Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung

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Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
// Das Magazin des Verbandes der Lehrkräfte an weiterführenden Schulen // #01 // Februar 2014

Weitblick
Der Bluff der
individuellen
Förderung
Oder die Verabschiedung des
Leistungsprinzips aus der Schule

„Ich glaube nicht,
dass der inklusive Weg
immer der richtige ist.“
Prof. Dr. Bernd Ahrbeck

Positionspapier Inklusion Teil II

Cybermobbing:
Der tägliche Horror aus dem Internet

dbb
- Jugend
- Senioren
- zukunftssichere Landesverwaltung

VDR im Gespräch mit
- CDU
- die Linke
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
WEITBLICK
Lehrstoff ////#03
               #01////Juni
                       Februar
                           2012 2014

Inhalt
   3    Editorial                        16   17. Landesjugendtag der       21   G9 über GemS kann auch
   5    Der Bluff der individuellen 		        dbbj Saar                          erfreu'n
        Förderung                        17   dbb Senioren                  22   Schulen müssen ihre Aufgaben
   7    Positionspapier Inklusion        18   Verbesserungen auch für            zuverlässig erfüllen können
   8    „Ich glaube nicht, dass der           Versorgungsempfänger          23   Stoppt Pisa und Co
        inklusive Weg immer der          18   Fortführung der Gespräche     24   Steuerliche Berücksichtigung
        richtige ist.“                         über zukunftssichere              von Krankheits- und Pflege-
   10   Stellungnahmen                        Landesverwaltung                   kosten
   12   Cybermobbing                     20   VDR Saar im Gespräch mit 		   25   Schullandheimpädagogik
   14   Der tägliche Horror aus dem           CDU und Linksfraktion
        Internet
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
// Seite 3

editorial

Liebe Leserin, lieber Leser               Mobiliar – die viel gepriesene  „Inklu-
                                          sion“, die wiederum  nichts mit Essen      "Inklusion? Da wird sehr viel gelogen"
                                          und Trinken und schon gar nichts mit
„All inclusive“ bei leerer Urlaubskasse   individueller Bedienung zu tun hat.        Leiden Sie nicht im Stillen, zweifeln
                                          Also verbietet sich jeder Vergleich?       Sie nicht an sich selbst, machen Sie öf-
haben Sie schon einmal einen Hotel-       Keineswegs, ist auch klasse, schont die    fentlich, was geht und was nicht geht
aufenthalt mit einem „All Inclusive“      Staatskasse. Denn „Die Umsetzung der       bei der Inklusion. Hier ein Beispiel von
Angebot gebucht? Ist klasse, schont       Inklusion soll mit dem vorhandenen         Prof. Dr. Wolfgang Lamers HU Berlin,
die Urlaubskasse, wenn man die Men-       Personal – unter Berücksichtigung des      Abtlg. Geistigbehindertenpädagogik:
gen an Eis und süßen Getränken, die       Einsparziels von 588 Lehrerstellen bis     "Nehmen Sie mal Physik-Unterricht.
die Kinder in sich hineinschlürfen,       2020 – bewältigt werden.“ (Vorblatt        Thema Schwingungen. Wie bringen
nicht portionsweise bezahlen muss.        zum Entwurf eines Gesetzes zur Ände-       Sie das einem Kind nahe, das nicht
Der Arzt, den wir nach acht Tagen         rung schulrechtlicher Gesetze) Lesen       hören kann, das verhaltensauffällig
riefen und die Medizin, die er   gegen    Sie dazu die Stellungnahme des VDR!        ist oder eine schwere geistige Behin-
die Magenverstimmung verschrieb,                                                     derung hat? Wie bringen Sie ihm das
waren dann allerdings nicht mehr „all     "Ich glaube nicht, dass der inklusive      so bei, dass der Unterricht für dieses
inclusive“.                               Weg immer der richtige ist".               Kind ebenso gut geeignet ist wie für
Die Mittags- und Abendbuffets, zu                                                    einen hoch begabten künftigen No-
denen wir uns im überfüllten Speise-      Wenn Sie als Regelschullehrer/-in ein      belpreisträger? Das ist eine enorme
saal   Schlange stehend vorarbeiteten,    Unbehagen verspüren angesichts             Herausforderung für Lehrerinnen und
beeindruckten durch optische Vielfalt,    dessen, was von Ihnen verlangt wird,       Lehrer“ (in: Rheinische Post 08.11.2013:
aber das geschmackliche Einerlei ließ     seien Sie versichert, dass Sie nicht al-   "Inklusion? Da wird sehr viel gelogen")
uns freiwillig auf Nachschlag verzich-    leine sind. Lesen Sie die Hintergrund-
ten.  Und der kostenlose Hauswein aus     informationen im DL Positionspapier        VDR veröffentlicht
der 5 Liter Flasche brachte uns dazu,     (S. 6) und den Beitrag von Prof. Dr.       Erfahrungsberichte
Getränke à la carte zu bestellen – na-    Bernd Ahrbeck, der sich an der Hum-
türlich gegen entsprechende Bezah-        boldt-Universität in Berlin mit Verhal-    Schicken Sie uns Ihre Erfahrungsbe-
lung.                                     tensgestörtenpädagogik befasst: "Ich       richte, in denen Sie so sachlich wie
Eigentlich hätten wir im Voraus wis-      glaube nicht, dass der inklusive Weg       möglich konkrete Unterrichtssituati-
sen können, dass wir keine qualitativ     immer der richtige ist". (S. 8 ) sowie     onen schildern: Fach, Thema, Klasse,
hochwertigen Speisen und Getränke         den von Prof. Dr. Hans Peter Klein von     Anzahl der Schüler/-innen insgesamt
und keine individuelle Bedienung be-      der Goethe Universität in Frankfurt,       und derer mit Handicap, evtl. ge-
kommen. Denn es ist ein offenes Ge-       der konstatiert: „Inklusion bedeutet       wählte Methode und Sozialform. Wir
heimnis, dass „All inclusive“  Angebote   weit mehr als die Integration behin-       werden Ihre Erfahrungsberichte in
einem strikten Spardiktat unterliegen.    derter Schüler in den normalen Schul-      der nächsten Ausgabe von WEITBLICK
                                          alltag und wird als trojanisches Pferd     – selbstverständlich anonymisiert –
„Inklusion“ bei leerer Staatskasse        zur Abschaffung eines gegliederten         veröffentlichen.
                                          Schulsystems und des Leistungsprin-
Nun kommt in unsere Schulen, die          zips in der Schule gleichermaßen ge-
gar nichts mit Hotels gemeinsam           nutzt.“ (S. 4)                             Ihre Inge Röckelein
haben – man betrachte sich nur das                                                   19.01.2014
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
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DER BLUFF DER
INDIVIDUELLEN
FÖRDERUNG                                                                             Prof. Dr. Hans Peter Klein lehrt Didaktik der
                                                                                      Biowissenschaften an der Universität Frankfurt.

Oder : Die Verabschiedung des Leistungsprinzips aus der Schule
Prof. Dr. Hans Peter Klein

   Spätestens seit der Diskussion um die     und fachdienliche Hinweise im opti-          darf und Behinderungen - oder für
   Abschaffung des Sitzenbleibens sowie      malen Fall teilweise oder ganz besei-        Kurse in Ganztagsschulen und sollen
   der bereits begonnenen Einführung         tigt werden können.                          die völlig überforderten Lehrer entlas-
   der Inklusion in das Regelschulsystem     Wie sieht nun die angeblich individu-        ten. Die dazu nötigen Informationen
   steht die Forderung nach Einrichtung      elle Förderung der Schüler in der tägli-     über die Lage und Probleme der Schü-
   individueller Fördermaßnahmen als         chen Praxis aus? Grundsätzlich werden        ler können Lehrer den Honorarkräften
   dem adäquaten Mittel zum Umgang           die Lehrer dazu angehalten, in ihrem         kaum geben - aus arbeitsrechtlichen
   mit der zunehmenden Heterogenität         Unterricht jeden Schüler individuell zu      Gründen ist ein Austausch oder gar
   der Schüler ganz oben auf der Tages-      fördern. Das ist billig und kostet nichts.   eine Einweisung der Honorarkräfte in
   ordnung der neuen Bildungspolitik.        Entsprechend lautet die Devise der Po-       Materialien, Übungen und Lernme-
   Auch die Bertelsmann-Stiftung ver-        litiker: Fördern, fördern, fördern. Das      thoden in das Fach und in der Klasse
   langt die Übernahme einer individu-       PR-Ziel lässt sich in eine Formel fassen:    des Schülers untersagt. Nach außen
   ellen Förderung in die Schulen, da die    „hoher Anspruch“ + "alle schaffen es"        wird dies als erfolgreicher Umgang
   derzeit praktizierte Form der Nachhilfe   = "guter Unterricht“ = „gute Schule."        mit Heterogenität ausgewiesen, ein
   höchst unsozial sei. Demnach erhalten     Die Lehrer vor Ort fragen sich verwun-       offensichtlicher      Offenbarungseid.
   derzeit mindestens 1,1, Millionen Schü-   dert, wie man denn bei dreißig und           Fahrlässiger kann man mit Förderung
   ler kommerzielle Nachhilfe, was mit       mehr pubertierenden Schülern die-            und Inklusion nicht umgehen. Die
   einem Gesamtbetrag von ca. 1,5 Milli-     ser Aufforderung nachkommen soll.            dazu dringend erforderlichen zusätz-
   arden Euro pro Jahr zu Buche schlägt,     Gleichzeitig werden Sonder- und För-         lichen pädagogisch und psychologisch
   nichtkommerzielle Nachhilfe nicht         derschulen mit kleinen Klassenstärken        geschulten Lehrkräfte für jede Klasse
   eingerechnet.                             flächendeckend abgeschafft, damit die        sind nicht zu finanzieren. Dazu fehlt
                                             Förderbedürftigen dann in Klassen            das Geld, „kostenneutral“ heißt das
   Individuelle Förderung in der Praxis –    mit 30 und mehr Schülern zusam-              Zauberwort.
   eine Mogelpackung                         mensitzen, ohne dass sie die dringend        Immerhin besteht in einigen Bundes-
                                             notwendige Förderung von speziell            ländern für Schulen die Möglichkeit,
   Dabei gilt es erst einmal zu klären,      ausgebildeten Pädagogen in Klein-            eine zusätzliche Lehrerstelle zu be-
   was man denn überhaupt unter in-          gruppen erhalten. Stattdessen werden         antragen (NRW), um zumindest eine
   dividueller Förderung versteht. Eine      in dem ein oder anderen Bundesland           punktuelle Förderung in den Fächern
   allgemein verbindliche Definition gibt    Studenten, Rentner und Schüler als           vor Ort zu gestalten. Schüler mit nicht
   es – wie beim Kompetenzbegriff auch -     „Honorarkräfte akquiriert“, vielfach         ausreichenden Leistungen können
   weit und breit nicht. Von individueller   ohne jegliche pädagogische Schu-             dann auf freiwilliger Basis speziell in
   Förderung kann man sicherlich dann        lung – von sonderschulpädagogischer          Mathematik oder den Fremdsprachen
   sprechen, wenn die speziellen Verste-     Qualifikation ganz zu schweigen. Sie         an einer zusätzlichen Unterrichts-
   hensprobleme eines einzelnen Schü-        werden als „Förderlehrer“ für die För-       stunde pro Woche teilnehmen. Diese
   lers, z.B. in Mathematik, von einem im    derung schwacher Schüler eingesetzt          werden meist in der Unterstufe an-
   Fach kompetenten Lehrer thematisiert      - auch für Kinder mit unterschiedlichs-      geboten, für mehr reicht es halt nicht.
   und durch ausführliche Besprechung        tem sonderpädagogischen Förderbe-            Überprüfungen von Leistungen finden
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
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dort nicht statt. Völlig kontraproduk-      ler, der ihn freundlich grüßt, im Unter-   sen an, so stellt man verwundert fest,
tiv dürfte sich dabei das auch den          richt nicht stört und seine Hausaufga-     dass eine Individualisierung von Un-
Schülern in Kürze bekannte Verbot des       ben zumindest vorlegen kann, etwas         terricht so gut wie keine nachweisba-
Sitzenbleibens in immer mehr Bun-           Schlechteres geben als mindestens ein      ren positiven Effekte auf Lernprozesse
desländern auswirken. Warum sollte          Befriedigend oder Gut?“ so ein Lehrer      nach sich zieht, so ausgewiesen in der
ein Schüler an einer dieser Förder-         auf einer Tagung. Weiterhin werden         Metaanalyse des Neuseeländers John
maßnahmen am späten Nachmittag              Notenvergabeschemata vorgegeben,           Hattie, die sich auf mehr als 52000
teilnehmen, wenn seine unzureichen-         die in den letzten Jahren deutlich nach    Einzeluntersuchungen stützt. Die in-
den Leistungen als solche nicht mehr        unten korrigiert wurden. Von ehemals       klusive Pädagogik mit dem Anspruch
ausgewiesen werden dürfen? Insbe-           mindestens 50% korrekt zu beantwor-        auf professionellem Umgang mit He-
sondere die Schüler aus bildungsfer-        tenden Fragen für ein „ausreichend“        terogenität zeichnet sich jetzt schon in
nen Schichten dürften hier kaum er-         (in den USA sind es 61%!) ist man mitt-    Grundzügen ab: „Der eine Schüler hat
reicht werden.                              lerweile in mehreren Bundesländern         die Mathematik Aufgabe verstanden
                                            bei 40% und darunter angelangt, und        und beherrscht den Stoff, er bekommt
Von Gauklern, Taschenspielern und           auch an den Hochschulen gibt es im-        die Note „gut“, ein „sehr gut“ wäre
allerlei Tricks des Qualitätsmanage-        mer mehr Fachbereiche, die ihre Be-        ungerecht gegenüber den Schülern
ments                                       wertungsschemata genauso deutlich          mit eventuell schlechteren Lernvor-
                                            nach unten absenken. Bei der Beurtei-      aussetzungen. Der zweite Schüler hat
Stattdessen werden die oben be-             lung von Zentralabiturklausuren kön-       die Aufgabe zwar nur halb verstanden
schriebenen völlig unzureichenden           nen Lehrer nicht nur in NRW ca. 8-10       und kann auch nur Teillösungen an-
Konzepte als das Non plus Ultra der         % der zu vergebenen Punkte für Leis-       bieten, er hat sich aber bemüht und
neuen Bildungsoffensive gepriesen.          tungen außerhalb der Fragestellung         auf seinem deutlich niedrigeren Leis-
In Wahrheit haben wir es hier zu tun        vergeben. In der Generierung hoher         tungsniveau gewisse Lernforschritte
mit einer Mischung aus Taschen-             Abiturientenquoten scheinen selbst         erzielt, dafür erhält auch er ein „gut“.
spielertricks  und angeblich qualitäts-     ehemals „anspruchsvolle“ Bundeslän-        Der dritte Schüler weiß letztlich gar
steigernden Maßnahmen, von denen            der sich nun gegenseitig überholen zu      nicht, worum es eigentlich geht, er hat
das Verbot des Sitzenbleibens sowie         wollen.                                    weder die Aufgabe verstanden und
die ausschließliche Beachtung des El-                                                  kommt zu keinerlei brauchbaren Er-
ternwunsches nach der Schulform nur         Das trojanische Pferd der radikalen        gebnissen, er ist extrem überfordert,
die Spitze des Eisbergs darstellen. Die     Inklusion                                  er hat sich aber in der Gruppe zumin-
Vergabe unzureichender Leistungen                                                      dest teilweise eingebracht, was unter
passt nicht ins Bild der derzeitigen Bil-   Betrachtet man die neuesten Entwick-       Berücksichtigung seiner ungünstigen
dungslandschaft und wird nicht dem          lungen in einigen Bundesländern, so        Lern- und sozialökonomischen Voraus-
Schüler, sondern dem Lehrer zur Last        scheint hier die nächste Stufe der re-     setzungen aus Gerechtigkeitsgrün-
gelegt. Von „Abschulen“ ist die Rede.       formpädagogischen Bildungsrakete           den im Rahmen seiner Möglichkeiten
Lehrer, die dies nicht kapiert haben        im Sinne einer radikalen Inklusion ge-     ebenfalls mit „gut“ bewertet wird“ so
sollten, werden bei der Vergabe un-         zündet worden zu sein. Radikale Inklu-     ein Schulleiter auf der Tagung „Sack-
zureichender Leistungen mit zusätz-         sion bedeutet dabei weit mehr als die      gassen der Bildungsreform“ in Wien.
lichen Förderberichten am Wochen-           Integration behinderter Schüler in den     Von einer tatsächlichen individuellen
ende sanktioniert. Die Folgen liegen        normalen Schulalltag und wird als tro-     Förderung als zusätzlicher Unterstüt-
auf der Hand: Mangelhafte und unge-         janisches Pferd zur Abschaffung eines      zung zum Erreichen der für alle vorge-
nügende Leistungen werden einfach           gegliederten Schulsystems und des          gebenen Lernziele hat man sich nach
mit ausreichend oder besser beurteilt.      Leistungsprinzips in der Schule glei-      diesem Konzept längst verabschiedet.
Damit die mittleren und guten Schü-         chermaßen genutzt: Die Einführung          Gemeinsames Lernen an einem ge-
ler nicht so stark benachteiligt sind,      einer Einheitsschule für alle ohne Aus-    meinsamen Unterrichtsgegenstand
werden auch deren Noten angehoben.          nahme mit besonderer Stoßrichtung          ist Schnee von gestern. „Zieldifferen-
An den Gymnasien werden die Noten           auf die abzuschaffenden Gymnasien          ziertes Lernen“ heißt das Zauberwort,
nachgebessert, damit deren Schüler          („ohne die Abschaffung des Gymnasi-        das letztlich nicht anderes bedeutet
gegenüber den ebenfalls Abitur ver-         ums gibt es keine echte Schulreform“       als die endgültige Verabschiedung des
gebenden Gesamt-, Stadtteil- und            so das Credo), die Abschaffung verglei-    Leistungsprinzips aus der Schule.
Realschulen Plus nicht ins Hintertref-      chender Noten, des Sitzenbleibens so-
fen gelangen. Da selbst in den schrift-     wie der generelle Verzicht auf jegliche    Der Autor lehrt Didaktik der Biowissenschaf-
                                                                                       ten an der Goethe Universität Frankfurt und
lichen Fächern die Schüler zu 50%           Form von für alle geltenden Bildungs-
                                                                                       war 2011/2012 als Gastprofessor am College
nach der mündlichen Note beurteilt          standards und Lehrplänen. Jeder            of New Jersey tätig.
werden, gibt es hier keine Probleme,        Schüler erhält nach diesem Konzept
die Noten nach oben zu setzen, in den       einen eigenen Bildungsplan. Lediglich
klassischen „Nebenfächern“ sowieso          die intraindividuellen Lernfortschritte
nicht. „Warum sollte unter derartigen       dürfen beurteilt werden. Schaut man
Bedingungen ein Lehrer einem Schü-          sich dazu wissenschaftliche Experti-
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POSITIONSPAPIER INKLUSION

   Teil 2                                     das Grundgesetz erweitert worden. Im      Rahmenbedingungen in den kleinen
                                              GG-Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 heißt es     Gruppen der Sonderschulen sind für
   II. Hintergründe                           seitdem: "Niemand darf wegen seiner       die Behinderten erheblich günstiger,
                                              Behinderung benachteiligt werden."        die Lehrer sind kompetenter, die Aus-
   1. Vorgeschichte                           So gesehen, war Deutschland bereits       stattung besser.
                                              lange vor der UN-Konvention auf dem       Kaum anders fiel der wissenschaftli-
   Die Debatte um die Integration von be-     Weg zur Inklusion Behinderter.            che Bericht aus, den die "Arbeitsstelle
   hinderten und beeinträchtigten Men-        Am weitesten in der integrativen          Integration" am Institut für Behinder-
   schen ins Regelsystem der allgemein-       Schulpraxis ging bereits vor drei Jahr-   tenpädagogik der Universität Ham-
   bildenden und der beruflichen Bildung      zehnten Hamburg. 1983 gab es dort         burg über das Modell "Die Integrative
   gibt es nicht erst seit der jüngsten UN-   Modellversuche an zwölf  Grundschu-       Grundschule im sozialen Brennpunkt"
   Konvention („Übereinkommen über            len – im Herbst 1997 waren es 377 in-     erstellte. Die Untersuchung, deren Er-
   die Rechte von Menschen mit Behinde-       tegrative Grundschulklassen mit gut       gebnisse im September 1997 als ver-
   rungen“, verabschiedet 2006, in Kraft      9000 Schülern. Hessen folgte 1991         trauliches Papier vorlag, aber erst im
   seit 2008, in Deutschland ratifiziert      unter dem Titel "Gemeinsamer Unter-       November 1998 publik wurde, dämpf-
   2009). Diese Debatte war bereits 1973      richt" mit 396 behinderten Kindern in     te ebenfalls viele Hoffnungen. Im Ge-
   vom Deutschen Bildungsrat initiiert        Vorklassen und in den ersten Grund-       genteil. Die Kernaussagen über den
   worden. Der Bildungsrat hatte damals       schuljahren; 1994 war die Zahl der be-    Erfolg "Integrativer Regelklassen" (IR),
   die Integration Behinderter in Regel-      hinderten Schüler in integrativen Klas-   das heißt von Klassen mit heteroge-
   klassen empfohlen und das Sonder-          sen auf 1500 angewachsen. Für alle        ner, also behinderter und nichtbehin-
   schulwesen radikal in Frage gestellt.      Integrationsmaßnahmen wurden 400          derter, Schülerschaft, sind eindeutig:
   In der Folge starteten vor allem die       Lehrerstellen zur Verfügung gestellt.     "Auch im IR-System ist es trotz der son-
   Länder Berlin, Bremen, Hamburg und         Der Bayrische Landtag verabschiedete      derpädagogischen Ressourcen nicht
   Hessen Modellversuche.                     im Mai 1998 eine Entschließung, der-      gelungen, das Auseinanderklaffen der
   Spätestens seit 1994 war in allen deut-    zufolge die Regelschule behinderten       Leistungsschere aufzufangen." Und:
   schen Ländern integrativer Unterricht      Kindern vermehrt geöffnet wurde.          "Es muss konstatiert werden, dass
   möglich. In einem Beschluss vom 6.                                                   die Integration im Schulversuch nicht
   Mai 1994 hatte die Kultusminister-         2. Zurückliegende Bilanzen und De-        zur Reduzierung des sonderpädago-
   konferenz (KMK) den einzelnen be-          batten                                    gischen Förderbedarfs nach Ende der
   hinderten Schüler in den Vordergrund                                                 Grundschulzeit geführt hat."
   gestellt, dessen Förderbedürftigkeit       Der Erfolg der integrativen/inklusi-      Die differenzierte und höchstindivi-
   jedoch nicht mit Sonderschulbe-            ven Beschulung stellte sich bislang in    duelle Beschulung eines behinderten
   dürftigkeit gleichgesetzt. Vielmehr        der Empirie als eher gering dar. Hessi-   Kindes in einer speziali-sierten Förder-
   betrachtet die KMK die Bildung behin-      sche Schulämter etwa hielten 1994 in      schule ist einem integrativen/inklusi-
   derter Menschen damals "verstärkt als      "Sachstandsberichten" fest: Behinder-     ven Ansatz also in vielen Fällen überle-
   gemeinsame Aufgabe für alle Schu-          te Kinder können in einer Sonderschu-     gen. Die Behauptung, dass einheitliche
   len". Am 27. Oktober 1994 war zudem        le besser gefördert werden. Und: Die      Schulsysteme einen erfolgreichen Um-
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
// Seite 7

gang mit Heterogenität belegt hätten                                                 jahr 2010/2011 wurden 79 Prozent der
und dass diese Erfahrung auch auf in-                                                Schüler (in absoluten Zahlen 113.800)
klusive Bildung gelten könne, ist nicht                                              mit sonderpädagogischem Förderbe-
belegt.                                                                              darf an Förderschulen unterrichtet
Vielmehr gilt: Die integrative Beschu-                                               (2000/2001 waren es noch 88 Prozent).
lung ist nicht per se humaner, demo-                                                 Von Land zu Land weichen diese Antei-
kratischer und ef-fektiver.                                                          le aber zum Teil erheblich voneinander
Vielmehr zeigt sich wie in allen Berei-                                              ab: Sie reichen von etwa 60 bis 90 Pro-
chen allgemeiner und beruflicher Bil-                                                zent. Ansonsten ist die Inklusionsrate
dung: Je homogener eine Lerngruppe,                                                  sehr abhängig von der Altersstufe: In
desto individueller ist die Betreuung                                                Kinderta-gesstätten beträgt er gut
und desto größer sind die Fortschritte                                               60 Prozent, in Grundschulen rund ein
im kognitiven und im affektiven Lern-                                                Drittel und in weiterführenden Schu-
bereich.                                                                             len rund 15 Prozent.
Sogar verfassungsrechtlich relevant
war die Frage "Integration oder Sepa-                                                4. Die UN-Konvention verlangt keines-
                                          Systeme der Sonder- und Förderpäd-
ration" in Deutschland schon gewor-                                                  wegs die Schließung von Förderschu-
                                          agogik. In Deutschland ist dies – an-
den, nämlich im Herbst 1997. Das Land                                                len.
                                          ders als in vielen anderen Ländern –
Niedersachsen hatte eine körperlich
                                          selbstverständlicher Bestandteil eines
und mo-torisch mehrfach behinderte                                                   An keiner Stelle dieser Konvention
                                          modernen Rechts- und Sozialstaates.
Schülerin damals gegen den Wunsch                                                    findet sich eine Passage, mit der die
                                          Auch die Terminolo-gie hatte sich im
der Eltern aus der fünften Klasse einer                                              Beschulung in Förder-schulen als Dis-
                                          Lauf der Jahre weiterentwickelt und
Gesamtschule in eine Sonderschule                                                    kriminierung betrachtet würde. Im
                                          diesem Grundsatz Rechnung getragen.
überwiesen. Das Bundesverfassungs-                                                   Gegenteil: Artikel 5 (4) der UN-Konven-
                                          Aus den "Hilfsschulen" waren "Sonder-
gericht bestätigte dieses Vorgehen                                                   tion spricht davon, dass „besondere
                                          schulen“, aus diesen in der Mehrzahl
und kam am 8. Oktober 1997 zu dem                                                    Maßnahmen … zur Beschleunigung
                                          der deutschen Länder "Förderschulen"
Urteil:                                                                              oder Herbeiführung der tatsächlichen
                                          geworden.
Die Überweisung an eine Sonderschu-                                                  Gleichberechtigung von Menschen mit
                                          In Deutschland besuchen derzeit
le stelle nicht schon für sich eine Be-                                              Behinderungen“ nicht als Diskriminie-
                                          etwa 365.700 Kinder und Jugendliche
nachteiligung dar.                                                                   rung gelten. Und auch Artikel 24 der
                                          (233.400 Jungen und 132.300 Mäd-
Eine solche sei nur gegeben, falls die                                               Konvention spricht nicht von einem
                                          chen) eine der insgesamt rund 3.300
Unterrichtung im Regelschulsystem                                                    inklusiven einheitlichen Schulwesen.
                                          Sonder- beziehungsweise Förderschu-
möglich sei, der dafür vorhandene Per-                                               In diesem Sinne hat sich im Novem-
                                          len. Das sind 3,2 Prozent aller Schüler.
sonal- und Sachmittelbedarf bestrit-                                                 ber 2010 auch die KMK geäußert: „Die
                                          Rund 43 Prozent davon gehen in eine
ten werden könne und schutzwürdige                                                   Behindertenrechtskonvention macht
                                          Schule für Lernbehinder-te, rund 16
Belange Dritter nicht entgegenstün-                                                  keine Vorgaben darüber, auf welche
                                          Prozent besuchen eine Schule für Geis-
den.                                                                                 Weise gemeinsames Lernen zu reali-
                                          tigbehinderte, etwa acht Prozent eine
                                          Schule für Sprachbehinderte, rund 12       sieren ist. Aussa-gen zur Gliederung
3. Zur Situation der Förderschulen in                                                des Schulwesens enthält die Konven-
                                          Prozent eine Schule für Verhaltensauf-
Deutschland                                                                          tion nicht.“
                                          fällige, rund 6 Prozent eine Schu-le für
                                          Körperbehinderte, jeweils ein bis drei
Das deutsche Förderschulsystem ist                                                   April 2013 Deutscher Lehrerverband (DL)
                                          Prozent eine Schule für Sehbehinder-
einmalig. Deutschland hat nämlich                                                    Dominicusstr. 3 – 10823 Berlin
                                          te oder für Gehör-lose/Schwerhörige.
im allgemeinbildenden und im beruf-                                                  Tel. (030) 70 09 47 76 – Fax (030) 70 09 48 84
                                          Die Förderschüler werden von knapp
lichen Sektor weltweit eines der diffe-                                              – E-Mail: info@lehrerverband.de
                                          72.000 Lehrern unterrichtet. Im Schul-
renziertesten und funktionsfähigsten
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
WEITBLICK // #01 // Februar 2014

„ich glaube nicht, dass
der inklusive weg immer
der richtige ist.“
Prof. Dr. Bernd Ahrbeck

  Professor Dr. Bernd Ahrbeck erklärte        bildet hingegen das Gymnasium.               wurden. Er hat insgesamt keine beson-
  im Rahmen einer Veranstaltung, zu                                                        ders ermutigenden Ergebnisse hervor-
  der die Union Stiftung am 16. Januar        Das Gemeinsame kann nicht das ein-           gebracht. Zwar gelang eine gemein-
  2014 nach Saarbrücken eingeladen            zige Kriterium sein                          same Beschulung in sozialer Hinsicht,
  hat, warum es die totale Inklusion in                                                    auf der Leistungsebene aber waren
  der Schule nicht geben kann. Er ist der     Die grundlegende Frage lautet: Was ist       die Ergebnisse mehr als ernüchternd.
  Meinung, dass man zwar mit weni-            das Ziel von Schule, was ist das Ziel von    Die zu Beginn leistungsschwächeren
  ger Sonderschulen auskommen, aber           Inklusion? Die Überzeugung, dass das         Schüler fanden keinen Anschluss, sie
  nicht   prinzipiell auf sie verzichten      Gemeinsame einen hohen Wert dar-             blieben die leistungsschwächeren. Das
  kann.                                       stellt, teile ich. Aber das darf nicht das   durchschnittliche Leistungsniveau der
                                              einzige Kriterium sein. Es geht in der       Klassen fiel auffallend gering aus. Es
  Der Inklusion sind Grenzen gesetzt          Schule auch um Leistung und darum,           gab weniger Gymnasialüberweisun-
                                              dass Kinder mit behinderungsspezifi-         gen und die Sonderschulbedürftigkeit
  Auch die Länder, die sehr viel Integra-     schen Beeinträchtigungen angemes-            hatte sich nach vier Grundschuljahren
  tionserfahrung haben, kennen kein           sen auf das Leben vorbereitet werden.        keinesfalls reduziert.
  System einer vollständigen Inklusion.       Insofern ist zum Beispiel nicht uner-        Auch wenn aufgrund anderer Un-
  Zum Beispiel Finnland: Dort besuchen        heblich, wie vielen Kindern mit Lern-        tersuchungen einiges dafür spricht,
  1,2 Prozent aller Schüler klassische Son-   beeinträchtigungen ein Hauptschul-           Lernbehindertenschulen nicht im bis-
  derschulen und zusätzlich knapp drei        abschluss gelingt. Diese Frage muss an       herigen Ausmaß beizubehalten, so
  Prozent durchgängig Sonderklassen.          beide Systeme gestellt werden - an die       sollten spezielle Schulangebote für be-
  Offensichtlich sind der Inklusion Gren-     Inklusion wie an die spezielle Beschu-       stimmte Kinder mit Lernbehinderun-
  zen gesetzt. Allerdings besteht zwi-        lung. Die Erfolge der Sonderschulen          gen weiterhin zur Verfügung stehen.
  schen Finnland und Deutschland ein          sind auf diesem Gebiet nicht überwäl-        Einige Schüler kommen nachweislich
  elementarer Unterschied: 40 Prozent         tigend; 25 bis 30 Prozent der Schüler        in inklusiven Klassen nicht zurecht. Sie
  der Schulen in Finnland haben weni-         erreichen einen solchen Abschluss.           brauchen einen kleinen, überschauba-
  ger als 50 Schüler, 60 Prozent weniger      Aber wir wissen nicht, ob es in der In-      ren Rahmen mit stabilen Beziehungen
  als sieben Lehrer. Insofern ist ein aus-    klusion wirklich mehr sein werden.           und einem hohen Maß an persönlicher
  gebautes Sonderschulsystem bereits                                                       Aufmerksamkeit, die sie anderswo
  aus geografischen Gründen unmög-            Bedeutendster Schulversuch wenig             nicht erhalten.
  lich. Die großen Schuleinheiten, die wir    ermutigend
  hier haben, sind in Finnland nahezu                                                      Nicht prinzipiell auf Differenzierung
  unbekannt. Hinzu kommt: Im Mittel-          Der Hamburger Schulversuch der               verzichten
  punkt der Bildungstradition steht dort      1990er Jahre war ein klassischer In-
  die Dorfschule, die Gemeinschafts-          klusionsversuch, bei dem u. a. die son-      Die Eltern sollten ein Wahlrecht ha-
  schule - ebenso wie in den anderen          derpädagogische Förderkategorien im          ben, das nicht unterlaufen werden
  skandinavischen Ländern. Das Zent-          Lernen, der Sprache und der emotio-          darf. Beide Angebotsformen müssen
  rum der deutschen Bildungstradition         nal-sozialen Entwicklung abgeschafft         deshalb vorgehalten werden. Eltern
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
// Seite 9

nehmen sehr unterschiedliche Po-                                                             Viele Beiträge zur Inklusionsdis-
sitionen ein. Sie engagieren sich                                                            kussion fallen aus meiner Sicht
für mehr Inklusion oder auch für                                                             doch ein wenig schlicht aus. Ist
den Erhalt spezieller Schulen. Die                                                           immer, wie häufig behauptet wird,
fachliche Beratung, auf die sie                                                              für alle Menschen das Gleiche
häufig angewiesen sind, sollte                                                               gleich gut? Das wird man nicht
möglichst unideologisch erfolgen                                                             ernsthaft annehmen können. In-
und für unterschiedliche Wege                                                                klusion kann nur dann funktionie-
offen sein. Für viele Kinder mag                                                             ren, wenn hochqualifizierte Spezi-
eine   inklusive Beschulung richtig                                                          alisten zur Verfügung stehen und
sein und für andere eben nicht. Ich                                                          anerkannt wird, dass bestimmte
bin fest davon überzeugt, dass der                                                           Schüler etwas Besonderes brau-
inklusive Weg nicht grundsätzlich,                                                           chen. Die Abschaffung der sonder-
also zu allen Zeiten und bei jedem                                                           pädagogischen Förderkategorien,
Kind der richtige Weg ist. Und ich                                                           ihre Nivellierung zugunsten einer
bin ebenso überzeugt davon, dass                                                             diffusen allgemeinen Entwick-
nicht prinzipiell auf institutionelle                                                        lungsförderung ist dazu ein denk-
Differenzierungen verzichtet wer-                                                            bar schlechter Ratgeber. Eine große
den kann.                             Prof. Dr. Bernd Ahrbeck lehrt Rehabilitationswissen-   Gefahr besteht darin, dass behin-
Es ist zweifelsfrei ein großer Fort- schaften mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörten- derte Menschen in ihren speziellen
schritt, wenn Kinder ein Recht da- pädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin.          Bedürfnissen übersehen werden,
rauf haben, gemeinsam beschult                                                               weil es allzu große Hemmungen
zu werden. Gleichwohl macht                Fragen: Kannst du lesen, schreiben,               gibt, ihre Schwierigkeiten als sol-
eine solche Beschulung für ein Kind, rechnen und kannst du dich adäquat che anzuerkennen und begrifflich zu
das eine Behinderung aufweist, nur benehmen, bist du psychisch stabil? fassen. Die Angst vor Etikettierungen
dann einen Sinn, wenn ihm diese Be- Die Relativierung pädagogischer Ziele ist mitunter völlig überzogen.
schulungsform persönlich dienlich ist; im Sinne von Beliebigkeit und bunter
wenn sie ihm hilft, in der Schule und Vielfalt steht häufig in einem krassen Bedenken müssen frei geäußert wer-
im späteren Leben gut zu bestehen. Widerspruch zu den Anforderungen den dürfen
Von einer radikalen institutionellen des Erwachsenlebens. Schließlich soll
Entdifferenzierung halte ich wenig. die Schule Kinder auf das Erwachse- Es ist ganz sicher nicht gut, dass das
So sind Kinder mit massiven Verhal- nenleben vorbereiten.                                Inklusionsanliegen häufig mit hoher
tensstörungen oft nur sehr schwer                                                      moralischer Ansprüchlichkeit vertre-
zu integrieren. Es gibt weltweit kein      Das Erwachsenenleben ist nicht inklu-       ten wird. So, als ginge es um einen
tragfähiges Modell, in dem eine tota-      siv                                         Kampf zwischen "guten" und "schlech-
le Inklusion für diese Personengruppe                                                  ten" Menschen. Das verführt viele Leh-
funktioniert.                              Das Erwachsenenleben ist nicht inklu-       rerinnen und Lehrer dazu, zu sagen:
                                           siv. Jede entwickelte Gesellschaft ist in   "Ach ja, dann machen wir eben mit!" In
Leistungsgesichtspunkt     spielt   eine   sich gespalten. Die Vorstellungen von       Wirklichkeit aber haben sie Bedenken
Rolle                                      Inklusion und Gemeinsamkeit in der          und gut nachvollziehbare Gründe da-
                                           Schule, der eine Gemeinsamkeit im           für, der Umsetzung von Inklusion re-
Ein gutes Schulsystem ist eines, das       Leben danach entsprechen soll, fällt        serviert gegenüber zu stehen. Zu einer
Kindern und Jugendlichen mit und           manchmal doch ein wenig idyllisch           offenen Auseinandersetzung muss es
ohne Behinderung den bestmögli-            aus. Der begrüßenswerte Grundge-            aber gehören, dass darüber frei ge-
chen Weg ins Leben weist. Jedes Kind       danke der Inklusion besteht darin, dass     sprochen werden kann. Ich habe den
muss die Möglichkeit zu einer opti-        Kinder mit Behinderung einen unein-         Eindruck, dass das gegenwärtig oft
malen Entwicklung erhalten, damit          geschränkten Zugang zu Bildungsein-         ziemlich schwierig ist. Im öffentlichen
es sich selbst entfalten und in der Ge-    richtungen haben, dass sie am Reich-        wie im fachlichen Diskurs werden
sellschaft bestehen kann. Dabei spielt     tum des Lebens partizipieren und in         diejenigen, die nicht im Mainstream
auch der Leistungsgesichtspunkt eine       ihrer individuellen Eigenart anerkannt      mitschwimmen, leicht in eine krasse
wichtige Rolle. Bei Schülern mit einer     werden. Ob dazu in jedem Fall eine ge-      Außenseiterposition gebracht und als
Lernbehinderung muss sich das Be-          meinsame Beschulung notwendig ist,          „Inklusionsfeinde“ gebrandmarkt, ob-
mühen darauf richten, dass - soweit        darf bezweifelt werden. Auch andere,        wohl sie es in Wirklichkeit gar nicht
irgend möglich - ein Hauptschulab-         pädagogisch gut begründbare Wege            sind. Der viel strapazierte Satz "Viel-
schluss gelingt. Das ist eine entschei-    sind ethisch vertretbar und müssen          falt ist bereichernd" sollte auch für sie
dende Voraussetzung dafür, dass sich       offen gehalten werden.                      gelten. Ihn auszusprechen fällt  offen-
ihre Zukunftsperspektiven erweitern.                                                   sichtlich leichter, als ihn ins Leben zu
Denn nach der Schule stellt das Le-        Ist immer für alle Menschen das Glei-       integrieren.
ben an alle Menschen die gleichen          che gut genug?
Weitblick Der Bluff der individuellen Förderung
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StellungnahmeN

   Stellungnahme                             den, so reicht deren Anzahl bei wei-     die Zahl der Kinder, die Förderschulen
   des VDR Saar zum Entwurf eines Ge-        tem nicht aus.                           besuchen, trotz sinkender Schüler-
   setzes zur Änderung schulrechtlicher                                               zahlen saarlandweit nahezu konstant
   Gesetze Az: A4/B-3.7.10                   Förderschullehrer/-innen an Regel-       geblieben. Zum Schuljahr 2012/13 hat-
                                             schulen werden dort überwiegend          ten rund zehn Prozent der Kinder im
   Der VDR lehnt den Entwurf in seiner       beratend tätig, anstatt selbst mit dem   Primarbereich einen festgestellten
   jetzigen Form ab.                         Kind zu arbeiten und es so zu fördern,   sonderpädagogischen Förderbedarf.
                                             wie seine spezifische Behinderung es     Ein   weiterer Anstieg der Meldungen
   Begründung:                               erfordert.                               wird bei Beibehaltung des gelten-
                                                                                      den Systems prognostiziert. Durch
   Es genügt nicht, ein Ziel als Ist-Zu-     Damit wird das Ziel einer funktionie-    die Zunahme von Schülerinnen und
   stand zu formulieren,                     renden Inklusion nicht erreicht.         Schülern mit anerkanntem sonder-
                                                                                      pädagogischen Förderbedarf können
   vgl. § 4 (1) des Schulordnungsgesetzes:   Die von der Landesregierung geplan-      den anerkannten Integrationsmaß-
   „Die öffentlichen Schulen der Regel-      te Maßnahme wird auf dem Rücken          nahmen angesichts der enormen
   form sind inklusive Schulen“ und § 5      der Lehrer/-innen an Regelschulen        Personalknappheit beispielsweise in
   (3) des Schulpflichtgesetzes: Schüle-     ausgetragen. Für die betroffenen Kin-    den Bereichen Lernen und Sprache in
   rinnen und Schüler mit Bedarf an son-     der und deren Eltern ist der vorlie-     den Regelschulen gerade noch 1,5 bis
   derpädagogischer Unterstützung be-        gende Entwurf Aktionimus auf dem         zwei Lehrerwochenstunden für die
   suchen grundsätzlich eine Schule der      Hintergrund der Haushaltslage des        Unterrichtserteilung durch ausgebil-
   Regelform im Sinne des § 3a SchoG“.       Saarlandes.                              dete Förderschullehrkräfte zugewie-
                                                                                      sen werden. Bei Fortschreibung dieser
   ohne die dafür notwendigen Rah-           Dass es sich bei dem vorliegenden        Entwicklung wäre der Mehrbedarf an
   menbedingungen zu schaffen, denn          Entwurf um ein Sparmodell handelt,       Lehrerstellen im Förderschulbereich
                                             wird besonders offenkundig an die-       nicht mehr durch einen Rückgriff auf
   „Die Umsetzung der Inklusion soll mit     ser Stelle des Vorblattes:               die demografische Rendite darstell-
   dem vorhandenen Personal - unter                                                   bar.“
   Berücksichtigung des Einsparziels von     „Das bisherige integrative System bin-
   588 Lehrerstellen bis 2020 - bewältigt    det die Zuweisung von Förderschul-       Hier offenbart sich zugleich die gan-
   werden.“ (vgl. Vorblatt zum Gesetzent-    lehrkräften an den beantragten son-      ze Hilflosigkeit: Die steigende Zahl an
   wurf D 2. Finanzielle Auswirkungen        derpädagogischen Förderbedarf der        Kindern mit sonderpädagogischem
   Vollzugsaufwand)                          einzelnen Schülerinnen und Schüler.      Förderbedarf und der Mangel an aus-
   Allein dieser Satz genügt, den Geset-     In den vergangenen zehn Jahren sind      gebildeten Förderschullehrkräften
   zesentwurf abzulehnen.                    die Anzahl der Anträge und die daraus    veranlasst den Gesetzgeber dazu, an-
                                             resultierenden Anerkennungen des         erkannte Integrationsmaßnahmen
   Wenn die Förderschullehrer/-innen         sonderpädagogischen Förderbedarfs        einer diffusen Vorstellung von Inklu-
   auf viele Regelschulen verteilt wer-      massiv angestiegen. Gleichzeitig ist     sion zu opfern.
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Als Fortschritt verbrämt, handelt es     verschiedenen Anforderungsniveaus        Am Ende sind alle Verlierer: die
sich in Wahrheit um einen Rück-          unterrrichten, um die behinderten        Lehrer/-innen, die behinderten Kin-
schritt für die behinderten Kinder.      Schüler/-innen ebenso zu fördern         der und insbesondere auch die Nicht-
Deren spezifische Defizite werden        wie deren Mitschüler/-innen, die po-     behinderten, die u.U. in ihrem Lern-
nicht mehr erfasst und können somit      tentiell den Hauptschul-, den mitt-      fortschritt gehindert und deren To-
auch nicht mehr durch differenzier-      leren Bildungsabschluss oder das         leranz und Empathie überstrapaziert
te Fördermaßnahmen ausgeglichen          Abitur anstreben. Dazu kommt noch,       werden. Und die neue Schulform
werden.                                  dass - je nach Behinderung - das Ni-     Gemeinschaftsschule, weil die Ge-
Den Regelschullehrer/-innen wird         veau zusätzlich ganz individuell dif-    fahr besteht, dass sie zur „Restschule“
eine Herkulesaufgabe aufgebürdet,        ferenziert werden muss, will man die     verkommt, wenn alle, die der Inklusi-
die sie gar nicht erfüllen können. Von   Kinder mit Handicap nicht alle über      on entgehen wollen, ihre Kinder am
ihnen wird erwartet, dass sie auf 4      einen Kamm scheren.                      Gymnasium anmelden.

DBB- Lehrerverbände kriti-               Mittel zur Verfügung stellen“, so Mi-
sieren den Vorstoß des Bil-              chael Alschbach weiter. Dazu müssten
                                         zunächst die räumlichen, sachlichen
dungsministeriums zur In-
                                         und personellen Voraussetzungen ge-
klusion                                  schaffen werden. Die DBB-Lehrerver-
                                         bände kritisierten, zur Finanzierung
Der jüngste Vorstoß des Bildungsmi-
                                         der Inklusion alleine auf die demogra-
nisteriums zur Inklusion war zentraler
                                         fische Rendite zu setzen. „Eine solche
Gegenstand der Beratungen der Leh-
                                         Vorgehensweise widerspricht nach un-
rerverbände im DBB am 12. Dezember
                                         serer Auffassung dem Ziel der Landes-
2013. „Integrationsschüler werden
                                         regierung, Qualitätsverbesserungen
heute schon in allen Regelschulfor-
                                         im gesamten Schulbereich vorzuneh-
men im Saarland unterrichtet. Die vom
                                         men“, erläuterte Michael Alschbach
Bildungsministerium vorgeschlagene
                                         den Standpunkt der DBB-Lehrerver-
Umsetzung der Inklusion ist mit dem
                                         bände. Um ein tragbares Konzept für
bereits vorhandenen Personal alleine
                                         alle Beteiligten zu finden, bieten die
nicht zu bewerkstelligen“, so Michael                                                                   Michael Alschbach
                                         DBB-Lehrerverbände dem Bildungsmi-
Alschbach, der Sprecher der DBB-Leh-
                                         nister ihre Zusammenarbeit an.
rerverbände. „Wer Inklusion will, muss
in erheblichem Umfang zusätzliche
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CYBERMOBBING:
Eine neue Herausforderung für Schulen - Dr. Torsten Porsch

   Moderne Informations- und Kommu-           verständlich scheint. Darin kann sich      munikationstechnologien, bei denen
   nikationstechnologien bringen eine         auch eine gewisse Scheu begründen,         sich das Opfer hilflos oder ausgeliefert
   Vielzahl von Vorteilen mit sich. Das       solche Thematiken mit Schülerinnen         und (emotional) belastet fühlt, oder
   Internet ist mittlerweile fast überall     und Schülern intensiv aufzugreifen.        bei denen es sich voraussichtlich so
   nutzbar und bietet unzählige Angebo-       Neben der Nutzung der Vorteile muss        fühlen würde, falls es von diesen Vor-
   te, um sich zu informieren, mit ande-      auch ein angemessener Umgang mit           fällen wüsste“ (Pieschl & Porsch, 2012,
   ren Personen in Austausch zu treten        den möglichen Gefahren digitaler Me-       S. 18).
   oder selbst aktiv Inhalte zu verbreiten    dien Gegenstand der Bildungsarbeit         In der Wissenschaft ist die eindeutige
   und für Andere nutzbar zu machen.          sein. Mittlerweile sind eine Reihe von     Abgrenzung und Erfassung von Cy-
   Wie ein neuzeitlicher Flaschengeist        Gefahren identifiziert worden. Dazu        bermobbing noch umstritten (Pieschl
   zaubert das Smartphone allzeitig und       zählen unter anderem die suchthafte        & Porsch, im Druck). Eine repräsentati-
   omnipräsent jede Information und           Mediennutzung, Konfrontation mit           ve Erhebung unter deutschen Schüle-
   jeden Kontakt herbei. Im Privaten wer-     gewalthaltigen Inhalten, beispiels-        rinnen und Schülern weist darauf hin,
   den Bestellungen und Einkäufe online       weise in Computerspielen oder Inter-       dass 34 % der Schülerinnen und Schü-
   getätigt, im Freundeskreis gegensei-       netforen, und sexuelle Belästigung,        ler in Deutschland zumindest verein-
   tig über den Tagesablauf informiert,       beispielsweise in Chats. Ein Problem-      zelt von Cybermobbing betroffen sind
   Nahverkehrsverbindungen nicht nur          bereich, der sich sehr eindrücklich von    und dass sich 6 % selbst als Opfer von
   ermittelt, sondern auch digital be-        der virtuellen in die reale (schulische)   Cybermobbing klassifizieren (Porsch
   zahlt. Aus der Berufswelt sind Emails,     Welt erstrecken kann, ist das Cyberm-      & Pieschl, im Druck). Andere Untersu-
   digitale Terminkalender und andere         obbing. Auch wenn Cybermobbing             chungen in Deutschland zeigen, dass
   Internetanwendungen zur Koordinati-        häufig außerhalb der Schule bzw. der       je nach (Alter der) Stichprobe, gewähl-
   on von dezentralen Teams nicht mehr        Schulzeiten stattfindet, können die        ter Methodik und begrifflicher Defi-
   wegzudenken.                               daraus resultierenden Probleme und         nition von Cybermobbing zwischen 3
   Der kompetente Umgang mit diesen           Konflikte in den schulischen Alltag        und 82 Prozent der Befragten als Op-
   Technologien ist eine Lebensaufga-         getragen werden. Findet Mobbing            fer von Cybermobbing und zwischen
   be im Privaten, wie auch eine Anfor-       virtuell statt, ist die Schule auch kein   3 und 79 Prozent der Befragten als
   derung der Berufs- und Arbeitswelt.        Schutzraum für die Opfer. Darüber hi-      Täter von Cybermobbing klassifiziert
   Im staatlich institutionalisierten Bil-    naus bieten Schulen einen passenden        werden können (Pieschl & Porsch, im
   dungssystem sollen junge Menschen          Rahmen um Themen des sozialen Mit-         Druck). Die Unterschiedlichkeit dieser
   auch darauf vorbereit werden. Der          einanders aufzugreifen, die in der rea-    Ergebnisse unterstreicht den vorläu-
   Erziehungs- und Bildungsauftrag in         len, wie auch der virtuellen Welt gültig   figen Stand der Forschung. Dennoch
   Schulen umfasst ganz zentral die di-       sind.                                      konnten bisher gewonnene Erkennt-
   gitale Teilhabe. Ein Großteil der Lehr-    Praxisorientiert umfasst Cyberm-           nisse genutzt werden, um wirksame
   kräfte steht allerdings bereits in eige-   obbing „alle Formen von Schikane,          Präventions- und Interventionsmaß-
   ner Verantwortung, sich diese digitale     Verunglimpfung, Betrug [hier Iden-         nahmen gegen Cybermobbing für den
   Teilhabe zu erarbeiten, die bei jünge-     titätsklau], Verrat und Ausgrenzung        Praxiseinsatz zu entwickeln (Pieschl &
   ren Personen mittlerweile ganz selbst-     mithilfe von Informations- und Kom-        Porsch, im Druck).
// Seite 13

Um sich als Schule erfolgreich der The-   die nachhaltige Implementierung           forderung gewachsen zu sein.
matik anzunehmen, ist es sinnvoll, die    von Präventionsprogrammen zur Er-
Erziehungs- und Bildungsarbeit in der     weiterung der Medienkompetenz an.
Schule mit den Bemühungen und Initi-      Neben vielen empfehlenswerten Ar-         Literatur:
                                                                                    Pieschl, S., & Porsch, T. (2012). Schluss mit Cy-
ativen der Eltern, sowie den potenziel-   beitsmaterialien, beispielsweise von      bermobbing! Das Trainings- und Präventi-
len anderer Akteure (wie z.B. Polizei,    www.klicksafe.de, gibt es für den prak-   onsprogramm „Surf-Fair“. Weinheim: Beltz.
lokale Jugendarbeit und Schulpsycho-      tischen Einsatz in Schulklassen auch      Pieschl, S. & Porsch, T. (im Druck). Cybermob-
                                                                                    bing – mehr als „Ärgern im Internet“. In T.
logie) zu verzahnen und verbindliche      wissenschaftlich fundierte und auf
                                                                                    Porsch & S. Pieschl (Hrsg.), Neue Medien und
Regeln an der Schule zu vereinbaren,      Wirksamkeit überprüfte Programme          deren Schatten. Mit neuen Medien kompe-
die auch Interventionsstrategien ein-     wie zum Beispiel Surf-Fair (Pieschl &     tent umgehen. Göttingen: Hogrefe.
                                                                                    Porsch, T. & Pieschl, S. (im Druck). Cyberm-
schließen. Neben grundlegenden An-        Porsch, 2012). Das Interesse der Schü-
                                                                                    obbing unter deutschen Schülerinnen und
geboten zum Umgang mit Konflikten,        lerinnen und Schüler am Thema ist         Schülern: Eine repräsentative Studie zu Prä-
Schulklima und Mediennutzung kann         erfahrungsgemäß sehr hoch.                valenz, Folgen und Risikofaktoren. Diskurs
das Thema Cybermobbing auch sehr          In jedem Fall lohnt sich die frühzeiti-   Kindheits- und Jugendforschung.
erfolgreich gezielt im Unterricht the-    ge Beschäftigung mit dem Thema Cy-        Kontakt: www.medienkompetenz-praeven-
matisiert werden. Hierzu bietet sich      bermobbing, um dieser neuen Heraus-       tion.de t.porsch@uni-muenster.de
WEITBLICK // #01 // Februar 2014

DER TÄGLICHE HORROR
AUS DEM INTERNET
  In der Pubertät sind Jugendliche be-         rend sich Mobbing im Klassenraum             von Paul, und damit konnte man dank
  sonders empfindlich – Mobbing im             in einem überschaubaren Rahmen               Fotomontage sehr kreativ sein: Paul
  Netz kann sie völlig aus der Bahn wer-       abspiele, sei Cybermobbing öffentlich.       auf dem Klo, auf dem Friedhof, im Müll
  fen                                          „Die Beleidigungen laufen über SMS,          – der Fantasie sind keine Grenzen ge-
  Die neuen Medien, die sozialen Netz-         E-Mail oder Einträge in einer der sozia-     setzt. „Paul, die Strebersau“ wird Mit-
  werke und die Treffpunkte im Internet        len Netzwerke. Vertrauliche Informati-       telpunkt einer Kampagne, eines Anti-
  sind nicht nur ein Segen. Oft werden         onen werden weitergegeben, gefälsch-         Fan Clubs, bei dem man sogar Punkte
  über diese Kanäle auch Mitschüler            te Fotos, Hassgruppen und Drohungen          bekommt, wenn man besonders fiese
  bloßgestellt, verächtlich gemacht oder       werden für alle zugänglich und lösen         Ideen hat.
  gedemütigt. Das Schlimme daran: Es           häufig weitere Attacken aus. Durch die       Zunächst merkt Paul gar nichts, dann
  passiert in aller Öffentlichkeit, oft weiß   Möglichkeit der Anonymität sinkt die         aber kommen abschätzige Bemer-
  die ganze Schule über Nacktfotos oder        Hemmschwelle. Man muss nicht für             kungen über seine Gespräche mit den
  peinliche Begebenheiten Bescheid. Wir        seine Taten einstehen und das Leid der       Lehrern, seine Klamotten, die absolut
  sprachen mit der erfahrenen Pädago-          Opfer wird in keinster Weise wahrge-         unauffällig sind, aber eben nicht cool,
  gin Doris Jacobs über die miesen Me-         nommen“, sagt die erfahrene Pädago-          irgendwann steckt ihm jemand die
  thoden des Mobbings im Internet.             gin anlässlich eines Besuches in unse-       Aktionen im Internet. Paul ist absolut
  Das Alter zwischen 13 und 17 Jahren ist      rer Redaktion.                               hilflos.
  eine prägende Zeit, die man im gan-          Es gebe kein ,,typisches Mobbingop-          Seiner Mutter möchte er nichts sagen,
  zen Leben nicht vergisst. Es ist aber        fer“. Der unsportliche, übergewichti-        sie ist allein erziehend und Paul ist ihr
  auch keine einfache Zeit, weder für die      ge Streber könne genauso zum Opfer           ganzer Stolz: Seine guten Noten, die
  Schüler noch für die Lehrer. So vieles       werden wie die Klassenprinzessin, die        positiven Rückmeldungen der Lehrer
  stürze auf die Jugendlichen ein, von         sich den Zorn der Klasse zuzieht. Doris      – das entschädigt sie für viele Entbeh-
  der ersten Liebe bis zum Pickel auf der      Jacobs hat zwei reale Fallbeispiele aus      rungen in ihrem ansonsten anstren-
  Nase, von schlechten Noten bis zu den        ihrer Berufs-Erfahrung für uns rekon-        genden Leben. Er möchte ihr keine
  Konflikten mit den Eltern, weiß Doris        struiert.                                    Sorgen machen und glaubt auch nicht
  Jacobs, die viele Jahre Didaktik-Leiterin                                                 daran, dass sie ihm helfen kann.
  am Saarpfalz-Gymnasium war.                  Fallbeispiel Nummer 1                        Den Lehrern fällt auf, dass Paul nicht
  Seit einigen Monaten ist sie im Ru-                                                       mehr im Unterricht mitmacht. Seine
  hestand. Sie liebt ihren Beruf, und sie      Paul ist ein sehr guter Schüler der Klas-    Klassenlehrerin redet mit ihm, be-
  liebt die jungen Menschen, die es in         se 6. Er mag die Schule, interessiert sich   kommt aber nur ausweichende Ant-
  dem besagten Alter den Erwachsenen           besonders für Naturwissenschaften.           worten, es sei alles in Ordnung. Es wird
  allerdings nicht immer leicht machen,        Aus diesem Grund redet er oft noch           aber deutlich, dass der Junge sehr be-
  sie zu mögen. Aber damit müsse man           nach dem Unterricht mit den Lehrern,         drückt ist, und die Kollegin entschließt
  umgehen können, sagt Doris Jacobs.           was für seine Mitschüler schon etwas         sich, mit einigen Mädchen der Klasse
  Was sie umtreibt, ist eine unberechen-       suspekt wirkt. Bisher gab es allerdings      zu sprechen, die ihr schließlich Hinwei-
  bare Macht, die dabei ist, die Jugendli-     noch keine größeren Probleme, er hält        se auf die Internetseite geben. Auch sie
  chen, die ihr am Herzen liegen, zu zer-      sich von den coolen Jungs fern, die die      haben Angst, zum Opfer zu werden.
  stören: Mobbing im Internet. Mobbing         Klasse dominieren. Mittags trifft er         Nach dem Besuch der Internetseite ist
  ist kein einfacher Konflikt zwischen         sich meist mit seinem besten Freund,         die Lehrerin entsetzt. Ein solches Ver-
  zwei Personen, sondern „ein beabsich-        der die Nachbarschule besucht.               halten hätte sie ihrer Klasse nie und
  tigtes und geplantes systematisches          Wie die Idee entstand, sich ausge-           nimmer zugetraut.
  Schikanieren Schwächerer durch meh-          rechnet über Paul im Internet lustig
  rere Personen mit dem Ziel, das Opfer        zu machen, was schließlich zu einem          Sie sucht erneut das Gespräch mit
  sozial herabzustufen“, zitiert sie einen     schmerzhaften Mobbing führte, ist            Paul – und jetzt hat sie einen weinen-
  Wissenschaftler.                             im Nachhinein nur unvollständig              den Jungen vor sich, der schildert, wie
  Mobbing sei kein spontaner Streit,           nachvollziehbar. Der Fun-Faktor spiel-       schlecht es ihm gehe und dass er am
  sondern es ist ein geplantes Verhalten       te sicherlich eine sehr große Rolle: Ir-     liebsten gar nicht mehr in die Schule
  über einen längeren Zeitraum. Wäh-           gendjemand hatte zufällig ein Foto           komme, sie aber anfleht, nichts zu sa-
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gen, weil sonst alles noch viel schlim-    Gespräche, wenn sie sich einer Gruppe       Während also jeder zum Opfer wer-
mer würde.                                 zugesellt.                                  den könne, gebe es hingegen klare
Auch seine Mutter soll nichts erfahren,    Es macht allen Spaß, diese arrogante        Täterprofile: „Es sind Jugendliche, die
sie habe genug Probleme. Die Lehrerin      Zicke zu ärgern, ihr Verhalten wird zu      eine wichtige Rolle spielen oder die
sichert ihm zu, dass nichts ohne seine     einem superinteressanten Gesprächs-         Führung in ihrer Gruppe übernehmen
Zustimmung passiert und kann die Sa-       thema und eint die Klasse. Es dauert        wollen. Wenn dies über die Herabset-
che schließlich aus der Welt schaffen.     mehrere Wochen, bis Franzi die Fotos        zung anderer geschehen kann, wenn
                                           hinterbracht werden, und ihre Eltern        es cool ist, das Opfer vorzuführen,
Fallbeispiel Nummer 2                      sind die ersten, denen sie ihre Ver-        wenn die Techniken der Demütigung
                                           zweiflung schildert.                        immer ausgefeilter werden, erlangt
Franziska ist der Klassenstar der 9 a,     Ihr Vater ist total empört, der Klassen-    der Täter immer mehr Bedeutung: Er
sie ist hübsch, sportlich, schlagfertig    lehrer, den er sofort informiert, soll      ist in der sozialen Rangliste der Klasse
und hat manierliche Noten. Das Le-         dafür sorgen, dass Martina von der          weit oben und will seine Macht behal-
ben ist lustig, sie ist überall auf der    Schule fliegt, möglichst noch einige        ten.“
Gewinnerseite. Dazu kommt, dass sie        andere Klassenkameraden dazu. Die           Bei fortgeschrittenem Mobbing sei der
Papas Prinzessin ist, was ihr zusätzlich   Eltern der anderen Schüler reagieren        Gruppenzwang so groß, dass jener Teil
Selbstbewusstsein verleiht. Der Vater      nicht besonders verständnisvoll auf         der Klasse, der sich mittlerweile bei
platzt vor Stolz auf „Franzi“ und nervt    die Forderungen von Franzis Vater, im       diesen Boshaftigkeiten unwohl fühle,
die anderen Eltern bei Versammlun-         Gegenteil. Im Geheimen entsteht so-         keine Chance mehr habe, einzugreifen.
gen und Schulfesten mit                                                                               Im Gegenteil, man habe
Erzählungen über seine                                                                                Angst, selbst zum Opfer
Supertochter.                                                                                         zu werden und zieht
In Franzi sind alle Jungs                                                                             sich zurück.
ein bisschen verknallt,                                                                               Das größte Problem in
doch Chancen rechnet                                                                                  ihrer langjährigen Be-
sich keiner aus. Franzis                                                                              ratungserfahrung, sagt
beste Freundin ist Mar-                                                                               Doris Jacobs, sei die
tina, mit der sie alle Ge-                                                                            Angst des Opfers, sich zu
heimnisse teilt. In einer                                                                             outen. Fast immer gab
stillen Stunde machen                                                                                 es die Aussage: „Dann
Franzi und Martina Fo-                                                                                wird alles nur noch
tos voneinander, Oben-                                                                                schlimmer.“
ohne-Fotos, die sie ganz                                                                              Doch das stimme nicht:
supererotisch      finden                                                                             „Wenn es einen Trost
und die die weibliche                                                                                 für die Betroffenen gibt,
Gemeinschaft der bei-                                                                                 so ist es die Tatsache,
den zusätzlich stärken.                                                                               dass Mobbing fast im-
Doch dann kommt es zum Konflikt            gar Schadenfreude, auch wenn die El-        mer in dem Moment endet, in dem
zwischen den beiden Mädchen, als           tern das Verhalten der Klasse nicht bil-    die Gemeinheiten öffentlich werden.
sich Franzi verliebt und ab sofort nur     ligen. Aber schließlich: Ist Franzi nicht   Cybermobbing funktioniert nur im
noch mit ihrem Freund zusammen             selbst schuld? Warum macht sie solche       Dunklen, im Geheimen, im Unter-
sein möchte. Für Martina hat sie keine     peinlichen Fotos?                           grund.“   Es brauche allerdings Men-
Zeit mehr und macht sich sogar noch        Diese beiden Beispiele zeigen für die       schen, die gelernt haben, wie man pro-
über deren Unerfahrenheit bei Män-         Pädagogin Doris Jacobs deutlich: Die-       fessionell mit Mobbing umgeht. In der
nern lustig. Die tief verletzte Martina    jenigen werden zum Opfer, die in der        Schule sind dies Lehrer oder School-
sinnt auf Rache. In der Klasse findet      Klasse nicht geschützt werden. „Der         worker.
sie guten Nährboden: Die anderen           sehr gute Schüler kann in einer Klas-       Die beste Prävention sei allerdings
Mädchen fanden Franzi immer schon          se hohes Ansehen genießen, in einer         eine funktionierende Klassengemein-
arrogant, und auch die Jungs machen        anderen Klasse wird er gemobbt. Die         schaft, in der Kinder lernen, sich mit
mit, da sie sich von Franzi ohnehin ver-   problembeladene Schülerin, die sich         Respekt zu begegnen, wo zwangsläu-
achtet fühlen. Martina stellt als Rache-   gerade mit der Scheidung der Eltern         fig auftretende Konflikte offen und fair
akt kurzerhand die Oben-ohne-Fotos         herumschlägt, kann in einer Klasse          gelöst werden. Wenn dies gelinge, sagt
ins Netz. Da kursieren sie nun, erst in    unterstützt werden, in einer ande-          die erfahrene Pädagogin, „sind unsere
der Klasse, dann in den Parallelklassen,   ren wird sie geschnitten, weil sie sich     Kinder vor Mobbing geschützt.“
dann in der ganzen Schule. Es dauert       keine angesagten Klamotten kaufen           von SZ-Redakteurin Christine Maack in Saar-
eine Zeitlang, bis Franzi die Situation    kann. Es ist die spezielle Dynamik in       brücker Zeitung vom 07.01.2014 Ausgabe für
wahrnimmt, das Gekichere, wenn sie         einer Klasse, die darüber entscheidet“,     den Saarpfalz-Kreis
morgens kommt, die verstummenden           erklärt sie.
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