Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
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// Das Magazin des Verbandes der Lehrkräfte an weiterführenden Schulen // #01 // Februar 2014 Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung Oder die Verabschiedung des Leistungsprinzips aus der Schule „Ich glaube nicht, dass der inklusive Weg immer der richtige ist.“ Prof. Dr. Bernd Ahrbeck Positionspapier Inklusion Teil II Cybermobbing: Der tägliche Horror aus dem Internet dbb - Jugend - Senioren - zukunftssichere Landesverwaltung VDR im Gespräch mit - CDU - die Linke
WEITBLICK Lehrstoff ////#03 #01////Juni Februar 2012 2014 Inhalt 3 Editorial 16 17. Landesjugendtag der 21 G9 über GemS kann auch 5 Der Bluff der individuellen dbbj Saar erfreu'n Förderung 17 dbb Senioren 22 Schulen müssen ihre Aufgaben 7 Positionspapier Inklusion 18 Verbesserungen auch für zuverlässig erfüllen können 8 „Ich glaube nicht, dass der Versorgungsempfänger 23 Stoppt Pisa und Co inklusive Weg immer der 18 Fortführung der Gespräche 24 Steuerliche Berücksichtigung richtige ist.“ über zukunftssichere von Krankheits- und Pflege- 10 Stellungnahmen Landesverwaltung kosten 12 Cybermobbing 20 VDR Saar im Gespräch mit 25 Schullandheimpädagogik 14 Der tägliche Horror aus dem CDU und Linksfraktion Internet
// Seite 3 editorial Liebe Leserin, lieber Leser Mobiliar – die viel gepriesene „Inklu- sion“, die wiederum nichts mit Essen "Inklusion? Da wird sehr viel gelogen" und Trinken und schon gar nichts mit „All inclusive“ bei leerer Urlaubskasse individueller Bedienung zu tun hat. Leiden Sie nicht im Stillen, zweifeln Also verbietet sich jeder Vergleich? Sie nicht an sich selbst, machen Sie öf- haben Sie schon einmal einen Hotel- Keineswegs, ist auch klasse, schont die fentlich, was geht und was nicht geht aufenthalt mit einem „All Inclusive“ Staatskasse. Denn „Die Umsetzung der bei der Inklusion. Hier ein Beispiel von Angebot gebucht? Ist klasse, schont Inklusion soll mit dem vorhandenen Prof. Dr. Wolfgang Lamers HU Berlin, die Urlaubskasse, wenn man die Men- Personal – unter Berücksichtigung des Abtlg. Geistigbehindertenpädagogik: gen an Eis und süßen Getränken, die Einsparziels von 588 Lehrerstellen bis "Nehmen Sie mal Physik-Unterricht. die Kinder in sich hineinschlürfen, 2020 – bewältigt werden.“ (Vorblatt Thema Schwingungen. Wie bringen nicht portionsweise bezahlen muss. zum Entwurf eines Gesetzes zur Ände- Sie das einem Kind nahe, das nicht Der Arzt, den wir nach acht Tagen rung schulrechtlicher Gesetze) Lesen hören kann, das verhaltensauffällig riefen und die Medizin, die er gegen Sie dazu die Stellungnahme des VDR! ist oder eine schwere geistige Behin- die Magenverstimmung verschrieb, derung hat? Wie bringen Sie ihm das waren dann allerdings nicht mehr „all "Ich glaube nicht, dass der inklusive so bei, dass der Unterricht für dieses inclusive“. Weg immer der richtige ist". Kind ebenso gut geeignet ist wie für Die Mittags- und Abendbuffets, zu einen hoch begabten künftigen No- denen wir uns im überfüllten Speise- Wenn Sie als Regelschullehrer/-in ein belpreisträger? Das ist eine enorme saal Schlange stehend vorarbeiteten, Unbehagen verspüren angesichts Herausforderung für Lehrerinnen und beeindruckten durch optische Vielfalt, dessen, was von Ihnen verlangt wird, Lehrer“ (in: Rheinische Post 08.11.2013: aber das geschmackliche Einerlei ließ seien Sie versichert, dass Sie nicht al- "Inklusion? Da wird sehr viel gelogen") uns freiwillig auf Nachschlag verzich- leine sind. Lesen Sie die Hintergrund- ten. Und der kostenlose Hauswein aus informationen im DL Positionspapier VDR veröffentlicht der 5 Liter Flasche brachte uns dazu, (S. 6) und den Beitrag von Prof. Dr. Erfahrungsberichte Getränke à la carte zu bestellen – na- Bernd Ahrbeck, der sich an der Hum- türlich gegen entsprechende Bezah- boldt-Universität in Berlin mit Verhal- Schicken Sie uns Ihre Erfahrungsbe- lung. tensgestörtenpädagogik befasst: "Ich richte, in denen Sie so sachlich wie Eigentlich hätten wir im Voraus wis- glaube nicht, dass der inklusive Weg möglich konkrete Unterrichtssituati- sen können, dass wir keine qualitativ immer der richtige ist". (S. 8 ) sowie onen schildern: Fach, Thema, Klasse, hochwertigen Speisen und Getränke den von Prof. Dr. Hans Peter Klein von Anzahl der Schüler/-innen insgesamt und keine individuelle Bedienung be- der Goethe Universität in Frankfurt, und derer mit Handicap, evtl. ge- kommen. Denn es ist ein offenes Ge- der konstatiert: „Inklusion bedeutet wählte Methode und Sozialform. Wir heimnis, dass „All inclusive“ Angebote weit mehr als die Integration behin- werden Ihre Erfahrungsberichte in einem strikten Spardiktat unterliegen. derter Schüler in den normalen Schul- der nächsten Ausgabe von WEITBLICK alltag und wird als trojanisches Pferd – selbstverständlich anonymisiert – „Inklusion“ bei leerer Staatskasse zur Abschaffung eines gegliederten veröffentlichen. Schulsystems und des Leistungsprin- Nun kommt in unsere Schulen, die zips in der Schule gleichermaßen ge- gar nichts mit Hotels gemeinsam nutzt.“ (S. 4) Ihre Inge Röckelein haben – man betrachte sich nur das 19.01.2014
WEITBLICK Lehrstoff ////#03 #01////Juni Februar 2012 2014 DER BLUFF DER INDIVIDUELLEN FÖRDERUNG Prof. Dr. Hans Peter Klein lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt. Oder : Die Verabschiedung des Leistungsprinzips aus der Schule Prof. Dr. Hans Peter Klein Spätestens seit der Diskussion um die und fachdienliche Hinweise im opti- darf und Behinderungen - oder für Abschaffung des Sitzenbleibens sowie malen Fall teilweise oder ganz besei- Kurse in Ganztagsschulen und sollen der bereits begonnenen Einführung tigt werden können. die völlig überforderten Lehrer entlas- der Inklusion in das Regelschulsystem Wie sieht nun die angeblich individu- ten. Die dazu nötigen Informationen steht die Forderung nach Einrichtung elle Förderung der Schüler in der tägli- über die Lage und Probleme der Schü- individueller Fördermaßnahmen als chen Praxis aus? Grundsätzlich werden ler können Lehrer den Honorarkräften dem adäquaten Mittel zum Umgang die Lehrer dazu angehalten, in ihrem kaum geben - aus arbeitsrechtlichen mit der zunehmenden Heterogenität Unterricht jeden Schüler individuell zu Gründen ist ein Austausch oder gar der Schüler ganz oben auf der Tages- fördern. Das ist billig und kostet nichts. eine Einweisung der Honorarkräfte in ordnung der neuen Bildungspolitik. Entsprechend lautet die Devise der Po- Materialien, Übungen und Lernme- Auch die Bertelsmann-Stiftung ver- litiker: Fördern, fördern, fördern. Das thoden in das Fach und in der Klasse langt die Übernahme einer individu- PR-Ziel lässt sich in eine Formel fassen: des Schülers untersagt. Nach außen ellen Förderung in die Schulen, da die „hoher Anspruch“ + "alle schaffen es" wird dies als erfolgreicher Umgang derzeit praktizierte Form der Nachhilfe = "guter Unterricht“ = „gute Schule." mit Heterogenität ausgewiesen, ein höchst unsozial sei. Demnach erhalten Die Lehrer vor Ort fragen sich verwun- offensichtlicher Offenbarungseid. derzeit mindestens 1,1, Millionen Schü- dert, wie man denn bei dreißig und Fahrlässiger kann man mit Förderung ler kommerzielle Nachhilfe, was mit mehr pubertierenden Schülern die- und Inklusion nicht umgehen. Die einem Gesamtbetrag von ca. 1,5 Milli- ser Aufforderung nachkommen soll. dazu dringend erforderlichen zusätz- arden Euro pro Jahr zu Buche schlägt, Gleichzeitig werden Sonder- und För- lichen pädagogisch und psychologisch nichtkommerzielle Nachhilfe nicht derschulen mit kleinen Klassenstärken geschulten Lehrkräfte für jede Klasse eingerechnet. flächendeckend abgeschafft, damit die sind nicht zu finanzieren. Dazu fehlt Förderbedürftigen dann in Klassen das Geld, „kostenneutral“ heißt das Individuelle Förderung in der Praxis – mit 30 und mehr Schülern zusam- Zauberwort. eine Mogelpackung mensitzen, ohne dass sie die dringend Immerhin besteht in einigen Bundes- notwendige Förderung von speziell ländern für Schulen die Möglichkeit, Dabei gilt es erst einmal zu klären, ausgebildeten Pädagogen in Klein- eine zusätzliche Lehrerstelle zu be- was man denn überhaupt unter in- gruppen erhalten. Stattdessen werden antragen (NRW), um zumindest eine dividueller Förderung versteht. Eine in dem ein oder anderen Bundesland punktuelle Förderung in den Fächern allgemein verbindliche Definition gibt Studenten, Rentner und Schüler als vor Ort zu gestalten. Schüler mit nicht es – wie beim Kompetenzbegriff auch - „Honorarkräfte akquiriert“, vielfach ausreichenden Leistungen können weit und breit nicht. Von individueller ohne jegliche pädagogische Schu- dann auf freiwilliger Basis speziell in Förderung kann man sicherlich dann lung – von sonderschulpädagogischer Mathematik oder den Fremdsprachen sprechen, wenn die speziellen Verste- Qualifikation ganz zu schweigen. Sie an einer zusätzlichen Unterrichts- hensprobleme eines einzelnen Schü- werden als „Förderlehrer“ für die För- stunde pro Woche teilnehmen. Diese lers, z.B. in Mathematik, von einem im derung schwacher Schüler eingesetzt werden meist in der Unterstufe an- Fach kompetenten Lehrer thematisiert - auch für Kinder mit unterschiedlichs- geboten, für mehr reicht es halt nicht. und durch ausführliche Besprechung tem sonderpädagogischen Förderbe- Überprüfungen von Leistungen finden
// Seite 5 dort nicht statt. Völlig kontraproduk- ler, der ihn freundlich grüßt, im Unter- sen an, so stellt man verwundert fest, tiv dürfte sich dabei das auch den richt nicht stört und seine Hausaufga- dass eine Individualisierung von Un- Schülern in Kürze bekannte Verbot des ben zumindest vorlegen kann, etwas terricht so gut wie keine nachweisba- Sitzenbleibens in immer mehr Bun- Schlechteres geben als mindestens ein ren positiven Effekte auf Lernprozesse desländern auswirken. Warum sollte Befriedigend oder Gut?“ so ein Lehrer nach sich zieht, so ausgewiesen in der ein Schüler an einer dieser Förder- auf einer Tagung. Weiterhin werden Metaanalyse des Neuseeländers John maßnahmen am späten Nachmittag Notenvergabeschemata vorgegeben, Hattie, die sich auf mehr als 52000 teilnehmen, wenn seine unzureichen- die in den letzten Jahren deutlich nach Einzeluntersuchungen stützt. Die in- den Leistungen als solche nicht mehr unten korrigiert wurden. Von ehemals klusive Pädagogik mit dem Anspruch ausgewiesen werden dürfen? Insbe- mindestens 50% korrekt zu beantwor- auf professionellem Umgang mit He- sondere die Schüler aus bildungsfer- tenden Fragen für ein „ausreichend“ terogenität zeichnet sich jetzt schon in nen Schichten dürften hier kaum er- (in den USA sind es 61%!) ist man mitt- Grundzügen ab: „Der eine Schüler hat reicht werden. lerweile in mehreren Bundesländern die Mathematik Aufgabe verstanden bei 40% und darunter angelangt, und und beherrscht den Stoff, er bekommt Von Gauklern, Taschenspielern und auch an den Hochschulen gibt es im- die Note „gut“, ein „sehr gut“ wäre allerlei Tricks des Qualitätsmanage- mer mehr Fachbereiche, die ihre Be- ungerecht gegenüber den Schülern ments wertungsschemata genauso deutlich mit eventuell schlechteren Lernvor- nach unten absenken. Bei der Beurtei- aussetzungen. Der zweite Schüler hat Stattdessen werden die oben be- lung von Zentralabiturklausuren kön- die Aufgabe zwar nur halb verstanden schriebenen völlig unzureichenden nen Lehrer nicht nur in NRW ca. 8-10 und kann auch nur Teillösungen an- Konzepte als das Non plus Ultra der % der zu vergebenen Punkte für Leis- bieten, er hat sich aber bemüht und neuen Bildungsoffensive gepriesen. tungen außerhalb der Fragestellung auf seinem deutlich niedrigeren Leis- In Wahrheit haben wir es hier zu tun vergeben. In der Generierung hoher tungsniveau gewisse Lernforschritte mit einer Mischung aus Taschen- Abiturientenquoten scheinen selbst erzielt, dafür erhält auch er ein „gut“. spielertricks und angeblich qualitäts- ehemals „anspruchsvolle“ Bundeslän- Der dritte Schüler weiß letztlich gar steigernden Maßnahmen, von denen der sich nun gegenseitig überholen zu nicht, worum es eigentlich geht, er hat das Verbot des Sitzenbleibens sowie wollen. weder die Aufgabe verstanden und die ausschließliche Beachtung des El- kommt zu keinerlei brauchbaren Er- ternwunsches nach der Schulform nur Das trojanische Pferd der radikalen gebnissen, er ist extrem überfordert, die Spitze des Eisbergs darstellen. Die Inklusion er hat sich aber in der Gruppe zumin- Vergabe unzureichender Leistungen dest teilweise eingebracht, was unter passt nicht ins Bild der derzeitigen Bil- Betrachtet man die neuesten Entwick- Berücksichtigung seiner ungünstigen dungslandschaft und wird nicht dem lungen in einigen Bundesländern, so Lern- und sozialökonomischen Voraus- Schüler, sondern dem Lehrer zur Last scheint hier die nächste Stufe der re- setzungen aus Gerechtigkeitsgrün- gelegt. Von „Abschulen“ ist die Rede. formpädagogischen Bildungsrakete den im Rahmen seiner Möglichkeiten Lehrer, die dies nicht kapiert haben im Sinne einer radikalen Inklusion ge- ebenfalls mit „gut“ bewertet wird“ so sollten, werden bei der Vergabe un- zündet worden zu sein. Radikale Inklu- ein Schulleiter auf der Tagung „Sack- zureichender Leistungen mit zusätz- sion bedeutet dabei weit mehr als die gassen der Bildungsreform“ in Wien. lichen Förderberichten am Wochen- Integration behinderter Schüler in den Von einer tatsächlichen individuellen ende sanktioniert. Die Folgen liegen normalen Schulalltag und wird als tro- Förderung als zusätzlicher Unterstüt- auf der Hand: Mangelhafte und unge- janisches Pferd zur Abschaffung eines zung zum Erreichen der für alle vorge- nügende Leistungen werden einfach gegliederten Schulsystems und des gebenen Lernziele hat man sich nach mit ausreichend oder besser beurteilt. Leistungsprinzips in der Schule glei- diesem Konzept längst verabschiedet. Damit die mittleren und guten Schü- chermaßen genutzt: Die Einführung Gemeinsames Lernen an einem ge- ler nicht so stark benachteiligt sind, einer Einheitsschule für alle ohne Aus- meinsamen Unterrichtsgegenstand werden auch deren Noten angehoben. nahme mit besonderer Stoßrichtung ist Schnee von gestern. „Zieldifferen- An den Gymnasien werden die Noten auf die abzuschaffenden Gymnasien ziertes Lernen“ heißt das Zauberwort, nachgebessert, damit deren Schüler („ohne die Abschaffung des Gymnasi- das letztlich nicht anderes bedeutet gegenüber den ebenfalls Abitur ver- ums gibt es keine echte Schulreform“ als die endgültige Verabschiedung des gebenden Gesamt-, Stadtteil- und so das Credo), die Abschaffung verglei- Leistungsprinzips aus der Schule. Realschulen Plus nicht ins Hintertref- chender Noten, des Sitzenbleibens so- fen gelangen. Da selbst in den schrift- wie der generelle Verzicht auf jegliche Der Autor lehrt Didaktik der Biowissenschaf- ten an der Goethe Universität Frankfurt und lichen Fächern die Schüler zu 50% Form von für alle geltenden Bildungs- war 2011/2012 als Gastprofessor am College nach der mündlichen Note beurteilt standards und Lehrplänen. Jeder of New Jersey tätig. werden, gibt es hier keine Probleme, Schüler erhält nach diesem Konzept die Noten nach oben zu setzen, in den einen eigenen Bildungsplan. Lediglich klassischen „Nebenfächern“ sowieso die intraindividuellen Lernfortschritte nicht. „Warum sollte unter derartigen dürfen beurteilt werden. Schaut man Bedingungen ein Lehrer einem Schü- sich dazu wissenschaftliche Experti-
WEITBLICK Lehrstoff ////#03 #01////Juni Februar 2012 2014 POSITIONSPAPIER INKLUSION Teil 2 das Grundgesetz erweitert worden. Im Rahmenbedingungen in den kleinen GG-Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 heißt es Gruppen der Sonderschulen sind für II. Hintergründe seitdem: "Niemand darf wegen seiner die Behinderten erheblich günstiger, Behinderung benachteiligt werden." die Lehrer sind kompetenter, die Aus- 1. Vorgeschichte So gesehen, war Deutschland bereits stattung besser. lange vor der UN-Konvention auf dem Kaum anders fiel der wissenschaftli- Die Debatte um die Integration von be- Weg zur Inklusion Behinderter. che Bericht aus, den die "Arbeitsstelle hinderten und beeinträchtigten Men- Am weitesten in der integrativen Integration" am Institut für Behinder- schen ins Regelsystem der allgemein- Schulpraxis ging bereits vor drei Jahr- tenpädagogik der Universität Ham- bildenden und der beruflichen Bildung zehnten Hamburg. 1983 gab es dort burg über das Modell "Die Integrative gibt es nicht erst seit der jüngsten UN- Modellversuche an zwölf Grundschu- Grundschule im sozialen Brennpunkt" Konvention („Übereinkommen über len – im Herbst 1997 waren es 377 in- erstellte. Die Untersuchung, deren Er- die Rechte von Menschen mit Behinde- tegrative Grundschulklassen mit gut gebnisse im September 1997 als ver- rungen“, verabschiedet 2006, in Kraft 9000 Schülern. Hessen folgte 1991 trauliches Papier vorlag, aber erst im seit 2008, in Deutschland ratifiziert unter dem Titel "Gemeinsamer Unter- November 1998 publik wurde, dämpf- 2009). Diese Debatte war bereits 1973 richt" mit 396 behinderten Kindern in te ebenfalls viele Hoffnungen. Im Ge- vom Deutschen Bildungsrat initiiert Vorklassen und in den ersten Grund- genteil. Die Kernaussagen über den worden. Der Bildungsrat hatte damals schuljahren; 1994 war die Zahl der be- Erfolg "Integrativer Regelklassen" (IR), die Integration Behinderter in Regel- hinderten Schüler in integrativen Klas- das heißt von Klassen mit heteroge- klassen empfohlen und das Sonder- sen auf 1500 angewachsen. Für alle ner, also behinderter und nichtbehin- schulwesen radikal in Frage gestellt. Integrationsmaßnahmen wurden 400 derter, Schülerschaft, sind eindeutig: In der Folge starteten vor allem die Lehrerstellen zur Verfügung gestellt. "Auch im IR-System ist es trotz der son- Länder Berlin, Bremen, Hamburg und Der Bayrische Landtag verabschiedete derpädagogischen Ressourcen nicht Hessen Modellversuche. im Mai 1998 eine Entschließung, der- gelungen, das Auseinanderklaffen der Spätestens seit 1994 war in allen deut- zufolge die Regelschule behinderten Leistungsschere aufzufangen." Und: schen Ländern integrativer Unterricht Kindern vermehrt geöffnet wurde. "Es muss konstatiert werden, dass möglich. In einem Beschluss vom 6. die Integration im Schulversuch nicht Mai 1994 hatte die Kultusminister- 2. Zurückliegende Bilanzen und De- zur Reduzierung des sonderpädago- konferenz (KMK) den einzelnen be- batten gischen Förderbedarfs nach Ende der hinderten Schüler in den Vordergrund Grundschulzeit geführt hat." gestellt, dessen Förderbedürftigkeit Der Erfolg der integrativen/inklusi- Die differenzierte und höchstindivi- jedoch nicht mit Sonderschulbe- ven Beschulung stellte sich bislang in duelle Beschulung eines behinderten dürftigkeit gleichgesetzt. Vielmehr der Empirie als eher gering dar. Hessi- Kindes in einer speziali-sierten Förder- betrachtet die KMK die Bildung behin- sche Schulämter etwa hielten 1994 in schule ist einem integrativen/inklusi- derter Menschen damals "verstärkt als "Sachstandsberichten" fest: Behinder- ven Ansatz also in vielen Fällen überle- gemeinsame Aufgabe für alle Schu- te Kinder können in einer Sonderschu- gen. Die Behauptung, dass einheitliche len". Am 27. Oktober 1994 war zudem le besser gefördert werden. Und: Die Schulsysteme einen erfolgreichen Um-
// Seite 7 gang mit Heterogenität belegt hätten jahr 2010/2011 wurden 79 Prozent der und dass diese Erfahrung auch auf in- Schüler (in absoluten Zahlen 113.800) klusive Bildung gelten könne, ist nicht mit sonderpädagogischem Förderbe- belegt. darf an Förderschulen unterrichtet Vielmehr gilt: Die integrative Beschu- (2000/2001 waren es noch 88 Prozent). lung ist nicht per se humaner, demo- Von Land zu Land weichen diese Antei- kratischer und ef-fektiver. le aber zum Teil erheblich voneinander Vielmehr zeigt sich wie in allen Berei- ab: Sie reichen von etwa 60 bis 90 Pro- chen allgemeiner und beruflicher Bil- zent. Ansonsten ist die Inklusionsrate dung: Je homogener eine Lerngruppe, sehr abhängig von der Altersstufe: In desto individueller ist die Betreuung Kinderta-gesstätten beträgt er gut und desto größer sind die Fortschritte 60 Prozent, in Grundschulen rund ein im kognitiven und im affektiven Lern- Drittel und in weiterführenden Schu- bereich. len rund 15 Prozent. Sogar verfassungsrechtlich relevant war die Frage "Integration oder Sepa- 4. Die UN-Konvention verlangt keines- Systeme der Sonder- und Förderpäd- ration" in Deutschland schon gewor- wegs die Schließung von Förderschu- agogik. In Deutschland ist dies – an- den, nämlich im Herbst 1997. Das Land len. ders als in vielen anderen Ländern – Niedersachsen hatte eine körperlich selbstverständlicher Bestandteil eines und mo-torisch mehrfach behinderte An keiner Stelle dieser Konvention modernen Rechts- und Sozialstaates. Schülerin damals gegen den Wunsch findet sich eine Passage, mit der die Auch die Terminolo-gie hatte sich im der Eltern aus der fünften Klasse einer Beschulung in Förder-schulen als Dis- Lauf der Jahre weiterentwickelt und Gesamtschule in eine Sonderschule kriminierung betrachtet würde. Im diesem Grundsatz Rechnung getragen. überwiesen. Das Bundesverfassungs- Gegenteil: Artikel 5 (4) der UN-Konven- Aus den "Hilfsschulen" waren "Sonder- gericht bestätigte dieses Vorgehen tion spricht davon, dass „besondere schulen“, aus diesen in der Mehrzahl und kam am 8. Oktober 1997 zu dem Maßnahmen … zur Beschleunigung der deutschen Länder "Förderschulen" Urteil: oder Herbeiführung der tatsächlichen geworden. Die Überweisung an eine Sonderschu- Gleichberechtigung von Menschen mit In Deutschland besuchen derzeit le stelle nicht schon für sich eine Be- Behinderungen“ nicht als Diskriminie- etwa 365.700 Kinder und Jugendliche nachteiligung dar. rung gelten. Und auch Artikel 24 der (233.400 Jungen und 132.300 Mäd- Eine solche sei nur gegeben, falls die Konvention spricht nicht von einem chen) eine der insgesamt rund 3.300 Unterrichtung im Regelschulsystem inklusiven einheitlichen Schulwesen. Sonder- beziehungsweise Förderschu- möglich sei, der dafür vorhandene Per- In diesem Sinne hat sich im Novem- len. Das sind 3,2 Prozent aller Schüler. sonal- und Sachmittelbedarf bestrit- ber 2010 auch die KMK geäußert: „Die Rund 43 Prozent davon gehen in eine ten werden könne und schutzwürdige Behindertenrechtskonvention macht Schule für Lernbehinder-te, rund 16 Belange Dritter nicht entgegenstün- keine Vorgaben darüber, auf welche Prozent besuchen eine Schule für Geis- den. Weise gemeinsames Lernen zu reali- tigbehinderte, etwa acht Prozent eine Schule für Sprachbehinderte, rund 12 sieren ist. Aussa-gen zur Gliederung 3. Zur Situation der Förderschulen in des Schulwesens enthält die Konven- Prozent eine Schule für Verhaltensauf- Deutschland tion nicht.“ fällige, rund 6 Prozent eine Schu-le für Körperbehinderte, jeweils ein bis drei Das deutsche Förderschulsystem ist April 2013 Deutscher Lehrerverband (DL) Prozent eine Schule für Sehbehinder- einmalig. Deutschland hat nämlich Dominicusstr. 3 – 10823 Berlin te oder für Gehör-lose/Schwerhörige. im allgemeinbildenden und im beruf- Tel. (030) 70 09 47 76 – Fax (030) 70 09 48 84 Die Förderschüler werden von knapp lichen Sektor weltweit eines der diffe- – E-Mail: info@lehrerverband.de 72.000 Lehrern unterrichtet. Im Schul- renziertesten und funktionsfähigsten
WEITBLICK // #01 // Februar 2014 „ich glaube nicht, dass der inklusive weg immer der richtige ist.“ Prof. Dr. Bernd Ahrbeck Professor Dr. Bernd Ahrbeck erklärte bildet hingegen das Gymnasium. wurden. Er hat insgesamt keine beson- im Rahmen einer Veranstaltung, zu ders ermutigenden Ergebnisse hervor- der die Union Stiftung am 16. Januar Das Gemeinsame kann nicht das ein- gebracht. Zwar gelang eine gemein- 2014 nach Saarbrücken eingeladen zige Kriterium sein same Beschulung in sozialer Hinsicht, hat, warum es die totale Inklusion in auf der Leistungsebene aber waren der Schule nicht geben kann. Er ist der Die grundlegende Frage lautet: Was ist die Ergebnisse mehr als ernüchternd. Meinung, dass man zwar mit weni- das Ziel von Schule, was ist das Ziel von Die zu Beginn leistungsschwächeren ger Sonderschulen auskommen, aber Inklusion? Die Überzeugung, dass das Schüler fanden keinen Anschluss, sie nicht prinzipiell auf sie verzichten Gemeinsame einen hohen Wert dar- blieben die leistungsschwächeren. Das kann. stellt, teile ich. Aber das darf nicht das durchschnittliche Leistungsniveau der einzige Kriterium sein. Es geht in der Klassen fiel auffallend gering aus. Es Der Inklusion sind Grenzen gesetzt Schule auch um Leistung und darum, gab weniger Gymnasialüberweisun- dass Kinder mit behinderungsspezifi- gen und die Sonderschulbedürftigkeit Auch die Länder, die sehr viel Integra- schen Beeinträchtigungen angemes- hatte sich nach vier Grundschuljahren tionserfahrung haben, kennen kein sen auf das Leben vorbereitet werden. keinesfalls reduziert. System einer vollständigen Inklusion. Insofern ist zum Beispiel nicht uner- Auch wenn aufgrund anderer Un- Zum Beispiel Finnland: Dort besuchen heblich, wie vielen Kindern mit Lern- tersuchungen einiges dafür spricht, 1,2 Prozent aller Schüler klassische Son- beeinträchtigungen ein Hauptschul- Lernbehindertenschulen nicht im bis- derschulen und zusätzlich knapp drei abschluss gelingt. Diese Frage muss an herigen Ausmaß beizubehalten, so Prozent durchgängig Sonderklassen. beide Systeme gestellt werden - an die sollten spezielle Schulangebote für be- Offensichtlich sind der Inklusion Gren- Inklusion wie an die spezielle Beschu- stimmte Kinder mit Lernbehinderun- zen gesetzt. Allerdings besteht zwi- lung. Die Erfolge der Sonderschulen gen weiterhin zur Verfügung stehen. schen Finnland und Deutschland ein sind auf diesem Gebiet nicht überwäl- Einige Schüler kommen nachweislich elementarer Unterschied: 40 Prozent tigend; 25 bis 30 Prozent der Schüler in inklusiven Klassen nicht zurecht. Sie der Schulen in Finnland haben weni- erreichen einen solchen Abschluss. brauchen einen kleinen, überschauba- ger als 50 Schüler, 60 Prozent weniger Aber wir wissen nicht, ob es in der In- ren Rahmen mit stabilen Beziehungen als sieben Lehrer. Insofern ist ein aus- klusion wirklich mehr sein werden. und einem hohen Maß an persönlicher gebautes Sonderschulsystem bereits Aufmerksamkeit, die sie anderswo aus geografischen Gründen unmög- Bedeutendster Schulversuch wenig nicht erhalten. lich. Die großen Schuleinheiten, die wir ermutigend hier haben, sind in Finnland nahezu Nicht prinzipiell auf Differenzierung unbekannt. Hinzu kommt: Im Mittel- Der Hamburger Schulversuch der verzichten punkt der Bildungstradition steht dort 1990er Jahre war ein klassischer In- die Dorfschule, die Gemeinschafts- klusionsversuch, bei dem u. a. die son- Die Eltern sollten ein Wahlrecht ha- schule - ebenso wie in den anderen derpädagogische Förderkategorien im ben, das nicht unterlaufen werden skandinavischen Ländern. Das Zent- Lernen, der Sprache und der emotio- darf. Beide Angebotsformen müssen rum der deutschen Bildungstradition nal-sozialen Entwicklung abgeschafft deshalb vorgehalten werden. Eltern
// Seite 9 nehmen sehr unterschiedliche Po- Viele Beiträge zur Inklusionsdis- sitionen ein. Sie engagieren sich kussion fallen aus meiner Sicht für mehr Inklusion oder auch für doch ein wenig schlicht aus. Ist den Erhalt spezieller Schulen. Die immer, wie häufig behauptet wird, fachliche Beratung, auf die sie für alle Menschen das Gleiche häufig angewiesen sind, sollte gleich gut? Das wird man nicht möglichst unideologisch erfolgen ernsthaft annehmen können. In- und für unterschiedliche Wege klusion kann nur dann funktionie- offen sein. Für viele Kinder mag ren, wenn hochqualifizierte Spezi- eine inklusive Beschulung richtig alisten zur Verfügung stehen und sein und für andere eben nicht. Ich anerkannt wird, dass bestimmte bin fest davon überzeugt, dass der Schüler etwas Besonderes brau- inklusive Weg nicht grundsätzlich, chen. Die Abschaffung der sonder- also zu allen Zeiten und bei jedem pädagogischen Förderkategorien, Kind der richtige Weg ist. Und ich ihre Nivellierung zugunsten einer bin ebenso überzeugt davon, dass diffusen allgemeinen Entwick- nicht prinzipiell auf institutionelle lungsförderung ist dazu ein denk- Differenzierungen verzichtet wer- bar schlechter Ratgeber. Eine große den kann. Prof. Dr. Bernd Ahrbeck lehrt Rehabilitationswissen- Gefahr besteht darin, dass behin- Es ist zweifelsfrei ein großer Fort- schaften mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörten- derte Menschen in ihren speziellen schritt, wenn Kinder ein Recht da- pädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bedürfnissen übersehen werden, rauf haben, gemeinsam beschult weil es allzu große Hemmungen zu werden. Gleichwohl macht Fragen: Kannst du lesen, schreiben, gibt, ihre Schwierigkeiten als sol- eine solche Beschulung für ein Kind, rechnen und kannst du dich adäquat che anzuerkennen und begrifflich zu das eine Behinderung aufweist, nur benehmen, bist du psychisch stabil? fassen. Die Angst vor Etikettierungen dann einen Sinn, wenn ihm diese Be- Die Relativierung pädagogischer Ziele ist mitunter völlig überzogen. schulungsform persönlich dienlich ist; im Sinne von Beliebigkeit und bunter wenn sie ihm hilft, in der Schule und Vielfalt steht häufig in einem krassen Bedenken müssen frei geäußert wer- im späteren Leben gut zu bestehen. Widerspruch zu den Anforderungen den dürfen Von einer radikalen institutionellen des Erwachsenlebens. Schließlich soll Entdifferenzierung halte ich wenig. die Schule Kinder auf das Erwachse- Es ist ganz sicher nicht gut, dass das So sind Kinder mit massiven Verhal- nenleben vorbereiten. Inklusionsanliegen häufig mit hoher tensstörungen oft nur sehr schwer moralischer Ansprüchlichkeit vertre- zu integrieren. Es gibt weltweit kein Das Erwachsenenleben ist nicht inklu- ten wird. So, als ginge es um einen tragfähiges Modell, in dem eine tota- siv Kampf zwischen "guten" und "schlech- le Inklusion für diese Personengruppe ten" Menschen. Das verführt viele Leh- funktioniert. Das Erwachsenenleben ist nicht inklu- rerinnen und Lehrer dazu, zu sagen: siv. Jede entwickelte Gesellschaft ist in "Ach ja, dann machen wir eben mit!" In Leistungsgesichtspunkt spielt eine sich gespalten. Die Vorstellungen von Wirklichkeit aber haben sie Bedenken Rolle Inklusion und Gemeinsamkeit in der und gut nachvollziehbare Gründe da- Schule, der eine Gemeinsamkeit im für, der Umsetzung von Inklusion re- Ein gutes Schulsystem ist eines, das Leben danach entsprechen soll, fällt serviert gegenüber zu stehen. Zu einer Kindern und Jugendlichen mit und manchmal doch ein wenig idyllisch offenen Auseinandersetzung muss es ohne Behinderung den bestmögli- aus. Der begrüßenswerte Grundge- aber gehören, dass darüber frei ge- chen Weg ins Leben weist. Jedes Kind danke der Inklusion besteht darin, dass sprochen werden kann. Ich habe den muss die Möglichkeit zu einer opti- Kinder mit Behinderung einen unein- Eindruck, dass das gegenwärtig oft malen Entwicklung erhalten, damit geschränkten Zugang zu Bildungsein- ziemlich schwierig ist. Im öffentlichen es sich selbst entfalten und in der Ge- richtungen haben, dass sie am Reich- wie im fachlichen Diskurs werden sellschaft bestehen kann. Dabei spielt tum des Lebens partizipieren und in diejenigen, die nicht im Mainstream auch der Leistungsgesichtspunkt eine ihrer individuellen Eigenart anerkannt mitschwimmen, leicht in eine krasse wichtige Rolle. Bei Schülern mit einer werden. Ob dazu in jedem Fall eine ge- Außenseiterposition gebracht und als Lernbehinderung muss sich das Be- meinsame Beschulung notwendig ist, „Inklusionsfeinde“ gebrandmarkt, ob- mühen darauf richten, dass - soweit darf bezweifelt werden. Auch andere, wohl sie es in Wirklichkeit gar nicht irgend möglich - ein Hauptschulab- pädagogisch gut begründbare Wege sind. Der viel strapazierte Satz "Viel- schluss gelingt. Das ist eine entschei- sind ethisch vertretbar und müssen falt ist bereichernd" sollte auch für sie dende Voraussetzung dafür, dass sich offen gehalten werden. gelten. Ihn auszusprechen fällt offen- ihre Zukunftsperspektiven erweitern. sichtlich leichter, als ihn ins Leben zu Denn nach der Schule stellt das Le- Ist immer für alle Menschen das Glei- integrieren. ben an alle Menschen die gleichen che gut genug?
WEITBLICK Lehrstoff ////#03 #01////Juni Februar 2012 2014 StellungnahmeN Stellungnahme den, so reicht deren Anzahl bei wei- die Zahl der Kinder, die Förderschulen des VDR Saar zum Entwurf eines Ge- tem nicht aus. besuchen, trotz sinkender Schüler- setzes zur Änderung schulrechtlicher zahlen saarlandweit nahezu konstant Gesetze Az: A4/B-3.7.10 Förderschullehrer/-innen an Regel- geblieben. Zum Schuljahr 2012/13 hat- schulen werden dort überwiegend ten rund zehn Prozent der Kinder im Der VDR lehnt den Entwurf in seiner beratend tätig, anstatt selbst mit dem Primarbereich einen festgestellten jetzigen Form ab. Kind zu arbeiten und es so zu fördern, sonderpädagogischen Förderbedarf. wie seine spezifische Behinderung es Ein weiterer Anstieg der Meldungen Begründung: erfordert. wird bei Beibehaltung des gelten- den Systems prognostiziert. Durch Es genügt nicht, ein Ziel als Ist-Zu- Damit wird das Ziel einer funktionie- die Zunahme von Schülerinnen und stand zu formulieren, renden Inklusion nicht erreicht. Schülern mit anerkanntem sonder- pädagogischen Förderbedarf können vgl. § 4 (1) des Schulordnungsgesetzes: Die von der Landesregierung geplan- den anerkannten Integrationsmaß- „Die öffentlichen Schulen der Regel- te Maßnahme wird auf dem Rücken nahmen angesichts der enormen form sind inklusive Schulen“ und § 5 der Lehrer/-innen an Regelschulen Personalknappheit beispielsweise in (3) des Schulpflichtgesetzes: Schüle- ausgetragen. Für die betroffenen Kin- den Bereichen Lernen und Sprache in rinnen und Schüler mit Bedarf an son- der und deren Eltern ist der vorlie- den Regelschulen gerade noch 1,5 bis derpädagogischer Unterstützung be- gende Entwurf Aktionimus auf dem zwei Lehrerwochenstunden für die suchen grundsätzlich eine Schule der Hintergrund der Haushaltslage des Unterrichtserteilung durch ausgebil- Regelform im Sinne des § 3a SchoG“. Saarlandes. dete Förderschullehrkräfte zugewie- sen werden. Bei Fortschreibung dieser ohne die dafür notwendigen Rah- Dass es sich bei dem vorliegenden Entwicklung wäre der Mehrbedarf an menbedingungen zu schaffen, denn Entwurf um ein Sparmodell handelt, Lehrerstellen im Förderschulbereich wird besonders offenkundig an die- nicht mehr durch einen Rückgriff auf „Die Umsetzung der Inklusion soll mit ser Stelle des Vorblattes: die demografische Rendite darstell- dem vorhandenen Personal - unter bar.“ Berücksichtigung des Einsparziels von „Das bisherige integrative System bin- 588 Lehrerstellen bis 2020 - bewältigt det die Zuweisung von Förderschul- Hier offenbart sich zugleich die gan- werden.“ (vgl. Vorblatt zum Gesetzent- lehrkräften an den beantragten son- ze Hilflosigkeit: Die steigende Zahl an wurf D 2. Finanzielle Auswirkungen derpädagogischen Förderbedarf der Kindern mit sonderpädagogischem Vollzugsaufwand) einzelnen Schülerinnen und Schüler. Förderbedarf und der Mangel an aus- Allein dieser Satz genügt, den Geset- In den vergangenen zehn Jahren sind gebildeten Förderschullehrkräften zesentwurf abzulehnen. die Anzahl der Anträge und die daraus veranlasst den Gesetzgeber dazu, an- resultierenden Anerkennungen des erkannte Integrationsmaßnahmen Wenn die Förderschullehrer/-innen sonderpädagogischen Förderbedarfs einer diffusen Vorstellung von Inklu- auf viele Regelschulen verteilt wer- massiv angestiegen. Gleichzeitig ist sion zu opfern.
// Seite 11 Als Fortschritt verbrämt, handelt es verschiedenen Anforderungsniveaus Am Ende sind alle Verlierer: die sich in Wahrheit um einen Rück- unterrrichten, um die behinderten Lehrer/-innen, die behinderten Kin- schritt für die behinderten Kinder. Schüler/-innen ebenso zu fördern der und insbesondere auch die Nicht- Deren spezifische Defizite werden wie deren Mitschüler/-innen, die po- behinderten, die u.U. in ihrem Lern- nicht mehr erfasst und können somit tentiell den Hauptschul-, den mitt- fortschritt gehindert und deren To- auch nicht mehr durch differenzier- leren Bildungsabschluss oder das leranz und Empathie überstrapaziert te Fördermaßnahmen ausgeglichen Abitur anstreben. Dazu kommt noch, werden. Und die neue Schulform werden. dass - je nach Behinderung - das Ni- Gemeinschaftsschule, weil die Ge- Den Regelschullehrer/-innen wird veau zusätzlich ganz individuell dif- fahr besteht, dass sie zur „Restschule“ eine Herkulesaufgabe aufgebürdet, ferenziert werden muss, will man die verkommt, wenn alle, die der Inklusi- die sie gar nicht erfüllen können. Von Kinder mit Handicap nicht alle über on entgehen wollen, ihre Kinder am ihnen wird erwartet, dass sie auf 4 einen Kamm scheren. Gymnasium anmelden. DBB- Lehrerverbände kriti- Mittel zur Verfügung stellen“, so Mi- sieren den Vorstoß des Bil- chael Alschbach weiter. Dazu müssten zunächst die räumlichen, sachlichen dungsministeriums zur In- und personellen Voraussetzungen ge- klusion schaffen werden. Die DBB-Lehrerver- bände kritisierten, zur Finanzierung Der jüngste Vorstoß des Bildungsmi- der Inklusion alleine auf die demogra- nisteriums zur Inklusion war zentraler fische Rendite zu setzen. „Eine solche Gegenstand der Beratungen der Leh- Vorgehensweise widerspricht nach un- rerverbände im DBB am 12. Dezember serer Auffassung dem Ziel der Landes- 2013. „Integrationsschüler werden regierung, Qualitätsverbesserungen heute schon in allen Regelschulfor- im gesamten Schulbereich vorzuneh- men im Saarland unterrichtet. Die vom men“, erläuterte Michael Alschbach Bildungsministerium vorgeschlagene den Standpunkt der DBB-Lehrerver- Umsetzung der Inklusion ist mit dem bände. Um ein tragbares Konzept für bereits vorhandenen Personal alleine alle Beteiligten zu finden, bieten die nicht zu bewerkstelligen“, so Michael Michael Alschbach DBB-Lehrerverbände dem Bildungsmi- Alschbach, der Sprecher der DBB-Leh- nister ihre Zusammenarbeit an. rerverbände. „Wer Inklusion will, muss in erheblichem Umfang zusätzliche
WEITBLICK Lehrstoff ////#03 #01////Juni Februar 2012 2014 CYBERMOBBING: Eine neue Herausforderung für Schulen - Dr. Torsten Porsch Moderne Informations- und Kommu- verständlich scheint. Darin kann sich munikationstechnologien, bei denen nikationstechnologien bringen eine auch eine gewisse Scheu begründen, sich das Opfer hilflos oder ausgeliefert Vielzahl von Vorteilen mit sich. Das solche Thematiken mit Schülerinnen und (emotional) belastet fühlt, oder Internet ist mittlerweile fast überall und Schülern intensiv aufzugreifen. bei denen es sich voraussichtlich so nutzbar und bietet unzählige Angebo- Neben der Nutzung der Vorteile muss fühlen würde, falls es von diesen Vor- te, um sich zu informieren, mit ande- auch ein angemessener Umgang mit fällen wüsste“ (Pieschl & Porsch, 2012, ren Personen in Austausch zu treten den möglichen Gefahren digitaler Me- S. 18). oder selbst aktiv Inhalte zu verbreiten dien Gegenstand der Bildungsarbeit In der Wissenschaft ist die eindeutige und für Andere nutzbar zu machen. sein. Mittlerweile sind eine Reihe von Abgrenzung und Erfassung von Cy- Wie ein neuzeitlicher Flaschengeist Gefahren identifiziert worden. Dazu bermobbing noch umstritten (Pieschl zaubert das Smartphone allzeitig und zählen unter anderem die suchthafte & Porsch, im Druck). Eine repräsentati- omnipräsent jede Information und Mediennutzung, Konfrontation mit ve Erhebung unter deutschen Schüle- jeden Kontakt herbei. Im Privaten wer- gewalthaltigen Inhalten, beispiels- rinnen und Schülern weist darauf hin, den Bestellungen und Einkäufe online weise in Computerspielen oder Inter- dass 34 % der Schülerinnen und Schü- getätigt, im Freundeskreis gegensei- netforen, und sexuelle Belästigung, ler in Deutschland zumindest verein- tig über den Tagesablauf informiert, beispielsweise in Chats. Ein Problem- zelt von Cybermobbing betroffen sind Nahverkehrsverbindungen nicht nur bereich, der sich sehr eindrücklich von und dass sich 6 % selbst als Opfer von ermittelt, sondern auch digital be- der virtuellen in die reale (schulische) Cybermobbing klassifizieren (Porsch zahlt. Aus der Berufswelt sind Emails, Welt erstrecken kann, ist das Cyberm- & Pieschl, im Druck). Andere Untersu- digitale Terminkalender und andere obbing. Auch wenn Cybermobbing chungen in Deutschland zeigen, dass Internetanwendungen zur Koordinati- häufig außerhalb der Schule bzw. der je nach (Alter der) Stichprobe, gewähl- on von dezentralen Teams nicht mehr Schulzeiten stattfindet, können die ter Methodik und begrifflicher Defi- wegzudenken. daraus resultierenden Probleme und nition von Cybermobbing zwischen 3 Der kompetente Umgang mit diesen Konflikte in den schulischen Alltag und 82 Prozent der Befragten als Op- Technologien ist eine Lebensaufga- getragen werden. Findet Mobbing fer von Cybermobbing und zwischen be im Privaten, wie auch eine Anfor- virtuell statt, ist die Schule auch kein 3 und 79 Prozent der Befragten als derung der Berufs- und Arbeitswelt. Schutzraum für die Opfer. Darüber hi- Täter von Cybermobbing klassifiziert Im staatlich institutionalisierten Bil- naus bieten Schulen einen passenden werden können (Pieschl & Porsch, im dungssystem sollen junge Menschen Rahmen um Themen des sozialen Mit- Druck). Die Unterschiedlichkeit dieser auch darauf vorbereit werden. Der einanders aufzugreifen, die in der rea- Ergebnisse unterstreicht den vorläu- Erziehungs- und Bildungsauftrag in len, wie auch der virtuellen Welt gültig figen Stand der Forschung. Dennoch Schulen umfasst ganz zentral die di- sind. konnten bisher gewonnene Erkennt- gitale Teilhabe. Ein Großteil der Lehr- Praxisorientiert umfasst Cyberm- nisse genutzt werden, um wirksame kräfte steht allerdings bereits in eige- obbing „alle Formen von Schikane, Präventions- und Interventionsmaß- ner Verantwortung, sich diese digitale Verunglimpfung, Betrug [hier Iden- nahmen gegen Cybermobbing für den Teilhabe zu erarbeiten, die bei jünge- titätsklau], Verrat und Ausgrenzung Praxiseinsatz zu entwickeln (Pieschl & ren Personen mittlerweile ganz selbst- mithilfe von Informations- und Kom- Porsch, im Druck).
// Seite 13 Um sich als Schule erfolgreich der The- die nachhaltige Implementierung forderung gewachsen zu sein. matik anzunehmen, ist es sinnvoll, die von Präventionsprogrammen zur Er- Erziehungs- und Bildungsarbeit in der weiterung der Medienkompetenz an. Schule mit den Bemühungen und Initi- Neben vielen empfehlenswerten Ar- Literatur: Pieschl, S., & Porsch, T. (2012). Schluss mit Cy- ativen der Eltern, sowie den potenziel- beitsmaterialien, beispielsweise von bermobbing! Das Trainings- und Präventi- len anderer Akteure (wie z.B. Polizei, www.klicksafe.de, gibt es für den prak- onsprogramm „Surf-Fair“. Weinheim: Beltz. lokale Jugendarbeit und Schulpsycho- tischen Einsatz in Schulklassen auch Pieschl, S. & Porsch, T. (im Druck). Cybermob- bing – mehr als „Ärgern im Internet“. In T. logie) zu verzahnen und verbindliche wissenschaftlich fundierte und auf Porsch & S. Pieschl (Hrsg.), Neue Medien und Regeln an der Schule zu vereinbaren, Wirksamkeit überprüfte Programme deren Schatten. Mit neuen Medien kompe- die auch Interventionsstrategien ein- wie zum Beispiel Surf-Fair (Pieschl & tent umgehen. Göttingen: Hogrefe. Porsch, T. & Pieschl, S. (im Druck). Cyberm- schließen. Neben grundlegenden An- Porsch, 2012). Das Interesse der Schü- obbing unter deutschen Schülerinnen und geboten zum Umgang mit Konflikten, lerinnen und Schüler am Thema ist Schülern: Eine repräsentative Studie zu Prä- Schulklima und Mediennutzung kann erfahrungsgemäß sehr hoch. valenz, Folgen und Risikofaktoren. Diskurs das Thema Cybermobbing auch sehr In jedem Fall lohnt sich die frühzeiti- Kindheits- und Jugendforschung. erfolgreich gezielt im Unterricht the- ge Beschäftigung mit dem Thema Cy- Kontakt: www.medienkompetenz-praeven- matisiert werden. Hierzu bietet sich bermobbing, um dieser neuen Heraus- tion.de t.porsch@uni-muenster.de
WEITBLICK // #01 // Februar 2014 DER TÄGLICHE HORROR AUS DEM INTERNET In der Pubertät sind Jugendliche be- rend sich Mobbing im Klassenraum von Paul, und damit konnte man dank sonders empfindlich – Mobbing im in einem überschaubaren Rahmen Fotomontage sehr kreativ sein: Paul Netz kann sie völlig aus der Bahn wer- abspiele, sei Cybermobbing öffentlich. auf dem Klo, auf dem Friedhof, im Müll fen „Die Beleidigungen laufen über SMS, – der Fantasie sind keine Grenzen ge- Die neuen Medien, die sozialen Netz- E-Mail oder Einträge in einer der sozia- setzt. „Paul, die Strebersau“ wird Mit- werke und die Treffpunkte im Internet len Netzwerke. Vertrauliche Informati- telpunkt einer Kampagne, eines Anti- sind nicht nur ein Segen. Oft werden onen werden weitergegeben, gefälsch- Fan Clubs, bei dem man sogar Punkte über diese Kanäle auch Mitschüler te Fotos, Hassgruppen und Drohungen bekommt, wenn man besonders fiese bloßgestellt, verächtlich gemacht oder werden für alle zugänglich und lösen Ideen hat. gedemütigt. Das Schlimme daran: Es häufig weitere Attacken aus. Durch die Zunächst merkt Paul gar nichts, dann passiert in aller Öffentlichkeit, oft weiß Möglichkeit der Anonymität sinkt die aber kommen abschätzige Bemer- die ganze Schule über Nacktfotos oder Hemmschwelle. Man muss nicht für kungen über seine Gespräche mit den peinliche Begebenheiten Bescheid. Wir seine Taten einstehen und das Leid der Lehrern, seine Klamotten, die absolut sprachen mit der erfahrenen Pädago- Opfer wird in keinster Weise wahrge- unauffällig sind, aber eben nicht cool, gin Doris Jacobs über die miesen Me- nommen“, sagt die erfahrene Pädago- irgendwann steckt ihm jemand die thoden des Mobbings im Internet. gin anlässlich eines Besuches in unse- Aktionen im Internet. Paul ist absolut Das Alter zwischen 13 und 17 Jahren ist rer Redaktion. hilflos. eine prägende Zeit, die man im gan- Es gebe kein ,,typisches Mobbingop- Seiner Mutter möchte er nichts sagen, zen Leben nicht vergisst. Es ist aber fer“. Der unsportliche, übergewichti- sie ist allein erziehend und Paul ist ihr auch keine einfache Zeit, weder für die ge Streber könne genauso zum Opfer ganzer Stolz: Seine guten Noten, die Schüler noch für die Lehrer. So vieles werden wie die Klassenprinzessin, die positiven Rückmeldungen der Lehrer stürze auf die Jugendlichen ein, von sich den Zorn der Klasse zuzieht. Doris – das entschädigt sie für viele Entbeh- der ersten Liebe bis zum Pickel auf der Jacobs hat zwei reale Fallbeispiele aus rungen in ihrem ansonsten anstren- Nase, von schlechten Noten bis zu den ihrer Berufs-Erfahrung für uns rekon- genden Leben. Er möchte ihr keine Konflikten mit den Eltern, weiß Doris struiert. Sorgen machen und glaubt auch nicht Jacobs, die viele Jahre Didaktik-Leiterin daran, dass sie ihm helfen kann. am Saarpfalz-Gymnasium war. Fallbeispiel Nummer 1 Den Lehrern fällt auf, dass Paul nicht Seit einigen Monaten ist sie im Ru- mehr im Unterricht mitmacht. Seine hestand. Sie liebt ihren Beruf, und sie Paul ist ein sehr guter Schüler der Klas- Klassenlehrerin redet mit ihm, be- liebt die jungen Menschen, die es in se 6. Er mag die Schule, interessiert sich kommt aber nur ausweichende Ant- dem besagten Alter den Erwachsenen besonders für Naturwissenschaften. worten, es sei alles in Ordnung. Es wird allerdings nicht immer leicht machen, Aus diesem Grund redet er oft noch aber deutlich, dass der Junge sehr be- sie zu mögen. Aber damit müsse man nach dem Unterricht mit den Lehrern, drückt ist, und die Kollegin entschließt umgehen können, sagt Doris Jacobs. was für seine Mitschüler schon etwas sich, mit einigen Mädchen der Klasse Was sie umtreibt, ist eine unberechen- suspekt wirkt. Bisher gab es allerdings zu sprechen, die ihr schließlich Hinwei- bare Macht, die dabei ist, die Jugendli- noch keine größeren Probleme, er hält se auf die Internetseite geben. Auch sie chen, die ihr am Herzen liegen, zu zer- sich von den coolen Jungs fern, die die haben Angst, zum Opfer zu werden. stören: Mobbing im Internet. Mobbing Klasse dominieren. Mittags trifft er Nach dem Besuch der Internetseite ist ist kein einfacher Konflikt zwischen sich meist mit seinem besten Freund, die Lehrerin entsetzt. Ein solches Ver- zwei Personen, sondern „ein beabsich- der die Nachbarschule besucht. halten hätte sie ihrer Klasse nie und tigtes und geplantes systematisches Wie die Idee entstand, sich ausge- nimmer zugetraut. Schikanieren Schwächerer durch meh- rechnet über Paul im Internet lustig rere Personen mit dem Ziel, das Opfer zu machen, was schließlich zu einem Sie sucht erneut das Gespräch mit sozial herabzustufen“, zitiert sie einen schmerzhaften Mobbing führte, ist Paul – und jetzt hat sie einen weinen- Wissenschaftler. im Nachhinein nur unvollständig den Jungen vor sich, der schildert, wie Mobbing sei kein spontaner Streit, nachvollziehbar. Der Fun-Faktor spiel- schlecht es ihm gehe und dass er am sondern es ist ein geplantes Verhalten te sicherlich eine sehr große Rolle: Ir- liebsten gar nicht mehr in die Schule über einen längeren Zeitraum. Wäh- gendjemand hatte zufällig ein Foto komme, sie aber anfleht, nichts zu sa-
// Seite 15 gen, weil sonst alles noch viel schlim- Gespräche, wenn sie sich einer Gruppe Während also jeder zum Opfer wer- mer würde. zugesellt. den könne, gebe es hingegen klare Auch seine Mutter soll nichts erfahren, Es macht allen Spaß, diese arrogante Täterprofile: „Es sind Jugendliche, die sie habe genug Probleme. Die Lehrerin Zicke zu ärgern, ihr Verhalten wird zu eine wichtige Rolle spielen oder die sichert ihm zu, dass nichts ohne seine einem superinteressanten Gesprächs- Führung in ihrer Gruppe übernehmen Zustimmung passiert und kann die Sa- thema und eint die Klasse. Es dauert wollen. Wenn dies über die Herabset- che schließlich aus der Welt schaffen. mehrere Wochen, bis Franzi die Fotos zung anderer geschehen kann, wenn hinterbracht werden, und ihre Eltern es cool ist, das Opfer vorzuführen, Fallbeispiel Nummer 2 sind die ersten, denen sie ihre Ver- wenn die Techniken der Demütigung zweiflung schildert. immer ausgefeilter werden, erlangt Franziska ist der Klassenstar der 9 a, Ihr Vater ist total empört, der Klassen- der Täter immer mehr Bedeutung: Er sie ist hübsch, sportlich, schlagfertig lehrer, den er sofort informiert, soll ist in der sozialen Rangliste der Klasse und hat manierliche Noten. Das Le- dafür sorgen, dass Martina von der weit oben und will seine Macht behal- ben ist lustig, sie ist überall auf der Schule fliegt, möglichst noch einige ten.“ Gewinnerseite. Dazu kommt, dass sie andere Klassenkameraden dazu. Die Bei fortgeschrittenem Mobbing sei der Papas Prinzessin ist, was ihr zusätzlich Eltern der anderen Schüler reagieren Gruppenzwang so groß, dass jener Teil Selbstbewusstsein verleiht. Der Vater nicht besonders verständnisvoll auf der Klasse, der sich mittlerweile bei platzt vor Stolz auf „Franzi“ und nervt die Forderungen von Franzis Vater, im diesen Boshaftigkeiten unwohl fühle, die anderen Eltern bei Versammlun- Gegenteil. Im Geheimen entsteht so- keine Chance mehr habe, einzugreifen. gen und Schulfesten mit Im Gegenteil, man habe Erzählungen über seine Angst, selbst zum Opfer Supertochter. zu werden und zieht In Franzi sind alle Jungs sich zurück. ein bisschen verknallt, Das größte Problem in doch Chancen rechnet ihrer langjährigen Be- sich keiner aus. Franzis ratungserfahrung, sagt beste Freundin ist Mar- Doris Jacobs, sei die tina, mit der sie alle Ge- Angst des Opfers, sich zu heimnisse teilt. In einer outen. Fast immer gab stillen Stunde machen es die Aussage: „Dann Franzi und Martina Fo- wird alles nur noch tos voneinander, Oben- schlimmer.“ ohne-Fotos, die sie ganz Doch das stimme nicht: supererotisch finden „Wenn es einen Trost und die die weibliche für die Betroffenen gibt, Gemeinschaft der bei- so ist es die Tatsache, den zusätzlich stärken. dass Mobbing fast im- Doch dann kommt es zum Konflikt gar Schadenfreude, auch wenn die El- mer in dem Moment endet, in dem zwischen den beiden Mädchen, als tern das Verhalten der Klasse nicht bil- die Gemeinheiten öffentlich werden. sich Franzi verliebt und ab sofort nur ligen. Aber schließlich: Ist Franzi nicht Cybermobbing funktioniert nur im noch mit ihrem Freund zusammen selbst schuld? Warum macht sie solche Dunklen, im Geheimen, im Unter- sein möchte. Für Martina hat sie keine peinlichen Fotos? grund.“ Es brauche allerdings Men- Zeit mehr und macht sich sogar noch Diese beiden Beispiele zeigen für die schen, die gelernt haben, wie man pro- über deren Unerfahrenheit bei Män- Pädagogin Doris Jacobs deutlich: Die- fessionell mit Mobbing umgeht. In der nern lustig. Die tief verletzte Martina jenigen werden zum Opfer, die in der Schule sind dies Lehrer oder School- sinnt auf Rache. In der Klasse findet Klasse nicht geschützt werden. „Der worker. sie guten Nährboden: Die anderen sehr gute Schüler kann in einer Klas- Die beste Prävention sei allerdings Mädchen fanden Franzi immer schon se hohes Ansehen genießen, in einer eine funktionierende Klassengemein- arrogant, und auch die Jungs machen anderen Klasse wird er gemobbt. Die schaft, in der Kinder lernen, sich mit mit, da sie sich von Franzi ohnehin ver- problembeladene Schülerin, die sich Respekt zu begegnen, wo zwangsläu- achtet fühlen. Martina stellt als Rache- gerade mit der Scheidung der Eltern fig auftretende Konflikte offen und fair akt kurzerhand die Oben-ohne-Fotos herumschlägt, kann in einer Klasse gelöst werden. Wenn dies gelinge, sagt ins Netz. Da kursieren sie nun, erst in unterstützt werden, in einer ande- die erfahrene Pädagogin, „sind unsere der Klasse, dann in den Parallelklassen, ren wird sie geschnitten, weil sie sich Kinder vor Mobbing geschützt.“ dann in der ganzen Schule. Es dauert keine angesagten Klamotten kaufen von SZ-Redakteurin Christine Maack in Saar- eine Zeitlang, bis Franzi die Situation kann. Es ist die spezielle Dynamik in brücker Zeitung vom 07.01.2014 Ausgabe für wahrnimmt, das Gekichere, wenn sie einer Klasse, die darüber entscheidet“, den Saarpfalz-Kreis morgens kommt, die verstummenden erklärt sie.
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