Wohn-Pflege-Gemeinschaften - Bundesweites Journal für
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Bundesweites für Journal Wohn-Pflege-Gemeinschaften Ausgabe Nr. 9 Dezember 2021 im Fokus Qualität in Wohn-Pflege-Gemeinschaften: Gut versorgt Wohnen - Balance zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung 1 1 2 2 3 Freunde alter Menschen e.V. les petits frères des Pauvres 4 3 5 5 6 4 7 6 7 8 9 10 8 10 9
2 Bundesweites Journal für Wohn-Pflege-Gemeinschaften Ausgabe Nr. 9, Dezember 2021 Herausgeber: Redaktion: Hamburger Koordinationsstelle für Mascha Stubenvoll und Ulrike Petersen Wohn-Pflege-Gemeinschaften Für den Inhalt ihrer Texte sind grundsätzlich die STATTBAU HAMBURG Autorinnen und Autoren verantwortlich. Stadtentwicklungsgesellschaft mbH Gestaltung: Sternstraße 106, 20357 Hamburg Telefon.: 040 - 43294223 Mascha Stubenvoll E-Mail: koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de Druck: Website: www.stattbau-hamburg.de a&c Druck und Verlag GmbH, Hamburg KIWA - Koordinationsstelle für innovative Auflage: Wohn- und Pflegeformen im Alter 500 Stück im Nordkolleg Raiffeisenstraße 1-3, 24768 Rendsburg Telefon: 04331/ 14 38 63 E-Mail: post@kiwa-sh.de Website: www.kiwa-sh.de Das bundesweite Journal für Wohn-Pflege-Gemeinschaften erscheint in gedruckter Form und als Online-Information. Die aktuelle Ausgabe liegt in den Koordinationsstellen aus. Versandverfahren Bei Interesse können Sie dieses Journal in Druckform erhalten. Bitte senden Sie für eine Broschüre einen mit 1,60 € frankierten und adressierten DIN A4 Umschlag an: STATTBAU HAMBURG Stadtentwicklungsgesellschaft mbH Sternstraße 106 20357 Hamburg Weitere Informationen: Die Website WG-Qualität.de bietet eine Plattform für die Qualitätsdiskussion rund um ambulant betreute Wohngemeinschaften nicht nur für Menschen mit Demenz. Auß erdem finden Sie spezifische Informationen zu Wohn-Pflege-Gemeinschaften für die einzelnen Bundesländer auf sogenannten Länderseiten. Diese Seiten können Sie abrufen unter www.wg-qualitaet/laender.
Inhalt 3 Vorwort 4 Konkret Neues aus Projekten Leitartikel Ambulant betreute Wohngemeinschaften Nicht daheim, aber doch zu Hause Ferdinand Hirsch 31 im Stresstest 5 Prof. Dr. habil. Thomas Klie Anders als gewohnt: Die Hamburger Position des Arbeitskreises BAG WG-Qualität Wohn-Pflege-Gemeinschaft Pergolenviertel für Menschen mit Demenz in der Lebensmitte 33 zur Reduzierung der Zuzahlungen zur stationären Pflege im Rahmen des geplanten Gesetzes zur Ulrike Petersen Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung 8 Projekt Andersrum-WGs und Betreuung (GWVG) in Hamburg 35 AK BAG Herbert Villauer Kontext Wissenswertes Konzepte, Impulse und Entwicklungen Kasernierung alter Menschen in Zeiten Soziale Unterstützung unter Bewohner*innen von Corona. Eskalation eines alten Musters ambulant betreuter Wohngemeinschaften 10 Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt Dipl.-Soz. Lilo Dorschky, 37 Dipl.-Soz. Petra Schneider-Andrich, Altern in Zeiten von Corona - Anmerkungen zum Prof. Irén Horváth Verhältnis von Person und Wohnumwelt zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung 12 DemWG: Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Teilnahme an der DemWG-Studie Prof. Dr. Frank Oswald zur Verbesserung der Versorgung von Menschen Corona und die Folgen für Menschen, die in mit Demenz und kognitiven Beeinträchtigungen einer Wohn-Pflege-Gemeinschaft (WPG) leben in ambulant betreuten Wohngemeinschaften 17 Andrea von der Heydt Dr. Jennifer Scheel, Susanne Stiefler, 41 Pflege zwischen Fürsorgepflicht und Anna-Carina Friedrich, Dr. André Kratzer, Selbstbestimmung - Lösungsmöglichkeiten in Annika Schmidt, PD Dr. Carolin Donath, Wohn-Pflege-Gemeinschaften unter Pandemie- Prof. Dr. Elmar Gräßel, 22 Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann bedingungen in Brandenburg Beate von Zahn und Andrea Kaufmann Autonomie durch gegenseitige Hilfe - Trotz Corona in Verbindung bleiben! Wie kann das gelingen? 44 Digitalisierung einer ambulant betreuten Wohn- Annie Le Roux gemeinschaft für Menschen mit Demenz aus Wie sorgen Menschen in gemeinschaftlichen 25 Sicht einer Angehörigen Wohnprojekten füreinander? Brigitta Neumann 46 Sandra Eck und Dr. Katrin Roller Wahrhaftig ein starkes Stück Menschlichkeit - Kollektiv in Quarantäne oder wie eine Wohn- Literatur 49 gemeinschaft für Menschen mit Demenz die 28 Archiv 50 Coronakrise übersteht Ulrike Petersen Die letzte Seite 51
4 Vorwort Liebe Leserin und lieber Leser! „Ambulant betreute Wohngemeinschaften im Die auskömmliche Finanzierung ambulant be- Stresstest“ überschreibt Professor Dr. Thomas treuter Pflegewohngemeinschaften steht schon Klie seinen Beitrag in diesem Journal. In der Tat deutlich länger in der Diskussion als die Coro- standen Akteure in und um ambulant betreute na-Pandemie. Finanzielle Fragestellungen sind Wohngemeinschaften in den vergangenen Mo- für viele Wohngemeinschaften ein Dauerthema. naten vor großen Herausforderungen. Durch die von Bundesgesundheitsminister Jens Dass sich die Akteure im Sinne des Prinzips der Spahn vorgestellten Eckpunkte für eine Pflege- geteilten Verantwortung beständig abstimmen reform gewann das Thema im Frühjahr 2021 und gut kommunizieren ist eine Grundvoraus- erheblich an Brisanz. Denn der Entwurf des setzung für das Gelingen des Alltagslebens in Bundesgesundheitsministers sah eine Decke- ambulant betreuten Wohngemeinschaften. lung der pflegebedingten Eigenanteile und da- Auch der gemeinsame Diskurs und das Ringen durch eine finanzielle Entlastung ausschließlich um eine gemeinsame Haltung zu grundsätz- für Bewohnende stationärer Einrichtungen vor. lichen Fragestellungen rund um Aspekte der Eine entsprechende Entlastung für auf Pflege Selbstbestimmung und Lebensqualität der Be- angewiesene Menschen in ambulant betreuten wohnenden gehört selbstverständlich dazu. Wohngemeinschaften war nicht vorgesehen. Unter pandemiebedingten Kontaktbeschrän- Das Positionspapier zu den Reformüberlegun- kungen immer wieder neue Strategien zum gen vom Arbeitskreis Bundesarbeitsgemein- Schutz aller Beteiligten oder auch zum Um- schaft Qualität in ambulant betreuten Wohn- gang mit Coronabetroffenen in und um die je- gemeinschaften ist ebenfalls in diesem Journal weilige Wohngemeinschaft zu entwickeln, zu abgedruckt. kommunizieren und umzusetzen und gleichzei- Es bleibt zu hoffen, dass der politische Diskurs tig ethische Aspekte wie etwa die der Balance in der neuen Legislaturperiode der Tatsache zwischen dem Schutzbedarf und den Freiheits- Rechnung trägt, dass Wohn-Pflege-Gemein- rechten der Bewohnerschaft zu bedenken und schaften als ergänzende Elemente der Pflege- abzustimmen - keine leichte Aufgabe! infrastruktur und erwünschte Alternative zum Neben den entsprechenden kritischen Analysen stationären Setting zunehmend an Bedeutung von Professor Dr. Frank Oswald, Professor Dr. gewinnen. Zumal sie die Möglichkeit bieten, Frank Schulz-Nieswandt und Andrea von der zivilgesellschaftliche Potentiale einzubinden, Heydt berichten in dieser Ausgabe des Journals Pflegefachkräfte sowie Assistenz- und Haus- auch Pflegewohngemeinschaften in Hamburg wirtschaftskräfte gezielter einzusetzen und zu- und Potsdam über die von ihnen entwickelten dem dem Wunsch pflegebedürftiger Menschen kreativen Lösungen für den Alltag in ambulant nach wohnortnahen und kleinteiligen Wohn- betreuten Wohngemeinschaften in Zeiten von und Versorgungsangeboten im Quartier zu ent- COVID-19. sprechen. Christiane Biber
Einführung 5 Ambulant betreute Wohngemeinschaften im Stresstest Prof. Dr. habil Thomas Klie Ambulant betreute Wohngemeinschaften stehen Auch sind sie, wenn sie konzeptionell gut und so für konzeptionelle, kulturelle und in demokratische ausgerichtet sind, wie der Gesetzgeber es vorge- Sorgediskurse eingebettete Bilder teilhabeorientier- sehen hat, Orte, in denen das Prinzip der geteil- ter Sorge und Pflege. Es sind zum Teil aufwändige ten Verantwortung in der Pflege und Sorge, wie der Prozesse, aus denen heraus sich ambulant betreu- Siebte Altenbericht der Bundesregierung heraus- te Wohngemeinschaften vor Ort etablieren, Unter- gestellt hat, am ehesten verwirklicht werden kann: stützung der Zivilgesellschaft erfahren und mithilfe An- und Zugehörige bleiben in der Mitverantwor- von pflegepolitisch engagierten Kommunen Teil der tung, Professionelle steuern den Pflegeprozess und örtlichen Infrastruktur werden. Sie lassen sich nicht verantworten ihn, Assistenz- und Hauswirtschafts- vom Reißbrett planen, wie vollstationäre Pflegeein- kräfte gestalten den Alltag und sorgen für entspre- richtungen, sie versprechen keine großen Rendi- chende Präsenz. Das ist das „Idealbild“ einer ambu- ten, wie etwa sogenannte Stambulant-Konzepte, in lant betreuten Wohngemeinschaft. denen ambulante Leistungen „gestapelt“ werden: Betreutes Wohnen plus Tagespflege. Stresstest 1: Wohngruppenzuschlag Genau dieses Bild hatte der Gesetzgeber vor Augen Sie werden von Aufsichtsbehörden zum Teil argwöh- als er § 38a SGB XI als zusätzliche Finanzierungs- nisch begleitet, bisweilen aber auch unterstützt. Sie quelle für ambulant betreute Wohngemeinschaften stehen aktuell im Stresstest: Pflegekassen verwei- schuf: Das alles will koordiniert sein, das Miteinander gern den Wohngruppenzuschlag, wenn aus ihrer der genannten Beteiligten, die alltägliche Organisa- Sicht das Konzept nicht stimmt. Hier hat immerhin tion der geteilten Verantwortung, die Gewinnung das Bundessozialgericht klärende Worte gespro- von Freiwilligen, die verantwortliche Einbeziehung chen. In der Coronapandemie wurden und werden von An- und Zugehörigen, die Besorgung des All- sie weitgehend alleingelassen oder dem Hygiene- tag bis zum Einkauf der Lebensmittel. Nun ist § 38a regime der Heime unterworfen. In den nunmehr SGB XI regelungstechnisch ziemlich missglückt. So veröffentlichten Eckpunkten des Bundesgesund- haben eine Reihe von Verbänden versucht Einfluss heitsministers Spahn zu einer Reform der Pflege- zu nehmen und das besondere Profil des Wohngrup- versicherung werden sie nicht nur vernachlässigt, penmanagements schlicht auf eine Präsenzkraft mit sondern in ihrer Konkurrenzfähigkeit gegenüber besonderen Aufgaben hin verschoben. stationären Einrichtungen, was ihre finanzielle Aus- stattung anbelangt, gefährdet. Diesen drei Stresso- Immerhin sind einige, in der Praxis allerdings ren soll in diesem Beitrag nachgegangen werden. schwer zu realisierende Anforderungen, übrigge- blieben, etwa die Bestimmung des Wohngruppen- Ambulant betreute Wohngruppen erfreuen sich in managements durch die Bewohner*innen respek- der deutschen Bevölkerung recht großer Resonanz. tive ihre Vertreter*innen. Das hat manche Kassen Sie werden, glaubt man demoskopischen Umfra- aber auch Beihilfestellen in ihrer Skepsis gegenüber gen, deutlich mehr präferiert als Pflegeheime – ambulant betreuten Wohngemeinschaften dazu auch wenn es sie bundesweit betrachtet kaum in veranlasst, den Wohngruppenzuschlag dort zu ver- einer für alle Interessierten ausreichender Weise sagen, wo die ausdrückliche und nachvollziehbare und Zahl gibt. Gerade die Coronakrise hat Pflege- Wahl des Wohngruppenmanagements durch die heime noch einmal mit all ihren Hospitalisierungs- Bewohner*innen nicht geregelt und nicht nachvoll- gefahren ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt. ziehbar war. Und in der Tat: Viele ambulant betreute Dass häusliche Pflegearrangements häufig an ihre Wohngemeinschaften, wahrscheinlich die meisten, Grenze kommen, gehört inzwischen auch zum All- werden allein von Pflegediensten „betrieben“. Sie gemeinwissen. Ambulant betreute Wohngemein- übernehmen alle Aufgaben, auch die des Wohn- schaften können einen interessanten Beitrag zur gruppenmanagements. Entwicklung einer wohnortnahen und mit der Kom- munalpolitik verwobenen pflegerischen Infrastruk- tur darstellen.
6 Einführung Es ist eine Minderheit von Wohngemeinschaften, Und dann gibt es das Wohngruppenmanagement, die so betrieben werden, wie der Gesetzgeber es das vom Pflegedienst selbst, der all-inclusive alle sich gedacht und wie die landesheimrechtlichen Leistungen erbringt, gewährleistet wird. Hier ist nur Regelungen es für die Kategorie der vollständig Vorsicht geboten: Die Wahlfreiheit hinsichtlich des selbstverantworteten oder -organisierten Wohnge- Pflegedienstes muss den Bewohner*innen erhalten meinschaften vorsehen. Will man den Willen des bleiben. Sonst handelt es sich heimrechtlich nicht Gesetzgebers, der sich in der Gesetzesbegründung um eine ambulant betreute Wohngemeinschaft. zu § 38a SGB XI niederschlägt, ernstnehmen, wird Darum braucht es in jedem Fall bestimmte Kon- man auf der einen Seite die Autonomie der Be- fliktregelungsmechanismen, die auch verbindlich wohner*innen in ihrer Auswahl des Wohngruppen- niedergelegt werden müssen, wie bei Meinungs- managements achten und fördern müssen. Sonst verschiedenheiten zwischen dem Pflegedienst und tendieren ambulant betreute Wohngemeinschaften den Bewohner*innen respektive der Auftragsgeber- in der Tat in Richtung Kleinstheime, die keine be- gemeinschaft auf Lösungen hingearbeitet werden sondere Privilegierung durch den Gesetzgeber ver- kann, die interessensgerecht sind. In Brandenburg dienen. Allerdings muss auch sichergestellt werden, haben sich hier Schiedspersonen bewährt. Die LA- dass ambulant betreute Wohngemeinschaften im BEWO, die Landesarbeitsgemeinschaft ambulant Alltag funktionieren. betreuter Wohngemeinschaften in Baden-Württem- berg, hat eigene Qualitätskriterien formuliert, die Da ist die Vorstellung, eine Person könne allein das auch und gerade die Aufgaben des Wohngruppen- Wohngruppengruppenmanagement gewährleisten, managements adressieren. realitätsfern. Wir wollen ja keine Herbergsmütter, die rund um die Uhr und ohne Urlaub zu Verfü- Stresstest 2: Corona gung stehen. Das hat das Bundessozialgericht in Ambulant betreute Wohngemeinschaften, die dem seinem Urteil vom 07.10.20201 erkannt und lässt Leitbild der geteilten Verantwortung folgen, kom- durchaus zu, dass die Bewohner*innen sich dar- men ohne Ehrenamtliche und An- und Zugehörige auf verständigen, einer Organisation die Rolle des nicht aus. Sie waren in Zeiten der Besuchsverbote in Wohngruppenmanagements zuzuordnen - mit dem ihren alltäglichen Betrieb extrem gefährdet. Manche Recht und der Möglichkeit die hierfür zuständigen Pflegedienste, die ambulant betreute Wohngemein- Personen entsprechend zu benennen. Wichtig ist schaften „betreiben“ oder verantworten, haben Be- nur: Die Aufgaben, die mit dem Wohngruppenzu- suche unterbunden. schlag finanziert werden sollen, das hier als Wohn- gruppenmanagement bezeichnet wird, muss in den In vollständig selbstorganisierten Wohngemein- Verträgen explizit genannt und inhaltlich bestimmt schaften wurden höchst unterschiedliche Lösungen werden. Auch muss gewährleistet werden, dass die- gefunden. In keinem Fall wurde ambulant betreuten se Aufgaben unabhängig wahrgenommen und nicht Wohngemeinschaften die Aufmerksamkeit zuteil, integriert werden in die Betriebsabläufe eines am- die den Heimen galt. Sicher: Das Infektionsschutz- bulanten Pflegedienstes. So war das nicht gemeint risiko hielt sich zumindest zahlenmäßig in Grenzen. mit dem Wohngruppenzuschlag. Er dient dazu, das Gleichwohl waren und sind vor allen Dingen in der Prinzip der geteilten Verantwortung (mit-) zu unter- Zukunft auch in ambulant betreuten Wohngemein- stützen und zu befördern. schaften all die Schutzvorkehrungen staatlicherseits zu unterstützen, die das Infektionsrisiko begren- Verschiedene Optionen werden in der Praxis dazu zen und gleichzeitig die Teilhabe der Wohngemein- umgesetzt: Bei Trennung zwischen Pflege- und As- schaftsgäste sichern helfen. Ambulant betreute sistenzdienst wird dem Assistenzdienst die Rolle des Wohngemeinschaften im Hygieneregime Heimen Wohngruppenmanagements zugeordnet und hier gleichzustellen, was manche Heimaufsichtsbehör- bestimmten Personen. Auch sind Beispiele bekannt, den getan haben, war von den Coronaverordnun- in denen mit den Wohngruppenzuschlägen eine hal- gen nicht gedeckt. Durch entsprechende Hygiene- be bis dreiviertel Stelle Sozialarbeit finanziert wird, konzepte, die regelmäßig in die Sorge und Pflege angestellt in einem Förderverein, der diese Aufga- einbezogene An- und Zugehörige aber auch Ehren- ben inklusive der Präsenz gegebenenfalls für eine amtliche wie Mitarbeiter*innen qualifizierten, konn- oder mehrere Wohngemeinschaften wahrnimmt. ten Konzepte der geteilten Verantwortung weiter praktiziert werden. 1 Vgl. BSG-Urteil vom 07.10.2020 zum Az: B 3 P 1/20 R
Einführung 7 In vielen ambulant betreuten Wohngemeinschaf- Nur teilweise wurden sie im kurz vor Ende der Le- ten wurde allerdings auch zu einem Notbetrieb gislaturperiode verabschiedeten Gesundheitsver- umgestellt - mit zum Teil erheblichen Grundrechts- sorgungsweiterentwicklungsgesetz (GWVG) be- und Freiheitseingriffen für die Bewohner*innen. rücksichtigt. Sie bezogen sich ganz wesentlich auf Sie waren allerdings nicht wie viele Heime bereit, die finanziellen Herausforderungen, die den Bewoh- einen quasi militärischen Habitus anzunehmen: ner*innen von Pflegeheimen ins Haus stehen. Ihre konsequente Einbindung in das lokale Um- Die Pflegesätze wurden erhöht, die Bezahlung der feld, die kulturelle Etablierung von Aushandlungs- Pflegekräfte wird verbessert, die Qualitätsanforde- prozessen machte sie insofern – nicht überall aber rungen nehmen stetig zu. Weder in der Bevölke- oftmals – resilienter. Im Stresstest waren und sind rung, noch bei den Sozialhilfeträgern ist die Akzep- sie allerdings gleichwohl. Der Umgang mit den Hy- tanz für weitere Zuzahlungen gegeben. Sie sollen gieneanforderungen war auch in WGs umstritten gedeckelt werden. Auch wenn von dem Wirtschafts- – unter den Angehörigen, zwischen Pflegedienst flügel der CDU lange vehement bekämpft: Das Tabu und Angehörigenvertretungen. Insofern macht es eines Steuerzuschusses für die Pflegeversicherung Sinn, für ambulant betreute Wohngemeinschaften ist gebrochen. Es ist im Wesentlichen eine „Luft spezifische Hygienekonzepte, die örtlich in vorbild- raus“-Reform, die der Bundestag vor der Wahl ver- licher Weise entwickelt wurden, zu etablieren. Auch abschiedet hat. Sie ist weder strategisch ausgerich- müssen die staatlichen Stellen ihren Beitrag zu Hy- tet, noch berücksichtigt sie die Breite der Pflege- gieneschutzmaßnahmen leisten und dort, wo Qua- landschaft und die Bedarfe auf Pflege angewiesener rantäne angeordnet wird, für eine entsprechende Menschen. Bereithaltung von Einrichtungen Sorge tragen. Wie Schulz-Nieswandt2 deutlich gemacht hat: Ambulant Die großen Trägerverbände sind angetan: Ihre sta- betreute Wohngemeinschaften haben sich wenig tionären Einrichtungen werden ökonomisch attrak- aufgeregt mit den An- und Herausforderungen der tiver. Für ambulant betreute Wohngemeinschaften Coronasituation arrangiert – so zumindest die Be- allerdings ist das GWVG ein Desaster. Sie werden richte von zahlreichen WGs. nicht einbezogen in den Deckel. Zwar sollen ambu- lante Leistungen ausgeweitet und flexibilisiert wer- Ambulant betreute Wohngemeinschaften können den. Damit wird es aber nicht getan sein. Es bleibt ein hochinteressantes und die örtliche Sorgepoli- zu hoffen, dass die neue Bundesregierung die drin- tik bereicherndes Infrastrukturelement sein – aber gend gebotene grundlegende Finanz- und Struk- nur dann, wenn sie nicht vornehmlich betriebs- turreform der Pflegeversicherung auf ihre Agenda wirtschaftlichen Maßgaben unterworfen, sondern nimmt, die die Sektorengrenzen überwindet, echte gemeinwirtschaftlich betrieben werden: eben in Wahloptionen für die Bürger*innen schafft, Welfa- geteilter Verantwortung. Gerade COVID-19 hat ge- re Mix-basierte Versorgungsformen wie ambulant zeigt: Nur im Zusammenwirken von Profis, An- und betreute Wohngemeinschaften systematisch unter- Zugehörigen und der Zivilgesellschaft werden wir stützt. Hier sind die Initiativen ambulant betreuter die zukünftigen Herausforderungen in der Langzeit- Wohngemeinschaften auch politisch gefordert. Die pflege bestehen. Ambulant betreute Wohngemein- eingangs erwähnte Präferenz der Bevölkerung für schaften sind in diesem Zusammenhang interes- neue innovative Wohnformen, die eine wohnortna- sante Lernwerkstätten für das Zusammenwirken. he Versorgung sicherstellen, sie unterstützt sie. Ob – auch in Zeiten der Pandemie. und wie sie sich mit seinen gut organisierten Inter- essen gegen das korporatistische System durchzu- Stresstest 3: GWVG setzen vermögen, wird sich zeigen. Lange angekündigt waren sie, die Eckpunkte für Das Thema „Pflege“ war kein Wahlkampfthema im eine Pflegereform des Bundesgesundheitsministers Bundestagswahlkampf 2021. Auch daher fordert Spahn. eine breit aufgestellte Pflegeallianz einen Pflegegip- fel zu Beginn der neuen Legislaturperiode. 2 Prof. Dr. habil Thomas Klie Schulz-Nieswandt, Frank (2020): Gefahren und Abwege der Sozialpolitik im Zeichen von Corona. Zur affirmativen Evangelische Hochschule Freiburg Rezeption von Corona in Kultur, Geist und Seele der E-Mail: Klie@eh-freiburg.de "Altenpolitik". Hg. v. Kuratorium Deutsche Altershilfe Website: www.eh-freiburg.de (KDA). Berlin.
8 Einführung Position des Arbeitskreises BAG WG-Qualität zur Reduzierung der Zuzahlungen zur stationären Pflege im Rahmen des geplanten Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GWVG) Die bundesweit tätigen Fach- und Koordinations- Für Personen, die in Wohn-Pflege-Gemeinschaften stellen der Länder begrüßen die Absicht der geplan- leben, sind neben den Kosten für das Wohnen, das ten Pflegereform, die Eigenanteile an pflegebeding- Haushaltsgeld und die von der Pflegekasse nicht ge- ten Kosten für vollstationäre Pflegeeinrichtungen zu deckten Pflegekosten, aber auch vor allem die Kos- reduzieren. Dies ist auch mit Blick auf die Beschlüs- ten für die Haushaltsführung und die Betreuungs- se im Zusammenhang mit der Konzertierten Aktion leistungen im Alltag (= Eigenanteil) zu finanzieren. Pflege sinnvoll und notwendig. Denn so werden Die Höhe der Eigenanteile differiert bundesweit Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung auch wegen länderspezifischer Regelungen oder re- möglich und pflegebedürftige Menschen finanziell gionaler Gegebenheiten. entlastet. Es ist aber eindeutig festzustellen, dass die Eigen- anteile in der Regel mindestens in der gleichen Die im derzeit diskutierten Entwurf des GWVG vor- Höhe anfallen, wie bei entsprechender Versorgung gesehene Reduzierung der Eigenanteile am pfle- in stationären Einrichtungen. gebedingten Aufwand nur für Bewohnerinnen und Bewohner vollstationärer Pflegeinrichtungen würde Die geplante einseitige Reduzierung der pflegebe- allerdings zu einer existenziellen Benachteiligung dingten Eigenanteile im stationären Bereich vergrö- von ambulanten Wohn-Pflege-Gemeinschaften ßert absehbar das Kostendelta zwischen den beiden (WPGen) führen. Wohn- und Versorgungsformen. Eine Folge hiervon Wohn-Pflege-Gemeinschaften sind als ambulante wäre etwa eine de facto Einschränkung des Wunsch- Wohn- und Versorgungsform eine von vielen Men- und Wahlrechts insbesondere für Menschen, die auf schen gewünschte Alternative zur Versorgung im Sozialhilfeleistungen angewiesen sind, da der zu- stationären Setting. Die Bewohner*innenstruktur ständige Sozialhilfeträger aufgrund des Mehrkos- von ambulant betreuten Wohn-Pflege-Gemeinschaf- tenvorbehalts auf eine stationäre Versorgungsform ten (Altersgruppen, Pflegegrade usw.) ist vergleich- drängen könnte. Dies wiederum würde auch dem bar mit der Bewohner*innenstruktur vollstationärer Grundsatz ambulant vor stationär widersprechen. Pflegeeinrichtungen. Wohn-Pflege-Gemeinschaften sind politisch gewollt Die Finanzierung ambulant betreuter Wohn-Pfle- und wurden in den letzten Jahren auch mit Blick auf gegemeinschaften war und ist herausfordernd. den Grundsatz ambulant vor stationär verstärkt be- worben und realisiert. Denn Zudem entsprechen sie dem Wunsch pflegebedürf- • es handelt sich um eine kleinteilige Wohnform tiger Menschen nach wohnortnahen, kleinteiligen in der Regel mit einer Betreuung rund um die und individuellen Pflegesettings. Uhr WPGen sind als bedeutsame bedarfsorientierte • die Finanzierung ist komplex und setzt sich aus Elemente der Entwicklung kommunaler Pflegein- mehreren Bausteinen zusammen frastruktur zu betrachten, die es ermöglichen, in- • die Übernahme der Kosten durch den Sozial- formelle Netzwerke und zivilgesellschaftliche Poten- leistungsträger stellt sich in der Praxis auf- tiale einzubinden. grund geltender Rechtslage problematisch dar.
Einführung 9 Da die Begleitung der Bewohnerinnen und Bewoh- Angesichts der in allen Bundesländern wachsenden ner im Alltag in WPGen überwiegend durch Perso- Bedeutung und der steigenden Anzahl von WPGen nen aus Berufsgruppen mit betreuendem und haus- als alternative Wohn- und Versorgungsform für wirtschaftlichem Schwerpunkt erfolgen kann, wird Menschen mit Pflegebedarf halten wir eine stärkere außerdem ein gezielter Einsatz von Pflegefachkräfte Berücksichtigung sowohl in der geplanten Pflege- möglich. Mit Blick auf den Fachkräftemangel in der reform als auch in der Forschung für notwendig und Pflege ist auch dies ein wichtiger Aspekt. angemessen. Berlin, 11.05.2021 Aus Sicht der Fach- und Koordinationsstellen ist neben der geplanten Reduzierung der Eigenantei- le in stationären Einrichtungen eine ausdrückliche Berücksichtigung der ambulant betreuten Wohn- Pflege-Gemeinschaften in einer Pflegereform erfor- derlich. Es bedarf entsprechender Instrumente und Fussnote leistungsrechtlicher Regelungen, um diese Wohn- 1 - Franken, G. (2017). Wohnen im Alter. Wohnpräferenzen von form bei gleichbleibend hoher Qualität nachhaltig fi- Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Herausgeber: Univer- nanzierbar und für alle Interessierten zugänglich zu sität Witten/Herdecke; Dialog- und Transferzentrum Demenz machen. Denkbar wäre etwa eine Anpassung des (DZD). Witten. Wohngruppenzuschlags nach § 38a SGB XI oder - Klie, T., Heislbetz, C., Schuhmacher, B. et. al (2017). die Verankerung von ergänzenden spezifischen Ambulant betreute Wohngruppen. Bestandserhebung, qualita- tive Einordnung und Handlungsempfehlungen. Abschlussbe- leistungsrechtlichen Regelungen zur Deckung von richt. Herausgeber: Bundesministerium für Gesundheit. Bonn. Betreuungskosten in ambulant betreuten Wohnge- - Kremer-Preiß, U., Hackmann, T. (2018). Modellprogramm meinschaften. zur Weiterentwicklung neuer Wohnformen nach § 45f SGB XI. Ergänzend halten wir eine Verbesserung der Stu- Konzeptionelle Grundlagen und methodische Vorgehensweise dienlage zur Wirksamkeit von WPGen sinnvoll und der wissenschaftlichen Begleitung. Kuratorium Deutsche Al- tershilfe; Prognos AG. Freiburg/Köln. notwendig: Aktuell vorliegende sowie ältere Stu- - Rothgang, H., Wolf‐Ostermann, K., Schmid, A., Domhoff, dien1 reflektieren zum Beispiel strukturelle Unter- D., Müller, R., Schmidt, A. (2017). Ambulantisierung statio- schiede, identifizieren Mängel zwischen Anspruch närer Einrichtungen und innovative ambulante Wohnformen. und Wirklichkeit einer WPG oder geben allgemeine Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Hinweise zur Verbesserung von Qualität. Gesundheit, Bonn. Wünschenswert wären Studien2 mit konkreten For- - Wolf-Ostermann, K., Gräske, J., Worch, A., Meyer, S. (2015). schungsdesigns bzgl. Lebens-, Wohn- und Versor- Expertise zur Bewertung des Versorgungssettings ambulant gungsqualität in WPGen. Analog sei an dieser Stelle betreuter Wohngemeinschaften unter besonderer Berücksich- zum Beispiel verwiesen auf Studien, die belegen, tigung von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz. Alice Salomon Hochschule Berlin. dass „Psychische Belastungen und Beanspruchun- - Wolf-Ostermann, K., Kremer-Preiß, U., Hackmann, T. et.al gen der Mitarbeitenden“ in WPGen deutlich gerin- (2018). Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes und von ger sind als in stationären Pflegeeinrichtungen. Instrumenten zur internen und externen Qualitätssicherung Die Empfehlungen der Autoren weisen darauf hin, und Qualitätsberichterstattung in neuen Wohnformen nach § dass dieses Versorgungssegment nicht nur den Mit- 113b Abs. 45 SGB XI. Abschlussbericht. Hrsg.: Universität arbeitenden im Anspruch auf personenbezogenes Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP); Arbeiten mehr Zufriedenheit verschafft, sondern Kuratorium Deutsche Altershilfe; Prognos AG. Bremen/Köln/ Freiburg. auch, dass die Lebens- und Versorgungsbedingun- gen in WPGen bei den Bewohnenden zu großer Zu- 2 Vgl.: Werner, B. & Leopold, D. (2020). Psychische Belastun- gen und Beanspruchungen der Mitarbeitenden in der Langzeit- friedenheit führen. pflege Demenzkranker. Mental stress and strain of employees in long-term nursing of dementia patients: Ambulant betreute AK BAG Demenz-Pflegewohngemeinschaften vs. segregative Demenz- Fach- und Koordinationsstellen der Länder Wohnbereiche in der stationären Altenpflege. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie (52). Website: www-wg-qualitaet.de
10 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen Kasernierung alter Menschen in Zeiten von Corona. Eskalation eines alten Musters Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt Ich fokussiere zuspitzend in diesem kurzen, dich- Die COVID-19-Pandemie (Sars-CoV-2) bringt die ten Text auf die Situation hochaltriger Menschen Gesellschaft in einen fundamentalen Zielkonflikt. im Pflegeheim als ein Ort des Wohnens und widme Einerseits gilt die Sorge explizit dem Schutz vulne- mich der Frage, was in der Corona-Krise an und mit rabler Gruppen und insbesondere dem hohen Alter. diesen Menschen geschah. Pflegeheime sollen ei- Die bedeutsame Wertigkeit dieser Dimension des gentlich Orte des alltäglichen Lebens und normalen sozialen Geschehens steht außer Frage! Anderer- Wohnens sein, de facto aber bestimmen mehr denn seits jedoch werden Menschen im hohen Alter, zu- je Schutz und Sicherheit statt sozialer Kontakte die gespitzt, aber deshalb nicht falsch formuliert, in den Wirklichkeit der Bewohner*innen. Pflegeheimen verstärkt dem »sozialen Tod« infolge von sozialen Ausgrenzungen ausgesetzt. In den Pflegeheimen wird der alte Mensch zur Ver- schlusssache. Dieses Phänomen ist nun jedoch zu Die Vermeidung des biologischen Todes wird teu- verstehen als Eskalation eines ohnehin traditionel- er erkauft mit dem sozialen Tod. Die soziale Wirk- len, also lange schon wirksamen, Strukturproblems lichkeit, trotz der seit längerer Zeit beobachtbaren des Pflegesektors unter Corona-Bedingungen. Co- Differenzierung und der sich langsam, und eben rona hatte die Dichteform der Isolierung des Woh- auch widerspruchsvoll herausbildenden Vielfalt der nens in stationären Settings in gesteigerter Form Lebenswelt „Heim“, sieht oftmals anders aus als die auf die Spitze getrieben. Die aktuelle Krise hält uns Normvorstellungen unserer Rechtswelt es vorsehen. als Gesellschaft den Spiegel vor, dass die Transfor- Es geht daher um die Erfahrung einer im Lichte des mation der Wohnformen im Alter als Normalisierung Gerechtigkeitsempfindens schmerzhaften Differenz, der Form des sozialen Daseins mit den Dimensionen auf die sich bereits die lange Geschichte des Rück- von Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilha- baus „totaler Institutionen“ der anstaltsförmigen be nicht gelungen ist. Orte der sozialen Ausgrenzung als kritische Refle- xion der Institutionalisierung und Hospitalisierung Grundrechtsverletzungen im Pflegeheimsektor und bis heute bezieht. ihre Eskalation unter Corona-Bedingungen Die in der Corona-Situation nochmals in gesteiger- Normalität meint hier ein Verständnis von Wohnen ter Form praktizierte pauschale Stigmatisierung der als Ort des alltäglichen Lebens, das die moderne Schutzbedürftigkeit der vulnerablen Gruppe der „Al- Gesellschaft in einem normativen Sinne für sich ten“ kappt die gerade erst im langsamen und wider- selbst reklamiert. Diese Normalitätsvorstellung ist spruchsvollen Wachstum befindliche Sozialraumöff- geprägt von der Haltung, Autonomie und der Parti- nung der Heime, die an das normale Wohnen und zipation als Merkmale dieses Lebens seien uns wich- Leben im Quartier und somit im Kontext von Nach- tig, mit guten Gründen geradezu heilig: Gemeint ist barschaft als lokale sorgende Gemeinschaften an- die Würde der Person, mit Blick auf die praktische knüpft. Erlebbarkeit definiert über die Dimensionen von Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilhabe. Diese Auffassung ist grundrechtstheoretisch fun- diert und mehrschichtig verankert und verschach- telt im Völkerrecht der UN, in der Grundrechtscharta der Unionsbürgerschaft in der EU, im bundesdeut- schen Verfassungsrecht in Art. 1 und 2 GG, in den Sozialgesetzbüchern (vgl. § 1 SGB I) und in den Gesetzgebungen der Länder, dort in den Wohn- und Teilhabegesetzen.
Kontext 11 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Abgründige Hintergründe? Literatur Was treibt diese Verfehlung der Normalität im Heim- Schulz-Nieswandt F (2020) Zur Bedeutung der Psycho- leben an? Ist es eine von den Affektordnungen der dynamik für die Sozialpolitik des Alter(n)s in Forschung Angst und des Ekels geprägte Kultur des Umgangs und reflexiver Praxis. Psychotherapie im Alter 17 (3): mit dem hohen Alter? Wird das hohe Alter wahr- 355-365. genommen als dem Tod geweihter Verfall von Geist Schulz-Nieswandt F (2021) Kommunale Pflegepolitik als und Körper? Geht es um Andersheit und Fremdheit? sozialraumorientierte Daseinsvorsorge. Konturen einer Vision. In Jacobs K u. a. (Hrsg) Pflege-Report 2021. Um das Monströse? Geht es um Geruch? Um Häss- Springer, Berlin: S. 219-229. lichkeit? Befremdet uns die an die übliche Sprache Schulz-Nieswandt F (2021) Die Würde der Person: als gebundene Unverstehbarkeit des Menschen mit Naturrecht tabu, empirisch vulnerabel. Case Manage- Alzheimer-Demenz? Wird der alte Mensch vielleicht ment 18 (2): S. 57-65. selbst als gefährlicher Keimträger stigmatisiert? Schulz-Nieswandt (2021) Abschied von der „Kasernie- In unserer Zivilisationsstufe hat sich auch schon rung“ Ein Kulturwandel in der Langzeitpflege ist nötig. längst und unabhängig von Corona im Umgang mit Dr. med. Mabuse 253 (Sept./Okt.): 28-30. dem alten Menschen ein Muster sozialer Ausgren- zung herausgebildet, wodurch Altenheime an einem panoptischen Quarantänemodell orientiert erschei- nen. Nun kam Corona als eine neue Stufe dieser Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt alten Herausforderung ins Spiel. Universität zu Köln Das Risikomanagement von Corona läuft nicht wie E-Mail: schulz-nieswandt@wiso.uni-koeln.de im Fall des normalen Alltags der informell (familial, Website: www.uni-koeln.de nachbarschaftlich, bürgerschaftlich) und formell/ professionell (infrastrukturell) vernetzten privaten Häuslichkeiten und gemeinschaftlichen Formen pri- vaten Wohnens ab. Versäumnisse, Schuld, Verantwortung Die »Schuld« der Gesellschaftspolitik – und damit aller Bürger*innen, nicht nur, ihrer Träger – liegt in der über lange Zeit nicht wirklich gewollten Trans- formation der Wohnformen im Alter als Normali- sierung der Form des sozialen Daseins. Das ist die Schuld des Versäumnisses. Denn die Gesellschaft ist in Bezug auf die Würde des älteren und alten Men- schen nicht wirklich gut aufgestellt. Die durchaus vermeidbare oder zumindest redu- zierbare Schuld liegt vielmehr in dem angesproche- nen »Versäumnis« mit Blick auf die über lange Zeit scheinbar nicht ernsthafte gewollte oder auch nicht gekonnte Transformation der Wohnformen im Alter als Normalisierung der Form des sozialen Daseins. Corona hat die Dichteform der Kasernierung der „Alten“ eskalierend nur noch in gesteigerter Form auf die Spitze getrieben. Auf die Zukunft gerichtet kristallisiert sich eine »Verantwortung« heraus: Das Versäumte muss nachgeholt werden. Der sozialen Wirklichkeit der Pflegelandschaft im Alter ist ein an- derer Geist einzuhauchen, damit ihre kranke Seele gesundet.
12 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen Altern in Zeiten von Corona - Anmerkungen zum Verhältnis von Person und Wohnumwelt zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung Prof. Dr. Frank Oswald Dieser Beitrag basiert auf einem Text zu Austausch- Allerdings wurde auch von Beginn an vor einer vor- prozessen zwischen älter werdenden Menschen und schnellen und pauschalen Stigmatisierung gewarnt ihren räumlich-sozialen Umwelten während der CO- (Ayalon et al., 2020; Schwedler et al., 2020). Mittler- VID-19-Pandemie (Oswald, 2020). Dem zugrunde weile wird dies grundsätzlich für alle Lebenskontexte liegt eine langjährige Beschäftigung mit dem Ver- auch als mögliche Bedrohung von Menschenrechten hältnis von Person und sozial-räumlicher Umwelt im älterer Menschen angesichts der COVID-19-Pan- höheren Alter aus Sicht der ökologischen Geronto- demie diskutiert (Pantel, 2021). Mit dem weiteren logie und insbesondere neueren Zugängen daraus Verlauf der Pandemie änderte sich zum einen die (z.B. Chaudhury & Oswald, 2019; Oswald & Wahl, empirische Datenlage (z.B. Gaertner et al., 2021), 2019; Wahl & Oswald, 2016). zum anderen aber auch die Perspektive auf Men- schen im höheren Alter, weg vom Blick durch die Alte Menschen verbringen im Durchschnitt zwar viel Brille der Risikogruppe hin zum intergenerationellen Zeit in ihren Wohnungen und im unmittelbaren Um- Austausch. So zeigen Befunde zu Belastungen und feld, wenngleich es individuelle Unterschiede und Resilienz älterer im Vergleich zu jüngeren Menschen Kohorteneffekte gibt. Dies darf aber nicht vorschnell eine relativ größere Belastung in jungen Jahren (z. als Rückzug ins Private gedeutet werden. Vielmehr B. Andresen et al., 2020) und Formen adaptiver An- muss Wohnen eingebettet in Nachbarschaft, Quar- passungsstrategien im höheren Alter (z. B. Fuller tier und kommunale Kontexte betrachten werden & Huseth-Zosel, 2021). Zudem verweist u. a. der und ist damit auch Ausdruck intergenerationeller Zukunftsreport Wissenschaft „Forschung für die Partizipation. Zudem soll ausdrücklich darauf ver- gewonnenen Jahre“ der Nationalen Akademie der wiesen werden, dass Wohnen nicht auf Formen Wissenschaften ‚Leopoldina‘ darauf, dass das „dis- des Privatwohnens begrenzt werden darf, sondern ruptive Element der Pandemie“ auch Chancen birgt, auch bedeutsam ist für ein Leben im institutionellen weil „Routinen und Gewissheiten infrage gestellt Kontext (z.B. Claßen et al., 2014; Oswald & Wahl, und neue gestalterische Kräfte im gesellschaft- 2016). lichen, wissenschaftlichen und politischen Raum mobilisiert werden“ (Beilage Covid-19 zum Bericht 1. Anmerkungen zum veränderten Person-Umwelt- 2020, S.1; Sattersten et al., 2020). Verhältnis in Zeiten von Corona Veränderungen im Verhältnis zwischen älteren Men- Die Pandemie kann mit Blick auf das Person-Umwelt- schen und ihrer sozial-räumlichen Umwelt während Verhältnis als Anlass eines Perspektivwechsels ver- der Pandemie müssen differenziert betrachtet wer- standen werden. Ausgang des Perspektivwechsels den, zum einen mit Blick auf den Verlauf der Pande- ist die Konfrontation mit extern bedingten Verände- mie, zum anderen hinsichtlich der vielfältigen Aus- rungen von Gewohntem, sicher Geglaubtem, als un- tauschprozesse und Folgen. Einerseits waren ältere verrückbar Angenommenem im Verhältnis zwischen Menschen von pandemiebedingten Einschränkun- der eigenen Person und der sozial-räumlichen Welt, gen zunächst besonders betroffen. Da Ältere eine ja sogar im Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit. Le- deutlich höhere Vulnerabilität für eine SARS-CoV- benslang eingeübte Praktiken und teilweise liebge- 2-Infektion aufweisen, war ihre wirksame Abschir- wonnene, automatisierte und „verleiblichte“ Hand- mung vor Ansteckungsrisiken ein Kernbestandteil lungsroutinen müssen geändert werden. Dies reicht des Krisenmanagements vieler Länder (Armitage & vom unmittelbaren Bereich der Mikro-Umwelt des Nellums, 2020). Früh gab es auch bereits Hinweise eigenen „Personal Space“ oder des „peripersonalen auf mögliche gesundheitliche Folgewirkungen, ins- Raums“, einer persönlichen Pufferzone um den Kör- besondere psychische Erkrankungen (wie Depres- per herum, über die Nahumwelt der eigenen vier sionen und Angststörungen), infolge von sozialer Wände bis hin zur Meso- oder Makro-Umwelt des Isolation und Einsamkeit (Huxold & Tesch-Römer, nachbarschaftlichen Quartiers und darüber hinaus. 2021; Seifert & Hassler, 2020; Thomas & Kim, 2021), vor allem bei alleinlebenden älteren Men- schen (Fingerman et al., 2021).
Kontext 13 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Veränderungen im Umgang mit dem eigenen Gewohnte Formen alltäglicher Berührung und so- Körper zialer Nähe sind aber nicht mehr selbstverständlich, Menschen jeden Alters mussten Verhaltensrouti- sondern zumindest temporär verbannt aus unserem nen der Körperreinigung und Hygiene umlernen. lebenslang eingeübten Handlungsrepertoire oder Richtiges Händewaschen und richtiges Niesen oder auf den Haushalt beschränkt. Alltägliches Handeln Husten in die Armbeuge betreffen Routinen in der und Erleben im Kontext sozialer und räumlicher Um- Beziehung zur Leiblichkeit. Das Tragen eines Mund- welt verändert sich und folgt neuen Regeln. Manche Nase-Schutzes findet im „Personal Space“ statt und halten es besser aus, manche schlechter, insbeson- verändert das Gesicht, das Aushängeschild der Per- dere alleinlebende ältere Menschen (Fingerman et sönlichkeit, verhindert die Sichtbarkeit von Emotio- al., 2021) und besonders alleinlebende Menschen nen (wie Lächeln), entstellt die eigene Stimme und in Heimen und/oder mit kognitiven Einbußen leiden erschwert die Kommunikation. Daneben treten im und die Folgen körperlicher Isolation und fehlender neuen Distanz-Alltag aber auch Gewöhnungseffekte Zuwendung waren auch vor Corona bereits gut be- ein, bahnen sich neue, teilweise kollektive Routinen legt (Spitzer, 2018). Die Abwägung des Schutzes an im Umgang mit „Masken“ und neuen Anlässen vor viraler Bedrohung und des Schutzes vor Folgen für Gespräche auf Abstand in der Schlange vor der durch Isolation muss aber weit über eine ökoge- Eisdiele, im Supermarkt, oder an der Haltestelle. rontologische Perspektive hinaus diskutiert werden Veränderungen im „Personal Space“ infolge einer (z.B. Schulz-Nieswandt, 2020). Covid-19 Erkrankung sind, ebenfalls unabhängig vom Lebensalter, aber besonders häufig bei Perso- Veränderungen im Umgang mit der sozialräum- nen im sehr hohen Alter, ungleich drastischer bis lichen Umwelt hin zum Tragen von Atemmasken und womöglich Schließlich verändert die Distanzregel sozial-räum- Körpergrenzen überschreitenden Eingriffen wie In- liche Dichte in Alltagssituationen. Als Beispiel seien tubation und Beatmung, die bewusst nicht zu er- verändert wahrgenommene Raumqualitäten ge- tragen ist und deren psychische Folgen neben den nannt – was empfinden wir als eng und voll, was als körperlichen langwierig sind, von derzeit unabseh- angemessen? Begegnungen im öffentlichen Raum baren Folgen von „Long Covid“ ganz zu schweigen. werden neu „bemessen“ und Distanzen bewusst eingehalten oder je nach aktueller Regelung herge- Veränderungen im Umgang mit anderen Menschen stellt oder renitent unterschritten. Vergleichbar be- Von den vielen alltäglichen Veränderungen im Ver- sonders vulnerablen, häufig älteren Menschen mit hältnis zu Anderen, dem sogenannten „Social“, Mobilitätseinbußen im dichten öffentlichen Raum eigentlich besser „Physical Distancing“, den neuen finden wir uns plötzlich alle in einem potentiellen Regeln sozialen Miteinanders, sei das Thema der Bedrohungsszenario wieder, in dem wir anderen, fehlenden körperlichen Berührung herausgegriffen. uns entgegenkommenden Menschen begegnen. Wie z.B. Jean-Luc Nancy schon früh in der Pande- Mit Zurücknahme der Distanzregeln werden Ab- mie in einem Interview betont, ist Berührung „nie stände wieder unsicher und wer die Distanzen ein- nur körperlich. Sie ist auch seelisch oder spirituell.“ halten möchte larviert mitunter etwas „zwanghaft“ (Nancy, 2020). Anders als das Sehen spielt sich das durch die Fußgängerzonen. Temporäre öffentliche Fühlen in der Nähe, im Kontakt ab und verbindet Arrangements, wie Stadien, Konzerte oder Wochen- sich mit allen anderen Sinnen. Sehen ohne Fühlen, märkte, zeigen, wie wandlungsfähig stabil geglaub- so Nancy, bleibt leer. Gesellschaftliches Überleben te Ordnungen sind. Neue räumliche Distanzen im hängt seiner Ansicht nach letztlich sogar davon ab, öffentlichen Leben wirken ambivalent, einerseits ob wir Orte der Nähe und Berührung schaffen, oder, schwer erträglich durch fehlende Enge und Stim- angesichts von Corona, erhalten und uns nach der mung, andererseits angenehm aufgrund von Ge- Pandemie wieder zurückerobern (vgl. auch Thom- räumigkeit. as & Kim, 2021). Menschliche Berührung kann auch bedrohlich sein (s. dazu weiter unten), in der Regel aber ist sie, z.B. als Händedruck oder Um- armung, Ausdruck gelebter Beziehung, von Nähe, Zuneigung, Trost, Freude, Anerkennung und somit lebensnotwendig.
14 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen 2. Wohnen im Alter in Zeiten von Corona bei guter Mit Blick auf das Verhältnis von Hilfebedarf und Gesundheit und bei Unterstützungsbedarf Unterstützungsangeboten veröffentlichte die Kör- Die eigene Häuslichkeit und das Wohnquartier sind ber-Stiftung im April 2020 im Online-Magazin Kom- Orte, an denen ältere Menschen, ganz unabhängig munal.de, dass Hilfsinitiativen für ältere Menschen von ihrem Gesundheitszustand, im Durchschnitt oh- oft damit konfrontiert sind, dass viele der vermeint- nehin viel Zeit verbringen. Der uns allen zunächst lichen Adressaten*innen diese gar nicht haben woll- auferlegte Rückzug ins Private passte daher für ten (https://kommunal.de/corona-senioren). Menschen höheren Alters, so wurde argumentiert, Zahlreiche Beispiele zeigten, dass kommunale Struk- eigentlich gut zum gewohnten Alltagsrhythmus, turen besonders dann gut funktionierten, wenn sie anders als bei Kindern das Home-Schooling oder bereits vorher etabliert, niedrigschwellig, zugehend, bei Menschen im Erwerbsleben das Home-Office. kleinteilig und quartiersbezogen verankert waren. Räume wie Balkone oder Hausflure erfuhren eine Dass ältere Menschen zu Hause bleiben mussten veränderte Wahrnehmung als sichere Räume für hatte aber nicht nur Folgen für sie selbst, es machte selbstbestimmte soziale Partizipation auf Distanz. auch die Leistungen sichtbar, die sie ansonsten für Aber nicht jede Wohnung war und ist groß genug, die Gesellschaft erbringen – von der Enkelbetreu- um sich darin lange Zeit aufzuhalten. ung bis zum ehrenamtlichen Engagement. Ungefähr Wer allerdings im höheren Alter über genügend ein Drittel der Tafeln (jedenfalls in Hessen) wurde Raum als Ressource – neben anderen Ressourcen geschlossen, weil der Großteil der ehrenamtlichen wie Gesundheit, Finanzen, einem sozialen Netz- Helfenden als „ältere Menschen“ zur Risikogruppe werk – verfügt, kann und kommt mit der Pande- gehört. Zudem ergeben sich Herausforderungen im mie im Alltag womöglich sogar besser zurecht, als Austausch mit anderen Generationen. Dazu gehört zunächst vermutet. Frühe Befragungen, wie jene neben der Organisation nachbarschaftlicher Hilfe vom Mai 2020 in der deutschsprachigen Schweiz die Aufgabe, soziale Nähe durch Technik auf Distanz zeigte bereits, dass sich unter den knapp 9000 be- herzustellen (Seifert et al., 2020). fragten Personen, jene im Alter ab 65 Jahren im Vergleich zu jüngeren Menschen als weniger vulne- Ein weiteres wichtiges Thema der Sicherheit, be- rabel und psychisch stabiler erwiesen (https://www. reits lang vor Corona, war und ist die möglichst frü- tagesanzeiger.ch/wer-am-staerksten-unter-der-krise- he Vermeidung von Gewalt in der häuslichen Pflege. litt-265227725158). Dazu liegen aus einem Projekt der Goethe-Univer- Forschende der Stiftung Gesundheitsförderung sität Empfehlungen für Praxis und Gesetzgebung Schweiz führen dies u.a. darauf zurück, dass Ältere vor (Konopik et al., 2021; Schwedler et al., 2020). mehr Erfahrung mit Ausnahmesituationen haben, Kritische häusliche Pflegesituationen verschärften die Jüngeren fehlen. Zurückgeworfen zu sein auf sich aber nochmals durch die Begrenztheit auf das das Private kann aber im Falle von Ressourcenar- Private, ohne dass angemessen geholfen wurde. mut auch bedeuten, der Angst vor Ansteckung und Schwierig ist dies auch, weil die häusliche Pflege der Isolation gleichermaßen ausgesetzt zu sein. weitgehend abgeschirmt erfolgt. Zusätzlich erlas- Insbesondere für hochbetagte alleinlebende ältere sene Kontaktsperren führten mutmaßlich zu einem Menschen erhöhte sich das Risiko von Einsamkeit weiteren Rückgang vorhandener Unterstützungs- und Depressivität (Huxold & Tesch-Römer, 2021; möglichkeiten (z.B. Beratungsangebote, Pflegebe- Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2021). Und ratungseinsätze, Einstufung der Pflegebedürftig- auch wenn eine Meta-Analyse mit Daten aus 21 keit) und zu einer weitergehenden Isolierung der Ländern belegen konnte, dass die Suizidrate in den Betroffenen. Diese einschränkenden Maßnahmen ersten Monaten der Pandemie nicht systematisch führen sowohl für die pflegenden Angehörigen als anstieg, so warnen die Autoren dennoch gleichzeitig auch für die Pflegebedürftigen zu einer erheblichen vor Spätfolgen in dieser Hinsicht wenn sie postulie- Einbuße im alltäglichen Leben. Für den pflegen- ren „We need to remain vigilant and be poised to den Angehörigen ist dies unter Umständen kaum respond if the situation changes as the longer-term zu ertragen. Der Kontakt zur Außenwelt stellt näm- mental health and economic effects of the pande- lich einen wichtigen Schutzfaktor im Umgang mit mic unfold.” (Pirkis et al., 2021). schwierigen Pflegesituationen dar, da der Kontakt zu Anderen ein Ventil für den Umgang mit schwieri- gen Pflegesituationen bieten kann.
Kontext 15 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Da nun alle diese Möglichkeiten wegfallen, wohl- Literatur gemerkt zum Schutz der Betroffenen, können Andresen, S., Lips, A., Möller, R., Rusack, T., Schröer, eben diese „Schutzmaßnahmen“ auch zum Gegen- W., Thomas, S., & Wilmes, J. (2020). Erfahrungen und teil führen. Zu den genannten Empfehlungen der Perspektiven von jungen Menschen während der Co- Autoren*innen gehören die Einleitung öffentlicher rona-Maßnahme. Erste Ergebnisse der bundesweiten Kampagnen zum Schutz vor Gewalt, die Bekannt- Studie JuCo. Universitätsverlag Hildesheim: Eigenver- lag. doi: 10.18442/120 machung von Pflegenotrufnummern oder die Inan- spruchnahme von entlastenden Hilfen. Armitage, R., Nellums, L.B. (2020): COVID-19 and the consequences of isolating the elderly. The Lancet Public Auf den Bereich des Wohnens im Heim wurde an Health 5. anderer Stelle ausführlich eingegangen (z.B. Ben- Ayalon, L., Chasteen, A., Diehl, M., Levy, B. R., Neu- zinger et al., 2021; Pantel, 2021). Hier spitzte sich pert, S. D., Rothermund, K., Tesch-Römer, C., & Wahl, die Lage zunächst extrem zu durch Aufnahme- H.-W. (2020). Aging in times of the COVID-19 pande- stopps, Segregation und mangelhafte Ausrüstung mic: Avoiding ageism and fostering intergenerational solidarity. The Journals of Gerontology: Psychological sowie durch Hilflosigkeit im Umgang mit Isolation Sciences, XX, 1-4. https://doi.org/10.1093/geronb/ und Einsamkeit am Lebensende. Erschwerend war gbaa051 zudem, dass sich Menschen mit Demenz die Not- Benzinger, P., Kuru, S., Keilhauer, A., Hoch, J., Prestel, wendigkeit einer körperlichen Distanzierung nicht P., Bauer, J. M., & Wahl, H. W. (2021). Psychosoziale erschließt und sie Zuwendung brauchen. Auswirkungen der Pandemie auf Pflegekräfte und Be- Ganz zu schweigen von zunächst fehlenden (ethi- wohner von Pflegeheimen sowie deren Angehörige – schen) Regelungen zu Nähe und Distanz am Le- Ein systematisches Review. Zeitschrift fur Gerontologie bensende bei an Covid-19 Sterbenden. So wurden und Geriatrie, 54(2), 141–145. https://doi.org/10.1007/ über viele Jahre mühsam erkämpfte Bestrebun- s00391-021-01859-x gen nach Autonomie und Selbstbestimmung auch Chaudhury, H., & Oswald, F. (2019). Advancing under- im Heimkontext häufig vorschnell dem Primat des standing of person-environment interaction in later life: One step further. Journal of Aging Studies, 51, XXX- Schutzes vor der Virusgefahr untergeordnet und die XXX. https://doi.org/10.1016/j.jaging.2019.100821 damit einhergehende enorme und ebenfalls lebens- Claßen, K., Oswald, F., Doh, M., Kleinemas, U., & Wahl, bedrohliche Isolationsgefahr in Kauf genommen H.-W. (2014). Umwelten des Alterns: Wohnen, Mobilität, (Pantel, 2021). Technik und Medien. In der Reihe „Grundriss Geronto- Umso erstaunlicher sind die Befunde einer Be- logie“. Stuttgart: Kohlhammer. fragung zum Alltagserleben und zur Zukunftsbe- Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e.V. wertung von Bewohnerinnen und Bewohnern aus (Hrsg.) (2020). Zukunftsreports Wissenschaft: For- schung für die gewonnenen Jahre. Zukunft der Alterns- zwei Frankfurter Pflegeheimen während der ersten und Lebensverlaufsforschung. strengen sechswöchigen Kontaktsperre der Pande- Fingerman, K. L., Ng, Y. T., Zhang, S., Britt, K., Colera, mie. Ihre Berichte spiegeln eine Vielfalt und Diffe- G., Birditt, K. S., & Charles, S. T. (2021). Living alone renziertheit des Erlebens wider, die erst vor dem during COVID-19: Social contact and emotional well- Hintergrund weiter zurückliegender eigener biogra- being among older adults. Journals of Gerontology: phischer Erlebnisse verständlich werden. Aus ihren Social Sciences, 76(3), e116–e121, DOI: Antworten geht zudem hervor, wie wichtig die ers- https://10.1093/geronb/gbaa200 ten Lockerungen der Kontaktsperre für ihr Alltags- Fuller, H. R., & Huseth-Zosel, A. (2021). Lessons in erleben waren, wo und wie sie gegen Regelungen Resilience: Initial coping among older adults during the zur Eindämmung der Pandemie vorgingen, aber COVID-19 pandemic. Gerontologist, 61(1), 114-125, doi: 10.1093/geront/gnaa170 auch, wie sie ihre Wünsche für die Zukunft jen- seits ihrer eignen Bedürfnisse und gesundheitlichen Gaertner, B., Fuchs, J., Möhler, R., Meyer, G., & Scheidt-Nave, C. (2021). Zur Situation älterer Men- Einbußen in Bezug auf nachfolgende Generationen schen in der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie: formulierten (z.B. globaler Frieden, Umweltschutz) Ein Scoping Review. Journal of Health Monitoring, (Leontowitsch et al., 2021). 6(S4), 2-39. DOI: https://10.25656/7856 Huxhold, O., & Tesch-Römer, C. (2021): Einsam- Prof. Dr. Frank Oswald keit steigt in der Corona-Pandemie bei Menschen im Interdisziplinäre Alternswissenschaft (IAW) mittleren und hohen Erwachsenenalter gleichermaßen Goethe-Universität Frankfurt am Main deutlich. DZA Aktuell 4/2021 E-Mail: oswald@em.uni-frankfurt.de Website: www.uni-frankfurt.de
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