Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für

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Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
Bundesweites             für       Journal
Wohn-Pflege-Gemeinschaften
                                            Ausgabe Nr. 9 Dezember 2021

im Fokus
Qualität in Wohn-Pflege-Gemeinschaften:
Gut versorgt Wohnen - Balance zwischen Sicherheit und
Selbstbestimmung

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                                                    3            Freunde alter Menschen e.V.
                                                                  les petits frères des Pauvres
                                                4            3
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Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
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    Bundesweites Journal für Wohn-Pflege-Gemeinschaften

    Ausgabe Nr. 9, Dezember 2021

    Herausgeber:                                                  Redaktion:
     Hamburger Koordinationsstelle für                             Mascha Stubenvoll und Ulrike Petersen
     Wohn-Pflege-Gemeinschaften                                    Für den Inhalt ihrer Texte sind grundsätzlich die
     STATTBAU HAMBURG                                              Autorinnen und Autoren verantwortlich.
     Stadtentwicklungsgesellschaft mbH
                                                                  Gestaltung:
     Sternstraße 106, 20357 Hamburg
     Telefon.: 040 - 43294223                                      Mascha Stubenvoll
     E-Mail: koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de              Druck:
     Website: www.stattbau-hamburg.de
                                                                   a&c Druck und Verlag GmbH, Hamburg

     KIWA - Koordinationsstelle für innovative                    Auflage:
     Wohn- und Pflegeformen im Alter
                                                                       500 Stück
     im Nordkolleg
     Raiffeisenstraße 1-3, 24768 Rendsburg
     Telefon: 04331/ 14 38 63
     E-Mail: post@kiwa-sh.de
     Website: www.kiwa-sh.de

    Das bundesweite Journal für Wohn-Pflege-Gemeinschaften
    erscheint in gedruckter Form und als Online-Information.
    Die aktuelle Ausgabe liegt in den Koordinationsstellen aus.

    Versandverfahren
    Bei Interesse können Sie dieses Journal in Druckform erhalten.
    Bitte senden Sie für eine Broschüre einen mit 1,60 € frankierten
    und adressierten DIN A4 Umschlag an:
    STATTBAU HAMBURG
    Stadtentwicklungsgesellschaft mbH
    Sternstraße 106
    20357 Hamburg

      Weitere Informationen:
      Die Website WG-Qualität.de bietet eine Plattform für die Qualitätsdiskussion rund um ambulant betreute
      Wohngemeinschaften nicht nur für Menschen mit Demenz. Auß erdem finden Sie spezifische Informationen zu
      Wohn-Pflege-Gemeinschaften für die einzelnen Bundesländer auf sogenannten Länderseiten.
      Diese Seiten können Sie abrufen unter www.wg-qualitaet/laender.
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
Inhalt                                                                                                     3

 Vorwort                                          4    Konkret
                                                       Neues aus Projekten
 Leitartikel
 Ambulant betreute Wohngemeinschaften                  Nicht daheim, aber doch zu Hause
                                                       Ferdinand Hirsch                               31
 im Stresstest                                    5
 Prof. Dr. habil. Thomas Klie                          Anders als gewohnt: Die Hamburger
 Position des Arbeitskreises BAG WG-Qualität           Wohn-Pflege-Gemeinschaft Pergolenviertel
                                                       für Menschen mit Demenz in der Lebensmitte     33
 zur Reduzierung der Zuzahlungen zur stationären
 Pflege im Rahmen des geplanten Gesetzes zur           Ulrike Petersen
 Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung     8
                                                       Projekt Andersrum-WGs und Betreuung
 (GWVG)                                                in Hamburg
                                                                                                      35
 AK BAG                                                Herbert Villauer
 Kontext                                               Wissenswertes
 Konzepte, Impulse und Entwicklungen
 Kasernierung alter Menschen in Zeiten                 Soziale Unterstützung unter Bewohner*innen
 von Corona. Eskalation eines alten Musters            ambulant betreuter Wohngemeinschaften
                                                  10
 Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt                      Dipl.-Soz. Lilo Dorschky,                      37
                                                       Dipl.-Soz. Petra Schneider-Andrich,
 Altern in Zeiten von Corona - Anmerkungen zum
                                                       Prof. Irén Horváth
 Verhältnis von Person und Wohnumwelt
 zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung      12      DemWG: Auswirkungen der Corona-Pandemie
                                                       auf die Teilnahme an der DemWG-Studie
 Prof. Dr. Frank Oswald
                                                       zur Verbesserung der Versorgung von Menschen
 Corona und die Folgen für Menschen, die in            mit Demenz und kognitiven Beeinträchtigungen
 einer Wohn-Pflege-Gemeinschaft (WPG) leben            in ambulant betreuten Wohngemeinschaften
                                                  17
 Andrea von der Heydt                                  Dr. Jennifer Scheel, Susanne Stiefler,         41

 Pflege zwischen Fürsorgepflicht und                   Anna-Carina Friedrich, Dr. André Kratzer,
 Selbstbestimmung - Lösungsmöglichkeiten in            Annika Schmidt, PD Dr. Carolin Donath,
 Wohn-Pflege-Gemeinschaften unter Pandemie-            Prof. Dr. Elmar Gräßel,
                                                  22   Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann
 bedingungen in Brandenburg
 Beate von Zahn und Andrea Kaufmann                    Autonomie durch gegenseitige Hilfe -
 Trotz Corona in Verbindung bleiben!                   Wie kann das gelingen?
                                                                                                      44
 Digitalisierung einer ambulant betreuten Wohn-        Annie Le Roux
 gemeinschaft für Menschen mit Demenz aus              Wie sorgen Menschen in gemeinschaftlichen
                                                  25
 Sicht einer Angehörigen                               Wohnprojekten füreinander?
 Brigitta Neumann                                                                                     46
                                                       Sandra Eck und Dr. Katrin Roller
 Wahrhaftig ein starkes Stück Menschlichkeit
 - Kollektiv in Quarantäne oder wie eine Wohn-
                                                       Literatur                                      49
 gemeinschaft für Menschen mit Demenz die         28   Archiv                                         50
 Coronakrise übersteht
 Ulrike Petersen                                       Die letzte Seite                               51
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
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                                                                                       Vorwort
    Liebe Leserin und
    lieber Leser!
    „Ambulant betreute Wohngemeinschaften im            Die auskömmliche Finanzierung ambulant be-
    Stresstest“ überschreibt Professor Dr. Thomas       treuter Pflegewohngemeinschaften steht schon
    Klie seinen Beitrag in diesem Journal. In der Tat   deutlich länger in der Diskussion als die Coro-
    standen Akteure in und um ambulant betreute         na-Pandemie. Finanzielle Fragestellungen sind
    Wohngemeinschaften in den vergangenen Mo-           für viele Wohngemeinschaften ein Dauerthema.
    naten vor großen Herausforderungen.                 Durch die von Bundesgesundheitsminister Jens
    Dass sich die Akteure im Sinne des Prinzips der     Spahn vorgestellten Eckpunkte für eine Pflege-
    geteilten Verantwortung beständig abstimmen         reform gewann das Thema im Frühjahr 2021
    und gut kommunizieren ist eine Grundvoraus-         erheblich an Brisanz. Denn der Entwurf des
    setzung für das Gelingen des Alltagslebens in       Bundesgesundheitsministers sah eine Decke-
    ambulant betreuten Wohngemeinschaften.              lung der pflegebedingten Eigenanteile und da-
    Auch der gemeinsame Diskurs und das Ringen          durch eine finanzielle Entlastung ausschließlich
    um eine gemeinsame Haltung zu grundsätz-            für Bewohnende stationärer Einrichtungen vor.
    lichen Fragestellungen rund um Aspekte der          Eine entsprechende Entlastung für auf Pflege
    Selbstbestimmung und Lebensqualität der Be-         angewiesene Menschen in ambulant betreuten
    wohnenden gehört selbstverständlich dazu.           Wohngemeinschaften war nicht vorgesehen.
    Unter pandemiebedingten Kontaktbeschrän-            Das Positionspapier zu den Reformüberlegun-
    kungen immer wieder neue Strategien zum             gen vom Arbeitskreis Bundesarbeitsgemein-
    Schutz aller Beteiligten oder auch zum Um-          schaft Qualität in ambulant betreuten Wohn-
    gang mit Coronabetroffenen in und um die je-        gemeinschaften ist ebenfalls in diesem Journal
    weilige Wohngemeinschaft zu entwickeln, zu          abgedruckt.
    kommunizieren und umzusetzen und gleichzei-         Es bleibt zu hoffen, dass der politische Diskurs
    tig ethische Aspekte wie etwa die der Balance       in der neuen Legislaturperiode der Tatsache
    zwischen dem Schutzbedarf und den Freiheits-        Rechnung trägt, dass Wohn-Pflege-Gemein-
    rechten der Bewohnerschaft zu bedenken und          schaften als ergänzende Elemente der Pflege-
    abzustimmen - keine leichte Aufgabe!                infrastruktur und erwünschte Alternative zum
    Neben den entsprechenden kritischen Analysen        stationären Setting zunehmend an Bedeutung
    von Professor Dr. Frank Oswald, Professor Dr.       gewinnen. Zumal sie die Möglichkeit bieten,
    Frank Schulz-Nieswandt und Andrea von der           zivilgesellschaftliche Potentiale einzubinden,
    Heydt berichten in dieser Ausgabe des Journals      Pflegefachkräfte sowie Assistenz- und Haus-
    auch Pflegewohngemeinschaften in Hamburg            wirtschaftskräfte gezielter einzusetzen und zu-
    und Potsdam über die von ihnen entwickelten         dem dem Wunsch pflegebedürftiger Menschen
    kreativen Lösungen für den Alltag in ambulant       nach wohnortnahen und kleinteiligen Wohn-
    betreuten Wohngemeinschaften in Zeiten von          und Versorgungsangeboten im Quartier zu ent-
    COVID-19.                                           sprechen.

                                                        Christiane Biber
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
Einführung                                                                                                           5

                   Ambulant betreute Wohngemeinschaften im Stresstest
                                           Prof. Dr. habil Thomas Klie

Ambulant betreute Wohngemeinschaften stehen                Auch sind sie, wenn sie konzeptionell gut und so
für konzeptionelle, kulturelle und in demokratische        ausgerichtet sind, wie der Gesetzgeber es vorge-
Sorgediskurse eingebettete Bilder teilhabeorientier-       sehen hat, Orte, in denen das Prinzip der geteil-
ter Sorge und Pflege. Es sind zum Teil aufwändige          ten Verantwortung in der Pflege und Sorge, wie der
Prozesse, aus denen heraus sich ambulant betreu-           Siebte Altenbericht der Bundesregierung heraus-
te Wohngemeinschaften vor Ort etablieren, Unter-           gestellt hat, am ehesten verwirklicht werden kann:
stützung der Zivilgesellschaft erfahren und mithilfe       An- und Zugehörige bleiben in der Mitverantwor-
von pflegepolitisch engagierten Kommunen Teil der          tung, Professionelle steuern den Pflegeprozess und
örtlichen Infrastruktur werden. Sie lassen sich nicht      verantworten ihn, Assistenz- und Hauswirtschafts-
vom Reißbrett planen, wie vollstationäre Pflegeein-        kräfte gestalten den Alltag und sorgen für entspre-
richtungen, sie versprechen keine großen Rendi-            chende Präsenz. Das ist das „Idealbild“ einer ambu-
ten, wie etwa sogenannte Stambulant-Konzepte, in           lant betreuten Wohngemeinschaft.
denen ambulante Leistungen „gestapelt“ werden:
Betreutes Wohnen plus Tagespflege.                         Stresstest 1: Wohngruppenzuschlag
                                                           Genau dieses Bild hatte der Gesetzgeber vor Augen
Sie werden von Aufsichtsbehörden zum Teil argwöh-
                                                           als er § 38a SGB XI als zusätzliche Finanzierungs-
nisch begleitet, bisweilen aber auch unterstützt. Sie
                                                           quelle für ambulant betreute Wohngemeinschaften
stehen aktuell im Stresstest: Pflegekassen verwei-
                                                           schuf: Das alles will koordiniert sein, das Miteinander
gern den Wohngruppenzuschlag, wenn aus ihrer
                                                           der genannten Beteiligten, die alltägliche Organisa-
Sicht das Konzept nicht stimmt. Hier hat immerhin
                                                           tion der geteilten Verantwortung, die Gewinnung
das Bundessozialgericht klärende Worte gespro-
                                                           von Freiwilligen, die verantwortliche Einbeziehung
chen. In der Coronapandemie wurden und werden
                                                           von An- und Zugehörigen, die Besorgung des All-
sie weitgehend alleingelassen oder dem Hygiene-
                                                           tag bis zum Einkauf der Lebensmittel. Nun ist § 38a
regime der Heime unterworfen. In den nunmehr
                                                           SGB XI regelungstechnisch ziemlich missglückt. So
veröffentlichten Eckpunkten des Bundesgesund-
                                                           haben eine Reihe von Verbänden versucht Einfluss
heitsministers Spahn zu einer Reform der Pflege-
                                                           zu nehmen und das besondere Profil des Wohngrup-
versicherung werden sie nicht nur vernachlässigt,
                                                           penmanagements schlicht auf eine Präsenzkraft mit
sondern in ihrer Konkurrenzfähigkeit gegenüber
                                                           besonderen Aufgaben hin verschoben.
stationären Einrichtungen, was ihre finanzielle Aus-
stattung anbelangt, gefährdet. Diesen drei Stresso-        Immerhin sind einige, in der Praxis allerdings
ren soll in diesem Beitrag nachgegangen werden.            schwer zu realisierende Anforderungen, übrigge-
                                                           blieben, etwa die Bestimmung des Wohngruppen-
Ambulant betreute Wohngruppen erfreuen sich in
                                                           managements durch die Bewohner*innen respek-
der deutschen Bevölkerung recht großer Resonanz.
                                                           tive ihre Vertreter*innen. Das hat manche Kassen
Sie werden, glaubt man demoskopischen Umfra-
                                                           aber auch Beihilfestellen in ihrer Skepsis gegenüber
gen, deutlich mehr präferiert als Pflegeheime –
                                                           ambulant betreuten Wohngemeinschaften dazu
auch wenn es sie bundesweit betrachtet kaum in
                                                           veranlasst, den Wohngruppenzuschlag dort zu ver-
einer für alle Interessierten ausreichender Weise
                                                           sagen, wo die ausdrückliche und nachvollziehbare
und Zahl gibt. Gerade die Coronakrise hat Pflege-
                                                           Wahl des Wohngruppenmanagements durch die
heime noch einmal mit all ihren Hospitalisierungs-
                                                           Bewohner*innen nicht geregelt und nicht nachvoll-
gefahren ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt.
                                                           ziehbar war. Und in der Tat: Viele ambulant betreute
Dass häusliche Pflegearrangements häufig an ihre
                                                           Wohngemeinschaften, wahrscheinlich die meisten,
Grenze kommen, gehört inzwischen auch zum All-
                                                           werden allein von Pflegediensten „betrieben“. Sie
gemeinwissen. Ambulant betreute Wohngemein-
                                                           übernehmen alle Aufgaben, auch die des Wohn-
schaften können einen interessanten Beitrag zur
                                                           gruppenmanagements.
Entwicklung einer wohnortnahen und mit der Kom-
munalpolitik verwobenen pflegerischen Infrastruk-
tur darstellen.
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
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                                                                                         Einführung

    Es ist eine Minderheit von Wohngemeinschaften,            Und dann gibt es das Wohngruppenmanagement,
    die so betrieben werden, wie der Gesetzgeber es           das vom Pflegedienst selbst, der all-inclusive alle
    sich gedacht und wie die landesheimrechtlichen            Leistungen erbringt, gewährleistet wird. Hier ist nur
    Regelungen es für die Kategorie der vollständig           Vorsicht geboten: Die Wahlfreiheit hinsichtlich des
    selbstverantworteten oder -organisierten Wohnge-          Pflegedienstes muss den Bewohner*innen erhalten
    meinschaften vorsehen. Will man den Willen des            bleiben. Sonst handelt es sich heimrechtlich nicht
    Gesetzgebers, der sich in der Gesetzesbegründung          um eine ambulant betreute Wohngemeinschaft.
    zu § 38a SGB XI niederschlägt, ernstnehmen, wird          Darum braucht es in jedem Fall bestimmte Kon-
    man auf der einen Seite die Autonomie der Be-             fliktregelungsmechanismen, die auch verbindlich
    wohner*innen in ihrer Auswahl des Wohngruppen-            niedergelegt werden müssen, wie bei Meinungs-
    managements achten und fördern müssen. Sonst              verschiedenheiten zwischen dem Pflegedienst und
    tendieren ambulant betreute Wohngemeinschaften            den Bewohner*innen respektive der Auftragsgeber-
    in der Tat in Richtung Kleinstheime, die keine be-        gemeinschaft auf Lösungen hingearbeitet werden
    sondere Privilegierung durch den Gesetzgeber ver-         kann, die interessensgerecht sind. In Brandenburg
    dienen. Allerdings muss auch sichergestellt werden,       haben sich hier Schiedspersonen bewährt. Die LA-
    dass ambulant betreute Wohngemeinschaften im              BEWO, die Landesarbeitsgemeinschaft ambulant
    Alltag funktionieren.                                     betreuter Wohngemeinschaften in Baden-Württem-
                                                              berg, hat eigene Qualitätskriterien formuliert, die
    Da ist die Vorstellung, eine Person könne allein das
                                                              auch und gerade die Aufgaben des Wohngruppen-
    Wohngruppengruppenmanagement gewährleisten,
                                                              managements adressieren.
    realitätsfern. Wir wollen ja keine Herbergsmütter,
    die rund um die Uhr und ohne Urlaub zu Verfü-
                                                              Stresstest 2: Corona
    gung stehen. Das hat das Bundessozialgericht in
                                                              Ambulant betreute Wohngemeinschaften, die dem
    seinem Urteil vom 07.10.20201 erkannt und lässt
                                                              Leitbild der geteilten Verantwortung folgen, kom-
    durchaus zu, dass die Bewohner*innen sich dar-
                                                              men ohne Ehrenamtliche und An- und Zugehörige
    auf verständigen, einer Organisation die Rolle des
                                                              nicht aus. Sie waren in Zeiten der Besuchsverbote in
    Wohngruppenmanagements zuzuordnen - mit dem
                                                              ihren alltäglichen Betrieb extrem gefährdet. Manche
    Recht und der Möglichkeit die hierfür zuständigen
                                                              Pflegedienste, die ambulant betreute Wohngemein-
    Personen entsprechend zu benennen. Wichtig ist
                                                              schaften „betreiben“ oder verantworten, haben Be-
    nur: Die Aufgaben, die mit dem Wohngruppenzu-
                                                              suche unterbunden.
    schlag finanziert werden sollen, das hier als Wohn-
    gruppenmanagement bezeichnet wird, muss in den            In vollständig selbstorganisierten Wohngemein-
    Verträgen explizit genannt und inhaltlich bestimmt        schaften wurden höchst unterschiedliche Lösungen
    werden. Auch muss gewährleistet werden, dass die-         gefunden. In keinem Fall wurde ambulant betreuten
    se Aufgaben unabhängig wahrgenommen und nicht             Wohngemeinschaften die Aufmerksamkeit zuteil,
    integriert werden in die Betriebsabläufe eines am-        die den Heimen galt. Sicher: Das Infektionsschutz-
    bulanten Pflegedienstes. So war das nicht gemeint         risiko hielt sich zumindest zahlenmäßig in Grenzen.
    mit dem Wohngruppenzuschlag. Er dient dazu, das           Gleichwohl waren und sind vor allen Dingen in der
    Prinzip der geteilten Verantwortung (mit-) zu unter-      Zukunft auch in ambulant betreuten Wohngemein-
    stützen und zu befördern.                                 schaften all die Schutzvorkehrungen staatlicherseits
                                                              zu unterstützen, die das Infektionsrisiko begren-
    Verschiedene Optionen werden in der Praxis dazu
                                                              zen und gleichzeitig die Teilhabe der Wohngemein-
    umgesetzt: Bei Trennung zwischen Pflege- und As-
                                                              schaftsgäste sichern helfen. Ambulant betreute
    sistenzdienst wird dem Assistenzdienst die Rolle des
                                                              Wohngemeinschaften im Hygieneregime Heimen
    Wohngruppenmanagements zugeordnet und hier
                                                              gleichzustellen, was manche Heimaufsichtsbehör-
    bestimmten Personen. Auch sind Beispiele bekannt,
                                                              den getan haben, war von den Coronaverordnun-
    in denen mit den Wohngruppenzuschlägen eine hal-
                                                              gen nicht gedeckt. Durch entsprechende Hygiene-
    be bis dreiviertel Stelle Sozialarbeit finanziert wird,
                                                              konzepte, die regelmäßig in die Sorge und Pflege
    angestellt in einem Förderverein, der diese Aufga-
                                                              einbezogene An- und Zugehörige aber auch Ehren-
    ben inklusive der Präsenz gegebenenfalls für eine
                                                              amtliche wie Mitarbeiter*innen qualifizierten, konn-
    oder mehrere Wohngemeinschaften wahrnimmt.
                                                              ten Konzepte der geteilten Verantwortung weiter
                                                              praktiziert werden.
    1
        Vgl. BSG-Urteil vom 07.10.2020 zum Az: B 3 P 1/20 R
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
Einführung                                                                                                           7

In vielen ambulant betreuten Wohngemeinschaf-               Nur teilweise wurden sie im kurz vor Ende der Le-
ten wurde allerdings auch zu einem Notbetrieb               gislaturperiode verabschiedeten Gesundheitsver-
umgestellt - mit zum Teil erheblichen Grundrechts-          sorgungsweiterentwicklungsgesetz (GWVG) be-
und Freiheitseingriffen für die Bewohner*innen.             rücksichtigt. Sie bezogen sich ganz wesentlich auf
Sie waren allerdings nicht wie viele Heime bereit,          die finanziellen Herausforderungen, die den Bewoh-
einen quasi militärischen Habitus anzunehmen:               ner*innen von Pflegeheimen ins Haus stehen.
Ihre konsequente Einbindung in das lokale Um-               Die Pflegesätze wurden erhöht, die Bezahlung der
feld, die kulturelle Etablierung von Aushandlungs-          Pflegekräfte wird verbessert, die Qualitätsanforde-
prozessen machte sie insofern – nicht überall aber          rungen nehmen stetig zu. Weder in der Bevölke-
oftmals – resilienter. Im Stresstest waren und sind         rung, noch bei den Sozialhilfeträgern ist die Akzep-
sie allerdings gleichwohl. Der Umgang mit den Hy-           tanz für weitere Zuzahlungen gegeben. Sie sollen
gieneanforderungen war auch in WGs umstritten               gedeckelt werden. Auch wenn von dem Wirtschafts-
– unter den Angehörigen, zwischen Pflegedienst              flügel der CDU lange vehement bekämpft: Das Tabu
und Angehörigenvertretungen. Insofern macht es              eines Steuerzuschusses für die Pflegeversicherung
Sinn, für ambulant betreute Wohngemeinschaften              ist gebrochen. Es ist im Wesentlichen eine „Luft
spezifische Hygienekonzepte, die örtlich in vorbild-        raus“-Reform, die der Bundestag vor der Wahl ver-
licher Weise entwickelt wurden, zu etablieren. Auch         abschiedet hat. Sie ist weder strategisch ausgerich-
müssen die staatlichen Stellen ihren Beitrag zu Hy-         tet, noch berücksichtigt sie die Breite der Pflege-
gieneschutzmaßnahmen leisten und dort, wo Qua-              landschaft und die Bedarfe auf Pflege angewiesener
rantäne angeordnet wird, für eine entsprechende             Menschen.
Bereithaltung von Einrichtungen Sorge tragen. Wie
Schulz-Nieswandt2 deutlich gemacht hat: Ambulant            Die großen Trägerverbände sind angetan: Ihre sta-
betreute Wohngemeinschaften haben sich wenig                tionären Einrichtungen werden ökonomisch attrak-
aufgeregt mit den An- und Herausforderungen der             tiver. Für ambulant betreute Wohngemeinschaften
Coronasituation arrangiert – so zumindest die Be-           allerdings ist das GWVG ein Desaster. Sie werden
richte von zahlreichen WGs.                                 nicht einbezogen in den Deckel. Zwar sollen ambu-
                                                            lante Leistungen ausgeweitet und flexibilisiert wer-
Ambulant betreute Wohngemeinschaften können                 den. Damit wird es aber nicht getan sein. Es bleibt
ein hochinteressantes und die örtliche Sorgepoli-           zu hoffen, dass die neue Bundesregierung die drin-
tik bereicherndes Infrastrukturelement sein – aber          gend gebotene grundlegende Finanz- und Struk-
nur dann, wenn sie nicht vornehmlich betriebs-              turreform der Pflegeversicherung auf ihre Agenda
wirtschaftlichen Maßgaben unterworfen, sondern              nimmt, die die Sektorengrenzen überwindet, echte
gemeinwirtschaftlich betrieben werden: eben in              Wahloptionen für die Bürger*innen schafft, Welfa-
geteilter Verantwortung. Gerade COVID-19 hat ge-            re Mix-basierte Versorgungsformen wie ambulant
zeigt: Nur im Zusammenwirken von Profis, An- und            betreute Wohngemeinschaften systematisch unter-
Zugehörigen und der Zivilgesellschaft werden wir            stützt. Hier sind die Initiativen ambulant betreuter
die zukünftigen Herausforderungen in der Langzeit-          Wohngemeinschaften auch politisch gefordert. Die
pflege bestehen. Ambulant betreute Wohngemein-              eingangs erwähnte Präferenz der Bevölkerung für
schaften sind in diesem Zusammenhang interes-               neue innovative Wohnformen, die eine wohnortna-
sante Lernwerkstätten für das Zusammenwirken.               he Versorgung sicherstellen, sie unterstützt sie. Ob
– auch in Zeiten der Pandemie.                              und wie sie sich mit seinen gut organisierten Inter-
                                                            essen gegen das korporatistische System durchzu-
Stresstest 3: GWVG                                          setzen vermögen, wird sich zeigen.
Lange angekündigt waren sie, die Eckpunkte für              Das Thema „Pflege“ war kein Wahlkampfthema im
eine Pflegereform des Bundesgesundheitsministers            Bundestagswahlkampf 2021. Auch daher fordert
Spahn.                                                      eine breit aufgestellte Pflegeallianz einen Pflegegip-
                                                            fel zu Beginn der neuen Legislaturperiode.

2
                                                                 Prof. Dr. habil Thomas Klie
 Schulz-Nieswandt, Frank (2020): Gefahren und Abwege
der Sozialpolitik im Zeichen von Corona. Zur affirmativen        Evangelische Hochschule Freiburg
Rezeption von Corona in Kultur, Geist und Seele der              E-Mail: Klie@eh-freiburg.de
"Altenpolitik". Hg. v. Kuratorium Deutsche Altershilfe           Website: www.eh-freiburg.de
(KDA). Berlin.
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
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                                                                                      Einführung

              Position des Arbeitskreises BAG WG-Qualität
         zur Reduzierung der Zuzahlungen zur stationären Pflege
        im Rahmen des geplanten Gesetzes zur Weiterentwicklung
                  der Gesundheitsversorgung (GWVG)
    Die bundesweit tätigen Fach- und Koordinations-         Für Personen, die in Wohn-Pflege-Gemeinschaften
    stellen der Länder begrüßen die Absicht der geplan-     leben, sind neben den Kosten für das Wohnen, das
    ten Pflegereform, die Eigenanteile an pflegebeding-     Haushaltsgeld und die von der Pflegekasse nicht ge-
    ten Kosten für vollstationäre Pflegeeinrichtungen zu    deckten Pflegekosten, aber auch vor allem die Kos-
    reduzieren. Dies ist auch mit Blick auf die Beschlüs-   ten für die Haushaltsführung und die Betreuungs-
    se im Zusammenhang mit der Konzertierten Aktion         leistungen im Alltag (= Eigenanteil) zu finanzieren.
    Pflege sinnvoll und notwendig. Denn so werden           Die Höhe der Eigenanteile differiert bundesweit
    Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung          auch wegen länderspezifischer Regelungen oder re-
    möglich und pflegebedürftige Menschen finanziell        gionaler Gegebenheiten.
    entlastet.                                              Es ist aber eindeutig festzustellen, dass die Eigen-
                                                            anteile in der Regel mindestens in der gleichen
    Die im derzeit diskutierten Entwurf des GWVG vor-
                                                            Höhe anfallen, wie bei entsprechender Versorgung
    gesehene Reduzierung der Eigenanteile am pfle-
                                                            in stationären Einrichtungen.
    gebedingten Aufwand nur für Bewohnerinnen und
    Bewohner vollstationärer Pflegeinrichtungen würde       Die geplante einseitige Reduzierung der pflegebe-
    allerdings zu einer existenziellen Benachteiligung      dingten Eigenanteile im stationären Bereich vergrö-
    von ambulanten Wohn-Pflege-Gemeinschaften               ßert absehbar das Kostendelta zwischen den beiden
    (WPGen) führen.                                         Wohn- und Versorgungsformen. Eine Folge hiervon
    Wohn-Pflege-Gemeinschaften sind als ambulante           wäre etwa eine de facto Einschränkung des Wunsch-
    Wohn- und Versorgungsform eine von vielen Men-          und Wahlrechts insbesondere für Menschen, die auf
    schen gewünschte Alternative zur Versorgung im          Sozialhilfeleistungen angewiesen sind, da der zu-
    stationären Setting. Die Bewohner*innenstruktur         ständige Sozialhilfeträger aufgrund des Mehrkos-
    von ambulant betreuten Wohn-Pflege-Gemeinschaf-         tenvorbehalts auf eine stationäre Versorgungsform
    ten (Altersgruppen, Pflegegrade usw.) ist vergleich-    drängen könnte. Dies wiederum würde auch dem
    bar mit der Bewohner*innenstruktur vollstationärer      Grundsatz ambulant vor stationär widersprechen.
    Pflegeeinrichtungen.
                                                            Wohn-Pflege-Gemeinschaften sind politisch gewollt
    Die Finanzierung ambulant betreuter Wohn-Pfle-
                                                            und wurden in den letzten Jahren auch mit Blick auf
    gegemeinschaften war und ist herausfordernd.
                                                            den Grundsatz ambulant vor stationär verstärkt be-
                                                            worben und realisiert.
    Denn
                                                            Zudem entsprechen sie dem Wunsch pflegebedürf-
    • es handelt sich um eine kleinteilige Wohnform
                                                            tiger Menschen nach wohnortnahen, kleinteiligen
       in der Regel mit einer Betreuung rund um die
                                                            und individuellen Pflegesettings.
       Uhr
                                                            WPGen sind als bedeutsame bedarfsorientierte
    •   die Finanzierung ist komplex und setzt sich aus
                                                            Elemente der Entwicklung kommunaler Pflegein-
        mehreren Bausteinen zusammen
                                                            frastruktur zu betrachten, die es ermöglichen, in-
    •   die Übernahme der Kosten durch den Sozial-          formelle Netzwerke und zivilgesellschaftliche Poten-
        leistungsträger stellt sich in der Praxis auf-      tiale einzubinden.
        grund geltender Rechtslage problematisch dar.
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
Einführung                                                                                                               9

Da die Begleitung der Bewohnerinnen und Bewoh-          Angesichts der in allen Bundesländern wachsenden
ner im Alltag in WPGen überwiegend durch Perso-         Bedeutung und der steigenden Anzahl von WPGen
nen aus Berufsgruppen mit betreuendem und haus-         als alternative Wohn- und Versorgungsform für
wirtschaftlichem Schwerpunkt erfolgen kann, wird        Menschen mit Pflegebedarf halten wir eine stärkere
außerdem ein gezielter Einsatz von Pflegefachkräfte     Berücksichtigung sowohl in der geplanten Pflege-
möglich. Mit Blick auf den Fachkräftemangel in der      reform als auch in der Forschung für notwendig und
Pflege ist auch dies ein wichtiger Aspekt.              angemessen.
                                                        Berlin, 11.05.2021
Aus Sicht der Fach- und Koordinationsstellen ist
neben der geplanten Reduzierung der Eigenantei-
le in stationären Einrichtungen eine ausdrückliche
Berücksichtigung der ambulant betreuten Wohn-
Pflege-Gemeinschaften in einer Pflegereform erfor-
derlich. Es bedarf entsprechender Instrumente und
                                                        Fussnote
leistungsrechtlicher Regelungen, um diese Wohn-         1
                                                          - Franken, G. (2017). Wohnen im Alter. Wohnpräferenzen von
form bei gleichbleibend hoher Qualität nachhaltig fi-   Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Herausgeber: Univer-
nanzierbar und für alle Interessierten zugänglich zu    sität Witten/Herdecke; Dialog- und Transferzentrum Demenz
machen. Denkbar wäre etwa eine Anpassung des            (DZD). Witten.
Wohngruppenzuschlags nach § 38a SGB XI oder             -
                                                          Klie, T., Heislbetz, C., Schuhmacher, B. et. al (2017).
die Verankerung von ergänzenden spezifischen            Ambulant betreute Wohngruppen. Bestandserhebung, qualita-
                                                        tive Einordnung und Handlungsempfehlungen. Abschlussbe-
leistungsrechtlichen Regelungen zur Deckung von
                                                        richt. Herausgeber: Bundesministerium für Gesundheit. Bonn.
Betreuungskosten in ambulant betreuten Wohnge-
                                                        - Kremer-Preiß, U., Hackmann, T. (2018). Modellprogramm
meinschaften.                                           zur Weiterentwicklung neuer Wohnformen nach § 45f SGB XI.
Ergänzend halten wir eine Verbesserung der Stu-         Konzeptionelle Grundlagen und methodische Vorgehensweise
dienlage zur Wirksamkeit von WPGen sinnvoll und         der wissenschaftlichen Begleitung. Kuratorium Deutsche Al-
                                                        tershilfe; Prognos AG. Freiburg/Köln.
notwendig: Aktuell vorliegende sowie ältere Stu-
                                                        - Rothgang, H., Wolf‐Ostermann, K., Schmid, A., Domhoff,
dien1 reflektieren zum Beispiel strukturelle Unter-
                                                        D., Müller, R., Schmidt, A. (2017). Ambulantisierung statio-
schiede, identifizieren Mängel zwischen Anspruch        närer Einrichtungen und innovative ambulante Wohnformen.
und Wirklichkeit einer WPG oder geben allgemeine        Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für
Hinweise zur Verbesserung von Qualität.                 Gesundheit, Bonn.
Wünschenswert wären Studien2 mit konkreten For-         - Wolf-Ostermann, K., Gräske, J., Worch, A., Meyer, S. (2015).
schungsdesigns bzgl. Lebens-, Wohn- und Versor-         Expertise zur Bewertung des Versorgungssettings ambulant
gungsqualität in WPGen. Analog sei an dieser Stelle     betreuter Wohngemeinschaften unter besonderer Berücksich-
zum Beispiel verwiesen auf Studien, die belegen,        tigung von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz.
                                                        Alice Salomon Hochschule Berlin.
dass „Psychische Belastungen und Beanspruchun-
                                                        - Wolf-Ostermann, K., Kremer-Preiß, U., Hackmann, T. et.al
gen der Mitarbeitenden“ in WPGen deutlich gerin-
                                                        (2018). Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes und von
ger sind als in stationären Pflegeeinrichtungen.        Instrumenten zur internen und externen Qualitätssicherung
Die Empfehlungen der Autoren weisen darauf hin,         und Qualitätsberichterstattung in neuen Wohnformen nach §
dass dieses Versorgungssegment nicht nur den Mit-       113b Abs. 45 SGB XI. Abschlussbericht. Hrsg.: Universität
arbeitenden im Anspruch auf personenbezogenes           Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP);
Arbeiten mehr Zufriedenheit verschafft, sondern         Kuratorium Deutsche Altershilfe; Prognos AG. Bremen/Köln/
                                                        Freiburg.
auch, dass die Lebens- und Versorgungsbedingun-
gen in WPGen bei den Bewohnenden zu großer Zu-
                                                        2
                                                          Vgl.: Werner, B. & Leopold, D. (2020). Psychische Belastun-
                                                        gen und Beanspruchungen der Mitarbeitenden in der Langzeit-
friedenheit führen.
                                                        pflege Demenzkranker. Mental stress and strain of employees
                                                        in long-term nursing of dementia patients: Ambulant betreute
                                     AK BAG             Demenz-Pflegewohngemeinschaften vs. segregative Demenz-
      Fach- und Koordinationsstellen der Länder         Wohnbereiche in der stationären Altenpflege. Zeitschrift für
                                                        Gerontologie und Geriatrie (52).
                  Website: www-wg-qualitaet.de
Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
10
                                                                                              Kontext
                                                                           Konzepte, Impulse, Entwicklungen

                      Kasernierung alter Menschen in Zeiten von Corona.
                               Eskalation eines alten Musters
                                        Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt

 Ich fokussiere zuspitzend in diesem kurzen, dich-        Die COVID-19-Pandemie (Sars-CoV-2) bringt die
 ten Text auf die Situation hochaltriger Menschen         Gesellschaft in einen fundamentalen Zielkonflikt.
 im Pflegeheim als ein Ort des Wohnens und widme          Einerseits gilt die Sorge explizit dem Schutz vulne-
 mich der Frage, was in der Corona-Krise an und mit       rabler Gruppen und insbesondere dem hohen Alter.
 diesen Menschen geschah. Pflegeheime sollen ei-          Die bedeutsame Wertigkeit dieser Dimension des
 gentlich Orte des alltäglichen Lebens und normalen       sozialen Geschehens steht außer Frage! Anderer-
 Wohnens sein, de facto aber bestimmen mehr denn          seits jedoch werden Menschen im hohen Alter, zu-
 je Schutz und Sicherheit statt sozialer Kontakte die     gespitzt, aber deshalb nicht falsch formuliert, in den
 Wirklichkeit der Bewohner*innen.                         Pflegeheimen verstärkt dem »sozialen Tod« infolge
                                                          von sozialen Ausgrenzungen ausgesetzt.
 In den Pflegeheimen wird der alte Mensch zur Ver-
 schlusssache. Dieses Phänomen ist nun jedoch zu          Die Vermeidung des biologischen Todes wird teu-
 verstehen als Eskalation eines ohnehin traditionel-      er erkauft mit dem sozialen Tod. Die soziale Wirk-
 len, also lange schon wirksamen, Strukturproblems        lichkeit, trotz der seit längerer Zeit beobachtbaren
 des Pflegesektors unter Corona-Bedingungen. Co-          Differenzierung und der sich langsam, und eben
 rona hatte die Dichteform der Isolierung des Woh-        auch widerspruchsvoll herausbildenden Vielfalt der
 nens in stationären Settings in gesteigerter Form        Lebenswelt „Heim“, sieht oftmals anders aus als die
 auf die Spitze getrieben. Die aktuelle Krise hält uns    Normvorstellungen unserer Rechtswelt es vorsehen.
 als Gesellschaft den Spiegel vor, dass die Transfor-     Es geht daher um die Erfahrung einer im Lichte des
 mation der Wohnformen im Alter als Normalisierung        Gerechtigkeitsempfindens schmerzhaften Differenz,
 der Form des sozialen Daseins mit den Dimensionen        auf die sich bereits die lange Geschichte des Rück-
 von Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilha-        baus „totaler Institutionen“ der anstaltsförmigen
 be nicht gelungen ist.                                   Orte der sozialen Ausgrenzung als kritische Refle-
                                                          xion der Institutionalisierung und Hospitalisierung
 Grundrechtsverletzungen im Pflegeheimsektor und          bis heute bezieht.
 ihre Eskalation unter Corona-Bedingungen
                                                          Die in der Corona-Situation nochmals in gesteiger-
 Normalität meint hier ein Verständnis von Wohnen         ter Form praktizierte pauschale Stigmatisierung der
 als Ort des alltäglichen Lebens, das die moderne         Schutzbedürftigkeit der vulnerablen Gruppe der „Al-
 Gesellschaft in einem normativen Sinne für sich          ten“ kappt die gerade erst im langsamen und wider-
 selbst reklamiert. Diese Normalitätsvorstellung ist      spruchsvollen Wachstum befindliche Sozialraumöff-
 geprägt von der Haltung, Autonomie und der Parti-        nung der Heime, die an das normale Wohnen und
 zipation als Merkmale dieses Lebens seien uns wich-      Leben im Quartier und somit im Kontext von Nach-
 tig, mit guten Gründen geradezu heilig: Gemeint ist      barschaft als lokale sorgende Gemeinschaften an-
 die Würde der Person, mit Blick auf die praktische       knüpft.
 Erlebbarkeit definiert über die Dimensionen von
 Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilhabe.
 Diese Auffassung ist grundrechtstheoretisch fun-
 diert und mehrschichtig verankert und verschach-
 telt im Völkerrecht der UN, in der Grundrechtscharta
 der Unionsbürgerschaft in der EU, im bundesdeut-
 schen Verfassungsrecht in Art. 1 und 2 GG, in den
 Sozialgesetzbüchern (vgl. § 1 SGB I) und in den
 Gesetzgebungen der Länder, dort in den Wohn- und
 Teilhabegesetzen.
Kontext                                                                                                             11
Konzepte, Impulse, Entwicklungen

Abgründige Hintergründe?                                 Literatur
Was treibt diese Verfehlung der Normalität im Heim-      Schulz-Nieswandt F (2020) Zur Bedeutung der Psycho-
leben an? Ist es eine von den Affektordnungen der        dynamik für die Sozialpolitik des Alter(n)s in Forschung
Angst und des Ekels geprägte Kultur des Umgangs          und reflexiver Praxis. Psychotherapie im Alter 17 (3):
mit dem hohen Alter? Wird das hohe Alter wahr-           355-365.
genommen als dem Tod geweihter Verfall von Geist         Schulz-Nieswandt F (2021) Kommunale Pflegepolitik als
und Körper? Geht es um Andersheit und Fremdheit?         sozialraumorientierte Daseinsvorsorge. Konturen einer
                                                         Vision. In Jacobs K u. a. (Hrsg) Pflege-Report 2021.
Um das Monströse? Geht es um Geruch? Um Häss-
                                                         Springer, Berlin: S. 219-229.
lichkeit? Befremdet uns die an die übliche Sprache
                                                         Schulz-Nieswandt F (2021) Die Würde der Person: als
gebundene Unverstehbarkeit des Menschen mit
                                                         Naturrecht tabu, empirisch vulnerabel. Case Manage-
Alzheimer-Demenz? Wird der alte Mensch vielleicht        ment 18 (2): S. 57-65.
selbst als gefährlicher Keimträger stigmatisiert?
                                                         Schulz-Nieswandt (2021) Abschied von der „Kasernie-
In unserer Zivilisationsstufe hat sich auch schon        rung“ Ein Kulturwandel in der Langzeitpflege ist nötig.
längst und unabhängig von Corona im Umgang mit           Dr. med. Mabuse 253 (Sept./Okt.): 28-30.
dem alten Menschen ein Muster sozialer Ausgren-
zung herausgebildet, wodurch Altenheime an einem
panoptischen Quarantänemodell orientiert erschei-
nen. Nun kam Corona als eine neue Stufe dieser                Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt
alten Herausforderung ins Spiel.
                                                              Universität zu Köln
Das Risikomanagement von Corona läuft nicht wie
                                                              E-Mail: schulz-nieswandt@wiso.uni-koeln.de
im Fall des normalen Alltags der informell (familial,         Website: www.uni-koeln.de
nachbarschaftlich, bürgerschaftlich) und formell/
professionell (infrastrukturell) vernetzten privaten
Häuslichkeiten und gemeinschaftlichen Formen pri-
vaten Wohnens ab.

Versäumnisse, Schuld, Verantwortung
Die »Schuld« der Gesellschaftspolitik – und damit
aller Bürger*innen, nicht nur, ihrer Träger – liegt in
der über lange Zeit nicht wirklich gewollten Trans-
formation der Wohnformen im Alter als Normali-
sierung der Form des sozialen Daseins. Das ist die
Schuld des Versäumnisses. Denn die Gesellschaft ist
in Bezug auf die Würde des älteren und alten Men-
schen nicht wirklich gut aufgestellt.
Die durchaus vermeidbare oder zumindest redu-
zierbare Schuld liegt vielmehr in dem angesproche-
nen »Versäumnis« mit Blick auf die über lange Zeit
scheinbar nicht ernsthafte gewollte oder auch nicht
gekonnte Transformation der Wohnformen im Alter
als Normalisierung der Form des sozialen Daseins.
Corona hat die Dichteform der Kasernierung der
„Alten“ eskalierend nur noch in gesteigerter Form
auf die Spitze getrieben. Auf die Zukunft gerichtet
kristallisiert sich eine »Verantwortung« heraus: Das
Versäumte muss nachgeholt werden. Der sozialen
Wirklichkeit der Pflegelandschaft im Alter ist ein an-
derer Geist einzuhauchen, damit ihre kranke Seele
gesundet.
12
                                                                                               Kontext
                                                                           Konzepte, Impulse, Entwicklungen

     Altern in Zeiten von Corona - Anmerkungen zum Verhältnis von Person und Wohnumwelt
                            zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung
                                             Prof. Dr. Frank Oswald

 Dieser Beitrag basiert auf einem Text zu Austausch-      Allerdings wurde auch von Beginn an vor einer vor-
 prozessen zwischen älter werdenden Menschen und          schnellen und pauschalen Stigmatisierung gewarnt
 ihren räumlich-sozialen Umwelten während der CO-         (Ayalon et al., 2020; Schwedler et al., 2020). Mittler-
 VID-19-Pandemie (Oswald, 2020). Dem zugrunde             weile wird dies grundsätzlich für alle Lebenskontexte
 liegt eine langjährige Beschäftigung mit dem Ver-        auch als mögliche Bedrohung von Menschenrechten
 hältnis von Person und sozial-räumlicher Umwelt im       älterer Menschen angesichts der COVID-19-Pan-
 höheren Alter aus Sicht der ökologischen Geronto-        demie diskutiert (Pantel, 2021). Mit dem weiteren
 logie und insbesondere neueren Zugängen daraus           Verlauf der Pandemie änderte sich zum einen die
 (z.B. Chaudhury & Oswald, 2019; Oswald & Wahl,           empirische Datenlage (z.B. Gaertner et al., 2021),
 2019; Wahl & Oswald, 2016).                              zum anderen aber auch die Perspektive auf Men-
                                                          schen im höheren Alter, weg vom Blick durch die
 Alte Menschen verbringen im Durchschnitt zwar viel
                                                          Brille der Risikogruppe hin zum intergenerationellen
 Zeit in ihren Wohnungen und im unmittelbaren Um-
                                                          Austausch. So zeigen Befunde zu Belastungen und
 feld, wenngleich es individuelle Unterschiede und
                                                          Resilienz älterer im Vergleich zu jüngeren Menschen
 Kohorteneffekte gibt. Dies darf aber nicht vorschnell
                                                          eine relativ größere Belastung in jungen Jahren (z.
 als Rückzug ins Private gedeutet werden. Vielmehr
                                                          B. Andresen et al., 2020) und Formen adaptiver An-
 muss Wohnen eingebettet in Nachbarschaft, Quar-
                                                          passungsstrategien im höheren Alter (z. B. Fuller
 tier und kommunale Kontexte betrachten werden
                                                          & Huseth-Zosel, 2021). Zudem verweist u. a. der
 und ist damit auch Ausdruck intergenerationeller
                                                          Zukunftsreport Wissenschaft „Forschung für die
 Partizipation. Zudem soll ausdrücklich darauf ver-
                                                          gewonnenen Jahre“ der Nationalen Akademie der
 wiesen werden, dass Wohnen nicht auf Formen
                                                          Wissenschaften ‚Leopoldina‘ darauf, dass das „dis-
 des Privatwohnens begrenzt werden darf, sondern
                                                          ruptive Element der Pandemie“ auch Chancen birgt,
 auch bedeutsam ist für ein Leben im institutionellen
                                                          weil „Routinen und Gewissheiten infrage gestellt
 Kontext (z.B. Claßen et al., 2014; Oswald & Wahl,
                                                          und neue gestalterische Kräfte im gesellschaft-
 2016).
                                                          lichen, wissenschaftlichen und politischen Raum
                                                          mobilisiert werden“ (Beilage Covid-19 zum Bericht
 1. Anmerkungen zum veränderten Person-Umwelt-
                                                          2020, S.1; Sattersten et al., 2020).
 Verhältnis in Zeiten von Corona
 Veränderungen im Verhältnis zwischen älteren Men-
                                                          Die Pandemie kann mit Blick auf das Person-Umwelt-
 schen und ihrer sozial-räumlichen Umwelt während
                                                          Verhältnis als Anlass eines Perspektivwechsels ver-
 der Pandemie müssen differenziert betrachtet wer-
                                                          standen werden. Ausgang des Perspektivwechsels
 den, zum einen mit Blick auf den Verlauf der Pande-
                                                          ist die Konfrontation mit extern bedingten Verände-
 mie, zum anderen hinsichtlich der vielfältigen Aus-
                                                          rungen von Gewohntem, sicher Geglaubtem, als un-
 tauschprozesse und Folgen. Einerseits waren ältere
                                                          verrückbar Angenommenem im Verhältnis zwischen
 Menschen von pandemiebedingten Einschränkun-
                                                          der eigenen Person und der sozial-räumlichen Welt,
 gen zunächst besonders betroffen. Da Ältere eine
                                                          ja sogar im Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit. Le-
 deutlich höhere Vulnerabilität für eine SARS-CoV-
                                                          benslang eingeübte Praktiken und teilweise liebge-
 2-Infektion aufweisen, war ihre wirksame Abschir-
                                                          wonnene, automatisierte und „verleiblichte“ Hand-
 mung vor Ansteckungsrisiken ein Kernbestandteil
                                                          lungsroutinen müssen geändert werden. Dies reicht
 des Krisenmanagements vieler Länder (Armitage &
                                                          vom unmittelbaren Bereich der Mikro-Umwelt des
 Nellums, 2020). Früh gab es auch bereits Hinweise
                                                          eigenen „Personal Space“ oder des „peripersonalen
 auf mögliche gesundheitliche Folgewirkungen, ins-
                                                          Raums“, einer persönlichen Pufferzone um den Kör-
 besondere psychische Erkrankungen (wie Depres-
                                                          per herum, über die Nahumwelt der eigenen vier
 sionen und Angststörungen), infolge von sozialer
                                                          Wände bis hin zur Meso- oder Makro-Umwelt des
 Isolation und Einsamkeit (Huxold & Tesch-Römer,
                                                          nachbarschaftlichen Quartiers und darüber hinaus.
 2021; Seifert & Hassler, 2020; Thomas & Kim,
 2021), vor allem bei alleinlebenden älteren Men-
 schen (Fingerman et al., 2021).
Kontext                                                                                                        13
Konzepte, Impulse, Entwicklungen

Veränderungen im Umgang mit dem eigenen                   Gewohnte Formen alltäglicher Berührung und so-
Körper                                                    zialer Nähe sind aber nicht mehr selbstverständlich,
Menschen jeden Alters mussten Verhaltensrouti-            sondern zumindest temporär verbannt aus unserem
nen der Körperreinigung und Hygiene umlernen.             lebenslang eingeübten Handlungsrepertoire oder
Richtiges Händewaschen und richtiges Niesen oder          auf den Haushalt beschränkt. Alltägliches Handeln
Husten in die Armbeuge betreffen Routinen in der          und Erleben im Kontext sozialer und räumlicher Um-
Beziehung zur Leiblichkeit. Das Tragen eines Mund-        welt verändert sich und folgt neuen Regeln. Manche
Nase-Schutzes findet im „Personal Space“ statt und        halten es besser aus, manche schlechter, insbeson-
verändert das Gesicht, das Aushängeschild der Per-        dere alleinlebende ältere Menschen (Fingerman et
sönlichkeit, verhindert die Sichtbarkeit von Emotio-      al., 2021) und besonders alleinlebende Menschen
nen (wie Lächeln), entstellt die eigene Stimme und        in Heimen und/oder mit kognitiven Einbußen leiden
erschwert die Kommunikation. Daneben treten im            und die Folgen körperlicher Isolation und fehlender
neuen Distanz-Alltag aber auch Gewöhnungseffekte          Zuwendung waren auch vor Corona bereits gut be-
ein, bahnen sich neue, teilweise kollektive Routinen      legt (Spitzer, 2018). Die Abwägung des Schutzes
an im Umgang mit „Masken“ und neuen Anlässen              vor viraler Bedrohung und des Schutzes vor Folgen
für Gespräche auf Abstand in der Schlange vor der         durch Isolation muss aber weit über eine ökoge-
Eisdiele, im Supermarkt, oder an der Haltestelle.         rontologische Perspektive hinaus diskutiert werden
Veränderungen im „Personal Space“ infolge einer           (z.B. Schulz-Nieswandt, 2020).
Covid-19 Erkrankung sind, ebenfalls unabhängig
vom Lebensalter, aber besonders häufig bei Perso-         Veränderungen im Umgang mit der sozialräum-
nen im sehr hohen Alter, ungleich drastischer bis         lichen Umwelt
hin zum Tragen von Atemmasken und womöglich               Schließlich verändert die Distanzregel sozial-räum-
Körpergrenzen überschreitenden Eingriffen wie In-         liche Dichte in Alltagssituationen. Als Beispiel seien
tubation und Beatmung, die bewusst nicht zu er-           verändert wahrgenommene Raumqualitäten ge-
tragen ist und deren psychische Folgen neben den          nannt – was empfinden wir als eng und voll, was als
körperlichen langwierig sind, von derzeit unabseh-        angemessen? Begegnungen im öffentlichen Raum
baren Folgen von „Long Covid“ ganz zu schweigen.          werden neu „bemessen“ und Distanzen bewusst
                                                          eingehalten oder je nach aktueller Regelung herge-
Veränderungen im Umgang mit anderen Menschen              stellt oder renitent unterschritten. Vergleichbar be-
Von den vielen alltäglichen Veränderungen im Ver-         sonders vulnerablen, häufig älteren Menschen mit
hältnis zu Anderen, dem sogenannten „Social“,             Mobilitätseinbußen im dichten öffentlichen Raum
eigentlich besser „Physical Distancing“, den neuen        finden wir uns plötzlich alle in einem potentiellen
Regeln sozialen Miteinanders, sei das Thema der           Bedrohungsszenario wieder, in dem wir anderen,
fehlenden körperlichen Berührung herausgegriffen.         uns entgegenkommenden Menschen begegnen.
Wie z.B. Jean-Luc Nancy schon früh in der Pande-          Mit Zurücknahme der Distanzregeln werden Ab-
mie in einem Interview betont, ist Berührung „nie         stände wieder unsicher und wer die Distanzen ein-
nur körperlich. Sie ist auch seelisch oder spirituell.“   halten möchte larviert mitunter etwas „zwanghaft“
(Nancy, 2020). Anders als das Sehen spielt sich das       durch die Fußgängerzonen. Temporäre öffentliche
Fühlen in der Nähe, im Kontakt ab und verbindet           Arrangements, wie Stadien, Konzerte oder Wochen-
sich mit allen anderen Sinnen. Sehen ohne Fühlen,         märkte, zeigen, wie wandlungsfähig stabil geglaub-
so Nancy, bleibt leer. Gesellschaftliches Überleben       te Ordnungen sind. Neue räumliche Distanzen im
hängt seiner Ansicht nach letztlich sogar davon ab,       öffentlichen Leben wirken ambivalent, einerseits
ob wir Orte der Nähe und Berührung schaffen, oder,        schwer erträglich durch fehlende Enge und Stim-
angesichts von Corona, erhalten und uns nach der          mung, andererseits angenehm aufgrund von Ge-
Pandemie wieder zurückerobern (vgl. auch Thom-            räumigkeit.
as & Kim, 2021). Menschliche Berührung kann
auch bedrohlich sein (s. dazu weiter unten), in der
Regel aber ist sie, z.B. als Händedruck oder Um-
armung, Ausdruck gelebter Beziehung, von Nähe,
Zuneigung, Trost, Freude, Anerkennung und somit
lebensnotwendig.
14
                                                                                            Kontext
                                                                         Konzepte, Impulse, Entwicklungen

 2. Wohnen im Alter in Zeiten von Corona bei guter      Mit Blick auf das Verhältnis von Hilfebedarf und
 Gesundheit und bei Unterstützungsbedarf                Unterstützungsangeboten veröffentlichte die Kör-
 Die eigene Häuslichkeit und das Wohnquartier sind      ber-Stiftung im April 2020 im Online-Magazin Kom-
 Orte, an denen ältere Menschen, ganz unabhängig        munal.de, dass Hilfsinitiativen für ältere Menschen
 von ihrem Gesundheitszustand, im Durchschnitt oh-      oft damit konfrontiert sind, dass viele der vermeint-
 nehin viel Zeit verbringen. Der uns allen zunächst     lichen Adressaten*innen diese gar nicht haben woll-
 auferlegte Rückzug ins Private passte daher für        ten (https://kommunal.de/corona-senioren).
 Menschen höheren Alters, so wurde argumentiert,
                                                        Zahlreiche Beispiele zeigten, dass kommunale Struk-
 eigentlich gut zum gewohnten Alltagsrhythmus,
                                                        turen besonders dann gut funktionierten, wenn sie
 anders als bei Kindern das Home-Schooling oder
                                                        bereits vorher etabliert, niedrigschwellig, zugehend,
 bei Menschen im Erwerbsleben das Home-Office.
                                                        kleinteilig und quartiersbezogen verankert waren.
 Räume wie Balkone oder Hausflure erfuhren eine
                                                        Dass ältere Menschen zu Hause bleiben mussten
 veränderte Wahrnehmung als sichere Räume für
                                                        hatte aber nicht nur Folgen für sie selbst, es machte
 selbstbestimmte soziale Partizipation auf Distanz.
                                                        auch die Leistungen sichtbar, die sie ansonsten für
 Aber nicht jede Wohnung war und ist groß genug,
                                                        die Gesellschaft erbringen – von der Enkelbetreu-
 um sich darin lange Zeit aufzuhalten.
                                                        ung bis zum ehrenamtlichen Engagement. Ungefähr
 Wer allerdings im höheren Alter über genügend
                                                        ein Drittel der Tafeln (jedenfalls in Hessen) wurde
 Raum als Ressource – neben anderen Ressourcen
                                                        geschlossen, weil der Großteil der ehrenamtlichen
 wie Gesundheit, Finanzen, einem sozialen Netz-
                                                        Helfenden als „ältere Menschen“ zur Risikogruppe
 werk – verfügt, kann und kommt mit der Pande-
                                                        gehört. Zudem ergeben sich Herausforderungen im
 mie im Alltag womöglich sogar besser zurecht, als
                                                        Austausch mit anderen Generationen. Dazu gehört
 zunächst vermutet. Frühe Befragungen, wie jene
                                                        neben der Organisation nachbarschaftlicher Hilfe
 vom Mai 2020 in der deutschsprachigen Schweiz
                                                        die Aufgabe, soziale Nähe durch Technik auf Distanz
 zeigte bereits, dass sich unter den knapp 9000 be-
                                                        herzustellen (Seifert et al., 2020).
 fragten Personen, jene im Alter ab 65 Jahren im
 Vergleich zu jüngeren Menschen als weniger vulne-      Ein weiteres wichtiges Thema der Sicherheit, be-
 rabel und psychisch stabiler erwiesen (https://www.    reits lang vor Corona, war und ist die möglichst frü-
 tagesanzeiger.ch/wer-am-staerksten-unter-der-krise-    he Vermeidung von Gewalt in der häuslichen Pflege.
 litt-265227725158).                                    Dazu liegen aus einem Projekt der Goethe-Univer-
 Forschende der Stiftung Gesundheitsförderung           sität Empfehlungen für Praxis und Gesetzgebung
 Schweiz führen dies u.a. darauf zurück, dass Ältere    vor (Konopik et al., 2021; Schwedler et al., 2020).
 mehr Erfahrung mit Ausnahmesituationen haben,          Kritische häusliche Pflegesituationen verschärften
 die Jüngeren fehlen. Zurückgeworfen zu sein auf        sich aber nochmals durch die Begrenztheit auf das
 das Private kann aber im Falle von Ressourcenar-       Private, ohne dass angemessen geholfen wurde.
 mut auch bedeuten, der Angst vor Ansteckung und        Schwierig ist dies auch, weil die häusliche Pflege
 der Isolation gleichermaßen ausgesetzt zu sein.        weitgehend abgeschirmt erfolgt. Zusätzlich erlas-
 Insbesondere für hochbetagte alleinlebende ältere      sene Kontaktsperren führten mutmaßlich zu einem
 Menschen erhöhte sich das Risiko von Einsamkeit        weiteren Rückgang vorhandener Unterstützungs-
 und Depressivität (Huxold & Tesch-Römer, 2021;         möglichkeiten (z.B. Beratungsangebote, Pflegebe-
 Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2021). Und         ratungseinsätze, Einstufung der Pflegebedürftig-
 auch wenn eine Meta-Analyse mit Daten aus 21           keit) und zu einer weitergehenden Isolierung der
 Ländern belegen konnte, dass die Suizidrate in den     Betroffenen. Diese einschränkenden Maßnahmen
 ersten Monaten der Pandemie nicht systematisch         führen sowohl für die pflegenden Angehörigen als
 anstieg, so warnen die Autoren dennoch gleichzeitig    auch für die Pflegebedürftigen zu einer erheblichen
 vor Spätfolgen in dieser Hinsicht wenn sie postulie-   Einbuße im alltäglichen Leben. Für den pflegen-
 ren „We need to remain vigilant and be poised to       den Angehörigen ist dies unter Umständen kaum
 respond if the situation changes as the longer-term    zu ertragen. Der Kontakt zur Außenwelt stellt näm-
 mental health and economic effects of the pande-       lich einen wichtigen Schutzfaktor im Umgang mit
 mic unfold.” (Pirkis et al., 2021).                    schwierigen Pflegesituationen dar, da der Kontakt
                                                        zu Anderen ein Ventil für den Umgang mit schwieri-
                                                        gen Pflegesituationen bieten kann.
Kontext                                                                                                              15
Konzepte, Impulse, Entwicklungen

Da nun alle diese Möglichkeiten wegfallen, wohl-        Literatur
gemerkt zum Schutz der Betroffenen, können              Andresen, S., Lips, A., Möller, R., Rusack, T., Schröer,
eben diese „Schutzmaßnahmen“ auch zum Gegen-            W., Thomas, S., & Wilmes, J. (2020). Erfahrungen und
teil führen. Zu den genannten Empfehlungen der          Perspektiven von jungen Menschen während der Co-
Autoren*innen gehören die Einleitung öffentlicher       rona-Maßnahme. Erste Ergebnisse der bundesweiten
Kampagnen zum Schutz vor Gewalt, die Bekannt-           Studie JuCo. Universitätsverlag Hildesheim: Eigenver-
                                                        lag. doi: 10.18442/120
machung von Pflegenotrufnummern oder die Inan-
spruchnahme von entlastenden Hilfen.                    Armitage, R., Nellums, L.B. (2020): COVID-19 and the
                                                        consequences of isolating the elderly. The Lancet Public
Auf den Bereich des Wohnens im Heim wurde an            Health 5.
anderer Stelle ausführlich eingegangen (z.B. Ben-       Ayalon, L., Chasteen, A., Diehl, M., Levy, B. R., Neu-
zinger et al., 2021; Pantel, 2021). Hier spitzte sich   pert, S. D., Rothermund, K., Tesch-Römer, C., & Wahl,
die Lage zunächst extrem zu durch Aufnahme-             H.-W. (2020). Aging in times of the COVID-19 pande-
stopps, Segregation und mangelhafte Ausrüstung          mic: Avoiding ageism and fostering intergenerational
                                                        solidarity. The Journals of Gerontology: Psychological
sowie durch Hilflosigkeit im Umgang mit Isolation
                                                        Sciences, XX, 1-4. https://doi.org/10.1093/geronb/
und Einsamkeit am Lebensende. Erschwerend war           gbaa051
zudem, dass sich Menschen mit Demenz die Not-
                                                        Benzinger, P., Kuru, S., Keilhauer, A., Hoch, J., Prestel,
wendigkeit einer körperlichen Distanzierung nicht       P., Bauer, J. M., & Wahl, H. W. (2021). Psychosoziale
erschließt und sie Zuwendung brauchen.                  Auswirkungen der Pandemie auf Pflegekräfte und Be-
Ganz zu schweigen von zunächst fehlenden (ethi-         wohner von Pflegeheimen sowie deren Angehörige –
schen) Regelungen zu Nähe und Distanz am Le-            Ein systematisches Review. Zeitschrift fur Gerontologie
bensende bei an Covid-19 Sterbenden. So wurden          und Geriatrie, 54(2), 141–145. https://doi.org/10.1007/
über viele Jahre mühsam erkämpfte Bestrebun-            s00391-021-01859-x
gen nach Autonomie und Selbstbestimmung auch            Chaudhury, H., & Oswald, F. (2019). Advancing under-
im Heimkontext häufig vorschnell dem Primat des         standing of person-environment interaction in later life:
                                                        One step further. Journal of Aging Studies, 51, XXX-
Schutzes vor der Virusgefahr untergeordnet und die      XXX. https://doi.org/10.1016/j.jaging.2019.100821
damit einhergehende enorme und ebenfalls lebens-
                                                        Claßen, K., Oswald, F., Doh, M., Kleinemas, U., & Wahl,
bedrohliche Isolationsgefahr in Kauf genommen
                                                        H.-W. (2014). Umwelten des Alterns: Wohnen, Mobilität,
(Pantel, 2021).                                         Technik und Medien. In der Reihe „Grundriss Geronto-
Umso erstaunlicher sind die Befunde einer Be-           logie“. Stuttgart: Kohlhammer.
fragung zum Alltagserleben und zur Zukunftsbe-          Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e.V.
wertung von Bewohnerinnen und Bewohnern aus             (Hrsg.) (2020). Zukunftsreports Wissenschaft: For-
                                                        schung für die gewonnenen Jahre. Zukunft der Alterns-
zwei Frankfurter Pflegeheimen während der ersten
                                                        und Lebensverlaufsforschung.
strengen sechswöchigen Kontaktsperre der Pande-
                                                        Fingerman, K. L., Ng, Y. T., Zhang, S., Britt, K., Colera,
mie. Ihre Berichte spiegeln eine Vielfalt und Diffe-
                                                        G., Birditt, K. S., & Charles, S. T. (2021). Living alone
renziertheit des Erlebens wider, die erst vor dem       during COVID-19: Social contact and emotional well-
Hintergrund weiter zurückliegender eigener biogra-      being among older adults. Journals of Gerontology:
phischer Erlebnisse verständlich werden. Aus ihren      Social Sciences, 76(3), e116–e121, DOI:
Antworten geht zudem hervor, wie wichtig die ers-       https://10.1093/geronb/gbaa200
ten Lockerungen der Kontaktsperre für ihr Alltags-      Fuller, H. R., & Huseth-Zosel, A. (2021). Lessons in
erleben waren, wo und wie sie gegen Regelungen          Resilience: Initial coping among older adults during the
zur Eindämmung der Pandemie vorgingen, aber             COVID-19 pandemic. Gerontologist, 61(1), 114-125,
                                                        doi: 10.1093/geront/gnaa170
auch, wie sie ihre Wünsche für die Zukunft jen-
seits ihrer eignen Bedürfnisse und gesundheitlichen     Gaertner, B., Fuchs, J., Möhler, R., Meyer, G., &
                                                        Scheidt-Nave, C. (2021). Zur Situation älterer Men-
Einbußen in Bezug auf nachfolgende Generationen
                                                        schen in der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie:
formulierten (z.B. globaler Frieden, Umweltschutz)      Ein Scoping Review. Journal of Health Monitoring,
(Leontowitsch et al., 2021).                            6(S4), 2-39. DOI: https://10.25656/7856
                                                        Huxhold, O., & Tesch-Römer, C. (2021): Einsam-
                    Prof. Dr. Frank Oswald              keit steigt in der Corona-Pandemie bei Menschen im
      Interdisziplinäre Alternswissenschaft (IAW)       mittleren und hohen Erwachsenenalter gleichermaßen
           Goethe-Universität Frankfurt am Main         deutlich. DZA Aktuell 4/2021
             E-Mail: oswald@em.uni-frankfurt.de
                     Website: www.uni-frankfurt.de
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