowohl Grawes Pers- Reinszenierungen wieder zugänglich und pektiven wie auch die vorgestellten fünf somit auch umschreibbar zu machen? Handlungsprinzipien durch ihre Begriff- Welche Rolle spielen Übungs- und lichkeiten helfen, Prozesse präzise zu be- Trainingsaspekte? Gibt es Hausaufgaben schreiben und zu reflektieren. und explizite Übungsanleitungen oder Die Einbettung der vorgestellten gar modellierte live Übungen mit Rück- Überlegungen in die wissenschaftstheo- VuV2020-4 inhalt.indd 393 2021.02.10 09:06
394 Z arbock retischen Vorüberlegungen macht auch Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1983). Das interak- deutlich, dass man der Verantwortung tionelle Prinzip in der Einzel- und Grup- für begründete, aber trotzdem letztlich penpsychotherapie. Zeitschrift für psycho- nicht zwingende Entscheidungen und somatische Medizin und Psychoanalyse, Auswahlen („es ginge immer mit guten 29 (1), 1–14. Gründen auch anders“) nicht ausweichen Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1994). Das Göt- kann. Psychotherapie sollte sich immer tinger Modell der Anwendung der Psy- bewusst sein, dass ihre Entscheidungen choanalyse in Gruppen unter besonderer zwangsläufig Entscheidungen unter Unsi- Berücksichtigung der psychoanalytisch-in- cherheit sind. Trotzdem sollte therapeuti- teraktionellen Methode. Gruppenpsycho- sches Handeln aber immer Handeln mit therapie und Gruppendynamik, 30, 1–29. ganzem Herzen sein. Heigl-Evers, A. & Nitzschke, B. (1991). Das Prinzip „Deutung“ und das Prinzip „Ant- wort“ in der psychoanalytischen Therapie. Literatur Anmerkungen zur theoretischen Begrün- dung zweier therapeutischer Angebote, Esser, H., Klenovits, K. & Zehnpfennig, H. die an unterschiedliche Patientengruppen (1977). Probleme der wissenschaftlichen gerichtet sind. Zeitschrift für psychosoma- Erklärung: das HEMPEL-OPPENHEIM- tische Medizin und Psychoanalyse, 37 (2), Schema. In H. Esser, K. Klenovits & H. 115–127. Zehnpfennig (Hrsg.), Wissenschaftstheorie Hiller, W., Leibing, E. R. I. C., Leichsenring, F. (S. 101–121). Wiesbaden: Vieweg + Teub- & Sulz, S. K. (2004). Lehrbuch der Psycho- ner. therapie für die Ausbildung zur/zum Psy- Frank, D. F. & Frank, J. B. (1993). Persuasion chologischen PsychotherapeutIn und für and healing (4th ed.). Baltimore: Johns die ärztliche Weiterbildung (Bd. 2). Mün- Hopkins University Press. chen: CIP. Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Holtforth, M. G. (2017). Was ist Problemaktu- Göttingen: Hogrefe. alisierung. Psychotherapeut, 62 (2), 77–82. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göt- Kuhn, T. S. (1996). Die Struktur wissenschaftli- tingen: Hogrefe. cher Revolutionen (13. Aufl.). Frankfurt am Grawe, K., Bernauer, F. & Donati, R. (1990). Main: Suhrkamp. (Deutsche Erstauflage Psychotherapien im Vergleich: Haben 1967) wirklich alle einen Preis verdient? Psycho- Lambert, M. J. (2013). The efficacy and effec- therapie, Psychosomatik, Medizinische tiveness of psychotherapy. In M. J. Lambert Psychologie, 40 (3–4), 102–114. (Ed.), Bergin and Garfield’s handbook of Grawe, K. & Grawe-Gerber, M. (1999). Res- psychotherapy and behavior change (pp. sourcenaktivierung. Psychotherapeut, 44 169–218), Hoboken, NJ: Wiley & Sons. (2), 63–73. Lambert, M. J. & Bergin, A. E. (1994). The Grosse Holtforth, M. & Grawe, K. (2004). effectiveness of psychotherapy. In A. E. Inkongruenz und Fallkonzeption in der Bergin & L. Garfield (Eds). Handbook of Psychologischen Therapie. Verhaltensthe- psychotherapy an behavior change (pp. rapie & Psychosoziale Praxis, 36 (1), 9–21. 143–189). Hoboken, NJ: Wiley & Sons. Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1973). Gruppenthe- Loannidis, J. P. (2005). Why most published rapie: interaktionell – tiefenpsychologisch research findings are false. PLoS Medicine, fundiert (analytisch orientiert – psycho- 2 (8), e124. analytisch). Gruppenpsychotherapie und Luborsky, L., Singer, B. & Luborsky, L. (1975). Gruppendynamik, 7 (2), 132–157. Comparative studies of psychotherapies: Is VuV2020-4 inhalt.indd 394 2021.02.10 09:06
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