Warschaus konfrontative Deutschlandpolitik - Einleitung
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NR. 68 NOVEMBER 2022 Einleitung Warschaus konfrontative Deutschlandpolitik Im bilateralen Verhältnis ist derzeit Konsolidierung, nicht Weiterentwicklung gefragt Kai-Olaf Lang Die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich in einem Zustand von Dauerkon- flikt und wechselseitiger Entfremdung. Eine Trias von Problemfeldern belastet der- zeit das Verhältnis: die von Warschau erhobenen Forderungen nach Reparationen, Differenzen in der Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine sowie Unstimmig- keiten in der Europapolitik. Das polnische Regierungslager hat gegenüber Deutsch- land eine harte Gangart eingeschlagen und betreibt eine antagonisierende Politik mit dem Ziel, den westlichen Nachbarn einzuhegen. Da 2023 die polnischen Parlaments- wahlen anstehen, sind in dem Land bei Themen mit Deutschlandbezug weitere Zuspit- zungen zu erwarten. Rehistorisierung, ein manifester »security divide« und Divergen- zen in wichtigen EU-Fragen sollten aber den Blick auf Deutschlands Interessen in Bezug auf Polen nicht verstellen. Gerade in Zeiten von Krieg und externen Heraus- forderungen gilt für das bilaterale Verhältnis ein Konsolidierungsimperativ. Am 1. September 2022 wurde im War- entsprechenden Beschluss an. Darin wird schauer Schloss ein Bericht vorgestellt, in konstatiert, dass Warschau sich niemals dem die Schäden, die Polen während des seiner Ansprüche begeben habe und die Zweiten Weltkriegs von deutscher Seite Republik Polen weder Entschädigungen erlitten hat, auf die Summe von 6,2 Billio- seitens des »deutschen Staates« noch Wie- nen Złoty (etwa 1,3 Billionen Euro) veran- dergutmachung für das Unrecht, das polni- schlagt werden. Das Gutachten war unter schen Bürgern zugefügt wurde, erhalten Koordination eines Abgeordneten der habe. Eine diplomatische Note, die am Regierungspartei PiS über mehrere Jahre 3. Oktober an Berlin übermittelt wurde, entstanden und bildet nun den Ausgangs- formalisierte das Anliegen. Die Bundes- punkt für Reparationsforderungen, die regierung bezog dazu den Standpunkt, dass gegenüber Deutschland erhoben werden. sich Deutschland politisch und moralisch Am 14. September nahm der Sejm, die zu seiner aus dem Zweiten Weltkrieg resul- polnische Abgeordnetenkammer, mit gro- tierenden Verantwortung bekenne, Repa- ßer Mehrheit und bei Zustimmung der rationsforderungen hingegen rechtlich un- meisten Oppositionsparlamentarier einen begründet seien.
Versöhnung und Reparationen betrachtet. Der bisherige Vizeaußenminis- ter und neue Europaminister Szymon Szyn- Bei der Forderung nach Reparationen geht kowski vel Sęk schlug sogar vor, neben es um mehr als nur finanziellen Ausgleich dem Grenzbestätigungs- und dem Nachbar- für erlittenen Schaden. Die Warschauer schaftsvertrag (die beide seit drei Jahrzehn- Kampagne zielt auch darauf ab, dass in der ten in Kraft sind) einen dritten deutsch- deutschen Erinnerungslandschaft die polni- polnischen Vertrag abzuschließen, mit dem sche Opferrolle adäquat gewürdigt wird die Reparationsfrage geregelt würde. und wahrgenommene Gerechtigkeitslücken Zusammen mit den sicherheits- und überwunden werden. Denn nach eigener europapolitischen Differenzen hat sich im Einschätzung hat Polen im Gegensatz zu deutsch-polnischen Verhältnis somit eine anderen Ländern keine angemessene Kom- Trias an kontroversen Themenfeldern her- pensation für das Unrecht erhalten, das auskristallisiert, seit die Reparationsforde- ihm von Deutschland und Deutschen zu- rungen auf Exekutivebene lanciert und gefügt wurde. Innenpolitisch sucht die PiS politisch massiv flankiert wurden (die Prob- mit dem emotional aufgeladenen Thema lematik an sich hatte das polnische Regie- an jene Teile der eigenen Gesellschaft zu rungslager schon seit längerem in den Dis- appellieren, die ihr bislang distanziert be- kurs eingebracht). Erstens kommt es zu gegnen, zugleich aber positiv zu einer einer asymmetrischen Rehistorisierung: Der Form deutscher Wiedergutmachung stehen. Umgang mit der Vergangenheit schiebt sich Immerhin hält nach einer Umfrage vom wieder prominent auf die bilaterale Agenda Frühherbst etwas mehr als die Hälfte der – nicht in einem konstruktiven Sinne, son- polnischen Bürger die Reparationsforde- dern in Form eines divergenten Umgangs rungen für berechtigt. Dabei hat die PiS mit Fragen von Schuld und Sühne. eine Anhängerschaft von nur gut einem Zweitens hat sich der seit langem beste- Drittel der Befragten. Zugleich meinen hende security divide zwischen Deutschland 70 Prozent, die Partei mache Wahlkampf und Polen angesichts des russischen Krieges mit ihren Aktivitäten in Sachen Reparatio- gegen die Ukraine vertieft. Zwar sind sich nen. In einem weiteren Sinne geht es aber die beiden Länder grundsätzlich einig, was auch darum, Deutschland entschlossen den Blick auf Moskaus Vorgehen und die zu begegnen. PiS-Chef Jarosław Kaczyński Reaktion des Westens betrifft. Doch nach sprach bei der Vorstellung des Reparations- wie vor zeiht Polen die Bundesrepublik der berichts davon, es wäre Ausdruck eines Zaghaftigkeit, wenn es darum geht, Russ- »krankhaften Minderwertigkeitskomple- land zurückzudrängen und die Ukraine xes«, sollte Polen keine Ausgleichsleistun- militärisch zu unterstützen. Polen fürchtet gen einfordern. sich vor Russland; in Deutschland wiede- Offenkundig ist, dass die PiS mit dem rum besteht – bei aller Solidarität mit der Reparationsthema issue ownership in der Ver- Ukraine – die Sorge vor einer unkontrol- söhnungspolitik betreibt. Galt Versöhnung lierten Eskalationsdynamik des Krieges. einst als ein 90er-Jahre-Projekt liberaler Eli- Drittens schließlich gibt es substantielle ten, in dem polnische Interessen hintange- Zwistigkeiten in der Europapolitik. Das gilt setzt wurden, so will die PiS den Begriff neu für die langfristige Entwicklung der EU, wo definieren. Für Premierminister Mateusz sich vertiefungsorientierte, ja föderale Leit- Morawiecki dient der Bericht über die Polen bilder auf deutscher Seite und neo-souve- zugefügten Schäden der »echten polnisch- räne Vorstellungen auf polnischer gegen- deutschen Versöhnung«. Ohne »Wahrheit, überstehen. Es gilt ebenso für die Rechts- Wiedergutmachung und Entschädigung« staatspolitik, bei der Warschau weiterhin könne es keine »normalen Beziehungen« zu im Clinch mit Brüssel liegt und EU-Institu- Deutschland geben. Materielle Ausgleichs- tionen einschließlich des Europäischen Ge- leistungen werden somit als Voraussetzung richtshofs (EuGH) Eingriffs- und Sanktions- für einen nachhaltigen Versöhnungsprozess befugnisse in Regelungsbereichen wie der SWP-Aktuell 68 November 2022 2
nationalen Justiz abspricht. Und es gilt für eingefügt. Drei Elemente bestimmen dabei einzelne Politikfelder wie etwa die Energie- das allgemeine Deutschlandbild der PiS. und Klimapolitik, in der Polen Deutschland Erstens wird das Land trotz (oder gerade Versäumnisse und Inkonsistenzen vorwirft wegen) der gemeinsamen Mitgliedschaft in und daher allenfalls zögerlich Energiesoli- Nato und EU zunehmend als Gegenspieler darität mit dem Nachbarn an den Tag legt. Polens betrachtet. Auch wenn Berlin die Die polnische Opposition der liberalen Sanktionspolitik gegen Russland unter- und linken Mitte teilt weitgehend die hef- stützt und Hilfe für die Ukraine leistet, gilt tige Kritik, die von der PiS in Fragen der die Bundesrepublik in Warschau nach wie Sicherheits-, Russland- und Energiepolitik vor als Bremser und Zauderer bei der west- an Deutschland geübt wird. Die von der lichen Antwort auf Moskaus Aggression. Partei angestoßenen Reparationsforderun- Die Veränderungen in der deutschen gen unterstützt sie nolens volens, da sie Sicherheits- und Ostpolitik werden entwe- sich ein Nein dazu innenpolitisch nicht der als bloß oberflächlich oder als unzu- leisten kann. Sie unterscheidet sich aller- reichend betrachtet. Weiterhin hält man es dings deutlich vom Regierungslager, was für nicht ausgeschlossen, dass Deutschland Grundfragen der Europapolitik angeht, in einen Verständigungsfrieden mit Russland der sie generell integrationsfreundlich anstreben könnte, und sei es nur, um ein orientiert ist. Vor allem zieht sie andere Ausufern des Krieges angesichts russischer Schlussfolgerungen für den Umgang mit Eskalationsdrohungen abzuwenden. Folgt Berlin: Vorbehalte gegenüber deutscher man der PiS, so befindet sich Polen in einer Politik sollen demnach nicht zu einer Front- doppelten Frontstellung – als Land, das stellung führen, sondern zu einem kriti- sich gegen das militärische Ausgreifen schen Dialog, zumindest aber zu produkti- Moskaus stemmen muss, das aber auch ver Koexistenz. Solange die PiS indes Regie- Rückversicherungen gegen eine zumindest rungsverantwortung trägt und Deutschland unberechenbare deutsche Außen- und nicht spürbar von seinen bisherigen Maxi- Sicherheitspolitik benötigt. men in der Sicherheits-, Europa- und Zweitens wird Deutschland unterstellt, Geschichtspolitik abrückt, ist davon auszu- im Rahmen einer gegen Polen gerichteten gehen, dass alle drei großen Konfliktberei- Dominanzpolitik die Entwicklungspotentia- che die bilateralen Beziehungen weiterhin le des Landes niederhalten zu wollen. Deut- strapazieren und verkomplizieren werden. sche Kritik an der wirtschaftlichen Nutzung der Oder (deren Fahrrinne die polnische Sei- te auf Basis eines bilateralen Abkommens Alter Argwohn, neue Macht? vertiefen will) oder am Bau eines Container- terminals bei Swinemünde (der besorgten Die Haltung des heutigen polnischen Regie- Stimmen zufolge Umwelt und Tourismus rungslagers gegenüber Deutschland war gefährden könnte) wird als Scheinargumen- stets geprägt von Skepsis, Loyalitätszweifeln tation abgetan. Eigentliches Motiv für die und der Sorge, majorisiert zu werden. Einwände ist Warschau zufolge, Konkur- Innenpolitische Faktoren, nicht zuletzt die renz verhindern oder allgemein den öko- planmäßig im Herbst 2023 anstehenden nomischen Fortschritt auf polnischer Seite Parlamentswahlen, jahrelange Bedenken ausbremsen zu wollen. Man geht davon gegenüber der deutschen Ostpolitik sowie aus, dass Deutschland nicht an wirtschaft- europapolitische Dissonanzen haben dazu licher Dynamik beim östlichen Nachbarn geführt, dass sich die Wahrnehmung des gelegen sei, da sie den politischen Einfluss Nachbarlandes kontinuierlich verschlech- Polens ebenso wie die Aussichten auf eine terte. Der habitualisierte Argwohn der PiS Emanzipation von Deutschland erhöhen gegenüber Berlin hat sich durch Russlands könnte. Angriff auf die Ukraine nochmals verschärft Drittens sieht man Deutschland infolge und gleichzeitig in einen neuen Kontext des Krieges in einer Phase der Schwäche, SWP-Aktuell 68 November 2022 3
Polen in einer Phase der Stärke. Berlin stehe zu konsolidieren, sondern auch um einem vor den Trümmern seiner Ostpolitik und sei angeblichen deutschen Vormachtstreben etwa in Energiefragen zum Bittsteller ge- entgegenzutreten. worden, auch gegenüber Polen, so im Kon- text von Gassolidarität oder bei der Versor- gung ostdeutscher Raffinerien. Zudem habe Antihegemoniale Eindämmung Deutschland ein wachsendes Problem mit und ihre Grenzen seinen Partnern innerhalb der EU – in Ost- mitteleuropa aufgrund seiner Ukrainepoli- Die PiS trachtet vor diesem Hintergrund tik, ebenso im Süden der Eurozone, mit danach, eine gegen Deutschland gerichtete Ländern wie Italien aufgrund innenpoliti- antihegemoniale Einhegungspolitik voran- scher Entwicklungen dort und zuletzt auch zutreiben, um so eine Art strategische Auto- mit dem klassischen Vorrangpartner Frank- nomie gegenüber dem westlichen Nachbarn reich. Darunter leide die Akzeptanz von zu erlangen. In der Sicherheitspolitik soll Berlins europapolitischen Vorstellungen. hierzu die militärische, rüstungs- und ener- Dieser vermeintlichen deutschen Schwä- giewirtschaftliche Kooperation mit den USA che wird eine neue polnische Stärke ent- (sowie Großbritannien) und anderen trans- gegengesetzt. Aus einer ganzen Reihe von atlantisch wie russlandkritisch ausgerichte- Faktoren ergeben sich aus Sicht der PiS ten Ländern in Nord-, Ostmittel- und Süd- potentiell neue Einflussressourcen. Dazu osteuropa vertieft werden. In der Europa- gehören das durch den Krieg revitalisierte politik sperrt sich Warschau gegen Refor- Bündnis mit den USA sowie generell die men, die mehr Supranationalität bringen atlantische Dimension der eigenen Außen- würden. Einstimmigkeitsregeln und mit- politik, auch gegenüber Großbritannien; gliedstaatliche Hoheitsdomänen – nicht der Verweis darauf, man habe die Ziele zuletzt im Bereich der inneren Staatsverfas- russischer Politik schon früh »richtig« anti- sung und der Rechtsstaatlichkeit – sollen zipiert; die beachtlichen Hilfsleistungen demnach gewahrt werden, um Schutz vor Polens für die Ukraine auf humanitärer, deutscher oder deutsch-französischer Supe- politischer und militärischer Ebene; sein riorität zu bieten. Mittlerweile betreibt aktiver Outreach zu vielen Partnern in der Polen auch eine taktische Wiederannähe- Region, darunter den baltischen Staaten rung an Ungarn. Hintergrund ist, dass die und den Ländern der Nato-Ostflanke ins- Verhandlungen zur Freigabe der Gelder aus gesamt; eine weitgediehene Diversifizie- dem Corona-Wiederaufbaufonds »Next rungspolitik im Energiesektor, so durch Generation EU« für Warschau wie Budapest eigene Terminals für den Import von Flüs- überaus harzig verlaufen und sich generell sigerdgas (LNG) und die jüngst erfolgte In- die Auseinandersetzung der beiden Regie- betriebnahme der Baltic Pipe, einer Leitung, rungen mit Brüssel im Rechtsstaatsdossier mit der Gas aus Norwegen über Dänemark hinzieht. Nachdem Premier Morawiecki im und durch die Ostsee nach Polen verbracht Sommer noch behauptet hatte, die Wege werden kann; und schließlich eine ambitio- Polens und Ungarns hätten sich aufgrund nierte Rüstungs- und Militärpolitik. Letztere von Differenzen in der Russlandpolitik ge- umfasst großangelegte Beschaffungs- und trennt, betonte er im Frühherbst die Bedeu- Modernisierungsprogramme für die Streit- tung Ungarns (und insgesamt der Visegrád- kräfte, einen Aufwuchs der Truppenstärke, Gruppe) in der Europäischen Union. eine für 2023 vorgesehene Steigerung der Weiterhin wird Deutschland vorgewor- Verteidigungsausgaben auf 3 Prozent der fen, dass es innerhalb der EU eine egoisti- Wirtschaftskraft und die Schaffung eines sche Politik betreibe. Warschau kritisiert Sonderfonds für das polnische Militär. All das Berliner Maßnahmenpaket zur Abfede- diese Ressourcen sollen nach Warschauer rung der Energiepreissteigerungen und sieht Ansicht nicht nur genutzt werden, um die sich dabei im Einklang mit einer breiten Rolle Polens als regionale Führungsmacht Gruppe von Mitgliedstaaten. Deutschlands SWP-Aktuell 68 November 2022 4
Entlastungsmaßnahmen wertet die PiS als der EU ein Comeback durch Erlangung der weiteren Beleg für dessen doppelzüngige Corona-Wiederaufbaugelder zu erreichen Europapolitik, die unter integrationsfreund- und damit einen Symbolkonflikt (unter lichen Phrasen eigennützige Interessen mehreren) in Sachen Rechtsstaatlichkeit verfolge. konstruktiv zu regulieren. Die Sonder- Hinzu kommt der Rekurs auf moralische beziehung zu den USA ist zweifelsohne ein Ansprüche. Bezeichnend war der Satz des Faktor, der Polens geopolitische Position polnischen Außenministers Zbigniew Rau aufwertet. Doch möchte die Biden-Admini- in einem Pressebeitrag, die EU brauche stration keine Zuspitzungen zwischen War- »keine deutsche Führung, sondern deutsche schau und Berlin, sondern eine Festigung Selbstbeschränkung«. Auf Basis einer Fun- des Westens und damit ein förderliches damentalkritik an der deutschen Russland-, Miteinander zwischen den beiden Schlüs- Ost- und Energiepolitik wird Berlin die Legi- selmitgliedern von EU und Nato. So bedeut- timität abgesprochen, in der EU die Rich- sam es für Polen ist, die militärischen und tung vorzugeben. Es ist kein Zufall, dass die verteidigungspolitischen Beziehungen mit Reparationsthematik in einem Moment den USA verbessert zu haben, kann dies forciert wird, in dem man Deutschland in nicht über die Problematik seiner overreliance der Defensive sieht. gegenüber Washington hinwegtäuschen. Noch aber stößt die deutschlandkritische Außerdem muss das polnische Regie- Balancing-Politik der PiS an Grenzen. Die rungslager innenpolitische Herausforde- sich abzeichnenden Einflussressourcen rungen meistern. Zwischen der PiS und müssen erst einmal genutzt werden, denn ihrem kleinen Koalitionspartner Solidarna bislang konnte Warschau wenig europa- Polska (SP) schwelen Streitigkeiten, die politische Gestaltungsmacht entwickeln. rasch wieder auflodern können, vor allem Dafür wäre erforderlich, nachhaltige Koali- wenn es Premier Morawiecki nicht gelingt, tionen zu organisieren und eigene Ziele Erfolge in der Frage der EU-Mittel herbei- jenseits von Abwehrpostulaten zu artikulie- zuführen. Er steht überdies in der eigenen ren – was bisher nicht gelungen ist. Auch Partei unter Beschuss. Zwar konnte er seine eine positiv formulierte Reformagenda für Abberufung zunächst verhindern, doch war die EU (und sei es aus souveränistischer es ein Ausdruck der Schwäche, dass er sei- Sicht) wurde nicht präsentiert. Insbesonde- nen Vertrauten Michał Dworczyk als Kanz- re in der Diskussion um entsprechende leichef auswechseln musste und ebenso den Konsequenzen aus der revitalisierten EU- bisherigen Europaminister Konrad Szymań- Erweiterungspolitik hat Polen, das zu den ski, der für einen sachlichen Umgang mit prononcierten Befürwortern eines mög- Brüssel stand. Polen dürfte ein Winter des lichst raschen Beitritts von Ländern wie der gesellschaftlichen Protests bevorstehen, Ukraine gehört, wenig Konkretes ausbuch- und im Wahljahr 2023 könnte Morawiecki stabiert. Ebenso verlaufen Warschaus Be- seinen Posten verlieren. Ein solcher Über- mühungen, die Reparationsthematik zu gang würde sich angesichts prekärer Mehr- internationalisieren, bislang nur schleppend. heitsverhältnisse im Parlament und Rivali- Auch sind die Länder aus dem Ostteil täten im Regierungslager allerdings kaum von Nato bzw. EU, die Polen in der Ein- reibungslos gestalten. Unabhängig davon schätzung Moskaus nahestehen, trotz Kritik sorgen Inflation, steigende Energiepreise an einzelnen Aspekten der deutschen und die Schwäche der polnischen Währung Sicherheits- und Russlandpolitik nicht da- dafür, dass für die PiS das wirtschaftliche ran interessiert, sich in Konflikte mit Berlin und gesellschaftliche Umfeld schwieriger manövrieren zu lassen. Polens Engagement wird. Erstmals muss die Partei wohl in einer für die Ukraine zählt sicherlich zu den Phase der ökonomischen Kontraktion in Aktiva des Landes im Westen und hat sein den Wahlkampf ziehen, die für große Teile Gewicht entsprechend erhöht. Doch ist der Gesellschaft und der eigenen Wähler- Warschau erst einmal daran gescheitert, in schaft spürbare Negativeffekte bringt. SWP-Aktuell 68 November 2022 5
Sicherheitspolitische Weichen- lieren möchte. Polen könnte als Drehschei- stellungen be amerikanisches LNG sowie norwegisches Pipelinegas an Nachbarländer einschließ- Dass Warschau sich bemüht, Sicherheit lich der Ukraine weiterleiten. Im Ölsektor und Resilienz des eigenen Landes wie der gibt es gegenüber Deutschland zwar Koope- Region zu verbessern, dürfte nicht ohne rationstendenzen. So werden die Raffine- Folgen für die deutsch-polnischen Bezie- rien in Schwedt und Leuna über den Nafto- hungen bleiben. Zwar wird vieles vom Ver- port Danzig und das polnische Pipeline- lauf des Krieges in der Ukraine abhängen, system beliefert. Doch wird Polen auch auf doch schon jetzt sind einige Entwicklungen diesem Feld primär seine östlichen und mit- erkennbar, die sich auf die bilateralen Koo- teleuropäischen Nachbarn im Blick haben. perationsmöglichkeiten auswirken werden. In einem weiteren Sinne möchte Polen für Insbesondere in der Rüstungswirtschaft, im die Ukraine, die unter der schwierigen Lage Energiesektor und bei der Zusammenarbeit im Schwarzmeerbereich leidet, eine Art mit Kiew können Pfade entstehen, die mit- infrastrukturelles Fenster zur Welt und tel- und langfristig prägend sind. So wendet nach Europa werden. Zu diesem Zweck sol- sich Warschau in der Rüstungskooperation len polnische Ostseehäfen sowie andere auf breiter Basis den USA zu, ebenso Groß- Verkehrsinfrastrukturen des Landes genutzt britannien und auch Südkorea als neuem werden. Partner. Damit einher gehen verteidigungs- Polen wird seine vielschichtige Unter- und militärpolitische Verklammerungen stützung für die Ukraine langfristig poli- mit diesen Ländern, was unter anderem tisch nutzen wollen. Nach einem erfolgrei- durch die wuchtige Truppenpräsenz der chen Kriegsausgang für den Nachbarn und USA in Polen unterstrichen wird. Zukunfts- der schrittweisen Heranführung des Landes weisende Rüstungsprojekte mit Deutsch- an die EU würde Warschaus special relation- land – oder Frankreich – fehlen hingegen. ship mit Kiew auch als Gegengewicht zu Vorhaben wie die Modernisierung der pol- Deutschland verstanden werden. Polen nischen U-Boot-Waffe (Programm Orka) bringt sich bereits jetzt für den Wiederauf- könnten hier zwar noch gewisse Akzente bau der Ukraine in Stellung. Sobald dieser setzen, was am Gesamtbild aber wenig auf der Tagesordnung steht, werden zwar ändern würde. Dass Polen sich nicht an der internationale, europäische und auch deut- Luftverteidigungsinitiative European Sky sche Hilfen bzw. Akteure in den Vorder- Shield beteiligt, hat primär militärische grund treten, doch wird Polen gezielt in Gründe, denn das Land verfolgt eigene Pro- einigen Regionen sowie in Sektoren wie gramme auf diesem Feld, die schon weit Transport oder Energie aktiv werden. gediehen sind. Zugleich fügt sich Warschaus In den Großbereichen Sicherheits-, Ener- Haltung zu Sky Shield in die skeptische gie- und Ukrainepolitik liegen mannigfache Distanz gegenüber neuen Rüstungskoope- Kooperationspotentiale für Deutschland rationen mit Deutschland. und Polen. Doch wird die PiS, sollte sie wei- Polen kann seine Funktion als regionale terhin Regierungsverantwortung tragen, Verteilplattform für Erdgas aufwerten, in- diese Felder stattdessen nutzen, um Polens dem es neue Energie-Infrastrukturen errich- Unabhängigkeit von Deutschland zu er- tet bzw. existierende ausbaut. Entstehen höhen. Vor allem in der Sicherheits- und zugleich neue Infrastrukturen auf deut- Rüstungspolitik sowie in Teilen der Ener- scher Seite, etwa LNG-Terminals in der Ost- giepolitik trifft Warschau gegenwärtig see, könnte dies neue Formen der Zusam- entsprechende Investitions- und Beschaf- menarbeit bringen. Allerdings ist fraglich, fungsentscheidungen und stellt so die ob Polen unter den gegenwärtigen Vorzei- Weichen. chen an einer Integration mit Deutschland interessiert ist oder sich nicht zunächst als Hub für Mitteleuropa und die Ukraine etab- SWP-Aktuell 68 November 2022 6
Deutsche Interessen … cken – soweit sie nicht persönlich ausfal- len oder evident kontrafaktisch sind – Weiterhin muss sich Berlin auf raue Töne sollten nicht erwidert, sondern mit aktiver aus Warschau einstellen. Da die PiS innen- Indifferenz oder im Einzelfall mit korrigie- politisch und sozialökonomisch in schwie- renden Positionierungen beantwortet wer- riges Fahrwasser gerät, wird sie das Deutsch- den. Zum anderen gilt es, Kontakte auf poli- land- und das damit verbundene EU-Thema tischer Ebene zu stabilisieren, also etwa die als Mobilisierungsvehikel im Wahlkampf Besuchsdiplomatie auf ministerialer Ebene für sich nutzbar machen wollen. fortzusetzen. Man muss sich darauf ein- Doch sollte sich Deutschland bei allen stellen, dass der Kooperationswille nicht Verwerfungen nicht den Blick auf seine erwidert wird und die Hinwendung zu War- langfristigen Interessen gegenüber dem schau auch als Ausdruck von Schwäche ge- östlichen Nachbarn verstellen lassen. Hier- wertet werden kann. Zugleich ist die Option zu gehört die Existenz eines sicheren Polen, zu prüfen, dass der sichtbare Austausch also eines Landes, dessen Verwundbarkei- reduziert wird, vor allem wenn der Wahl- ten geringer werden und das als security kampf sich intensiviert und die Umgangsart provider an der Nato-Ostflanke eine wichtige übermäßig ruppig werden sollte. Indes Rolle für die regionale Stabilität und Sicher- wäre bei dieser Variante zu beachten, dass heit spielt. Hierzu gehört ein wirtschaftlich sich auch andere wichtige Bilateralismen erfolgreiches, sich modernisierendes Polen, der Bundesrepublik eingetrübt haben. Vor das die energie- und klimapolitisch moti- diesem Hintergrund könnte es den europa- vierten Transformationen entschlossen an- politisch gegen Berlin erhobenen Isolations- geht. Und hierzu gehört ein gut regiertes vorwurf fördern, würden die Beziehungen Polen, das seine legitimen Interessen in der zu Warschau gezielt heruntergefahren. EU aktiv, aber auch dialogisch mit allen sei- Zweitens sollte Deutschland angesichts nen Nachbarn und Partnern verfolgt. Unge- von Zurückweisungsgesten, Dauerkritik achtet von Kritik und Polemik aus War- und Kooperationsentzug der Warschauer schau gilt es, sich dieser Interessen bewusst Seite auch eine indirekte Polenpolitik ver- zu sein und sie dem Nachbarn gegenüber folgen. In diesem Sinne gilt es, aktiv auf auch zu kommunizieren. andere Länder in Ostmittel-, Nord- und Süd- osteuropa zuzugehen. Kontakte zu den baltischen Staaten, den anderen Visegrád- … und deutsche Polenpolitik Ländern (Tschechien, Slowakei und Ungarn), Slowenien oder Rumänien wirken nicht In der Praxis resultieren aus der antagoni- nur den polnischen Versuchen entgegen, sierenden Deutschlandpolitik des polni- Politik und Führungsangebote der Bundes- schen Regierungslagers mehrere Konse- republik zu delegitimieren, sondern tragen quenzen, was die bilateralen Beziehungen auch zur Festigung von EU und Nato bei. und den Umgang Berlins mit Warschau Drittens sollte Deutschland sich bemü- angeht. Erstens folgt daraus, dass es im hen, Fragen der Geschichtspolitik, vor allem deutsch-polnischen Verhältnis unter den die Reparationsforderungen, von der Euro- gegenwärtigen Rahmenbedingungen primär pa- und Sicherheitspolitik zu separieren. um Konsolidierung und nicht um Weiter- Die polnische Regierung geht in die entge- entwicklung geht. Dieser Festigungsimpera- gengesetzte Richtung, indem sie historische tiv zielt zum einen darauf, eine gewisse Überhänge an deutscher Schuld außen- und Fähigkeit zur Stoßabsorption aufrechtzuer- europapolitisch zu nutzen sucht. Verant- halten. Dazu gehört, gemeinsame wirt- wortung für Polen aufgrund des Zweiten schaftliche Bindungen zu akzentuieren, Weltkriegs bleibt Teil der deutschen Staats- den parlamentarischen Austausch zu pfle- räson. Doch eine dominant historische Be- gen oder grenzüberschreitende regionale gründung deutscher Außen- und Sicher- Zusammenarbeit zu stützen. Verbale Atta- heitspolitik im östlichen Teil Europas ent- SWP-Aktuell 68 November 2022 7
spräche wohl auch nicht polnischen Inter- regionale Sicherheit zu kümmern. Nach essen. Denn sie könnte die Berliner Zurück- Vorbild des deutsch-dänischen Aktionspla- haltungsimpulse gegenüber Russland, die nes könnten Berlin und Warschau ein ähn- Warschau kritisiert, noch verstärken. liches Programm für gemeinsame Maßnah- men zur Sicherheit in der Ostsee entwickeln. Energie und Klima. Gerade angesichts Praktische Vorschläge neuer Herausforderungen und durchaus abweichender Zugänge in der Energie- und Eingedenk und trotz dieser Kontextfaktoren Klimapolitik könnten Deutschland und sollte in der Praxis weiterhin ausgelotet Polen ein Klimazentrum einrichten. Zu © Stiftung Wissenschaft werden, welche Dialogplattformen und Ko- denken wäre hier an eine kleine Plattform und Politik, 2022 operationsmöglichkeiten sich im deutsch- mit Sitz in Warschau, die bestehende Koo- Alle Rechte vorbehalten polnischen Verhältnis anbieten. Besondere perationen bündelt, neue Kontakte anbahnt Aufmerksamkeit verdienen dabei die fol- und Forschungsvernetzung unterstützt, aber Das Aktuell gibt die Auf- genden Themenfelder. auch Fragen der Energie- und Klimaaußen- fassung des Autors wieder. Sicherheit kritischer Infrastrukturen. Die politik sowie der europäischen Klimapolitik In der Online-Version dieser Beschädigung der Nord-Stream-Pipelines, – darunter einer entsprechenden Einbin- Publikation sind Verweise die Lecks in der Druschba-Leitung und die dung der Ukraine – diskutiert. auf SWP-Schriften und Funktionsstörungen des polnischen Strom- Ukraine. Hinsichtlich der Ukraine könn- wichtige Quellen anklickbar. kabels nach Schweden sind jüngste Belege ten Deutschland und Polen gemeinsame SWP-Aktuells werden intern dafür, wie verwundbar Infrastrukturen im Anstrengungen entwickeln, um das Land einem Begutachtungsverfah- Energie-, Verkehrs- oder Telekommunika- an die EU heranzuführen. Hierbei ginge es ren, einem Faktencheck und tionssektor sind, von denen zahlreiche einerseits um konkrete Initiativen zur Ein- einem Lektorat unterzogen. auch Deutschland und Polen verbinden. bindung der Ukraine (und von Ländern wie Weitere Informationen Eine bilaterale Arbeitsgruppe aus Fachleu- Moldau oder Georgien) in den Binnenmarkt zur Qualitätssicherung der ten zuständiger Behörden, aus Wirtschaft und zur Unterstützung beitrittsbezogener SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. und Wissenschaft könnte in diesem Kon- Reformen im Sinne einer Erweiterungs- swp-berlin.org/ueber-uns/ text die Risiken analysieren, ebenso die partnerschaft. Andererseits könnten polni- qualitaetssicherung/ Potentiale für eine Zusammenarbeit. sche und deutsche Akteure – darunter Kooperation im Ostseeraum. Polen entdeckt Agenturen, Ministerien und Bundesländer SWP seit einiger Zeit die Ostsee als essentiellen bzw. territoriale Selbstverwaltungen – Stiftung Wissenschaft und Politik Produktions- und Transitraum in der Ener- regional oder sektoral Wiederaufbaupart- Deutsches Institut für gieversorgung. Einen LNG-Terminal soll es nerschaften etablieren. Internationale Politik und – neben dem bestehenden in Swinemünde Die deutsch-polnischen Beziehungen Sicherheit – künftig auch in der Danziger Bucht ge- befinden sich einer Phase der Volatilität ben, und zuletzt wurde die Gasleitung Bal- und des Abwärtstrends, die in den kom- Ludwigkirchplatz 3–4 tic Pipe eröffnet. In Planung sind polnische menden Monaten anhalten oder sich sogar 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Offshore-Windparks und zumindest ein weiter verschärfen dürfte. Statt Führungs- Fax +49 30 880 07-100 Atomkraftwerk, das in Küstennähe entste- akzeptanz erwarten zu können, muss www.swp-berlin.org hen soll. Auch für Deutschland ergeben Deutschland weiterhin mit Gegenmacht- swp@swp-berlin.org sich neue Ansätze, wenn es seine Importe politik rechnen. Angesichts des Krieges in und Infrastrukturen im Energiesektor um- der Ukraine sowie der daraus folgenden ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 stellt. Die beiden Länder sind überdies die Notwendigkeit eines kohärent agierenden DOI: 10.18449/2022A68 größten Nato- und EU-Mitglieder im Ostsee- Westens ist Deutschland gehalten, im Ver- raum und verfügen über ein beachtliches hältnis zu Polen strategische Langmut zu Militärpotential. Ungeachtet ihrer Partiku- zeigen. Dazu gehört, überzogene Vorstöße larinteressen sind sie daher gefordert, sich abperlen zu lassen, die Hand ausgestreckt bilateral, aber auch gemeinsam mit ande- zu halten und Kontakte zu pflegen, sie aber ren Anrainern des Meeres stärker um die in Zeiten des Wahlkampfs wohl zu dosieren. Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 68 November 2022 8
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