Vom Anfang und Ende der Lieferkette - Erfahrungen im Kampf gegen Agrobusiness und Supermarktmacht zwischen Almería und Berlin - Interbrigadas

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Vom Anfang und Ende der Lieferkette - Erfahrungen im Kampf gegen Agrobusiness und Supermarktmacht zwischen Almería und Berlin - Interbrigadas
Vom Anfang und Ende
der Lieferkette
    Erfahrungen im Kampf gegen Agrobusiness und Supermarktmacht
                                      zwischen Almería und Berlin
Vom Anfang und Ende der Lieferkette - Erfahrungen im Kampf gegen Agrobusiness und Supermarktmacht zwischen Almería und Berlin - Interbrigadas
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | EDITORIAL

EDITORIAL

Interbrigadas gibt es seit 2007 als eingetragenen und gemeinnützigen Verein.
Wir sind eine Gruppe junger Menschen aus Berlin und engagieren uns im
Bereich des politischen und kulturellen Austausches zwischen Europa und
Lateinamerika mit internationalistischem Anspruch.

Motiviert durch die hoffnungsvolle Bolivarische Revolution in Venezuela
organisierten wir damals noch als Schüler*innen Brigaden, deren Anspruch
es war die stattfindenden Prozesse in Basisstrukturen zu unterstützen und
von ihnen zu lernen. Angesichts der Entwicklungen in Venezuela hat sich
der Fokus unserer praktischen Solidarität nun verschoben und wir haben im
Rahmen einer Zusammenarbeit mit der andalusischen Landarbeiter*innenge-
werkschaft SOC-SAT begonnen, auch in Europa stärker aktiv zu werden.

Die Arbeit und Erfahrungen in Andalusien sind anders als in Venezuela. Es
handelt sich um keinen umfassenden gesellschaftlichen Prozess, sondern es
sind wenige Akteur*innen, die sich dort gegen den enormen sozialen, ökono-
mischen sowie rassistischen Druck auf die Tagelöhner*innen in der Land-
wirtschaft stemmen. In ihrer Arbeit spiegeln sich äußerst deutlich die globalen
ebenso wie die innergesellschaftlichen Missstände unserer Zeit wider, vor
deren Mitverantwortung wir uns in Europa nicht verstecken können. Die
weißen Gewächshausdächer im Osten Andalusiens sind nicht nur aus dem
Weltraum sichtbar, sondern für eine wachsende europäische Öffentlichkeit
zum Symbol für unmenschliche Arbeitsbedingungen in der Agrarindustrie
geworden. In regelmäßigen Abständen besuchen Journalist*innen die chabolas,
die informellen Siedlungen am Rande der Plantagen, und zeigen Schmutz,
Armut und Perspektivlosigkeit. Seltener berichten sie davon, dass die Arbei-
ter*innen des Plastikmeers aufbegehren und sich organisieren: gegen Löhne
unter dem Existenzminimum, Vergiftungen durch Pestizide und rassistische
Diskriminierung. Und noch seltener geht es um das Wirtschaftssystem mit
seinen Profitinteressen, das diese Situation hervorgebracht hat und erhält.
EDITORIAL | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

Stein des Anstoßes für diese Broschüre gab die Tagung des Europäischen
BürgerInnenforums (EBF) am 7.2. und 8.2.2020 in Bern, Schweiz, anlässlich
des 20. Jahrestages der rassistischen Pogrome in El Ejido, dem Zentrum der
intensiven Landwirtschaft Andalusiens. Wir wollen auf den folgenden Seiten
unserer eigene theoretische und praktische Arbeit in Almería darstellen und
reflektieren sowie daraus gewonnene Fragen und Erkenntnisse vermitteln.

Die hier in der Broschüre versammelten Beiträge lassen sich in ihrer
Vielfalt der Formate und Schwerpunkte als eine Art Kaleidoskop unserer
Arbeit verstehen.

Die Beiträge wurden von unterschiedlichen Personen, mit verschiedenen
Wissens- und Erfahrungsständen erarbeitet und verfasst. Einige waren mehr-
mals mit Brigaden vor Ort in Almería, andere nahmen wichtige Rollen bei
der Arbeit in Berlin ein. Die Texte spiegeln daher eine Vielzahl an Perspek-
tiven wider, erfüllen dabei ganz unterschiedliche Funktionen und zeichnen
somit nicht zuletzt auch die Spannweite der Arbeit zwischen Almería und
Berlin nach. Was sie eint, ist unsere transnationale, internationalistische und
aktivistische Perspektive auf die Bedingungen der kapitalistischen Obst- und
Gemüseproduktion an der europäischen Außengrenze in Almería.
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | INHALT

 INHALT
     EDITORIAL

4    DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS
     HINTERGRÜNDE ZUR MIGRANTISCHEN ARBEIT IN DEN GEWÄCHSHÄUSERN
     VON ALMERÍA

10   WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT?
     20 JAHRE NACH DEN RASSISTISCHEN AUSSCHREITUNGEN IM PLASTIKMEER
     VON ALMERÍA
     GASTBEITRAG DES EUROPÄISCHEN BÜRGERINNENFORUMS (EBF)

18   UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN
     ÜBER DAS ZUSAMMENSPIEL VON UNTERNEHMEN, POLITIK UND
     ZERTIFIZIERERN

25   WIE UNTERNEHMEN SYSTEMATISCH ARBEITSRECHTE UNTERGRABEN

30   DER KAMPF FÜR LAND UND FREIHEIT IN ANDALUSIEN GEHT WEITER
     INTERVIEW MIT JOSÉ GARCÍA CUEVAS, SPRECHER DER SAT ALMERÍA

36   EIN GESETZ GEGEN AUSBEUTUNG IM GEWÄCHSHAUS?
     INITIATIVE LIEFERKETTENGESETZ

41   ETHISCHER KONSUM QUO VADIS?
     WARUM UNS BIO UND FAIRTRADE NICHT RETTEN WERDEN

48   TRADITION(EN) DER BEWEGUNG
     GEMEINSAM BESETZEN, PRODUZIEREN UND SICH SOLIDARISIEREN
     INTERVIEW MIT CURRO MORENO, EINEM SPRECHER DER SAT JAÉN

53   FOTOREIHE – CERRO LIBERTAD
     ANALOGE FOTOGRAFIEN, ENTSTANDEN IM FEBRUAR 2018

60   ZWISCHEN WELTWÄRTS UND WELTREVOLUTION
4        DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

                    DAS PLASTIKMEER AM
                    RANDE EUROPAS
                    Hintergründe zur migrantischen Arbeit in den Gewächshäusern von Almería
                    Yoki

                                                                                                      Níjar
                                                                                                 Campohermoso

                                                                                                          San Isidro

                                                                                Almería

                                                                      Aguadulce

                  El Ejido                                     Roquetas de Mar
                       La Mojonera

                                                                                             0                20 km
Quelle: Junta de Andalucía (2019): „Ortofotografía Digital de Andalucía 2016“
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS   5

1. ERSTE EINDRÜCKE                                  Wildnis das industrielle Epizentrum der
                                                    europäischen Gemüseproduktion erschuf?
Wer zum ersten Mal in Almería ankommt,              Der aus armen Bäuer*innen teilweise wohl-
wird die gesammelten Eindrücke so schnell           habende Unternehmer*innen werden ließ
nicht vergessen: Die Abwechslung zwischen           und dafür ein neues Heer mittelloser Landar-
kargen Bergen, einladenden Stränden sowie           beiter*innen rekrutierte?
den weißen Plastikfolien, die die weiten
Ebenen dazwischen bedecken, wirkt gro-              2. HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER
tesk. Exklusive Resorts und Rückzugsorte            AGRARINDUSTRIE IN ALMERÍA
für betuchte Tourist*innen aus dem Euro-
päischen Norden grenzen abrupt an die               Ausgangspunkt für diesen strukturellen
öden Brachen inmitten der befremdlichen             Wandel war ein staatliches Programm in den
und anonymen Gewächshäuser, auf denen               1940er bis 60er Jahren, welches die weiten
sich der vom Wind zusammen gehortete                trockenen Gebiete des spanischen Staates im
Abfall sammelt. Abseits der Orte und Städte,        großen Maßstab kultivierbar machen sollte.
erreichbar nur über verzweigte Versor-              Dieses „Kolonisierungs“-programm stellte mit
gungswege, findet man auf diesen Brachen            großen Infrastrukturprojekten wie Stau-
kleine Hütten, errichtet aus dem umliegen-          dämmen und Bewässerungskanälen die Vor-
den Unrat. In diesen sogenannten chabolas           aussetzungen, um das Land urbar zu machen.
wohnen Menschen. Man ahnt es. Man ahnt              Das neu erschlossene Land wurde parzelliert
ebenso, dass keiner dieser Menschen in den          und an landlose Bäuer*innenfamilien aus
chabolas wohnen würde, wenn er oder sie             benachbarten Regionen vergeben. Die Regie-
eine Wahl hätte. Abhängig von Tages- und            rung Francos erhoffte sich davon einerseits
Jahreszeit findet man die Bewohner*innen            eine volkswirtschaftliche Produktions-
der chabolas ein- und ausrücken: Auffällig          steigerung in Zeiten außenpolitischer Iso-
Viele auf alten Fahrrädern, in notdürftig repa-     lation. Andererseits sollte die landlose
rierten und überfüllten Autos, in zweckhafter       Klasse befriedet und eine traditionalistische
Bekleidung. Was fällt noch auf? Keiner dieser       Vorstellung der bäuerlichen Familie beför-
Menschen spricht hier Spanisch. Keiner die-         dert werden. In diesem Zuge wurde auch
ser Menschen ist weiß.                              das damals größtenteils brachliegende Land
Noch in den 1950er Jahren gab es hier weder         in den Küstenebenen der Provinz Almerías
chabolas noch Gewächshäuser. Die Böden              unter Familien aus den abgelegenen Tälern
waren salzig, trocken und kaum kultivierbar.        der benachbarten Alpujarra-Berge aufgeteilt.
Heutige Großstädte, wie das knapp 100.000
Einwohner*innen zählende El Ejido, waren            Eine Reihe technologischer Innovationen
damals winzige Dörfer, kaum auf einer Karte         ermöglichte eine ungeahnte Produktivi-
verzeichnet.                                        tätssteigerung auf den Feldern Almerías:
                                                    Moderne Pumpanlagen zapften tiefliegende
Doch wie kam es zu diesem rasanten Wandel,          Grundwasserleiter an und stellten zusätzli-
der aus einer natürlichen aber unwirtlichen         ches Wasser für die Bewässerung bereit; auf
6     DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

    die natürlich kargen Böden wurde im soge-               Gemüseanbau, Ernte und Abpackung. In der
    nannten „Enarenado“-Verfahren eine Schicht              Region Almería machte man sich die Lage an
    von künstlich hergestelltem oder andernorts             der europäischen Außengrenze zunutze und
    abgebautem Mutterboden aufgetragen;                     rekrutierte seit den 90er Jahren vorwiegend
    außerdem wurde durch die Errichtung von                 Menschen vom afrikanischen Kontinent für
    Plastikgewächshäusern eine weitgehende                  diese Arbeiten. Auf diverse Art und Weise
    Kontrolle der klimatischen Bedingungen für              wurde die Situation dieser Menschen als
    das Pflanzenwachstum erlangt. Im Zusam-                 Nicht-EU-Bürger*innen, Nicht-Weiße sowie
    menspiel dieser Technologien war es nun                 oftmals als Nicht-Spanischsprachige und als
    möglich für verschiedenste Gemüsesorten                 Frauen ausgenutzt, um die Arbeitskraft als
    mehrere Ernten pro Jahr einzufahren.                    Ganze zu flexibilisieren und zu disziplinieren.
                                                            Dadurch konnten Lohnkosten auf verschie-
    Nachdem Spanien 1986 der Europäischen                   denste Weisen reduziert werden [Arbeits-
    Gemeinschaft beigetreten war und sich im                rechtsverletzungen S.25].
    wohlhabenden Norden des Kontinents große                Die Lohnkosten bildeten den größten Anteil
    Supermarktketten im Einzelhandel hervor-                der Produktionskosten. Ihre Regulierung
    taten, eröffnete sich ein rasch wachsender              hatte somit maßgebliche Auswirkung auf die
    Absatzmarkt für die Erzeugnisse der Alme-               Konkurrenzfähigkeit der Produkte und des
    rienser Landwirtschaft. Der Fokus wechselte             Standorts Almería auf einem globalisierten
    von der Versorgung des Binnenmarktes hin                Markt.
    zur Exportwirtschaft. Es folgten knapp zwei
    Jahrzehnte ununterbrochenen Wachstums.                  Das weitere Wachstum des Anbaus wird
    Zusammen mit einem Anwachsen eines gan-                 seitdem zunehmend von größeren Betrie-
    zen Industrieclusters, das um Gemüseanbau,              ben getragen, die Anbau, Verpackung und
    -verpackung und -vermarktung entstand,                  Vermarktung unter einem Dach und oftmals
    erlebte die Provinz Almería, das vormalige              einer Marke vereinen. Durch Skaleneffekte
    Armenhaus Spaniens, einen beispiellosen                 erreichen sie geringere Produktionskosten
    Boom. Zur selben Zeit erlebten auch die                 und können die Schwankungen der volatilen
    Finanz-, Dienstleistungs- und Bauindust-                Marktpreise besser ausgleichen. Die Klein-
    rien in Spanien einen großen Aufschwung.                bäuer*innenfamilien, die dem Wachstum
    Es entstand eine Vielzahl an Arbeitsplätzen,            einst den Weg bereiteten, können heute nur
    die mit besseren Arbeitsbedingungen und                 erschwert dem Preisdruck der Großabneh-
    Gehältern die nachwachsenden Generationen               mer standhalten und finden sich selbst immer
    der Kleinbäuer*innenfamilien in die großen              öfter in prekären Bedingungen wieder.
    Städte lockte.
                                                            3. STRUKTURELLE ABHÄNGIGKEITEN DER
    Diese Entwicklungen schufen einen rasant                MIGRANTISCHEN ARBEITER*INNEN
    steigenden Bedarf an Arbeitskräften für die
    Verrichtung einfacher, aber schwer auto-                Neben der lokalen Nachfrage an Arbeitskräf-
    matisierbarer Tätigkeiten; vor allem bei                ten, sehen sich die migrierenden Menschen
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS   7

auch aus subjektiven Beweggründen sowie              Sowohl der arraigo social als auch die
ökonomischen, sozialen oder rechtlichen              contrataciones en origen machen die Men-
Notwendigkeiten veranlasst, in die Staaten           schen, die einen legalen Aufenthalt in Spanien
der EU einzuwandern. Den meisten Men-                anstreben, strukturell und persönlich abhän-
schen werden dafür kaum legale Möglichkei-           gig von ihren Chef*innen und Vorgesetzten,
ten eingeräumt. Das spanische Recht kennt            da sie auf deren Gunst angewiesen sind, um
jedoch Ausnahmen, die für viele Menschen             entweder ihre Verträge zu erneuern oder um
die einzigen Schlupflöcher bieten, an einen          einen Vertrag abzuschließen, während sie sich
legalen Aufenthaltsstatus in der EU zu gelan-        noch illegal in Spanien aufhalten. Zudem sind
gen.                                                 die Menschen im Falle des arraigo social
Der sogenannte arraigo social (etwa „soziale         darauf angewiesen, einen Zeitraum von
Verwurzelung“) sieht den Anspruch auf eine           mindestens drei Jahren in der Illegalität zu
Wohn- und Arbeitserlaubnis unter folgenden           leben.
Bedingungen vor:
  1. Nachweis von mindestens drei Jahren             Da die Region Almería und ihre lokale Indus-
     illegalen Aufenthalts in Spanien,               trie auf die Duldung dieser Praktiken ange-
  2. Freiheit von Vorstrafen,                        wiesen sind, agieren staatliche Einrichtungen
  3. einen gültigen Arbeitsvertrag von min-          tendenziell im Interesse des Unternehmer-
     destens einem Jahr.                             tums, indem etwa die Gewerbeaufsicht und
Vorherige Arbeitsverträge oder Lohnzah-              Gerichte unterbesetzt bleiben. Somit wird die
lungen können dabei als Nachweis für die             staatliche Kontrolle in ihrer Wirkmächtigkeit
Aufenthaltsdauer dienen.                             stark eingeschränkt und das Einklagen von
                                                     Rechten zu einem für die meisten Menschen
Eine andere Möglichkeit bieten die cont-             zu langwierigen Unterfangen. Damit werden
rataciones en origen (etwa „Einstellung im           den Migrant*innen die wichtigsten Mittel
Herkunftsland“): Im Rahmen von bilate-               genommen, um sich gegen Missbrauch und
ralen Abkommen werden Menschen als                   Entrechtung zu wehren.
Arbeitskräfte von lokalen Behörden und
Produzenten in Nicht-EU-Ländern für die              4. MARGINALISIERUNG, SEGREGATION UND
saisonale Arbeit in der spanischen Landwirt-         RASSISMUS
schaft rekrutiert. Sie erhalten eine vorläufige
Aufenthaltserlaubnis, die auf den Ort und            Auch im Alltagsleben abseits des Arbeitsplat-
die Dauer des Einsatzes beschränkt ist, nach         zes werden die migrantischen Arbeiter*innen
welchem sie zur Ausreise verpflichtet sind.          marginalisiert. Eine Wohnung in den Städten
Sie können für die Folgesaison jedoch auf            ist für Viele entweder kaum erschwinglich
Empfehlung des vormaligen Chefs wieder               oder wird aufgrund rassistischer Vorurteile
bevorzugt angeworben werden. Nach vier               der Vermieter*innen verwehrt. Es bleiben
gearbeiteten Saisons besteht Anspruch auf            staatliche Sozialwohnungen in abgelegenen
eine Wohn- und Arbeitserlaubnis.                     und als Ghetto stigmatisierten Vierteln der
                                                     Großstädte, wie etwa El Puche in Almería
8     DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

    oder Doscientas Viviendas in Roquetas de                lungen sind diese Praktiken den Behörden
    Mar. Diese werden von städtischen Infra-                bekannt und werden weitestgehend geduldet.
    strukturen wie Personennahverkehr, Mül-                 Dennoch kommt es gelegentlich zu Räumun-
    lentsorgung, Strom oder Straßenbeleuchtung              gen oder Ahndungen. Die migrantischen
    zeitweise oder dauerhaft abgeschnitten. Wer             Arbeiter*innen sind sowohl in der Produk-
    weder hier, noch in den eingangs erwähnten              tions- als auch in der Reproduktionssphäre
    chabolas wohnt, wird nicht selten in von den            der permanenten Unsicherheit ausgesetzt,
    Chef*innen bereitgestellten Schuppen,                   dass ihnen ihre Lebensgrundlage entzogen
    Garagen oder ehemaligen Bauernhäusern auf               werden könnte.
    abgelegenen Betriebsgeländen untergebracht.
    Dabei ist es üblich einen - oftmals überzoge-           Diese Erfahrungen von Ausgrenzung und
    nen - Teil des Lohns als Miete einzubehalten.           Ausbeutung werden begleitet von Alltagsras-
                                                            sismus in verschiedenen Ausdrucksformen,
    Die Menschen sind darauf angewiesen, sich               sei es die Verweigerung von Dienstleistungen,
    eigenständig etwa mit Wasser oder Strom zu              Beleidigungen, Einschüchterung, Gering-
    versorgen. Oftmals ist das illegale Anzapfen            schätzung, bis hin zu Übergriffen. Zwar sind
    öffentlicher Leitungen die einzige Möglich-             große Teile der spanischen Mehrheitsgesell-
    keit. Ebenso wie die Errichtung oder das                schaft in Almería nicht explizit feindselig und
    Bewohnen der informellen chabola-Sied-                  in Teilen auch empathisch oder solidarisch
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | DAS PLASTIKMEER AM RANDE EUROPAS          9

gegenüber den migrantischen Arbeiter*innen                    unter den Arbeiter*innen von den Chef
eingestellt. Andererseits sind die Wahlkreise                 *innen und Vorarbeiter*innen ausgenutzt,
im Plastikmeer in den letzten Jahren zur                      um die Belegschaften zu spalten und Hierar-
spanienweiten Hochburg der neuen rechts-                      chien zu fördern.
radikalen VOX Partei geworden, die hier
deutlich rassistische Diskurse befördert. Bei                 Die Bedingunden und Widersprüche, in
den letzten Wahlen ging sie hier vielerorts                   denen sich die migrantischen Arbeiter*innen
mit einem Drittel der Stimmen und mehr                        in der Region um Almería wiederfinden,
als stärkste Kraft hervor. Dies ist Teil einer                ließen sich noch viel detaillierter beschreiben.
rassistischen Kontinuität, die schon bei den                  Zwischen Wut, Resignation und Indifferenz
pogromartigen Ausschreitungen im Februar                      keimen jedoch auch immer wieder Versuche
2000 schmerzhaft deutlich wurde [20 Jahre                    von Protest, Selbstorganisation und Wider-
nach dem Pogrom S.10]. Darüber hinaus werden                  stand [Arbeitskampf S.18].
rassistische sowie sexistische Vorstellungen

                                   FURTHER READINGS

   Zu Immigration, Segregation und politischer Ökonomie                    Zu migrantischer Arbeit in der industriellen
                                               in Almería               Landwirtschaft in Almería im globalen Kontext
                                 diverse Publikationen            Jörg Gertel und Sarah Ruth Sippel (Hrsg. 2014):
       von Ángeles Arjona Garrido, Juan Carlos Checa             Seasonal Workers in Mediterranean Agriculture:
       Olmos und Francisco Checa Olmos (Universität                                The Social Costs of Eating Fresh
  Almería) sowie José Francisco Jiménez Díaz (Univer-                                            London: Routledge
                                sität Pablo de Olivade)

                                                          .
              Zu Migrationsstrategien und Alltagsleben der
                             migrantischen Arbeiter*innen
                                 Felix Hoffmann (2017):
   Zur kommerziellen Normalisierung illegaler Migra-
       tion. Akteure in der Agrarindustrie von Almería,
                                                  Spanien
                              Bielefeld: transcript Verlag
10     WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT? | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

       WAS HABEN WIR
       ERREICHT, WAS HAT
       SICH VERÄNDERT?
       20 JAHRE NACH DEN RASSISTISCHEN AUSSCHREITUNGEN IM PLASTIKMEER
       VON ALMERÍA
       Gastbeitrag des Europäischen Bürger*innenforums (EBF) Raymond Gétaz

     Vom 5. bis 7. Februar 2000 fanden in El Ejido            in den mehr als 35‘000 Hektaren Plastikge-
     pogromartige Ausschreitungen gegen marok-                wächshäusern der Region verdingten. Die
     kanische Landarbeiter*innen statt, die sich              Vorfälle von El Ejido waren wahrscheinlich
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT?                            11

die schlimmsten Ausbrüche rassistischer               beiter*innengewerkschaft SOC1, erhielt die
Gewalt, die Migrant*innen in Spanien je               Delegation rasch Einblick in die sozialen,
erleben mussten: Eine dreitägige systema-             ökonomischen und politischen Verhältnisse
tische und organisierte Hetzjagd gegen die            der Region und veröffentlichte im Herbst
Menschen und ihr bescheidenes Hab und Gut             2000 den Untersuchungsbericht „Anatomie
– geduldet von den lokalen Behörden und               eines Pogroms“2.
den Ordnungskräften, die tatenlos zusahen.

Jeden Tag zeigten die Nachrichtensendungen            Unsere Erfahrungen waren ernüchternd. Was
in den europäischen Medien, wie die Einwoh-           gewisse Leute als das „andalusische Wunder“
ner*innen der Stadt mit Baseballschlägern             bezeichnen, ist in Wirklichkeit das, was aus
durch die Straßen zogen, Büros von NGOs               einer kleinlandwirtschaftlichen Region wird,
plünderten und Besitztümer der Migrant*in-            die bedingungslos einer ultraliberalen Politik
nen zerstörten.                                       und der Industrialisierung der Produktions-
                                                      systeme unterworfen wird: Ein Universum
Entrüstet über die Tatenlosigkeit der Behör-          der totalen Ausbeutung von Mensch, Umwelt,
den entsandten wir, Mitglieder des EBF, eine          Boden- und Wasserresourcen. Im Meer von
internationale Untersuchungskommission                Gewächshäusern sucht man vergebens nach
in die Stadt El Ejido, um den Ursachen und            den Anzeichen einer ursprünglichen, von der
den Folgen der rassistischen Ausschreitun-            Arbeit der Bauern und Bäuerinnen gepräg-
gen nachzugehen. Unterstützt durch María              ten Landschaft. Keine Bäume, Hecken, kaum
García Bueno, einer langjährigen Freundin             Vögel oder Insekten. Einzig die vereinzelten,
und Aktivistin der andalusischen Landar-
                                                      1 Seit 2007 SAT, in Almeria als SOC-SAT weiter geführt. Im Text haben wir der
                                                        Einfachheit halber den alten Namen SOC verwendet.
                                                      2 Anatomie eines Pogroms z.B. El Ejido, 138 Seiten, EBF/CEDRI, ISBN
                                                        3-95221250-4
12      WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT? | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     aus irgendwelchem Abfallmaterial                                 zur Verteidigung der Gastarbeiter für
     zusammengebastelten chabolas oder die                            die Schäden und Verluste der Februar-
     slumartigen Wohnsiedlungen deuten noch                           verfolgung in ihren Kultstätten, ihren
     auf die Anwesenheit von Menschen hin -                           Wohnungen, ihren Geschäften und
     Gespenster in dieser surrealen, mit Plastikab-                   ihren Fahrzeugen vollständig entschä-
     fällen verschandelten Welt.                                      digt werden.
                                                                    - dass das spanische Gesetz eingehalten
     Da sich keine andere Gewerkschaft für die                        wird: Es sieht vor, dass allen Ausländern
     meist papierlosen Migrant*innen einsetzte,                       in gleichem Maße wie den Spaniern
     beschloss die Landarbeiter*innengewerk-                          dieselben konstitutionellen Freiheiten
     schaft SOC ein Büro in Almería zu eröffnen.                      und Rechte garantiert werden (Art. 1,
     Wir erkannten die Notwendigkeit, die SOC                         Gesetz 4/2000).
     mit grenzüberschreitender Solidarität und                      - dass die Verantwortlichen der kollek-
     gemeinsamen Aktionen in ihrer Arbeit zu                          tiven Gewalt gegen die Gastarbeiter
     unterstützen. Die Öffentlichkeit in Europa                       gerichtlich verfolgt werden
     musste über die skandalösen Lebens- und                     2) Den Ursprung der Früchte und der
     Arbeitsbedingungen der Landarbeiter*innen                      Gemüse, die Sie verkaufen, sowie deren
     in der Provinz Almería informiert werden.                      Produktionsweise klar anzugeben - die
                                                                    Bezeichnung des Landes genügt nicht.
     DIE VERANTWORTUNG DER                                       3) Auf den Verkauf von billigen Frischwaren
     GROSSVERTEILER 3                                               zu verzichten, wenn sie unter Verachtung
                                                                    der Menschenwürde und der Natur pro-
     Unsere erste Kampagne in der Schweiz                           duziert werden.
     bewirkte, dass innerhalb von wenigen
     Wochen über 10‘000 Konsument*innen                        Zahlreiche Medien sowie Konsument*in-
     an die Großverteiler Coop und Migros                      nenorganisationen berichteten über die
     schrieben, um gegen die ausbeuterische                    Kampagne und zogen die Großverteiler zur
     und Umwelt zerstörende Produktion von                     Rechenschaft. Unter Zugzwang versicherten
     Hors-Saison-Gemüse zu protestieren. In                    ihre Vertreter*innen vor laufenden Fernseh-
     ihren Briefen forderten sie die Supermärkte               kameras, dass sie, sollte sich die Situation
     auf:                                                      vor Ort nicht verbessern, in Zukunft andere
       1) Bei der andalusischen Regierung, der                 Lieferant*innen suchen werden. Gleich-
          Präfektur der Provinz Almeria und der                zeitig schickten sie Qualitätsbeauftragte
          Stadtverwaltung von El Ejido durchzu-                nach Andalusien, um sich ein eigenes Bild
          setzen:                                              zu machen. Großverteiler aus ganz Europa
          - dass die Landarbeiter unter menschen-              setzten sich zusammen und schufen neue
            würdigen Bedingungen untergebracht                 Soziallabels wie z. B. Eurepgap oder Grasp.
            werden                                             Allerdings stützen sich diese in erster Linie
          - dass die Gastarbeiter und die Vereine              auf Selbstdeklarationen der Unternehmer*in-
                                                               nen oder auf Audits durch Firmen, in denen
     3 Schweizerisch für Einzelhandelskette
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT?   13

Vertreter*innen der großen regionalen                 Lebens- und Produktionsbedingungen der
Unternehmen, die in der Obst- und Gemü-               Migrant*innen intervenierten. Europaparla-
seproduktion involviert sind, federführend            mentarier*innen stützten in einer Erklärung
sind. Bei unseren Besuchen in El Ejido                den Vertrag, den marokkanische Landarbei-
mussten wir feststellen, dass selbst solche,          ter*innen mit den Unternehmer*innen nach
wohl eher als „kosmetisch“ zu bezeichnende            den Ereignissen vom Februar 2000 ausgehan-
Maßnahmen, nur nachlässig angewendet                  delt hatten. Eine Delegation des Europarats
wurden.                                               verfasste einen kritischen Bericht über die

EUROPAWEITE PROTESTE GEGEN AUSBEU-                    irreguläre Beschäftigung in der Landwirt-
TUNG                                                  schaft in den südlichen Ländern Europas.

Rassistische Aggressionen gegen Migrant*in-           Gleichzeitig warben wir mit der SOC für
nen markierten auch in den folgenden Jahren           eine regionale und nationale Unterstützung
das soziale Klima in El Ejido und in der              im Kampf gegen die unakzeptablen Bedin-
ganzen Provinz Almería. Um dem entgegen-              gungen im Obst- und Gemüsebau. In der
zuwirken, organisierten wir mit der SOC               Folge wurde in Sevilla ein von Hunderten
zahlreiche internationale Delegationen,               von spanischen Universitätsprofessor*in-
die bei den Behörden und den Unterneh-                nen mitunterzeichnetes Manifest publiziert.
mer*innenverbänden bezüglich der Arbeits-,            Weiter wurden in mehreren Treffen mit
14      WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT? | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     Akademiker*innen, Ärzt*innen, Psycholo-                                       kette, sind davon am stärksten betroffen. So
     g*innen und Sozialbeauftragten die Rolle der                                  berichten im Jahr 2006 zahlreiche Medien
     Behörden und Unternehmen in Bezug auf                                         über die unmenschlichen Bedingungen in der
     die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingun-                                   Tomatenproduktion in Foggia in Süditalien.
     gen der migrantischen Landarbeiter*innen                                      Weitere rassistische Ausschreitungen gegen
     angeprangert und Vorschläge für nachhaltige                                   Landarbeiter*innen folgten 2010 in Rosarno
     Besserungen ausgearbeitet.                                                    (ebenfalls in Süditalien). In Zusammenarbeit
                                                                                   mit dem Schriftsteller Jean Duflot verfassten
     PREKARITÄT DER MIGRANT*INNEN                                                  wir dazu „Orangen fallen nicht vom Himmel,
     UND SCHNELLE INDUSTRIALISIERUNG                                               der Sklavenaufstand von Rosarno“6. Im Jahr
     DER LANDWIRTSCHAFT ALS ZIELE UND                                              2013 fanden gewalttätige Übergriffe gegen
     RESULTATE DER EUROPÄISCHEN                                                    ausländische Arbeiter*innen einer Erdbeer-
     LANDWIRTSCHAFTS- UND                                                          plantage in Manolada, Griechenland statt. 30
     MIGRATIONSPOLITIK                                                             Personen wurden zum Teil schwer verletzt.
                                                                                   Die schrittweise Verschärfung der Asyl-, Auf-
     Die miserablen Arbeitsbedingungen in Süd-                                     enthalts- und Migrationsgesetze in Europa in
     spanien lenkten unsere Aufmerksamkeit auf                                     den letzten 30 Jahren drängt viele Menschen
     weitere Bereiche in der industriellen Land-                                   in die Illegalität und macht sie zu prädesti-
     wirtschaft und wir mussten feststellen, dass                                  nierten Opfern von skrupellosen Unterneh-
     in zahlreichen Ländern die Arbeitskräfte in                                   mer*innen.
     der Früchte- und Gemüseproduktion ähnlich
     schlecht behandelt wurden. Als Resultat eines                                 GROSSVERTEILER HABEN KEINE
     internationalen Treffens in Paris publizierten                                GEWISSENSBISSE
     wir mit der „Association pour un nouveau
     développement“ im Frühjahr 2002 das Buch                                      Unsere Kampagnen in der Schweiz zeigten
     „le goût amer de nos fruits et légumes“4. Zwei                                immer wieder Wirkung. Nach den Ereig-
     Jahre später veröffentlichten wir „Bittere                                    nissen in Rosarno, protestierten beispiels-
     Ernte, die moderne Sklaverei in der indus-                                    weise Konsument*innen vor den Toren der
     triellen Landwirtschaft Europas“5. Ob in                                      Filialen der Großverteiler gegen den Verkauf
     den Niederlanden, Frankreich, Österreich,                                     von Mandarinen aus dieser Region. Denn
     Deutschland oder in der Schweiz: Überall                                      kaum vorstellbar: Auch zehn Tage nach der
     konnte eine zunehmende Prekarisierung                                         Hetzjagd auf afrikanische Landarbeiter*innen
     der Arbeiter*innen in der Landwirtschaft                                      boten einige Lebensmittelkonzerne, unter
     beobachtet werden. Wir mussten feststellen,                                   ihnen Coop, immer noch „billige Mandari-
     dass das dominierende Landwirtschafts-                                        nen“ aus Rosarno an. Zuvor hatten sie in den
     modell in ganz Europa ähnliche unsoziale                                      Medien das Gegenteil behauptet.
     und umweltzerstörerische Strukturen
     hervorbringt. Die Landarbeiter*innen,                                         Im Frühjahr 2010 fanden in mehr als zehn
     das schwächste Glied in der Produktions-                                      Schweizer Städten koordiniert Protestakti-

     4 Informations et commentaires, numéro hors série mars 2002 „le goût          6 Orangen fallen nicht vom Himmel, Der Sklavenaufstand von Rosarno, 132
       amer de nos fruits et légumes“                                                Seiten, EBF (2011), ISBN 3- 9522125- 3-9
     5 Bittere Ernte, Die moderne Sklaverei in der industriellen Landwirtschaft,
       128 Seiten EBF (2004), ISBN 3- 9522125-2-0
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT?   15

onen gegen Früh-Erdbeeren aus der andalu-            GEWERKSCHAFTSLOKALE ALS
sischen Provinz Huelva statt, die unter men-         AUSBILDUNGSORTE UND SOZIALE ZENTREN
schenverachtenden Bedingungen produziert
werden. Aufgerufen zu den Aktionen hatten            Alle Aktionen wurden in enger Koordina-
die Plattform für eine sozial nachhaltige            tion mit der SOC durchgeführt. Um den
Landwirtschaft, Konsument*innenvereini-              Migrant*innen vor Ort besser beizustehen,
gungen, die Bauern- und Bäuerinnengewerk-            eröffnete die SOC Lokale in El Ejido (2005)
schaft Uniterre, Bio Suisse, die Europäische         und San Isidro (2007). Das EBF half bei der
Kooperative Longo maï, Unia und das EBF.             Finanzierung dieser wichtigen Vernetzungs-
Gemeinsam erreichten wir, dass aus sechs             strukturen mit. Die Lokale von El Ejido und
Kantonen sogenannte „Standesinitiativen“ bei         San Isidro dienen den Migrant*innen als
der Regierung in Bern eingereicht wurden,            Anlaufstellen und Versammlungsorte. Dort
die einen „Importstopp für Lebensmittel aus          erhalten sie Beratung in Sozial- und Arbeits-
ökologisch und sozial inakzeptabler Produk-          recht, können Arbeitsunfälle denunzieren,
tion“ verlangten. Die große Kammer des nati-         Klagen gegen Willkür und gewalttätige Über-
onalen Parlamentes, der Nationalrat, stimmte         griffe vorbereiten.
im Dezember 2010 gegen den Willen des
Bundesrats dem Inhalt der Initiativtexte zu.         Die Gewerkschaft machte sich mit zahlrei-
Die zweite Kammer, der Ständerat, erteilte           chen Aktionen in den Betrieben und mit der
ihr jedoch sechs Monate später eine Abfuhr.          juristischen Beratung der Migrant*innen
                                                     einen Namen. Hunderte von Prozesse
16     WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT? | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     wurden vor dem Arbeitsgericht gewonnen                   DER WIDERSTAND GEGEN AUSBEUTUNG UND
     und die Urteile verpflichteten Unternehmen               PREKARITÄT GEHT WEITER
     zu teilweise massiven Lohnnachzahlungen
     an Arbeiter*innen. Zum Beispiel im Fall                  Der Druck auf die Betriebe durch die Präsenz
     Biosol Portocarrero: Im Jahr 2011 wurde die              von der SOC vor Ort und das internatio-
     Ausbeutung von Migrant*innen in diesem                   nale Zusammenwirken zeigen aber auch in
     Betrieb durch Medien in der Schweiz und in               anderen Bereichen Wirkung. Viele Betriebe
     Deutschland publik gemacht. Unsere Inter-                bemühen sich den Pestizidverbrauch zu
     ventionen bei Biosuisse (wichtigste Zertifi-             senken und die regionalen Behörden fokus-
     zierung für biologische Nahrungsmittel in                sieren sich neuerdings in ihrem Leitbild für
     der Schweiz) führten zur Suspendierung des               die Region auf eine mehrheitlich biologische
     Bio-Zertifikats und brachten dem Unter-                  Produktion. Das ist aus unserer Sicht jedoch
     nehmen massive Verluste ein. Schlussendlich              Augenwischerei, denn von geschlossenen
     stellte das Unternehmen nach mehreren                    Nährstoffkreisläufen oder Nachhaltigkeit
     Monaten einige der entlassenen Arbei-                    kann im Plastikmeer von Almeria nicht die
     ter*innen wieder ein, zahlte an andere hohe              Rede sein. Immerhin ergeben sich durch die
     Entschädigungssummen und verbesserte die                 Bio-Zertifizierung einiger Betriebe zusätzli-
     Arbeitsbedingungen für alle.                             che Möglichkeiten, gegen das Sozialdumping
                                                              zu protestieren. Und noch ein Erfolg ist zu
                                                              verbuchen: Früher war eine gewerkschaft-
                                                              liche Organisation in den Betrieben
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WAS HABEN WIR ERREICHT, WAS HAT SICH VERÄNDERT?                       17

unmöglich - jeder Versuch wurde mit einer               und Zucchetti einem mitten im Winter
sofortigen Entlassung quittiert. Seit dem               entgegensprangen.
Fall Biosol Portocarrero konnte die SOC in
einigen Betrieben Betriebsräte stellen und              Es gibt noch viel zu tun – aber die „politi-
Gewerkschaftssektionen gründen.                         schen“ Erfolge und die konkrete Hilfe für
                                                        viele betroffene Arbeiter*innen ermutigen
Auch in der Schweiz haben die verschiedenen             uns, auch in den nächsten Jahren dranzublei-
Kampagnen zu wichtigen Entwicklungen                    ben.
beigetragen. Zahlreiche Menschen sind sich
bewusst geworden, dass die Industrialisie-              Dank sei allen Organisationen, die sich mit
rung der Landwirtschaft viel menschliches               dem EBF für eine soziale Landwirtschaft
Leid mit sich bringt und zur ökologischen               engagiert haben, im Besonderen: dem Soli-
Katastrophe führt. Sie suchen nach Alter-               fonds, der Plattform für eine sozial nachhal-
nativen. Viele Gartenkooperationen und                  tige Landwirtschaft, der Bauerngewerkschaft
Vertragslandwirtschaftsprojekte, die lokale             Uniterre, der Europäischen Kooperative
Produzent*innen und Konsument*innen                     Longo maï, den Freund*innen aus der Mühle
zusammenbringen, sind entstanden.                       Nikitsch in Österreich7, dem französischen
                                                        Kollektiv Codetras und der Bauern- und
Wissen um Saisongemüse und -früchte hat                 Bäuerinnengewerkschaft Confédération
zugenommen – lokal produziertes Lager-                  Paysanne, dem Verein OKIA in den Nieder-
gemüse ist wieder in den Supermärkten                   landen, der Gruppe NoLager Bremen8 und
erhältlich, nachdem zwischenzeitlich im                 dem Verein Interbrigadas aus Berlin.
Einkaufsregal nur Tomaten, Auberginen

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                    Informations et commentaires,                               Ihr Mindestlohn beträgt …
                      numéro hors série mars 2002       96 Seiten, HG.Innen: Sezioneri – Kampagne für die
                                                                Rechte von ErntehelferInnen in Österreich,
         Bittere Ernte, Die moderne Sklaverei in der                 EBF (2016) ISBN: 978-3-200-04799-0
                         industriellen Landwirtschaft
        128 Seiten EBF (2004), ISBN 3-9522125-2-0                                   Peripherie & Plastikmeer
                                                                 112 Seiten, HG.Innen: NoLager Bremen, EBF
                 Orangen fallen nicht vom Himmel,
                  Der Sklavenaufstand von Rosarno                (2008) Anatomie eines Pogroms z.B. El Ejido
       132 Seiten, EBF (2011), ISBN 3- 9522125-3-9               138 Seiten, EBF/CEDRI, ISBN 3-9522125-0-4

                                                        7 Willkommen bei der Erdbeerernte! Ihr Mindestlohn beträgt... 96 Seiten,
                                                          HG.Innen: Sezioneri – Kampagne für die Rechte von ErntehelferInnen in
                                                          Österreich, EBF (2016) ISBN: 978-3-200-04799-0
                                                        8 Peripherie & Plastikmeer, 112 Seiten, HG.Innen: NoLager Bremen, EBF
                                                          (2008)
18     UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

       UNION BUSTING MIT
       ALLEN MITTELN
       Über das Zusammenspiel von Unternehmen, Politik und Zertifizierern
       Steffen Vogel

     „Todos somos Khaled!“ „Wir sind alle Khaled“,            im Gewächshaus, mit denen die Gewerk-
     schallt es durchs Megafon am Streikposten.               schaft hier täglich zu tun hat: erniedrigende
     Die Belegschaft des Paprikaproduzenten                   Behandlung durch Vorarbeiter, giftige Pes-
     „Godoy Hortalizas“ stellt sich demonstrativ              tizide ohne Schutzkleidung, Bezahlung weit
     hinter den entlassenen Kollegen und seine                unter Mindestlohn. „Statt 6,90 pro Stunde
     sechs Mitstreiter*innen. Das sollen auch die             zahlt uns der Chef nur 5,35 Euro.“ Bis vor
     Chefs auf der Plantage bei San Isidro hören,             kurzem seien es nur knapp über vier Euro
     die im August, als die Saison in Almería                 gewesen, die sich die Godoy-Brüder eine
     wieder anfing, die sieben Wortführer*innen               Arbeitsstunde kosten ließen. Erst Organisie-
     der Gruppe, die sich in der Gewerkschaft                 rung und Druck hatten die Lohnerhöhung
     SOC-SAT organisiert hatten, kurzerhand                   zur Folge.
     entließ. Die Brüder Felipe und David Godoy,
     deren Firmengruppe stark expandiert,                     In den Arbeitsverträgen von Zarah, Khaled
     hofften so offenbar, die Gruppe der knapp 50             und den Anderen steht fijo-discontinuo – eine
     organisierten Kolleg*innen gefügig machen                Festanstellung mit Unterbrechung für die
     zu können. Doch als die Nachricht die Runde              zwei Monate im Jahr, in denen es nach der
     machte, traten alle in den Streik.                       Ernte kaum Arbeit gibt. Zum Start der neuen
                                                              Saison müssen die Beschäftigten mit diesem
     Unter den Entlassenen ist auch Zarah,                    Vertrag – das ist der Großteil der Gruppe –
     eine junge Landarbeiterin, die als Kind aus              wieder zur Arbeit gerufen werden. Rechtlich
     Marokko nach Andalusien kam. Sie berich-                 ist der Fall glasklar, doch der Betriebsleitung
     tet von denselben untragbaren Zuständen                  sind ein Rechtsstreit oder eine Abfindung
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN   19

offenbar lieber als Beschäftigte, die sich gegen     Zutritt verwehrt, Aktive eingeschüchtert,
die Ausbeutung im Gewächshaus wehren.                oder von der Chefetage eingesetzte Gewerk-
Vom ersten Tag an versucht die Betriebs-             schaftsgruppen bestimmen den Betriebsrat.
leitung die Streikgruppe einzuschüchtern.            In der zugespitzten Lage bei Godoy zieht
Co-Chef Felipe Godoy fährt mehrmals                  die Betriebsleitung dagegen andere Register:
am Tag am Streikposten vorbei, filmt und             Nach einer ganzen Woche Streik steht die
fotografiert die Streikenden. Dem Betrieb            Ernte auf dem Spiel, die Paprikapflanzen
gegenüber loyale Vorarbeiter drängen eine            brauchen Pflege. Zudem werden internati-

Arbeiterin dazu wieder arbeiten zu gehen,            onale Medien und Geschäftspartner auf den
statten ihr ungebetene Hausbesuche ab. Die           Konflikt aufmerksam. Doch statt auf die For-
Anwälte der Firma drohen damit, einfach alle         derungen der Belegschaft einzugehen, fährt
Streikenden auf die Straße zu setzen. Aber           eines Morgens ein Kleinbus mit unbekannten
die Gruppe bleibt stark, fordert die Wieder-         Gesichtern am Werkstor vor - Streikbrecher.
einstellung der Kolleg*innen, ein Ende der           „Sie haben eine Zeitarbeitsfirma geholt. Die
Schikanen und die Zahlung des Mindestlohns           wollen uns ersetzen“, empört sich Modar. In
– also nicht mehr als die Einhaltung von             den Autos der Vorarbeiter weitere Externe.
Recht und Gesetz.                                    Die Streikenden stellen den Vorarbeiter
                                                     zur Rede. „Das ist illegal“, rufen sie. Als sich
„Es herrscht ein Klima der Angst“, sagt              immer mehr um sein Auto scharen, tritt er
Gewerkschaftssekretär José. „Das müssen wir          aufs Gas. Er fährt mehrere Arbeiter an,
durchbrechen.“ Auch in anderen Betrieben             Khaled wird am Fuß, Modar mit dem
wird die Arbeit der SOC-SAT behindert, der           Außenspiegel am Arm verletzt.
20     UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     Mit der Zeitarbeitsfirma will Godoy den                  Applaus der Streikenden. Doch die Hoffnung
     Streikenden ihr elementares Druckmittel                  auf Gerechtigkeit währt nicht lange, schon
     nehmen: die Kontrolle über die Produktion                drei Tage später sind neue Streikbrecher*in-
     im Gewächshaus. Jeden Morgen werden                      nen im Gewächshaus. Die Arbeitsinspektion
     Dutzende Streikbrecher*innen durchs Tor                  taucht nicht mehr auf, teilt auf mehrfache
     geschleust, manche durch die Hintertür,                  Nachfrage mit, die Sozialpartner sollten ihre
     andere übernachten sogar auf der Farm. Mit               Probleme jetzt selbst lösen. „Wie in einer
     diesem Rechtsbruch kommen die Chefs weit-                Beziehung“, da helfe es ja auch, tief durchzu-
     gehend durch: Die hinzugerufene Guardia                  atmen und in Ruhe miteinander zu reden.
     Civil sieht sich nicht zuständig. Arbeitsrecht,

     nicht ihr Kompetenzbereich. Im Gegenteil,                Der spanische Staat kann mit Fug und Recht
     die Beamten passen auf, dass die Wagen der               als Komplize der katastrophalen Zustände
     Streikbrecher problemlos das Tor passieren               in den Gewächshäusern bezeichnet werden.
     können. Die Arbeitsinspektion als zustän-                „Polizei, Arbeitsinspektion, andalusische
     dige Behörde ist maßlos überfordert – zwölf              und zentralspanische Regierung, alle haben
     Mitarbeiter für 40 000 Gewächshäuser. Nach               Kenntnis von der Situation“, sagt Laura
     mehreren Anzeigen kommen tatsächlich                     von der SOC-SAT. Die Unterbesetzung der
     Inspekteure vorbei, nehmen den Vizechef und              Inspektion, die lange Dauer der Gerichtsver-
     etliche Zeitarbeiter*innen mit – unter dem               fahren – dank der neoliberal geschrumpften
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN   21

staatlichen Institutionen blühen im Plastik-         regiert, Almería ist die Hochburg der neo-
meer Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Ein              faschistischen Vox-Partei. Beim Flugblätter
weiteres Puzzlestück ist die öffentliche             verteilen im kleinen Ort Campohermoso sind
Meinung: Während internationale Medien               die Reaktionen zweigeteilt: Aufgeschlossen-
immer wieder über die unmenschlichen                 heit und Freude bei den vielen Migrant*in-
Arbeitsbedingungen berichten, sieht man              nen, unwirsche Ablehnung bei den weißen
spanische Journalist*innen selten. Wer über          Spanier*innen. „Warum protestieren die nicht
Arbeitsrechte in Almería schreibt, gilt schnell      da, wo sie herkommen, in Marokko?!“
als Nestbeschmutzer*in. Die Landwirtschaft           Profit aus den unmenschlichen Bedingun-
ist der größte Wirtschaftsfaktor der Region,         gen schlagen natürlich nicht nur lokale
bürgerliche Politiker*innen und Unterneh-            Eliten und Gewächshausbesitzer*innen: Ein
mer*innen lassen nicht gerne am Image des            Großteil des Gemüses landet in deutschen
hochentwickelten, nachhaltigen Gemüsean-             Super- und Biomärkten. Deren Preisdruck
baus kratzen. Den migrantischen Arbeiter             ist brutal: Anfang Februar bekamen die
*innen, die ihre Rechte einfordern, schlägt          Produzent*innen in Almería gerade mal acht
zudem immer offenerer Rassismus entgegen             Cent für ein Kilo Zucchini, 15 Cent für ein
und die SOC-SAT wird, wann immer es geht,            Kilo Auberginen. Zu Recht beschweren sich
verklagt oder in schlechtes Licht gestellt. Seit     Kleinbäuer*innen, dass nachhaltige Land-
Anfang des Jahres ist Andalusien rechts              wirtschaft mit fairen Löhnen kaum noch
22      UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     möglich sei. Trotzdem boomt die Branche                                    oft freimütig die Arbeitsrechtsverletzungen
     weiter, das Geschäft unter Plastik ist immer                               zu, die im Gewächshaus passieren. Doch wäh-
     noch hochprofitabel [Der Profit mit der Paprika                           rend die SOC-SAT auf die Einhaltung von
     S.37 Ethischer Konsum? S.41]. Godoys Business                             Recht und Tarifvertrag pocht, wissen die Fir-
     etwa expandiert stark, so hört man, hektar-                                men die Zeit und die ineffizienten Behörden
     weise neue Gewächshäuser in der Region                                     auf ihrer Seite. Solange die Produktion nicht
     seien in Planung.                                                          gefährdet ist, lohnt sich diese Strategie - so
                                                                                manche*r Advokat*in ist selbst Anteilseigner
     Die Supermärkte stehlen sich indes aus der                                 *in der Firmen, die sie*er vertritt.
     Verantwortung. Verstöße gegen geltende
     Rechtsvorschriften aufzuklären sei primär                                  Nach vier langen Wochen Streik bei Godoy
     Aufgabe der örtlichen Behörden. Ein Groß-                                  endlich der Durchbruch: Die Anwältin sagt
     abnehmer von Godoys Paprika aus England                                    zu, dass die Firma fortan Mindestlohn und
     fragt empört, warum sich die unrechtmäßig                                  Pausenzeiten einhalten wird. Die Entlassenen
     Entlassenen nicht einfach eine neue Arbeit                                 werden voll entschädigt. Die Erleichterung
     suchen, wenn es ihnen bei Godoy nicht                                      bei den Streikenden ist groß. Für die Gewerk-
     gefalle. Bei ALDI, Edeka und Rewe ist man                                  schaft SOC-SAT ist es ein hart erkämpftes
     vorsichtiger: Man nehme die Vorwürfe ernst.                                Minimalziel, träumen die Genoss*innen doch
     Viele verweisen auf freiwillige Leitlinien, die                            von mehr als der Einhaltung der mageren
     sie verabschiedet haben, andere auf Labels                                 Untergrenzen des bürgerlichen Rechts,
     wie GlobalGAP bzw. GRASP. Auch bei Godoy                                   nämlich von Kooperativen in Arbeiter*in-
     schaut auf Nachfrage ein Kontrolleur vorbei.                               nenhand und einer Landreform, die endlich
     Der interviewt zwar die Streikenden, gibt                                  Gerechtigkeit ins Plastikmeer einkehren ließe
     aber freimütig zu, sich mit Arbeitsrechten gar                             [Interview – José García Cuevas S.30]. Dennoch
     nicht auszukennen, er sei schließlich Techni-                              hat sich der Streik gelohnt. Der Streik hat
     ker. Das „unabhängige“ Zertifizierungsunter-                               die Gruppe zusammengeschweißt und von
     nehmen Agrocolor, das ihn schickt, gehört zu                               nun an weiß die „Mafia“, dass sie sich nicht
     Almerías mächtigem Branchenverband Coex-                                   alles erlauben kann. Einige wollen bei der
     phal1. Zudem sitzt die Bank Cajamar, die in                                Gewerkschaft aktiv bleiben und mitorganisie-
     der Landwirtschaft gewichtige Assets hat, bei                              ren. „Der Kampf geht weiter“, ruft Modar, als
     Agrocolor im Aufsichtsrat. Godoy wird das                                  er mit verbundenem Arm aus dem Kranken-
     Gütesiegel behalten. „Mafia“ sprüht jemand in                              haus kommt. Und: Der Arbeitskonflikt hat
     großen roten Lettern ans Gewächshaus.                                      in anderen Betrieben für Aufsehen gesorgt.
                                                                                Die Landarbeiter*innen von Almería sind gut
     Auf wohlklingenden Image-Seiten und gegen-                                 vernetzt, über WhatsApp und Facebook
     über Arbeitsinspektion und Zertifikateuren                                 werden täglich Nachrichten ausgetauscht.
     werden die Missstände ausgeblendet oder
     geleugnet. Hinter verschlossen Türen dagegen                               Diese Vernetzung ist bitter nötig: Arbeiter
     geben die Anwält*innen der Unternehmen                                     *innen und Gewerkschaft sehen sich einem
                                                                                transnationalen Komplex aus Supermärkten,
     1 http://stories.coop/stories/coexphal-uniting-farmers-moving-forward/
       „Innovación, redes y territorio en Andalucía“ von Gema González Romero
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | UNION BUSTING MIT ALLEN MITTELN                                       23

Zwischenhändlern, Großgrundbesitzern,                                                              Zarah, Modar, Khaled und die vielen Anderen
wirtschaftsfreundlicher Politik und käufli-                                                        kein „Weiter so“ geben. Oder, wie sie bei der
chen Labels gegenüber. Auch künftige Streik-                                                       Demo in San Isidro gemeinsam skandieren:
gruppen werden auf erbitterten Widerstand                                                          „La lucha es el único camino“ – Der einzige
aus den Chefetagen stoßen. Doch kann es für                                                        Weg ist der Kampf.

                                                     FURTHER READINGS
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                 Agricultural Workers‘ Rights Abuses in Spain                                                        Dorothea Hellenthal, 2019 labournet
                      Delia McGrath, 2019, Ethical Consumer                                            https://www.labournet.de/interventionen/solidaritaet/
                                                    Magazine                                                          so-entwickelte-sich-der-streik-auf-den-
         https://www.ethicalconsumer.org/food-drink/agricultu-                                              andalusischen-gemueseplantagen-bis-zu-seinem-
                               ral-workers-rights-abuses-spain                                                            ueberwiegend-erfolgreichen-ende/
KAPITALFRAKTION
TRANSNATIONALE

                                                           Legi
                                                                t
                             Supermarksketten             Glau imation
                                                              bhaf       u
                                                                   tigke nd
                                                                        it
                                                                                                                                                               EU
                             Großabnehmer                                   Einri
                                                                                  c
                                                                           Fina htung u            Zertifikate,
                                                                               nzie      n
                                                                                    rung d         Siegel, Labels
                                                        Ab sübu
                                                         Au
                                                          nah ng
                                                            Ver

                                                             mn von
                                                               kau

                                                                e,

                                                                                                            Beauftragung
                                                                   f vo
                                                                        nE

                                                                         Pre
                                                                           rze

                                                                             isd
                                                                               ugn

                                                                                 ruc
                                                                                   iss

                                                                                    k
    LOKALE KAPITALFRAKTION

                                                                                      en

                                                                                                                                                    i t,
                                                                                                                                              yarbe
                             Unternehmens -                                                    Zertifizier- und                          Lobb len,
                                                                                                                                          Wahuern          Regierung
                             und Brachenverband                                                                                           St e
                                                                                               Auditing-                                                            Kontrolle,
                                                      Austausch von
                                                                                               unternehmen                                                      Finanzierung,
                             Lokale Banken            Know - How, Vernetzung,
                                                      Finazierung, Vermittlung                                                                                    Ausstattung
                                                      von Arbeitskräften                                   Zertifizierung
                             Anwält*innen

                             Zeitarbeitsfirmen
                                                                                                       Chefs                                               Aufsichts-
                                                                                                                                         Kontrolle,        behörden
                                                                                                         Anstellung,                     Duldung
                                                                   ng,                                   ggf. Ausstellung des
                                                                                                                                         illegaler         und Gerichte
                                                              ieru                                                                       Zustände
                                                         anis          ,
                                                                                                                                ch t

                                                      Org skampf
                                                                                                                             ere ich

                                                                                                         Arbeitsvertrages,
                                                                                                                                  ti g
                                                                                                                          hlb s n

                                                            it
                                                       Arbe                                              Lohnzahlungen
                                                                                                                        wa mal

                                                              ik
                                                         Stre
                                                                                                                           oft

                                                                                              Arbeit

                                                 Gewerkschaft                              Arbeiter*innen                                                     Polizei
                                                                              Beratung,
                                                                              Unterstützung

                                                                                 PRODUZIERENDER BETRIEB                                                      STAAT

   AKTEURSMAPPING Eine schematische Darstellung der Konflikte und Beziehungen in einem typischen Arbeitskampf
24   | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WIE UNTERNEHMEN SYSTEMATISCH ARBEITSRECHTE UNTERGRABEN   25

  WIE UNTERNEHMEN
  SYSTEMATISCH
  ARBEITSRECHTE
  UNTERGRABEN
  Lennart Brusinsky

Die von der Belegschaft des Produzenten               tariflich festgelegten Arbeitsrechte nicht
„Godoy Hortalizas“ beklagten Arbeitsrechts-           einhalten. Dabei unterscheiden sich die
verletzungen [Arbeitskampf S.18] sind in             Praxen groß angelegter Gemüseproduktionen
Almería kein Einzelfall. Die SOC-SAT erhält           nur geringfügig von denen kleinbäuerlicher
täglich Beschwerden von Arbeiter*innen                Unternehmen.
verschiedener Unternehmen, welche die

                        Unterschlagen von Zuschlägen für Überstunden, Sonn- und Feiertagsarbeit

                                                                 Missachtung der Fahrtkostenerstattung

                                                                        Keine oder zu wenig Pausenzeiten

                    Arbeitsschutzmängel beim Versprühen von Dünger und Pflanzenschutzmitteln

                                        Verwehrung des Rechts auf gewerkschaftliche Organisierung

Abbildung 1 Die von der Gewerkschaft am häufigsten dokumentierten Arbeitsrechtsverletzungen
26      WIE UNTERNEHMEN SYSTEMATISCH ARBEITSRECHTE UNTERGRABEN | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

     Eine gängige Methode der Unternehmen ist                Lohnprellung hinaus einen Sozialversiche-
     es, den in einem Monat erarbeiteten Lohn                rungsbetrug dar.
     durch den Mindestlohn des Tarifvertrags                 Mit dieser Methode ist es auch möglich die
     zu teilen und im Ergebnis eine geringere                Zuschläge für Überstunden sowie für Sonn-
     Arbeitszeit auf die Abrechnung zu schreiben,            und Feiertagsarbeit zu unterschlagen. Die
     um so den Tarifvertragsbruch zu verschleiern.           sprachliche Barriere sowie die Situation der
     In Video 1 [ Further watchings S.29] ist ab 0:55       Arbeiter*innen [Plastikmeer S.4] wird häufig
     zu sehen, wie die Chefin genau diese Praktik            ausgenutzt, indem ihnen das Unterschreiben
     zugibt. Sie schreiben 45 € auf die Lohnab-              eines finiquito aufgedrängt wird, ein Doku-
     rechnung für die Verwaltung auf, zahlen reell           ment, das die Arbeitgeber*innen vor mögli-
     aber nur 36 € pro Tag. Dies stellt über die             chen finanziellen Nachforderfungen schützt.

                                                                                 7 Tage
                                                                                  á 10 h
                                                                                 4 Euro/h

     Abbildung 2 Lohnprellungen und Sozialversicherungsbetrug
     Rechenbeispiel: Ein*e Arbeiter*in arbeitet 7 Tage die Woche, 10 h am Tag für 4 € pro Stunde und erhält
     am Ende der Woche einen Lohn von 280 €. Dieser Lohn wird vom Unternehmen bei der Lohnabrechnung
     durch den Mindestlohn von 6,90 € geteilt und im Ergebnis der Verwaltung viel weniger, als die tatsäch-
     lich geleisteten Stunden angegeben. Hier wird ein Extrembeispiel dargestellt, jedoch schwanken die von
     der Gewerkschaft dokumentierten Niedriglöhne zwischen 4 € und 5 €, Arbeitstage von 10 Stunden sind
     üblich, zu Produktionsspitzen betragen diese u.U. auch 14 Stunden.
VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE | WIE UNTERNEHMEN SYSTEMATISCH ARBEITSRECHTE UNTERGRABEN         27

Die meisten Unternehmen verweigern die                                 geschickt und mussten am Nachmittag erneut
Zahlung der individuellen Fahrtkostenerstat-                           zu einer Schicht von 3,5 Stunden antreten.
tung von 0,19 ct/km, wenn der Transport zur
Arbeit nicht vom Unternehmen organisiert                               Weiterhin beklagen Arbeiter*innen Arbeits-
wird. In einem bekannten Fall1 zahlte die                              schutzmängel beim Versprühen von Dünger
Betriebsleitung eine Pauschale von 20 € pro                            und Pflanzenschutzmitteln. Da Schwefel
Monat und vermied so eine gründliche Prü-                              regelmäßig zwar mit Handschuhen, jedoch
fung durch die Arbeitsinspektion.                                      ohne Masken und Schutzkleidung versprüht
                                                                       wird, kam es in der Vergangenheit zu gesund-
Die tariflich festgelegten Pausenzeiten wer-                           heitlichen Beeinträchtigungen von Arbei-
den ebenfalls häufig nicht eingehalten. Laut                           ter*innen. Außerdem ist es nicht unüblich,
Tarifvertrag muss bei einer Arbeitsdauer von                           dass der Arbeitsschutz von Arbeiter*innen
mehr als 4 Stunden am Stück eine Pause von                             selbst bezahlt werden muss, was einem Lohn-
20 Minuten eingelegt werden. Nehmen sich                               abzug gleichkommt.
Arbeiter*innen diese Pause selbstständig,                              Doch die unrechtmäßigen Arbeitsbedingun
wird ihnen dies vom Lohn abgezogen.                                    gen gegenüber den Arbeitgeber*innen
In dem genannten Fall kürzte nach einer                                anzuklagen, selbst mithilfe der Gewerkschaft,
Einforderung der täglichen Pause das Unter-                            hat selten eine schnelle Verbesserung zufolge.
nehmen den Arbeitstag. Die Arbeiter*in-                                Arbeiter*innen berichten mit Repressalien
nen wurden für 3,5 Stunden am Vormittag                                überzogen worden zu sein, sobald bekannt
beschäftigt, anschließend nach Hause                                   wurde, dass sie sich gewerkschaftlich

1 http://socsatalmeria.org/wp-content/uploads/2018/11/BiosaborDE.pdf
28     WIE UNTERNEHMEN SYSTEMATISCH ARBEITSRECHTE UNTERGRABEN | VOM ANFANG UND ENDE DER LIEFERKETTE

                        2017 - 2019
                                                                      Ecosabor

                                                     Ecosol
                                         7
                                    - 201
                             2015
                                                                                                      Ecosabor

                               2015
                                      - 20
                                          17

                     2017 - 1019                                    Ecosabor

                                                  Ecomar

     Abbildung 3 Subunternehmensstrukturen werden zum Aufrechterhalten prekärer Beschäftigungsverhält-
     nisse benutzt

     organisieren. Diese reichen von sexistischer           Nach Tarifvertrag müssen Arbeiter*innen
     und rassistischer Beleidigungen über Isola-            nach zwei Saisons infolge den Status eines
     tion am Arbeitsplatz oder der Verrichtung              fijos-discontinuos oder fijos entsprechend einer
     besonders schwerer, teilweise gesundheits-             Festanstellung erhalten. An den Vertrags-
     gefährdender Arbeiten bis hin zur fristlosen           status sind neben einem Kündigungsschutz
     Kündigung.                                             auch die Zahlung des Erfahrungszuschlags,
                                                            der sogenannten antigüedad, gekoppelt. Mit
     DAS AUFRECHTERHALTEN PREKÄRER                          steigender Betriebserfahrung steigen auch die
     BESCHÄFTIGUNGSVERHÄLTNISSE                             Löhne.
                                                            Zu großen Unternehmen gehören in der
     Ein häufig auftretendes Problem stellt aber            Regel weitere Subunternehmen, die eigene
     besonders in größeren Firmen, neben den                Fincas betreiben und Arbeiter*innen
     oben aufgezählten Arbeitsrechtsverletzungen,           anstellen. Gemüse und Obst wird jedoch
     die Umgehung der gesetzlich vorgeschriebe-             ausschließlich für das übergeordnete Unter-
     nen Umwandlung von temporären Arbeits-                 nehmen produziert, das die Produkte auch
     verträgen in Festanstellungen dar.                     vertreibt. Nach zwei Saisons hintereinan-
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