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Andreas Staeger   Wandern
                  Wandern
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Jahrring 2011

Wandern
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Jahrring 2011

                  Wandern
                  Gedanken über das zweckfreie Gehen

                  Andreas Staeger

   Hüpfen von
 Stein zu Stein
in Schwedisch     Druckerei l Verlag l Zeitschriften l Medienlogistik
     Lappland.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort............................................................................. 7

Gehen................................................................................ 8

Genetik und Gebirge........................................................ 14

Geburt und Geschichte....................................................... 20

Geräte und Geheimtipps................................................... 26

Geselligkeit....................................................................... 32

Geschwindigkeit............................................................... 38

Gesetz und Geld............................................................... 44

Gegensätze und Gefahren................................................ 50

Gesundheit und Genuss.................................................... 56

Autor................................................................................ 62

Nachwort.......................................................................... 63

Impressum........................................................................ 64
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               Vorwort
               Wege sind die ältesten Spuren, die von Menschen auf der
               Erde hinterlassen worden sind. Sie entstanden durch steten
               Gebrauch von immer gleichen Strecken im Gelände. Zwei
               ­
               ­Füsse, die auf den Boden treten, hinterlassen höchstens feine
                Abdrücke. Doch wenn diese Füsse tausendmal hintereinander
                auf die gleiche Stelle treten, oder wenn diesen beiden Füssen
                tausend weitere Füsse folgen, dann entsteht ein Weg.
                Ohne Ziel kein Weg. Nur wer weiss, wohin er will, versteht
                auch, sich einen Weg dorthin zu schaffen (oder zumindest
                zu suchen). Wege trennen die schmale Linie der gewollten
                Richtung vom Rest der Welt. Jenseits des Weges lauert das
                Unübersichtliche, die Wildnis, der Dschungel – dort liegt die
                Unwegsamkeit.
                Wege zu begehen, ist vermutlich diejenige Form der Fortbe-
                wegung, die dem Menschen am meisten gemäss ist. «Wan-
                dern» wird sie genannt. Die Texte des vorliegenden Bands
                spüren der von vielen Zeitgenossen geschätzten, ja geliebten
                Tätigkeit nach.
                Die Bilder zeigen Durchgänge und Brücken verschiedener Ar-
                ten und Formen. Solche Passagen stellen gewissermassen die
                Steigerung von gewöhnlichen Wegen dar. Mit geometrischem
                Imperativ trennen sie die Spreu vom Weizen, die Kuh vom
                Wanderer: Sie erlauben autorisierten Benutzern den Transit
                und verwehren ihn allen anderen Wesen.
Schafzaun am                                                  ■ Andreas Staeger
    Hohgant.
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Gehen      8 | 9

Gehen
  zweckfreie Steigerung                                            finden Erholung beim Spazieren oder Wandern. Und da fan-
                                                                   gen gleich schon die Schwierigkeiten an. Wo liegt denn der
  des Wohlbefindens                                                Unterschied?
                                                                   Früher – sagen wir: noch vor 30 Jahren – war der Fall klar:
  Wohin geht es heute? Für moderne Zeitgenossen beginnt der        Man stand nicht nur werktags, sondern auch am Tage des
  Tag ausserhalb der eigenen vier Wände gewöhnlich mit dem         Herrn mit den Hühnern auf, hörte den Wetterbericht von Ra-
  Gang in die Tiefgarage. Von dort fahren sie im Auto zur Tief-    dio Beromünster, packte den Rucksack, schnürte die Wander­
  garage der Firma. Zu Fuss gelangen sie an den Arbeitsplatz,      schuhe und fuhr mit dem Zug in die Berge. Sieben, acht oder
  später zur Kaffeemaschine, auf die Toilette, zum Drucker.        noch mehr Stunden wurde gewandert. So viel musste es sein,
  Abends steigen sie wieder ins Auto. Auf dem Heimweg ist          alles andere wäre lächerlich gewesen. Abends kehrte man mit
  ein Zwischenhalt im Fitness-Studio fällig: Auf dem Programm      schweren Beinen heim und fiel müde in die Federn. Von den
  steht eine halbe Stunde auf dem Stepper – also maschinen­        körperlichen Strapazen konnte man sich anderntags ohne
  unterstütztes Gehen zwecks möglichst effizienter Vernichtung     Weiteres im Büro erholen.
  überschüssiger Fettreserven. Später geht es dann ins Bett.
  Viele kleine Dinge lassen sich auch im 21. Jahrhundert nur       Freizeit im Dienste der Leistung
  zu Fuss erledigen, doch die meisten Gänge führt der Mensch       Und heute? Das Büro ist keine Erholungszone mehr. In der
  heute mit Motorenunterstützung aus. Das ruft nach Aus-           Arbeitswelt toben massive Anforderungen und seelischer
  gleich. Eine unabsehbare Fülle an Freizeitaktivitäten und        Verschleiss. Die Freizeit will so gestaltet sein, dass die Res-
  Sportangeboten steht zu diesem Zweck bereit. Am einfach­         sourcen zum Wohle optimaler Leistungsfähigkeit im Lot
  sten und zugleich am beliebtesten ist das Gehen.                 bleiben. Wenn das Pendel zu weit ausschlüge, dann wür-
  Gehen? Eigentlich ist der Begriff verpönt. Er gilt als Aller-    de die Sache kontraproduktiv. Beim Wandern darfs deshalb
  weltswort (wie «machen»), das man vermeiden sollte. Besser       auch etwas weniger sein. Im Verlauf der vergangenen 20
  als «gehen», finden die Sprachhygieniker, sei z.B.: schreiten,   Jahre hat sich die Dauer einer Wanderung, die nach sub-
  marschieren, stolzieren, pilgern, schlurfen, bummeln.            jektiver Einschätzung angemessen ist, kontinuierlich nach
                                                                   unten entwickelt. Heute kann auch ein anderthalbstündiger
  Erholung für die Bürobeine                                       ­Spaziergang als Wanderung durchgehen. Hauptsächliches
  Also schreitet der moderne Mensch am Wochenende auf den           Unterscheidungsmerkmal zwischen Wandern und Spazieren
  Spazier- oder Wanderweg. Einfacher gesagt: Die Bürobeine          ist vielleicht einzig noch die Frage nach der Ausrüstung. Wer
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Gehen     1 0 | 11

einen Rucksack und Wanderschuhe trägt, wandert. Die an-         Vielleicht ist es gewagt, in Zusammenhang mit dem Wan-
deren spazieren.                                                dern den Begriff des Zwecks zu erörtern. Denn für die meis-
Der deutsche Wanderverband mochte sich nicht einfach auf        ten Menschen dürfte eine Wanderung primär Ausdruck von
solche Mutmassungen abstützen. Er gab 2010 eine repräsen-       zwar vorübergehender, aber im Augenblick als genussvoll
tative Befragung in Auftrag. Nicht Sprachwissenschaftler leg-   empfundener Zweckfreiheit sein. Wer wandert, ist frei und
ten eine Definition fest, sondern Hinz und Kunz gaben an,       ungebunden, braucht sich nicht um Pflichten und Konventio-
was sie unter Wandern bzw. Spazieren verstehen. Das Ergeb-      nen zu kümmern, sondern kann ganz einfach die Landschaft
nis ist ebenso trivial wie tiefsinnig: «Wandern ist Gehen in    geniessen.
der Landschaft.» Oder etwas ausführlicher: «Beim Wandern
handelt es sich um eine Freizeitaktivität mit unterschiedlich   Vom Nutzen des Zweckfreien
starker körperlicher Anforderung, die sowohl das mentale wie    Stimmt das? Unsere Welt ist nutzenorientiert bis in ihre fein­
das physische Wohlbefinden fördert.»                            sten Verästelungen. Auch die Erholung gehorcht ökonomi-
Gemäss der Studie lässt sich eine Wanderung wie folgt cha-      schen Prinzipien. Es ist vornehme Pflicht der Arbeitnehmer-
rakterisieren:                                                  schaft, sich in der Freizeit so weit zu regenerieren, dass sie
– Sie dauert mehr als eine Stunde.                              dem Betrieb danach wieder grösstmögliche Produktivität zur
– Sie setzt eine Planung voraus.                                Verfügung stellen kann.
– Es wird eine spezifische Infrastruktur genutzt.               Wandern ist in dieser Hinsicht überaus nützlich, denn es hält
– Es wird eine angepasste Ausrüstung verwendet.                 fit: Wer sich regelmässig zu Fuss bewegt, reduziert die Gefahr
                                                                körperlicher und seelischer Beschwerden, ohne dafür unan-
Gewandert wird heute in allen möglichen Formen: Es gibt         nehmbare Risiken in Kauf nehmen zu müssen. Man wandert
Kurzwanderungen und Fernwanderungen, Nachtwanderun-             nicht zuletzt auch deshalb, weil man etwas für die Gesundheit
gen und Nacktwanderungen, Wanderungen für Herzkranke            tun muss.
und Wanderungen für Menschen im Rollstuhl. Als sich in den      Nun dürfte allerdings kaum jemand auf Wanderschaft gehen,
1980er-Jahren schneearme Winter häuften und verzweifelte        bloss um einen persönlichen Beitrag zur Eindämmung explo-
Kurdirektoren mit ihren Gästen über ausgeaperte Skipisten       dierender Gesundheitskosten zu leisten. Wandern ist primär
zu spazieren begannen, entstand als neuer Trend das Win-        eben doch ein zweckfreier Genuss. Den gesellschaftlich-öko-
terwandern. Später wurde es ergänzt und bereichert mit dem      nomischen Nutzen, der damit verbunden ist, nimmt man als
Schneeschuhwandern.                                             Nebenwirkung gerne in Kauf.                                ■
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Gehen   12 | 13

                  Holzleiter über
                  einen alten
                  Zaun in der
                  Gantrischkette.
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Genetik & Gebirge          1 4 | 15

Genetik & Gebirge
   Wir und die Steinzeit                                              Lederstreifen auf, was die Trittsicherheit des Wanderers mass-
                                                                      geblich erhöht haben dürfte. Punkto Funktionalität und Trag-
                                                                      komfort kann es eine solche Fussbekleidung natürlich nicht
   Der älteste Wanderer der Welt ist in Bozen stationiert. Im         mit modernen Walking-Schuhen aufnehmen. Nach Einschät-
   Südtiroler Archäologiemuseum ruht die Mumie eines stein-           zung der Archäologen ist der Stiefel jedoch für die damalige
   zeitlichen Jägers, der vor rund 5300 Jahren in den Ötztaler        Zeit durchaus als hochgebirgstauglich einzustufen.
   Alpen ums Leben kam. «Ötzi», wie ihn die Boulevardmedien           Das Bozener Archäologiemuseum verfügt über einige weite-
   tauften, beziehungsweise der «Mann aus dem Eis», wie ihn           re Exponate, die auf den ersten Blick viel weniger spannend
   die Populärwissenschaft nennt, wird in einer von aussen ein-       wirken als die Gletschermumie und ihr Gepäck. Abseits vom
   sehbaren Kühlkammer verwahrt. Entdeckt wurde er 1991 von           Publikumsrummel steht in einer Ecke beispielsweise ein etwas
   einem deutschen Ehepaar während einer Wanderung. Für die           verstaubt wirkendes Geländemodell. Doch die Miniaturland-
   Erforschung der Steinzeit bedeutete der Fund einen Quanten-        schaft – sie zeigt die Täler und Berge des Vinschgaus – hat
   sprung. Der Leichnam bildet denn auch die Hauptattraktion          es in sich. Auf Knopfdruck leuchten an verschiedenen Stellen
   des Museums.                                                       rote Lämpchen auf. Jedes Licht steht für eine archäologische
                                                                      Stätte mit Funden aus der Steinzeit. Man knipst und schaut,
   Profilsohlen seit Jahrtausenden                                    knipst und schaut – und erkennt plötzlich: Schon unsere Vor-
   Man mag sich darüber streiten, ob es angemessen ist, einen         fahren stiegen auf die Berge! Die grosse Mehrheit der Fund-
   toten Menschen auf diese Weise der öffentlichen Schaulust          stellen befindet sich an erhöhter Lage. Das hat natürlich damit
   preiszugeben. Wer das Museum einzig wegen der Gletscher-           zu tun, dass die meisten steinzeitlichen Spuren im Flachland
   leiche besucht, wird jedenfalls faszinierende Zusammenhänge        durch das Wirken der nachfolgenden Generationen ausge-
   verpassen. Noch wesentlich interessanter (und für die Wissen-      löscht wurden. Im dünner besiedelten Gebirge hingegen fiel
   schaft auch ergiebiger) als die sterblichen Überreste des Stein-   die zivilisationsbedingte Erosion wesentlich geringer aus.
   zeitmenschen sind nämlich dessen Kleidung und Ausrüstung.
   Sie führen vor Augen, mit welcher Ausstattung man sich da-         Überblick auf die Jagdgründe
   mals in die Berge aufmachte.                                       Bloss, warum nur zog es die Menschen schon vor Jahrtausen-
   Besonders eindrücklich ist das Schuhwerk. Es besteht aus           den auf die Berge? Die Luft war seinerzeit in der Höhe ebenso
   zwei Lederschichten, die ein isolierendes Polster von Heu          rein wie im Tal. Wer auf Berge stieg, trat schon damals in eine
   umschliessen. Die Sohlen weisen ein Profil aus aufgenähten         karge, abweisende Welt ein: Der Sommer ist dort kürzer als
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Genetik & Gebirge           1 6 | 17

im Flachland, das Klima härter, die Vegetation spärlicher. Doch   stieg des Opiat-Spiegels, den ein Drogensüchtiger nach der
Berge bieten etwas, das man in der Ebene vergeblich sucht:        Injektion erlebt. Die Euphorie ist diskreter, aber sie wirkt umso
Aussicht! Die Steinzeitmenschen stiegen nicht um des Pano-        nachhaltiger. Die Lust auf Wiederholung indessen kennt man
ramas willen in die Höhe, sondern weil sie sich einen Über-       auch beim Wandern. Die Behauptung sei gewagt, dass sie uns
blick auf die umliegenden Jagdgründe verschaffen wollten –        mit den Vorfahren aus der Steinzeit verbindet. Vielleicht ist es
eine existenzielle Notwendigkeit.                                 das Herz des neolithischen Jägers in uns, das uns das Hochge-
Vom Berg herab lässt sich trefflich beobachten, um welche         fühl beim Wandern auskosten lässt.                            ■
Tageszeit ein Rudel von Auerochsen, Hirschen oder Gemsen
den Fluss aufsucht. Der Blick ins Tal war gleichbedeutend
mit der Aussicht auf Speise. Das damit verbundene Glücks-
gefühl grub sich unauslöschlich ins kollektive Gedächtnis der
Menschheit ein.
Heute gilt die Jagd verbreitet als archaisches Relikt, und Nah-
rung zeigt sich uns kaum mehr in Form umherziehender Her-
den von Wiederkäuern. Doch der Blick aus der Höhe auf die
umliegende Landschaft vermittelt uns noch immer eine beglü-
ckende Befriedigung. Wer sich auf dem Gipfel befindet, steht
buchstäblich darüber, hat den Überblick auf die Welt. Und
wer auf Wanderwegen durch die Welt zieht, schöpft immer
wieder Freude aus der Sicht auf die Umgebung. Die Land-
schaft gibt Wanderern gewissermassen einen Kick.

Das Herz des Steinzeitjägers
Es ist eine stille Faszination, die vom Anblick sanft geschwun-
gener Hügel, schroffer Flühe und dichter Wälder ausgeht.
Der Kick beim Wandern ist gewiss nicht vergleichbar mit dem
explosionsartigen Adrenalinschub, den ein Bungee-Jumper
beim Sprung in die Tiefe erlebt, oder mit dem erlösenden An-
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                              Komfortable
                              Leiter verbin-
                              det Weide
                              und Wald in
                              Südengland.
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Geburt & Geschichte
   DAS ÄLTESTE KULTUR­                                               Die einzige Möglichkeit, solches Gelände zu strukturieren
                                                                     und zugänglich zu machen, bestand (und besteht noch heu-
   ZEUGNIS DER WELT                                                  te) darin, Wege anzulegen. Man darf sich darunter allerdings
                                                                     keinen bewussten Willensakt und keinen geplanten Gestal-
   Homo sapiens trat irgendwann vor etwa 150 000 Jahren auf          tungsentscheid vorstellen. Simpel gesagt: Wege entstanden,
   den Plan. Die Zeitachse unserer Vergangenheit ist eindrücklich    indem man sie beging. Der Vorgang war jedoch keineswegs
   lang. Doch greifbare Zeugnisse menschlichen Wirkens reichen       einfach, sondern mit grossen Mühen verbunden. Der sinnvol-
   auf ihr nur ein kleines Stück weit in die Vergangenheit zurück.   le Verlauf eines Weges musste stets mit erheblichem Aufwand
   Als älteste, eindeutig von Menschenhand geschaffene Werke         gesucht werden. Wege entstanden durchwegs dort, wo das
   gelten Höhlenmalereien wie jene von Altamira und Kunstwerke       Gelände den geringsten Widerstand bot. Das ist wahrhaft
   wie die Venus von Willendorf. Sie sind zwischen 25 000 und        menschengemäss, denn der Mensch ist von Natur aus faul.
   30 000 Jahre alt. Was Menschen in den vielen zehntausend Jah-     Oder um es in moderner Terminologie auszudrücken: Er ist
   ren davor getan haben, verliert sich im Dunkel der Geschichte.    ökonomisch orientiert.
   Noch jünger sind schriftliche Hinterlassenschaften. Die ältes-    Fast während der gesamten Dauer der menschlichen Entwick-
   ten Dokumente, die uns von früheren Generationen erhalten         lung war Gehen zweckgebunden. Menschen folgten zu Fuss
   blieben, zählen gerade einmal 4000 Jahre. Wahrscheinlich          ihren Beutetieren. Auch später, als sie sesshaft waren, stan-
   handelt es sich dabei nur um punktuelle, zufällige Überbleib-     den ihre Märsche im Dienste der Nahrungsbeschaffung bzw.
   sel der ersten Hochkulturen. Noch ein wenig älter mögen           -produktion. Selbst in vergleichsweise fortgeschrittenen Zivili-
   mündliche Überlieferungen sein – Sagen, Mythen und Mär-           sationen – etwa im Europa des 18. Jahrhunderts – wurde nie
   chen tragen Elemente der Weltsicht früherer Zeiten bis in un-     zweckfrei gewandert. Wer einen Weg unter die Füsse nahm,
   sere Tage. Auch in Flurnamen haben sich die Wahrnehmung,          hatte stets ein klares, unumstössliches Motiv dafür: Handel,
   das Denken und Sprechen unserer Vorfahren verewigt. Die           Kriegsdienst, Pilgerei, Arbeitssuche. Das Volkslied «Das Wan-
   Namen von Flüssen stellen gemäss den Erkenntnissen der            dern ist des Müllers Lust» ist im Grunde nichts anderes als
   Sprachwissenschaft die ältesten dieser Spuren dar. In etlichen    eine zynische Idealisierung der Tatsache, dass dem armen
   von ihnen – etwa auch in «Aare» – steckt als Wurzel der in-       Müllergesellen keine andere Wahl als die Walz blieb, wenn er
   dogermanische Wortstamm «er-» (= «sich bewegen»). Die             sein wirtschaftliches Fortkommen sichern wollte.
   Fliessgewässer dienten einst als wichtige Orientierungspunkte     Unterwegs lauerten auf die Wanderer unabsehbare Gefah-
   in unbekanntem und unübersichtlichem Gelände.                     ren – Stürme, wilde Tiere, Räuberbanden. Nur einem Irren
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(oder einem Spassvogel) wäre es in den Sinn gekommen,             Heute ist das völlig anders. Das Ziel ist sekundär, Unterwegs-
sich solchen Tücken freiwillig auszusetzen. Einer der ersten      sein ist die Hauptsache. In diesem Sinne ist Wandern eine
dieser Narren war der Schriftsteller Johann Gottfried Seume.      Luxus-Erscheinung geworden: Man unternimmt etwas, das
Er leistete sich 1802 einen spleenigen Luxus, indem er einen      eigentlich nicht notwendig ist. Wandern erfolgt freiwillig. ■
«Spaziergang nach Syrakus» (so der Titel seines Reiseberichts)
unternahm – vorgeblich einzig deshalb, weil er erfahren woll-
te, wie die Zitronenblüten auf Sizilien riechen, hauptsächlich
aber, um Land und Leute südlich der Alpen kennenzulernen.
Seumes Credo: «Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.» Er
gehörte zu den Wegbereitern einer stürmischen Entwicklung,
die das Gehen in den folgenden Jahrzehnten einer völlig
neuen Dimension zuführte: Wandern wurde zu einer neuen,
nicht mehr zweckgebundenen Art der Fortbewegung, die in
gesellschaftstheoretischer Sicht als Symbol der aufklärerischen
Emanzipation des Bürgertums vom Adel gedeutet wurde.
Das Wandern, wie wir es heute kennen und praktizieren, ist
eine moderne Errungenschaft, ein Kind der Industrialisierung.
Wer in düsteren Fabriken vor sich hinschuftete und in engen,
verrauchten Städten leben musste, hatte das Bedürfnis, Aus-
gleich in der Natur zu finden. Wie der Schrebergarten ist die
Wanderbewegung ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Davor
war im modernen Sinn gar nicht gewandert worden. Man
war zwar zuweilen unterwegs, aber nur dann, wenn es nicht
anders ging. Und wer sich auf den Weg machte, für den gab
es keine andere Möglichkeit, als zu Fuss zu gehen. Nur eine
winzige Oberschicht konnte es sich leisten, in rumpelnden
Kutschen über löchrige Strassen zu fahren. Gehen war so
selbstverständlich wie atmen oder trinken.
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                                Passage für
                                Velofahrer
                                und Wanderer
                                im Chasseral-
                                Gebiet.
G er ät e & G eh ei m t i p p s   26 | 27

Geräte & Geheimtipps
   Stilfragen zur                                                  auf die fantastischen Eigenschaften des Materials schwören,
                                                                   wird es von einer Fraktion von Ketzern als umweltbelastende
   Ausrüstung                                                      Nutzlosigkeit – «Ich stecke meine Füsse doch nicht in Plastik-
                                                                   säcke!» – apostrophiert. Die Wahl zwischen den beiden
   Vor rund 20 Jahren kamen die ersten gebrauchsfähigen (al-       ­Konfessionen bleibt jedem und jeder selbst überlassen. Man-
   lerdings noch höchst sperrigen) Mobiltelefone auf den Markt.     che Sportartikelhändler räumen im Vertrauen ein, dass eine
   Heute sind die Apparate allgegenwärtig und haben die Funk-       Minderheit der Kunden mit den High-Tech-Geweben nicht
   tionen einer Reihe weiterer Geräte (Computer, Kamera, GPS-       glücklich zu werden vermag. Deshalb werden nach wie vor
   Empfänger, Musikabspielgerät usw.) übernommen. Die Ent-          traditionelle Schuhe im Angebot geführt, die nur aus Leder
   wicklung ist enorm dynamisch, die Konsequenzen sind kaum         gefertigt sind.
   absehbar. In spätestens 20 Jahren werden Computer so leis-
   tungsfähig sein, dass sie die Funktion eines Menschenhirns      Soll man die Ordonnanzschuhe, die einem vor 40 Jahren
   simulieren und, wer weiss, substituieren können.                anlässlich der militärischen Aushebung abgegeben wurden,
   Was hat dies mit dem Wandern zu tun? Wer sich auf die So-       noch zum Wandern anziehen? Da spricht nichts dagegen. Die
   cken macht, braucht nicht viel. Kleidung für den Leib und die   alten Armee-Treter forderten seinerzeit einen reichlich bluti-
   Füsse ist das Mindeste (gemäss der Nacktwander-Bewegung         gen Tribut. Doch nachdem man sie endlich eingetragen hatte,
   geht es sogar ohne), der Rest ist entbehrlich. Und dennoch      war ihre Passform unübertrefflich. Falls sie das noch immer
   – in den allermeisten Rucksäcken, die auf Wander­      wegen    ist, dann brauchen die schwarzbraunen Kübel noch nicht zu
   unterwegs sind, befindet sich heute ein Mobiltelefon. Im
   ­                                                               Geranientöpfen umfunktioniert zu werden.
   Spannungsfeld zwischen Pragmatismus und Stilbewusstsein
   stellen sich viele Fragen.                                      Darf man über rote Socken schnöden? Das ist weniger emp-
                                                                   fehlenswert, weil man sich dadurch als Ewiggestriger entlarvt.
   Darf man auf Gore-Tex und ähnliche Segnungen verzichten?        Natürlich waren im ausgehenden 20. Jahrhundert Knickerbo-
   Man darf. Die intelligent scheinenden Membranen, die of-        cker-Hosen und bunte Socken in manchen Kreisen noch immer
   fenbar zwischen Regen- und Schweisstropfen zu unterschei-       en vogue, obwohl diese Art von Bekleidung ihr Haltbarkeits-
   den wissen, indem sie die einen abweisen, die anderen aber      datum in Sachen Ästhetik eigentlich schon längst überschrit-
   durchlassen – diese Wundertextilien haben der Wanderbewe-       ten hatte. In fortschrittlichen Kreisen gehörte es deshalb zum
   gung zu heftigen Debatten verholfen. Während die Jünger         guten Ton, über solchen textilen Unfug zu lästern. Doch hin-
G er ät e & G eh ei m t i p p s   28 | 29

ter derartiger Kritik steckte auch eine Geisteshaltung, die das     Darf man die Rettungsflugwacht rufen, wenn man die Schuh-
Wandern als hoffnungslos bodenständig, out und uncool               bändel hoffnungslos verknotet hat? Durchaus – die Rechnung
einstufte. Seit der Jahrtausendwende hat das Wandern eine           ist allerdings gepfeffert, und die Krankenkasse lehnt eine Kos-
erstaunliche Wandlung durchgemacht. Bände spricht die Bild-         tenbeteiligung garantiert ab. Seit in den Wander-Rucksäcken
welt, mit der die nationale Tourismusvermarkterin Schweiz           dieser Welt kaum mehr Kompasse, Wundpflaster und Wan-
Tourismus seit einigen Jahren wirbt: Sie zeigt in vollendet ge-     derkarten, dafür aber immer mehr Mobiltelefone vorkom-
lassener Ästhetik junge Menschen beim Wandern. Wo die alte          men, haben sich Bagatell-Alarme bei den Rettungsdiensten
Kritik am Wandern noch immer geübt wird, fällt sie jetzt auf        gehäuft. Wer etwa unerwarteterweise feststellen muss, dass
die Kritiker selbst zurück. Und wer weiss – vielleicht wird eines   es abends plötzlich dunkelt, kann heute ohne viel Federlesens
Tages ein Trend-Guru in Manhattan (oder dann halt wenigs-           das Gerät zücken und kommt danach endlich zum vielleicht
tens in Zürich) das Revival der roten Socken lancieren und mit      schon lange ersehnten Helikopter-Jungfernflug.
dem Retro-Style das grosse Geschäft machen?
                                                                    Darf man sich eigentlich noch mit Wanderkarten blicken las-
Soll man eine Krawatte über die Grimsel tragen? Jein. Für den       sen? Im Vergleich zu einem modernen Mobiltelefon mit hoch-
Säumerweg lautet die Tenü-Empfehlung natürlich «casual» –           auflösendem Touchscreen und eingebautem satellitenge-
die Kombination von Krawatte und Wanderschuhen ist unver-           stütztem Global Positioning System (GPS) sieht eine papierene
daulich. Wer aber abends im Hospiz die gepflegte Ambiance           Wanderkarte natürlich definitiv alt aus. Sie verfügt allerdings
lieber in angemessenem Outfit statt mit verschwitztem T-Shirt       über einige Vorteile, die wohl noch längere Zeit unschlagbar
geniessen will, liegt alles andere als daneben.                     bleiben dürften: Ihre Daten gibt sie auch in finsteren Wäldern
                                                                    und tiefen Schluchten preis; sie ist kein Elektrizitäts-Junkie,
Ist Nordic Walking noch «in»? Da scheiden sich die Geister.         der immer wieder ans Kabel muss; sie funktioniert selbst dann
Noch immer gibt es unverdrossene Gemüter, die mit schep-            noch, wenn sie mehrmals zu Boden gefallen ist; und sie ge-
pernden Stäben forsch über den Asphalt stöckeln. Doch die           währt den Überblick auf eine Fläche, die deutlich grösser als
Skeptiker scheinen die Oberhand zu gewinnen. Ihnen war es           zwei Fischstäbli ist.
von Anfang an nicht geheuer, wie sich das Wandervolk zum
Vierbeinergang zurückentwickelte, indem es nicht nur auf            Was hat der Wollpullover im Rucksack verloren? Eigentlich
Füssen, sondern gewissermassen auch auf den mit Stöcken             nicht mehr viel. Bei der Wanderbekleidung ist das Zwiebel-
verlängerten Händen ging.                                           schalenprinzip schon vor Jahren als Trend aufgekommen.
G er ät e & G eh ei m t i p p s   3 0 | 31

Heute hat es sich als bewährte Lösung etabliert. Je nach Wit-
terung werden verschiedene Lagen aus spezifischen Textilien
übereinander angezogen. Dabei kommen sowohl atmungs-
aktive Multifunktionsfasern als auch wind- und wasserdichte
Gewebe zum Einsatz. Das Material erlaubt zahlreiche Kombi-
nationen. Ein klassischer alter Pulli kann es mit dieser Vielfalt
an Einsatzmöglichkeiten nicht aufnehmen. Bei ihm gibt es
hauptsächlich zwei Daseinsformen: Man trägt ihn nicht und
friert, oder man trägt ihn und schwitzt.                      ■

                                                                                                                 Zaundurch-
                                                                                                                 gang am
                                                                                                                 Lauberhorn.
Geselligkeit        32 | 33

Geselligkeit
   Der Weg zu sich und                                                 Heute haben sich die Gewichte verschoben, doch nach wie
                                                                       vor wird eifrig gepilgert. Busse und Ablass sind in den Hinter-
   anderen                                                             grund gerückt, jetzt steht die Distanz zum alltäglichen Einerlei
                                                                       im Vordergrund. Oder auch gleich die Bilanz über das ganze
   Beim Wandern schaltet das menschliche Gehirn in einen an-           bisherige Leben.
   deren Betriebszustand. Drängende Fragen und verkorkste
   Probleme, die tags zuvor im Büro noch unlösbar schienen, zei-       Single-Party in der Pilgerherberge
   gen sich auf einmal aus einer völlig anderen Perspektive, und       Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist dermassen en vogue, dass
   die Lösungen dafür brauchen nur noch gepflückt zu werden            leicht drei bemerkenswerte Aspekte ausser Acht geraten. Ers-
   wie reife Früchte. Diesen so ganz andersartigen Modus ge-           tens: Weil heute kaum jemand ernstlich eine mehrmonatige
   niessen die meisten Menschen gewissermassen «en passant»            Auszeit für eine Wanderung nach Nordwestspanien erwägen
   – als willkommene Unbeschwertheit und damit als angeneh-            kann, wird das Projekt in Tages- oder Wochenhappen ge-
   me geistige Nebenwirkung einer sonst vor allem körperlich           splittet. Viele Pilgerinnen und Pilger führen ihre Reise daher
   wohltuenden Tätigkeit.                                              gleichsam in Raten aus: Nächsten Frühling fahren sie dort wei-
   Manche Leute verstehen diesen Zustand jedoch auch ganz              ter, wo sie letzten Herbst aufgehört haben. Dem Vorhaben
   bewusst und zielstrebig zu nutzen: Wenn ein gewichtiger Ent-        innerer Läuterung scheint das nicht zu schaden.
   scheid ansteht oder eine kreative Idee gefragt ist, plagen sie      Zweitens: Der Weg ist nur halbwegs das Ziel. Die Wanderung
   sich nicht mit langem Brüten und Abwägen. Stattdessen unter-        auf dem Jakobsweg kennt eigentlich nur eine Richtung: nach
   nehmen sie einfach eine Wanderung. Die Erfahrung hat sie ge-        Westen. Wer in Santiago ankommt, ist am Ende der Reise. Zu-
   lehrt, dass die Lösung dann gewissermassen auf sie zukommt.         rück wandert keiner, denn dafür gibt es heutzutage Verkehrs-
   Beim Wandern werden Menschen offenbar nicht nur zu räum-            mittel, die effizienter funktionieren als Schusters Rappen.
   lichen Zielen geführt, sondern auch auf den Weg zu sich selbst.     Und drittens: Pilgern ist heute keine einsame Bussveranstaltung
   Dessen war man sich schon im Mittelalter bewusst. Wer nach          mehr, sondern eine gesellige Angelegenheit – man ist ja nicht
   Rom, Santiago de Compostela oder zu anderen Pilgerstätten           alleine unterwegs. Insider munkeln, dass in manchen Pilgerher-
   reiste, suchte zwar primär das Seelenheil, das am Ziel verheis-     bergen abends keineswegs besinnliche Einkehr praktiziert wird,
   sen war. Doch auch die lange Reise selbst wurde als wertvoll        sondern ausgesprochen weltliche Kontaktfreude herrscht.
   erlebt: als Phase innerer Läuterung, als geistig-seelische Berei-   Die Pilgerfahrt als Single-Party? Der Heilige Jakob als Partner-
   cherung und als Chance zu persönlicher Entwicklung.                 schaftsvermittler? Wer ob solchen Fragen ins Grübeln kommt,
Geselligkeit        34 | 35

sollte bedenken, dass das Wandern ohnehin oft eine sozia-         noch Insider, wo diese lagen und wie sie verliefen. Das Wan-
le Angelegenheit ist. Wer mit offenen Augen (und offenem          dervolk musste sich damit abfinden.
Herzen) auf Wanderwegen unterwegs ist, begegnet nicht nur         Die Ersten, die einen Ausweg aus dem Dilemma fanden,
sich selbst, sondern auch anderen Menschen – und zwar im          ­waren die Berner Wanderwege. Sie liessen ab 1941 die Un-
doppelten Wortsinn, indem neue Bekanntschaften geschlos-           eingeweihten am Wissen der Kundigen teilhaben, indem sie
sen werden und bestehende Beziehungen in neuem Licht er-           geführte Wanderungen organisierten. Qualifizierte Wander-
scheinen.                                                          leiter wiesen nun ganzen Gruppen von Wanderbegeisterten
Beim Wandern können Gespräche von einer erfrischenden              Wege durch den nicht-signalisierten Landschaftsdschungel.
Zwanglosigkeit geführt werden. Im Unterschied zu konventi-         Damit war etwas geboren, das Spötter schon bald als «Wan-
onellen Dialogsituationen ist selbst Schweigen ohne Weiteres       dern im Flottenverband» belächeln sollten. Das Modell wurde
möglich. Und erstaunlicherweise resultieren aus dieser Kon­        indessen rasch auch in anderen Kantonen eingeführt und hat-
stellation nur selten banale Plappereien. Im Gegenteil: Manch-     te durchschlagenden Erfolg.
mal ergeben sich geradezu tiefsinnige Diskussionen über Gott
und die Welt. Wer beim Wandern miteinander spricht, kommt         Das Ländli und die Buben
sich unweigerlich näher.                                          Dazu trug das Schweizer Radio massgeblich bei. 1961 nahm
                                                                  es die zum Wandern animierende Sendung «Chum Bueb
Insiderwissen für alle                                            und lueg dys Ländli aa» ins Programm auf. Die legendären
Viele Dinge hat der Krieg beeinflusst – auch das Wandern. Als     «Radiowanderungen» vermochten jede Woche etliche «Bu-
Deutschland Ende der 1930er-Jahre zu mörderischen Schlägen        ben» (und natürlich auch «Meitli») zu bewegen, ihr «Ländli»
auf die Nachbarländer ansetzte, liess die Schweizer Armeespit-    zu entdecken – zu Spitzenzeiten nahmen daran manchmal
ze flugs das Wanderwegnetz aufheben. Die erst wenige Jahre        über 1000 Personen teil. Es war die Zeit, als man in der TV-
zuvor aufgehängten, noch immer frisch glänzenden Wegwei-          Chämi-Hütte «Alles fährt Ski» sang. Und tatsächlich, es war
sertafeln wurden auf obrigkeitliches Geheiss hin abgeschraubt     die Wahrheit: Fast die ganze Nation fuhr im Winter Ski und
und eingemottet. Grund: Für den Feind, der an der Grenze          ging im Sommer auf Radiowanderungen.
lauerte, hätten die gelben Schilder eine Orientierungshilfe mit   Doch seither hat sich die Gesellschaft gewandelt. Der Trend zur
möglicherweise verheerender Wirkung dargestellt.                  Individualisierung hat vor dem Wandern nicht Halt gemacht.
Kaum gewonnen, schon zerronnen: Seit Kurzem gab es zwar           Die Soziologie des Wanderns fokussiert heute vermehrt auf
im ganzen Land tolle Wanderrouten, aber nun wussten nur           den Einzelnen und kaum mehr auf die Gruppe. Nicht von un-
Geselligkeit   36 | 37

gefähr sackte die Nachfrage bei den Radiowanderungen im
Laufe der Zeit weg. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde
das Angebot komplett eingestellt. Der Begriff «Radiowande-
rung» hingegen ist noch heute gelegentlich im Gebrauch – als
plakatives, eher negativ geladenes Bild für eine unpersönliche
Massenveranstaltung.                                        ■

                                                                                          Selektiv
                                                                                          transparente
                                                                                          Grenze aus
                                                                                          Stein, Eisen
                                                                                          und Holz im
                                                                                          Berner Jura.
Geschwindigkeit           38 | 39

Geschwindigkeit
   Die menschengemässe                                               Aufstiege, Abstiege, Pausen
                                                                     Ein wenig schneller, doch noch immer massvoll ist Wandern
   Fortbewegung                                                      im Sinne des statistischen Durchschnitts. Das Normtempo be-
                                                                     trägt exakt 4,2 Kilometer pro Stunde. Auf diesem Wert ba-
   Mit beissendem Witz schilderte der Dadaist Walter Serner un-      sieren die Angaben auf den gelben Wegweisertafeln entlang
   sere Welt: «Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der        der rund 64 000 km Wander- und Bergwanderwege in der
   Damenstrümpfe verkauft werden.» In nihilistischer Perspekti-      Schweiz.
   ve betreiben wir Menschen kein anderes Geschäft, als endlos       Bevor eine solche Tafel mit Orts- und Zeitangaben versehen
   auf einem kosmischen Geröllhaufen herumzukraxeln. Und             wird, sind verschiedene Berechnungsschritte notwendig.
   dies nicht etwa in beschaulichem Tempo. Vielmehr rasen wir        Auf- und Abstiege werden ebenso berücksichtigt wie die ho-
   – und wie!                                                        rizontale Distanz. Pausen hingegen sind nicht eingerechnet,
                                                                     eigentlich – im Grunde aber trotzdem. Die erwähnte Stan-
   Sprung durch den Raum                                             dardgeschwindigkeit hat militärischen Ursprung.
   Ein Mensch benötigt vielleicht fünf Sekunden, um den vor-         Ausgangspunkt ist ein mittleres Marschtempo von 5 km/h,
   liegenden Satz zu lesen. In dieser kurzen Zeitspanne wird er,     wie es für eine erwachsene Durchschnittsperson typisch ist,
   obwohl er still in seinem Lehnstuhl sitzen mag, förmlich durch    und eine Marschdauer von 50 Minuten pro Stunde, gefolgt
   den Raum katapultiert – allein 1,5 km weit wegen der Dre-         von einer 10-minütigen Pause. Wer in diesem Rhythmus von
   hung der Erde um sich selbst. Nicht genug damit: Hinzu kom-       zügigem Gehen und regelmässiger Erholung unterwegs ist,
   men 150 km aufgrund der Rotation der Erde um die Sonne.           vermag notfalls ganze Tagesmärsche zu bewältigen – und
   Der Sprung durch den Raum wird noch kräftig verstärkt um          kommt auf den genannten Wert von 4,2 km/h.
   weitere 1500 km, weil sich die Sonne gleichzeitig auch um
   das Zentrum der Milchstrasse dreht. Und all dies wird noch        Daten für jedes Menschenalter
   überlagert von der Bewegung unserer Galaxis im Weltall.           Die Zeitangaben auf Wegweisern sind ein wunderschönes
   Wanderer braucht dies nicht zu kümmern. Mit stoischem             Abbild der demokratischen Gesellschaft – sie zeigen einen
   Gleichmass legen sie ihren Weg durch Zeit und Raum zurück.        Durchschnittswert, den in der Realität kaum jemand exakt
   Sie wissen: Es gibt ein menschliches Mass der Geschwindig-        erreicht. Jüngere, sportlich gestimmte Wanderer haben den
   keit. Pro Sekunde ein Pulsschlag, pro Sekunde ein Schritt – das   Ehrgeiz, die Werte auf den Tafeln um einen Viertel, einen Drit-
   ist gemütvolles und gemütliches Gehen.                            tel oder noch mehr zu unterbieten. Ältere Leute hingegen ge-
Geschwindigkeit          4 0 | 41

währen sich einen mehr oder weniger grosszügigen Zuschlag           Wegstunde mass 18 000 Berner Schuh, was etwa 5,3 km ent-
und wissen, dass sie sich auf die frisierte Zahl ebenso verlassen   spricht.
können wie in jüngeren Jahren auf die effektiven Werte.             Dieser Wert galt bis 1837. Danach wurde er durch die
Einzig Menschen im sogenannt besten Alter bekunden gele-            Schweizer Wegstunde zu 16 000 Fuss ( = 4,8 km) ersetzt. Das
gentlich Mühe mit den Angaben auf den Wegweisern. «Im               Marschtempo wurde somit über Nacht um zehn Prozent ge-
Vergleich zu früher», mutmassen sie dann, «sind die Zeitan-         senkt, und seither marschieren die Berner langsamer. Immer
gaben in letzter Zeit eng geworden; man muss sich beeilen,          wieder müssen sie sich Vorhaltungen wegen ihrer angebli-
um sie einhalten zu können.» Sie irren – es gibt keine bösen        chen Bedächtigkeit anhören. Vielleicht sind diese Klischeevor-
Mächte, die ihnen übel mitspielen, indem sie klammheimlich          stellungen nur ein Nachhall des Umstands, dass sie seinerzeit
die Zeitangaben nach unten schrauben. Die Werte auf den             ihr Tempo auf schweizerisches Durchschnittsniveau hinunter-
Wegweisern sind gleich geblieben, doch der Körper ist älter         schrauben mussten.                                         ■
geworden, das Herz pumpt weniger effizient, die Muskeln ar-
beiten gemächlicher. Manche haben Mühe, damit zurechtzu-
kommen. Ihnen fällt es leichter, unschuldige Wegweisertafeln
in ein schiefes Licht zu rücken.
Wenn schon Verschwörungstheorien bemüht werden sollen,
dann müssten sie in eine andere Richtung zielen. Im Kanton
Bern wurde das Marschtempo im 19. Jahrhundert auf obrig-
keitliche Weisung hin tatsächlich angepasst – nach unten.

Wie die Berner langsam wurden
Stundensteine zeigten früher im Staat Bern die Distanz von
peripheren Punkten zum Zentrum an, dem Zytgloggenturm
in Bern. Sie waren an gut sichtbarer Stelle möglichst nahe an
den schon damals intensiv genutzten Landstrassen platziert.
Anders als im heutigen Strassenwesen üblich wurden die Di-
stanzen nicht in Längenangaben, sondern in Zeiteinheiten
– eben Stunden bzw. Bruchteilen davon – angegeben. Eine
Geschwindigkeit   42 | 43

                            Gatter
                            zwischen
                            Wiesenland
                            und Heide
                            im Dartmoor,
                            England.
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Gesetz & Geld
   STRASSEN UND WEGE:                                                  Idealisten, die einen sinnvollen Beitrag zum Gemeinwohl leis-
                                                                       ten wollten, führten die Arbeiten in den einzelnen Kantonen
   IM SCHICKSAL VERBUNDEN                                              auf ehrenamtlicher Basis aus. Für die Koordination der Auf-
                                                                       gaben wurden Vereine gegründet, der erste davon 1933 im
   Anfang des 20. Jahrhunderts begann das Auto seinen Siegeszug        Kanton Zürich. Wenige Jahre später wurde auch im Kanton
   um die Welt. Nach und nach wurden auch die hintersten Berg-         Bern eine entsprechende Organisation aus der Taufe gehoben
   täler von motorisierten Kutschen erobert. Die letzte Bastion fiel   – der Verein Berner Wanderwege. Im kommenden Frühling
   1925, als in Graubünden ein jahrzehntealtes Autoverbot auf-         feiert dieser sein 75-jähriges Bestehen.
   gehoben wurde. Zuvor hatte die Bündner Stimmbevölkerung             In den Pionierjahren vor und während des Zweiten Weltkriegs
   eine Zulassung des Automobil-Verkehrs mehrmals abgelehnt.           gab es hierzulande nur einzelne signalisierte Wanderrouten.
   Verschiedentlich war es im Wilden Osten der Schweiz sogar zu        Diese lagen willkürlich über die Gegend verstreut. In den fol-
   heimtückischen (und blutigen) Attacken auf kühne Automobil­         genden Jahren und Jahrzehnten kamen laufend neue Stre-
   isten gekommen, die trotzdem durch die Täler fuhren.                cken hinzu. Dadurch entstanden zunehmend Verknüpfungen,
   Wie schon im 19. Jahrhundert lautete die sonntägliche Devise        bis schliesslich ein flächendeckendes Netz vorlag.
   der werktätigen Bevölkerung weiterhin: Raus aus der Stadt und       Heute verfügt die Schweiz über fast 64 000 km signalisierte
   freien Atem schöpfen auf dem Wanderweg. Doch was die Städ-          Wander- und Bergwanderwege. Das Netz verknüpft sämtli-
   ter auf dem Land nunmehr zu riechen bekamen, waren nicht            che Ortschaften mit unzähligen Hügeln, Bergen, Tälern und
   mehr reine Lüfte, sondern Abgasschwaden. Zudem setzten die          Gewässern. Im Prinzip kann man in der Schweiz praktisch in
   Blechboliden schamlos das Recht des Stärkeren durch, indem          jedem Wohnhaus die Wanderschuhe anziehen, ein paar Mi-
   sie die Wanderer beiseitedrängten oder sie sogar – bei beson-       nuten zur nächsten signalisierten Wanderroute spazieren und
   ders brenzligen Begegnungen – an Leib und Leben bedrohten.          von dort aus eine Wanderung unternehmen. Gemäss einer
                                                                       Studie bezeichnen sich denn auch 33% der Bevölkerung als
   Auf der Suche nach den stillen Wegen                                aktive Wanderer.
   Die Reaktion liess nicht lange auf sich warten. In den dreissi-
   ger Jahren ertönte der Schlachtruf «Dem Automobilisten die          Globales Kuriosum
   Strasse, dem Wanderer die stillen Wege». Damit das Wan-             Es schleckt keine Geiss weg: Wanderwege in ihrer heutigen
   dervolk auf den rechten Weg fand, begann man, geeignete             Form sind erst aufgrund der Reibung mit dem Strassenverkehr
   Strecken mit Tafeln und Rhomben zu signalisieren.                   notwendig geworden. Zu behaupten, das Auto sei des Wan-
Gesetz & Geld         4 6 | 47

derers Widersacher, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Stras-         durch den Menschen. Zu jener Zeit hatte der Zürcher Stadt-
senverkehr und Wanderwege bilden vielmehr eine erstaunlich            präsident und Nationalrat Sigmund Widmer die Idee, von Zü-
eng verflochtene Schicksalsgemeinschaft. In rechtlicher Hin-          rich nach Bern zu wandern. Unterwegs gingen ihm die Augen
sicht nehmen Wanderwege sogar eine ähnliche Stellung ein              auf: Weit mehr als die Hälfte der Strecke verlief auf asphal-
wie Strassen – und fallen deshalb als öffentliche Infrastruktur       tierten Strecken. Die Bedürfnisse des Autoverkehrs und be-
auch nicht in die Zuständigkeit eines Bundesamts für Wander-          sonders der Landwirtschaft hatten dazu geführt, dass endlo-
wege (das nicht existiert), sondern des Bundesamts für Stras-         se Wanderweg-Strecken auf schleichende Weise «staubfrei»
sen. Auf kantonaler Ebene sind es in der Regel die Tiefbauäm-         und «wintersicher» gemacht worden waren, wie es beschö-
ter, die für Wanderwege zuständig sind.                               nigend heisst.
Das hat auch Folgen für die Finanzierung der Wander-Infrastruk-       Um Widmer formte sich ein Kreis von Engagierten, die eine
tur. Die öffentliche Hand leistet an den Bau, die Signalisation und   Volksinitiative zur «Förderung der Schweizerischen Fuss- und
den Unterhalt der Wanderwege Beiträge, die unter anderem aus          Wanderwege» lancierten. Das Anliegen war einfach – und ra-
Treibstoffzoll- und Mineralölsteuer-Erträgen stammen. Mit ande-       dikal: «Fuss- und Wanderwege sind abseits befahrbarer Stras-
ren Worten: Das Wandern wird aus Töpfen gefördert, die mit            sen zu führen» besagte der Vorstoss kurz und bündig. Was
dem Strassenverkehr gespeist werden – ein vollendetes Beispiel        dies bei einer Annahme bedeutet hätte, war nicht abzusehen.
für die feinen Mechanismen des Verursacherprinzips.                   Deshalb bildete sich in politischen Kreisen Widerstand gegen
                                                                      das eigentlich sympathische Anliegen. Im Bundesparlament
Lauter staubfreie Wege                                                setzte sich schliesslich ein aufgeweichter, dafür mehrheitsfähi-
Die Zusammenhänge mögen auf den ersten Blick kurios er-               ger Gegenvorschlag durch. Die Schweizer Stimmbevölkerung
scheinen. Doch in Tat und Wahrheit ist es ein Glücksfall, dass        nahm ihn 1979 mit überwältigender Mehrheit an.
überhaupt eine politische Instanz für das Wandern zuständig           Der Verfassungsartikel ist die Grundlage für das Bundesgesetz
ist. Die Angelegenheit hat einen Hintergrund, den man als             über Fuss- und Wanderwege, das 1987 in Kraft trat. Seither
helvetischen Sonderfall erster Güte einstufen darf und der die        gilt: Wer einen Wanderweg asphaltieren oder für den Motor-
Schweiz zum Wanderland par excellence macht. Unser Land               fahrzeugverkehr öffnen will, hat ihn durch eine mindestens
ist nämlich weltweit der einzige Staat, dessen Verfassung ei-         gleichwertige Alternativroute zu ersetzen. Die Verstrassung
nen Artikel über Wanderwege enthält.                                  der Wanderwege ist seither zwar weitergegangen, immerhin
Den Anstoss dazu gab in den siebziger Jahren das Unbehagen            verhindert die Regelung jedoch die schlimmsten Auswüchse.
über die fortschreitende Einengung von Natur und Umwelt               Grösster Schwachpunkt des Gesetzes ist allerdings, dass es
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sämtliche Wanderwege ausklammert, die vor seiner Inkraft-
setzung bereits asphaltiert waren. Deren Volumen ist be-
trächtlich. Auf gut 27 Prozent beläuft sich ihr Anteil am ge-
samten Wanderwegnetz. Verlegungen auf Naturwege lägen
zwar im Interesse der Wanderer, sind jedoch selten möglich.
Die Schweiz ist nämlich mittlerweile nicht nur mit Gebäuden,
sondern auch mit Verkehrswegen dicht überstellt. Selbst in
entlegenen Gebieten wird heute fast jeder Bauernhof und
jede Alp durch eine asphaltierte Strasse erschlossen.     ■

                                                                                          Holzsteg über
                                                                                          sumpfiges
                                                                                          Moor im
                                                                                          Padjelanta
                                                                                          Nationalpark,
                                                                                          Schwedisch
                                                                                          Lappland.
G eg ens ät z e & G efa h r en     5 0 | 51

Gegensätze & Gefahren
   Wege durch die                                                     sie erzeugen, lassen manche von ihnen einfach liegen, ob-
                                                                      wohl der gesunde Menschenverstand (oder das Gewissen)
   Unwegsamkeit                                                       etwas anderes gebietet.
                                                                      Und vor allen Dingen: Wanderer verursachen eine Menge Ver-
   Wanderer schätzen Einsamkeit und Stille. Viele von ihnen stö-      kehr. Gegen die Auswüchse der Freizeitmobilität ist auch eine
   ren sich daran, wenn hundert andere über die gleiche Piste         solch sympathische und positive Aktivität wie das Wandern
   marschieren. Man will für sich sein, allein auf weiter Flur, nur   nicht gefeit. Mitunter werden stundenlange An- und Rück-
   Natur um sich haben. Doch selbstverständlich möchte man            fahrtswege in Kauf genommen, damit eine solch simple Tätig-
   gleichzeitig die Segnungen der Zivilisation beanspruchen.          keit wie das zweckfreie Gehen ausgeübt werden kann – eine
   Zum Beispiel lückenlos signalisierte Wanderwege, gemütliche        Tätigkeit notabene, die man gerade so gut vor der eigenen
   Gaststätten und regelmässig bediente Postautohaltestellen.         Haustür aufnehmen könnte.
   Mit anderen Worten: Wanderer suchen das Unvereinbare –
   den Weg durch die Unwegsamkeit.                                    «Nun blicke kalt und klar!»
                                                                      Zu den Schattenseiten des Wanderns gehören die Gefahren,
   Auswüchse der Freizeitgesellschaft                                 die damit verbunden sind. «Nun Wanderer gilt‘s! Nun blicke
   Wie soll das funktionieren? Dem Wandern wohnen offen-              kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.» Ob
   sichtlich Widersprüche inne. Wie andere Arten der Freizeit-        Nietzsche wirklich Recht hatte? Wanderer, die unter Höhen-
   gestaltung und des Tourismus weist auch das Wandern nicht          angst und Schwindel leiden, meiden jedenfalls besser Grate
   nur Sonnenseiten auf. Die Auswirkungen sind im Vergleich           und Flühe; sie könnten sich sonst selbst ins Verderben stürzen.
   zu anderen Aktivitäten weniger gravierend, aber sie exis-          Im Übrigen empfiehlt es sich, dass Wanderer die Augen of-
   tieren zweifellos. Anders als manche Sportanlagen führen           fen halten, um Risiken rechtzeitig zu erkennen. Weil Wandern
   Wanderwege zwar keine optische Verunstaltung der Land-             sich naturgemäss im Freien abspielt, sind sie den Einwirkun-
   schaft mit sich und sind auch nicht Quellen übermässiger           gen der Natur ausgesetzt. Die Folgen reichen vom eher harm-
   Lärmimmissionen. Doch wenn Wanderer in grosser Zahl                losen Sonnenbrand bis zu Gefährdungen durch Steinschlag,
   daherstiefeln, bewirken sie beispielsweise Flurschäden; auf        Lawinen oder Blitzschlag.
   Moorböden können diese sogar irreversibel sein. Wanderer           Schwieriger einzuschätzen sind hingegen die Risiken, die von
   gefährden zudem Wildtiere, wenn sie im Winter mit Schnee-          anderen Benützern der Wanderwege ausgehen. Eher überbe-
   schuhen durch unberührte Gebiete ziehen. Den Abfall, den           wertet werden wohl die Gefahren, die von Bikern ausgehen.
G eg ens ät z e & G efa h r en     52 | 53

Velofahrer können für Wanderer überaus lästig sein, doch zu     Die Argumentation blendete einen zentralen Aspekt völlig
wirklich gravierenden Vorfällen kommt es kaum je. Hingegen      aus: Das Wandern ist die beliebteste Freizeitaktivität, die in
wird die Mutterkuh-Problematik von manchen Wanderern            der Schweiz ausgeübt wird – ein Drittel der Wohnbevölkerung
nach wie vor unterschätzt. Wenn Kühe zum Angriff ansetzen,      wandert regelmässig. Deshalb kommt es beim Wandern auch
um ihre Kälber gegen vermeintliche Feinde in Wanderschuhen      zu mehr Vorfällen als etwa beim Deltasegeln. Das sogenannte
zu verteidigen, ist das nicht einfach die Nebenwirkung von      Base-Jumping oder Klippenspringen, bei dem sich Wagemuti-
naturorientierter Tierhaltung, sondern auch ein Tribut an die   ge über eine Felswand stürzen und im letzten Augenblick ei-
Bequemlichkeit der Bauern: Die Tiere halten sich oft tagelang   nen Fallschirm öffnen, ist in statistischer Hinsicht nur dem An-
unbeaufsichtigt auf der Weide auf und sind sich den Kontakt     schein nach weniger «gefährlich»: Im Durchschnitt kommt es
mit Menschen schlicht nicht mehr gewohnt.                       bei dieser «Sportart» in der Schweiz jährlich jeweils zu zwei,
                                                                drei tödlichen Unfällen. Das ist jedoch darauf zurückzuführen,
Adrenalin und Statistik                                         dass diese Aktivität bloss von einer winzig kleinen Zahl von
Die grösste Gefährdung auf dem Wanderweg geht allerdings        Menschen ausgeübt wird.
noch immer von den Wanderern selbst aus. Stolpern, Ausrut-      Das Risiko, bei einem Klippensprung tödlich zu verunfallen, ist
schen und (Ab-)Stürze sind die wichtigste Ursache für Unfälle   etwa eine Million Mal grösser als die Wahrscheinlichkeit für
auf Wanderwegen. Eine kleine Unachtsamkeit genügt, und          einen tödlichen Unfall beim Wandern. Statistiker haben er-
man verliert das Gleichgewicht. Was in der Ebene keine weite-   rechnet, dass man im Durchschnitt 30 Jahre lang jede Woche
ren Folgen hat, kann sich in steilem Gelände fatal auswirken.   eine fünfstündige Wanderung unternehmen kann, bis man
Wandern ist unbestreitbar jene Freizeitaktivität, die mit Ab-   einen – wie auch immer gearteten – Wanderunfall erleidet.
stand am meisten Verletzte und Todesopfer fordert. Jährlich     Unter den gängigen Freizeitsportarten ist nur das Schwimmen
verunfallen rund 6500 Menschen beim Wandern und Berg-           noch sicherer.                                               ■
wandern, 30 davon tödlich – so viele wie bei keiner anderen
Sportart. Einen etwas seltsamen Schluss aus dieser Tatsache
zog vor einigen Jahren allerdings eine Boulevardzeitung. «Ge-
fährlichste Sportart: Wandern» – unter diesem Titel wurde
der Leserschaft empfohlen: «Vergessen Sie Deltasegeln und
Klippenspringen. Wahre Adrenalin-Junkies unternehmen eine
Bergwanderung.»
G eg ens ät z e & G efa h r en   5 4 | 55

                                            Steg oberhalb
                                            von Alpiglen
                                            (Grindelwald).
Gesundheit & Genuss             56 | 57

Gesundheit & Genuss
  Unterwegs zum Wohl­                                              Das Mass
                                                                   Eine Wanderung darf körperlich fordernd, sollte aber nicht zu
  befinden                                                         anstrengend sein. Wandern ist kein Leistungssport – es gibt
                                                                   weder Spitzen- noch Kampf- oder Schauwanderer. Das Spek­
  Wandern tut gut, man weiss es. Und zwar dem ganzen Men-          trum des Möglichen ist breit, entsprechend unterschiedlich
  schen. Auf einer Wanderung kommen sowohl das Hirn und            fallen die Bedürfnisse aus: Für aktive Marathonläufer dürfen
  das Herz als auch die Hand (und natürlich vor allem der Fuss)    es gut und gerne 2000 Höhenmeter in drei Stunden sein.
  zum Zug. Studien berichten von positiven Auswirkungen auf        Menschen, die sonst meist das Sofa besiedeln, können hinge-
  Kreislauf, Immunsystem, Muskulatur und Knochenbau. Wer           gen schon eine einstündige Tour auf ebenem Weg als Aben-
  regelmässig wandert, hat eine tiefere Pulsfrequenz und ­einen    teuer – oder als Überforderung – erleben.
  niedrigeren Blutdruck, einen erhöhten Anteil an gesund-
  heitsförderndem HDL-Cholesterin sowie einen verminderten         Transparenz
  Augen-Innendruck. Auf einer Wanderung wird zudem die             Seriöse Vorbereitung ist viel wert: Man soll wissen, was einen
  Hirndurchblutung verbessert, die Stimmung hellt sich auf und     erwartet – und darin auch die Begleitpersonen einweihen.
  psychosomatische Symptome gehen zurück. Manche Fach-             Hierzulande gilt es nicht nur die horizontale, sondern auch die
  leute bezeichnen das Wandern rundweg als Breitband-Thera-        vertikale Distanz zu berücksichtigen. Bekanntlich ist die dritte
  peutikum. Wanderungen können allerdings auch als sinnlose        Dimension der einzige nennenswerte Bodenschatz, über den
  und öde Zeitvergeudung, ja als körperliche Pein erlebt werden    die Schweiz verfügt.
  – etwa von Kindern, die durch elterliches Diktat zu sonntäg­     In diesem Zusammenhang sollte jedoch nicht vergessen wer-
  lichen Märschen gezwungen werden.                                den, dass die Höhendifferenz sich nicht einfach aus dem Un-
  Wo verläuft die Grenze? Was braucht es, damit eine Wan-          terschied zwischen der Höhenlage von Ausgangs- und Ziel-
  derung genussreich verläuft und der Gesundheit förderlich        punkt ergibt, sondern auch alles umfasst, was dazwischen an
  bleibt? Leider gibt es kein allgemeingültiges Erfolgsrezept,     Auf- und Abstiegen anfällt.
  wie aus bestimmten Zutaten eine garantiert erfolgreiche Tour     Dabei addieren sich viele kleine Höhendifferenzen oft zu be-
  zubereitet werden kann. Die Wissenschaft vom Wandern ist         achtlichen Summen. Eine Höhenwanderung im Emmental mit
  «weich»; sie ist mit subjektiven Einschätzungen, willkürlichen   Querung etlicher Chrächen und Eggen kann deutlich anstren-
  Vorlieben und ungerechten Abneigungen gespickt. Doch im-         gender sein als eine Gipfeltour im Berner Oberland, die bloss
  merhin bestehen einige Erfahrungswerte.                          auf- und dann wieder abwärts führt.
Gesundheit & Genuss            58 | 59

Der Weg                                                           käse zu erstehen. Und manche würden niemals auf ein Bier
Man kann selbstverständlich einfach einer Autobahn entlang        oder eine Glacé zum Abschluss der Tour verzichten. Wandern
marschieren. Doch von Wandern spricht man besser dann,            hat stets auch mit leiblichen Genüssen zu tun. Dies auszublen-
wenn ein passabler Weg vorliegt. Im Idealfall erfüllt dieser      den, hiesse, sich um einen wesentlichen Teil des Vergnügens
eine Reihe von Bedingungen: Er weist einen natürlichen Bo-        zu bringen.
denbelag auf (Gras, Erde, Kies, Fels usw.). Er führt durch eine
attraktive Landschaft, z.B. zu Gewässern und aussichtsreichen     Kurzweil
Höhen. Er verläuft abwechslungsreich (mit Kurven, entlang         Passionierten Wanderern ist das Durchstreifen der Natur Un-
von Hängen, durch Ebenen). Und er steigt oder fällt in an-        terhaltung genug. Wandermuffel hingegen – insbesondere
gemessenem Rahmen. Hier gilt die Faustregel: Was für Kühe         Kinder – benötigen zusätzliche Anreize in Form von Attrakti-
nicht funktioniert, passt auch Menschen nicht. Oder umge-         onen am Weg. Das kann ein Versteckspiel im Wald sein, ein
kehrt: Alte Viehzügelwege weisen meist eine angenehme,            Bach zum Stauen oder ein Bergsee zum Planschen. Modische-
«gerade richtige» Steigung auf.                                   re Formen der Zerstreuung bieten Themenwege oder, wie sie
                                                                  früher etwas altbacken hiessen, Lehrpfade. Ein paar im Ge-
Zeit                                                              lände verstreute Tafeln mit banalen Plüschtieren und einigen
Wandern fordert – und bringt – Musse. Wer auf die letzte Gon-     Sprüchen können die Wandermotivation der Sprösslinge in
del oder auf den nächsten Bus eilen muss, hat etwas falsch        erstaunlichem Mass beflügeln.
gemacht und nimmt eine deutliche Schmälerung des Wander-
Erlebnisses in Kauf. Das Mittel der Wahl zur Vorbeugung ge-       Vorwärts
genüber solchem Ungemach ist eine seriöse Planung: Wann           Menschen mögen keinen Krebsgang – sie bewegen sich nach
und wie wird angereist? Wo lässt sich rasten? Wann erfolgt        vorne. Deshalb ist es beim Wandern ein bisschen witzlos,
die Rückreise? Welche Aussagen hält die Wanderkarte zum           wenn der Hinweg und der Rückweg auf der gleichen Strecke
Verlauf der Route bereit? Gibt es Reserven und Alternativen?      verlaufen. Wenn schon zum Ausgangspunkt zurückgekehrt
                                                                  werden muss (z.B. weil dort das Auto wartet), dann sollte zu-
Speise                                                            mindest eine Rundtour vorgesehen werden. Doch am besten
Die Einen schwören auf Würste am offenen Feuer, die Ande-         lässt man das Wanderland Schweiz seine Stärken voll ausspie-
ren auf ein deftiges Mahl in der Bergbeiz. Die Dritten können     len. Das flächendeckende Netz signalisierter Wanderwege ist
an keiner Alphütte vorbeigehen, ohne dort ein Stück Berg­         nämlich nur der eine Trumpf des Angebots. Der zweite ist des-
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