KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen

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KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
KULTUR FÜR
ALLE –
KULTUR MIT
ALLEN
    Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der
    städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen

      Stadt Oberhausen
     Büro für Interkultur

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KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
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              4 Kultur für alle – Kultur mit allen

INHALT
                 von Apostolos Tsalastras

              8 Vielfalt –Ja bitte!
                 von Desbina Kallinikidou

             12 Der Kulturschocker
                 von Jens Brambusch

             16 Oberhausen – international und vielfältig
                 Büro für Interkultur

             22 Diversität oder Universalismus?
                 Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

             26 Ein Ort für die Kunst der Kulturen
                 Ludwiggalerie Schloss Oberhausen

             32 Vielfalt als menschenrechtliche Dimension –
                Erkenntnisse aus der Geschichte
                 Gedenkhalle und Bunkermuseum

             36 Universalität der Kunst
                 Musikschule und Kulturbüro

             40 Alte Akten, Staub und Diversität –
                passt das zusammen?
                 Stadtarchiv

             46 Willkommen - Welcome - Namaste -
                Hoşgeldiniz in der Bibliothek
                 Stadtbibliothek

             50 Was ist denn überhaupt das Problem?
                 Theater Oberhausen

             56 Der Einsatz für Vielfalt lohnt sich!
                 Volkshochschule

             60 Unsere Kulturpartner:innen –
                eine Momentaufnahme

             62 Impressum
                                                              3
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KULTUR FÜR
                                                               Kultur gewährt Einblicke in die uns prägenden Werte, ermöglicht Selbstre-
                                                               flexion und gesellschaftliche Auseinandersetzung, fördert die Talente der/
                                                               des Einzelnen und die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, eröffnet
                                                               neue Sichtweisen auf ästhetische Ausdrucksformen, schafft und fördert
                                                               Kreativität und hilft, Potenziale für die Bewältigung von Zukunftsaufgaben

ALLE –
                                                               zu entwickeln. Daher ist kulturelle Teilhabe unerlässlich, wenn man am ge-
                                                               sellschaftlichen Leben teilhaben möchte.

                                                               In der Tradition des großen Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann haben die
                                                               Kultureinrichtungen der Stadt Oberhausen das Ziel, allen Menschen in der
                                                               Stadt eine Teilhabe am kulturellen Leben zu ermöglichen und ihnen entspre-
                                                               chende Angebote zu machen. Dabei reicht es nicht aus, dass die Angebote

KULTUR MIT
                                                               grundsätzlich allen offenstehen, wenn dennoch zahlreiche Barrieren den
                                                               Zugang verhindern. Und es ist völlig egal, ob es sich um klassische Zugangs-
                                                               barrieren für Menschen mit körperlichen Einschränkungen handelt, oder ob
                                                               es soziale, kulturelle oder andere Gründe gibt, die es Menschen erschweren,
                                                               die Kulturangebote wahrzunehmen. Es gilt deshalb, vorhandene Barrieren
                                                               abzubauen und zugleich alle zur kulturellen Teilhabe zu befähigen sowie ih-
                                                               nen Lust darauf zu machen.

ALLEN
                                                               Dazu bedarf es Kultureinrichtungen, die durch ihre Bauweise und technische
                                                               Ausstattung Zugangsbarrieren für Menschen mit Einschränkungen so weit
                                                               wie möglich abbauen. Die Bauweise und Erscheinung der Kultureinrichtun-
                                                               gen muss eine Offenheit ausstrahlen, die einlädt und neugierig macht. Das
                                                               Personal in den Einrichtungen muss die gesellschaftlichen Verhältnisse wi-
                                                               derspiegeln, die Stadtgesellschaft kennen und die unterschiedlichen Milieus
                                                               und ihre Bedürfnisse verstehen können. Das angebotene Programm muss
                                                               diese Bedürfnisse aufgreifen und die Themen verhandeln, die die (Stadt-)
    von Apostolos Tsalastras                                   Gesellschaft bewegen. Dabei müssen Wege der Kommunikation gefunden
                                                               werden, die möglichst alle Menschen in der Stadt erreichen und sich nicht
                                                               auf die klassischen bildungsbürgerlichen Milieus und ihre Kommunikations-
                                                               strukturen beschränken.

In Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrech-      In seinem Artikel „Der Kulturschocker“ macht Jens Brambusch deutlich, wie
                                                               neu die Ideen und Vorstellungen waren, die Hilmar Hoffmann in den fünfzi-
te heißt es: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der    ger und sechziger Jahren in Oberhausen entwickelt und später in Frankfurt
                                                               und weltweit in den Goethe-Instituten umgesetzt hat. Hilmar Hoffmann hat
Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu         damit eine Tradition begründet, die auch heute noch in der Oberhausener
erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und des-        Kultur gelebt wird. „Kultur für alle“ war damals eine bahnbrechende Forde-
                                                               rung, wir erweitern sie heute um den Anspruch, als städtische Kultureinrich-
sen Errungenschaften teilzuhaben.“ Kulturelle Teilhabe ist     tungen nicht nur Kultur für alle machen zu wollen, sondern auch Kultur mit
                                                               den unterschiedlichen Gruppen und Menschen in der Stadt. Und ganz ohne
Grundlage für unsere demokratische Gesellschaftsstruktur,      Zweifel ist auch das im Sinne Hilmar Hoffmanns.
sie ist ein Menschenrecht. Dies verpflichtet uns als Gesell-   Auf Grundlage dieser Gedanken ist es Oberhausen in einem gemeinschaft-
schaft - und damit auch uns als Kommune -, Barrieren ab-        lichen Prozess mit Unterstützung der Zukunftsakademie NRW (ZAK NRW) in
                                                                den vergangenen Jahren gelungen, in allen städtischen Kultureinrichtungen
zubauen und zu beseitigen, die den Zugang zu kulturellen        Handlungskonzepte für Diversität zu erarbeiten und mit ihrer Umsetzung zu
Angeboten einschränken oder erschweren.                         beginnen. Diesen Prozess beschreibt Desbina Kallinikidou in ihrem Beitrag
                                                               „Diversität – ja bitte!“.
                                                                                                                                              5
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Eine besondere Herausforderung für die Kultur in Oberhausen besteht darin,          An dieser Stelle muss ganz besonders hervorgehoben werden, dass alles,
möglichst viele Menschen unterschiedlicher sozialer Lebenslagen zu erreichen        was hier dargestellt wird, nicht ohne die vielen Kulturpartner:innen in der
und ihnen den Zugang zu den Kultureinrichtungen und ihren Angeboten zu              Stadt denkbar oder gar umsetzbar wäre. Aus diesem Grund werden die
ermöglichen. Dies geschieht zum einen durch verschiedene kostenfreie oder           aktivsten von ihnen in einer Übersicht genannt, die nicht als vollständig an-
kostengünstige Angebote. Dabei stellen wir jedoch fest, dass nicht in erster        zusehen ist. Vielmehr handelt es sich um eine Momentaufnahme, die einen
Linie finanzielle Barrieren Menschen davon abhalten, Kulturangebote wahr-           Überblick über die Oberhausener Kulturszene gibt.
zunehmen. Die Barrieren sind vielfältig; deshalb ist in den vergangenen Jah-
ren ein umfassendes Konzept der kulturellen Bildung entwickelt worden, das          Neben den noch nicht umfassend geklärten Herausforderungen gilt es nun,
zum Abbau sozialer Barrieren beitragen soll. Dabei handelt es sich um ein           auch die inhaltliche Weiterentwicklung der Diversitätskonzepte einzuleiten.
Gesamtkonzept, das in enger Zusammenarbeit der Kultureinrichtungen, der             Dazu gehören etwa Qualifizierungskonzepte, die Weiterentwicklung der Mar-
Oberhausener Schulen, der freien Szene und der Stadtgesellschaft Angebo-            ketinginstrumente zur Ansprache verschiedener Zielgruppen und die verän-
te insbesondere für Kinder und Jugendliche zur Verfügung stellt. Dadurch            derte Ausgestaltung der Programme.
wird sichergestellt, dass jungen Menschen schon sehr früh der Zugang zu
Kunst, kultureller Vielfalt und kreativer Gestaltung ermöglicht wird.               Bei der Zusammenstellung des Programms der jeweiligen Kultureinrichtung
                                                                                    wird der ewige Konflikt zwischen Qualitätsanspruch und Breitenwirkung
Dieses Magazin soll zeigen, welche wichtigen Schritte zu mehr Diversität            nicht immer aufgelöst werden können. Auch bleibt der Konflikt zwischen
in den letzten Jahren gemacht worden sind. Die Einblicke, die hier gegeben          künstlerischer Freiheit und Zugang großer Teile der Bevölkerung zu Kunst-
werden, sind so unterschiedlich wie die Kultureinrichtungen und Arbeits-            werk, Programm, Themen und Form naturgemäß erhalten. Umso wichtiger
felder selbst, aus denen sie stammen. So wird im Beitrag der Volkshoch-             werden neue Kommunikationskonzepte, die helfen, Kunst erfolgreich zu ver-
schule gezeigt, wie das Thema „Diversität“ sich durch alle Bereiche der             mitteln, Menschen unterschiedlicher Milieus zu erreichen sowie sie für die
Erwachsenenbildung zieht und dort gelebt wird. Die Stadtbibliothek hat              Kulturangebote zu interessieren und zu begeistern. Dabei reicht es nicht aus,
hierzu ein Konzept, das die Bibliotheken in den Stadtteilen mit unterschied-        Soziale Medien zu nutzen, vielmehr müssen Zugänge zu den verschiedenen
lichen Schwerpunkten einbezieht. Die Ludwiggalerie nutzt ihre wechseln-             Bevölkerungsgruppen gefunden und auch langfristig gepflegt werden.
den Ausstellungen dazu, ein diverses Publikum anzusprechen, angefangen
bei verschiedenen Berufsgruppen bis hin zu Führungen für demenzkranke               „Kultur für alle – Kultur mit allen“, wie sie in Oberhausen verstanden wird,
Menschen. Der Beitrag von Clemens Heinrichs aus der Gedenkhalle spricht              bedeutet immer auch die Anregung zur gemeinsamen Kunst-Produktion und
wichtige historische Aspekte im Zusammenhang mit Diversität, Antirassis-             die Förderung und Entwicklung von Talenten. Dies hat mit Sicherheit etwas
mus und Demokratie sowie ihrer Vermittlung an.                                       mit dem Gesamtkonzept kultureller Bildung zu tun, geht aber weit darüber
                                                                                     hinaus. Insbesondere in Verbindung mit der Frage der Diversität entsteht
Das Stadtarchiv geht neue Wege, um nicht nur die Migrationsgeschichte                hier eine ganz neue Herausforderung, die auch die Frage nach einer Über-
der Stadt zu dokumentieren, sondern auch die Geschichte aus Sicht der                prüfung der Künstler:innenförderung aufwirft. Braucht es nicht auch Ele-
Migrant:innen selbst. Im Beitrag von Ella Steinmann aus dem Theater Ober-            mente, die künstlerische Aktivitäten und Kunstformen fördern helfen, die
hausen wird anhand eines sehr konkreten Beispiels gezeigt, wie künst-                bisher unentdeckt geblieben sind, weil sie sich nicht im bildungs- und kul-
lerische Arbeit sich gestalten kann, wenn sie die Prinzipien der Diversität          turaffinen Milieu abgespielt haben?
ernst nimmt. Und Lars Gass erläutert, wie sich die Anforderungen und der
Anspruch von Diversität bei den Internationalen Kurzfilmtagen, die dieses
Thema immer als ihr Kernthema angesehen haben, aktuell widerspiegeln. Im            Diese und viele weitere Fragen werden in Zu-
Beitrag der Musikschule und des Kulturbüros werden zahlreiche Beispiele
genannt, welche Maßnahmen ergriffen werden, um mit Musik, Kunst und Kultur
                                                                                    kunft zu beantworten sein. Diversität und Teil-
ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Der Artikel „Oberhausen - inter-       habe bleiben eine stetige Aufgabe, die immer
national und vielfältig“ aus dem Büro für Interkultur macht deutlich, welchen
wichtigen Beitrag die internationale Arbeit zum Thema „Diversität“ leistet.         wieder überprüft werden muss und deren Um-
Diese Beiträge geben Einblicke und wollen damit die Diskussion über das
                                                                                    setzung nur gemeinsam erreicht werden kann.
Thema „Diversität“ auf einer praktischen und konstruktiven Ebene anregen
und bereichern. Die Kultureinrichtungen sind an einem Dialog interessiert,
um ihre Angebote gemeinsam mit allen, die sich an diesem Dialog beteiligen,         Ich lade alle dazu ein, diesen Prozess mitein-
weiterentwickeln zu können.                                                         ander zu gestalten!
                                                                                                                                                                    7
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
VIE
                               8   Diversität ist ein zentrales Thema in einer
                                   demokratischen Gesellschaft, ein Thema,
                                   das sehr eng mit den Menschenrechten ver-
                                   bunden ist und dadurch eine herausragende
                                   Bedeutung hat.

LFA                                DER WEG VON DER INTERKULTUR
                                   ZUR DIVERSITÄT
                                   Die Angebote der städtischen Kultureinrich-
                                   tungen sind grundsätzlich für alle Bürger:innen
                                                                                          Zu dieser Zeit wurde in Oberhausen das Büro
                                                                                          für Interkultur als Stabsstelle beim Kulturde-
                                                                                          zernenten Apostolos Tsalastras gegründet. Hier
                                                                                          sind verschiedene städtische Aufgaben ange-

LT –
                                   offen und zugänglich. Trotzdem stellen wir fest,       siedelt, die interkulturelle Kompetenz erfordern:
                                   dass manche Bevölkerungsgruppen sie kaum               die internationalen Beziehungen der Stadt, die
                                   oder gar nicht nutzen. Das trifft zum Beispiel         internationalen Jugendbegegnungen MULTI,
                                   auf Menschen mit Migrationshintergrund zu. In          die Jugendkunstschule sowie die kommunale
                                   Oberhausen leben etwa 25 Prozent Menschen,             Europaarbeit. Das Team im Büro für Interkul-
                                   die wir „Migrant:innen“ nennen, also die im Aus-       tur organisiert interkulturelle und internatio-
                                   land geboren wurden, nach 1955 eingewandert            nale Projekte und ist Ansprechpartner für die
                                   sind oder einen im Ausland geborenen und nach          Themen Interkultur und Diversität. In diesem
                                   1955 eingewanderten Elternteil haben. In der           Zusammenhang unterstützt das Büro für Inter-
    von Desbina Kallinikidou       Gruppe der Kinder und Jugendlichen ist dieser          kultur die städtischen Kultureinrichtungen in der
                                   Anteil höher. Die aktiven Nutzer:innen der städ-       Entwicklung des Themas Vielfalt und Diversität,
                                   tischen Kultureinrichtungen spiegeln diesen pro-       berät, vernetzt und begleitet verschiedene städ-
                                   zentualen Anteil an der Bevölkerung nicht wider.       tische und nicht-städtische Akteur:innen.

  JA
                                   Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen          Die Kultureinrichtungen der Stadt Oberhausen
                                   den einzelnen Einrichtungen, denn die Volks-           haben sich schon früh auf den Weg gemacht,
                                   hochschule beispielsweise erreicht durch ihre          ihre Angebote für Menschen mit nicht-deut-
                                   Sprach- und Integrationskurse einen höheren            scher Herkunft zu öffnen und bestehende
                                   Anteil der Migrant:innen als andere. Gleiches gilt     Barrieren abzubauen. Dies geschah mit beson-
                                   für diejenigen Einrichtungen, die mit Schüler:in-      derem Nachdruck in den Jahren 2008 bis 2010
                                   nengruppen arbeiten.                                   im Rahmen der Erarbeitung eines Kommunalen
                                                                                          Integrationskonzepts für die Stadt Oberhausen.
                                   Die Teilhabe aller am kulturellen Leben ist von        Gemeinsam mit dem Integrationsrat, freien
                                   größter Bedeutung. Durch Kultur lebt eine offe-        und kirchlichen Einrichtungen sowie weiteren
                                   ne demokratische Gesellschaft, indem sie alle          Akteuren aus Politik und Verwaltung wurde ein
                                   Interessen der Bevölkerung berücksichtigt und          erstes „Interkulturelles Handlungskonzept für
                                   indem Akzeptanz, demokratische Partizipation,          die Kultureinrichtungen der Stadt Oberhausen“

   BIT
                                   Gerechtigkeit und Chancengleichheit in ihr ge-         verfasst mit der Verpflichtung, dass in der Folge
                                   lebt werden. Die gleichberechtigte Teilhabe ist        individuelle interkulturelle Handlungskonzepte
                                   in Artikel 27 der Allgemeinen Menschenrechte           mit konkreten Maßnahmen in jeder einzelnen
                                   verankert, wonach jeder Mensch das Recht hat,          Einrichtung entstehen sollten.
                                   „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei
                                   teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen          Aus heutiger Sicht muss gesagt werden, dass
                                   und am wissenschaftlichen Fortschritt und des-         eine solche Entwicklung ein komplizierter
                                   sen Errungenschaften teilzuhaben.“ Auf diesen          Prozess ist, denn sie erfordert eine intensive
                                   Vorstellungen und Werten basiert die Idee der          Auseinandersetzung mit dem eigenen Personal,
                                   interkulturellen Öffnung.                              dem Programm, dem Publikum sowie Partner:in-
                                                                                          nen. Begleitet von einer ebenso erforderlichen
                                   Die interkulturelle Öffnung der Kultureinrich-         Presse- und Öffentlichkeitsarbeit kann sie nicht

  TE!
                                   tungen war eine Weiterentwicklung der bis              ohne weiteres aus eigenen Kräften realisiert
                                   dahin vorherrschenden Vorstellung von der              werden. Daher ist es nachvollziehbar, dass die
                                   Integration aller Minderheiten in die Kultur der       Kultureinrichtungen in den darauffolgenden
                                   deutschen Mehrheitsgesellschaft. Mark Terkes-          Jahren viele interkulturelle Erfahrungen und
                                   sidis beschreibt das Konzept der Interkultur in        Projekte machten, aber keine tiefgreifenden
                                   seinem 2010 erschienenen Buch „Interkultur“            strukturellen Veränderungen auf diesem Gebiet
                                   als Gegenentwurf zur Integration. Er vertritt          stattfinden konnten.
                                   ein neues Verständnis von Kultur, sieht es am
                                   ehesten in städtischen Zentren vertreten und
                                   plädiert für die „kulturelle Barrierefreiheit“ aller

                                                                                                                                              9
                                   Institutionen in einer von Migration und Globali-
                                   sierung geprägten Welt.
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
Tiefgreifende Veränderungen kamen in dieser
Zeit von außen auf die gesamte Gesellschaft
durch den starken Zuzug geflohener Menschen
                                                      In der Kultur ist Diversität in erster Linie durch
                                                      die Ansprüche an Demokratie, Teilhabe, Men-
                                                      schenrechte, Antirassismus und Antidiskriminie-
                                                                                                               10   Vorstellung von Kultur als „Hochkultur“. Tradi-
                                                                                                                    tion, Moderne und alternative Kunst und Kultur
                                                                                                                    sieht er als gleichberechtigt an und berück-
                                                                                                                                                                       2021 haben sich die Diversitätsbeauftragten
                                                                                                                                                                       darauf verständigt, ihre Arbeit in einem Magazin
                                                                                                                                                                       vorzustellen. Lange wurde darüber diskutiert,
in den Jahren 2014 und 2015 zu, was wiederum          rung von Bedeutung. Es bringt viele Vorteile mit              sichtigt dabei auch die Kulturen der damaligen     für wen diese Informationen von Interesse sein
viele neue Herausforderungen für die Kultur-          sich, die Teilhabe ausgegrenzter Bevölkerungs-                Gastarbeiter:innen.                                könnten. Ohne Zweifel hat das Thema Diversi-
einrichtungen brachte. Das war der Fall, weil         gruppen im Rahmen von Vielfalt und Diversität                                                                    tät in den vergangenen Jahren weltweit in der
sich die Zusammensetzung der migrantischen            zu betrachten.                                                Hoffmanns Blick auf die soziale Herkunft ist       öffentlichen Diskussion an Bedeutung gewon-
Bevölkerung in kurzer Zeit stark veränderte und                                                                     weiterhin sehr hilfreich, denn auch die deutsche   nen, was sich in Bewegungen wie #MeToo, Black
neue Aufgaben hinzukamen, die kurzfristig zu          Wenn wir von Diversität sprechen, berücksich-                 Bevölkerung in Oberhausen bestand in der Mi-       Lives Matter oder in den vielen Aktivitäten zur
erledigen waren, wie etwa die Bereitstellung von      tigen wir, dass die menschliche Persönlichkeit                lieustudie von 2009 mehrheitlich aus Menschen,     Akzeptanz queerer Menschen, die eine breite
Sprachkursen für geflohene Menschen und die           viele Dimensionen hat. Das sind nach einem                    deren soziale Lage der unteren Mittelschicht       Öffentlichkeit erreichen, widerspiegelt.
Auseinandersetzung mit Flucht und Migration in        gängigen Modell (Living Diversity) in erster Linie            sowie der Unterschicht zugeordnet wird. Das
verschiedenen Veranstaltungen. So fanden im           die Dimensionen Geschlecht, Alter, soziale Her-               ist die Hälfte der Bevölkerung. Und auch das ist   Die Oberhausener Kultureinrichtungen möchten
Jahr 2016 zwei Kulturkonferenzen zum Thema            kunft, nationale Herkunft/Ethnie, geistige und                eine Bevölkerungsgruppe, die im Verhältnis zu      in diesem Magazin einen Einblick in ihre Arbeit
„Kultur mit geflohenen Menschen“ statt, die           körperliche Fähigkeiten und sexuelle Orientie-                ihrem Bevölkerungsanteil in den Kultureinrich-     zum Thema Vielfalt und Diversität geben, um
zum Ziel hatten, die kreativen Kräfte im Bereich      rung. Es kommen auf weiteren Ebenen Religion/                 tungen unterrepräsentiert ist. Der Ansatz der      darüber mit interessierten Bürger:innen, Besu-
Kunst und Kultur zu vernetzen und zu bündeln,         Weltanschauung, Aussehen/Auftreten, Einkom-                   Diversität ermöglicht es, das besser berücksich-   cher:innen, Teilnehmer:innen und anderen Ver-
um konkrete Angebote machen zu können, noch           men, Familienstand, Ausbildung etc. hinzu.                    tigen zu können und nicht nur in den Merkmalen     treter:innen der Öffentlichkeit in den Austausch
bevor voll funktionsfähige städtische Hilfs- und      Indem wir diese Dimensionen insgesamt im                      migrantisch/nicht-migrantisch zu denken, was       zu kommen.
Unterstützungsstrukturen aufgebaut waren. In          Blick haben, werden wir der Tatsache gerecht,                 viel zu kurz gegriffen wäre.
dieser Phase, in der besonders viele Initiativen,     dass nicht nur der Faktor Migrationshintergrund                                                                  Dies ist umso wichtiger, da es sich um eine
Vereine und Freiwillige aktiv wurden, waren die       eine Barriere bilden kann. Je nach Situation und              In den vergangenen Jahren hat es viele Bemü-       gesamtstädtische Entwicklung handelt, die seit
Kulturangebote für viele geflohene Menschen           Rahmenbedingungen können auch alle anderen                    hungen gegeben, Menschen mit Behinderung           dem Wirken Hilmar Hoffmanns in Oberhausen
eine willkommene Möglichkeit, ihren neuen             Dimensionen wie Geschlecht, Alter, soziale Her-               stärker in die bestehenden Strukturen einzubin-    verfolgt wird, mit dem Ziel, nicht nur Kultur für
Wohnort zu erkunden und erste Kontakte zu             kunft etc. Gründe für Ausgrenzung sein. Dabei                 den. Dabei sind die Begriffe Integration/Inter-    alle zu machen, sondern auch Kultur mit allen.
knüpfen. Beispiele aus dieser Zeit sind die Pro-      kann die Kombination mehrerer Merkmale auch                   kultur in Bezug auf Menschen mit Migrations-       Diesen Leitgedanken verfolgen die städtischen
jekte „Space Wide Open“ an der Ludwiggalerie          zur Überschneidung verschiedener Diskrimi-                    hintergrund gebräuchlich, während der Begriff      Kultureinrichtungen; und sie sind dabei immer
Schloss Oberhausen, oder „Freiheit leuchtet“          nierungsformen bei einer Person führen. Damit                 Inklusion im Zusammenhang mit Menschen mit         wieder auf der Suche nach den richtigen Mitteln
der Objektkünstlerin Simone Kamm.                     ergibt sich, dass wir Themen wie Gleichstellung               Behinderung benutzt wird. Da es bei der Diversi-   und Wegen.
Es war ein Glücksfall für die Stadt Oberhausen,       der Geschlechter, Inklusion von Menschen mit                  tätsentwicklung um die Inklusion der verschie-
dass sie 2018 von der Zukunftsakademie des            Behinderung, Interkultur etc. nicht vollkommen                denen Gruppen geht, bleibt abzuwarten, welcher     Die Kultureinrichtungen der Stadt Oberhausen
Landes NRW die Möglichkeit erhielt, ein Mo-           getrennt voneinander betrachten dürfen.                       Begriff sich in Zukunft durchsetzen wird.          haben die Herausforderungen einer immer viel-
dellprojekt mit dem Titel „Zukunft in Vielfalt“                                                                     Die Welt verändert sich und die Kultureinrich-     fältiger werdenden Gesellschaft angenommen
durchzuführen. Die Zukunftsakademie führte            Ein weiterer Aspekt, der dafür spricht im Sinne               tungen in ihr.                                     und in den vergangenen Jahren vieles in Sachen
zunächst eine Bestandsaufnahme zur interkul-          der Diversität vorzugehen, besteht darin, dass                                                                   Diversität und Inklusion erreicht. Gleichzeitig
turellen Arbeit in den Kultureinrichtungen durch,     wir dadurch auch die Vielfältigkeit der migranti-             Mit Hilfe der Zukunftsakademie NRW und dem         muss jedoch festgehalten werden, dass es sich
bot Workshops und kollegiale Beratung an und          schen Bevölkerung berücksichtigen. Menschen                   von ihr beauftragten Institut für soziale Inno-    lediglich um eines von vielen Zwischenzielen
schon bald wurde deutlich, dass es nun an der         mit Migrationshintergrund sind nicht nur im Hin-              vation ist es den Kultureinrichtungen in Ober-     handelt. Die folgenden Beiträge haben das Ziel,
Zeit war, die Idee von der interkulturellen Öff-      blick auf ihre nationale Herkunft unterschied-                hausen 2018 gelungen, einige Schritte voranzu-     anhand von Beispielen, die nur einen sehr klei-
nung zu erweitern, einen neuen Weg einzuschla-        lich, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialen                kommen. Nach einleitenden Workshops für die        nen Ausschnitt aus der gesamten Arbeit zeigen,
gen und die Frage der Teilhabe am kulturellen         Herkunft, Bildung, Religion, Sprache, Werte etc.              Leiterinnen und Leiter der Kultureinrichtungen     Einblicke in die geleistete Arbeit zu geben. Dabei
Leben in Zusammenhang mit der gesellschaftli-         Das hat erstmals die Sinusstudie von 2009 sehr                wurde in jedem Institut ein:e Diversitätsbeauf-    werden auch Perspektiven für die kommenden
chen Vielfalt zu sehen und „diversitätsorientier-     deutlich gezeigt. Sie identifizierte in der Ober-             tragte:r benannt, der/die Ansprechpartner:in       Jahre aufgezeigt, denn es handelt sich um einen
te Handlungskonzepte“ zu erarbeiten.                  hausener Bevölkerung folgende Milieus bei den                 für das Thema Diversität ist. So konnten in den    fortwährenden Prozess zur kulturellen Öffnung
                                                      Migrant:innen: traditionelles Arbeitermilieu (23,6 %),        Jahren 2019 bis 2020 schließlich die Stadt-        und Teilhabe aller Menschen in Oberhausen.
WAS IST DIVERSITÄT?                                   hedonistisch-subkulturelles Milieu (20,1 %),                  bibliothek und die Volkshochschule, die Mu-
Diversität wird oft mit Vielfalt gleichgesetzt,       adaptives Integrationsmilieu (15,1 %), entwur-                sikschule, das Kulturbüro, die Internationalen
was allerdings viel zu kurz greift, denn Diversität   zeltes Milieu (10 %), religiös-verwurzeltes Milieu            Kurzfilmtage Oberhausen, das Theater Ober-
beinhaltet den bewussten und wertschätzenden          (9,1 %), statusorientiertes Milieu (8,2 %), multi-            hausen, die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen,
Umgang mit Vielfalt. Der Begriff leitet sich vom      kulturelle Performer (7,5 %), interkulturell-kos-             die Gedenkhalle, das Stadtarchiv und das Büro
englischen Diversity Management ab, stammt            mopolitisches Milieu (6,3 %). Es wäre sicherlich              für Interkultur jeweils ein eigenes Diversitäts-
aus der Wirtschaft und Personalentwicklung,           interessant zu erfahren, ob es in den vergange-               konzept in den politischen Gremien der Stadt
wo es um den Nutzen und die Wirtschaftlich-           nen Jahren hier Verschiebung gegeben hat.                     vorstellen. Die Konzepte sind so unterschiedlich
keit vielfältig zusammengesetzter Teams geht.         So können beispielsweise eine deutsche und                    wie die Betätigungsfelder und Angebote der
Dieser Ansatz wird schon seit Jahren in großen        eine arabische Lehrerin sehr viele Gemeinsam-                 verschiedenen Einrichtungen, verfolgen jedoch
und insbesondere in multinationalen Konzernen         keiten haben, wie z. B. Geschlecht, Alter, soziale            alle das Ziel, sich noch stärker als bisher für
verfolgt.                                             Herkunft aus der Mittelschicht, Ausbildung,                   Menschen zu öffnen, die in ihren Einrichtungen
                                                      Beruf, Weltanschauung, geistige und körperliche               unterrepräsentiert sind oder nicht angemessen
                                                      Fähigkeiten, sexuelle Orientierung, die sie auf-              berücksichtigt werden. Entscheidend dabei ist,
                                                      grund eines ähnlichen Herkunftsmilieus stärker                dass der Wille und die Bereitschaft zum Enga-
                                                      miteinander verbinden als mit den meisten                     gement für eine noch stärkere Öffnung auf allen
                                                      ihrer Landsleute.                                             Ebenen der Verwaltungshierarchie vorhanden
                                                                                                                    sind, angefangen beim Kulturdezernenten über
                                                      Der Blick auf die Milieus greift den Aspekt der               die Leitungen der Kultureinrichtungen bis zu den
                                                      sozialen Herkunft auf, der schon in den Gedan-                Mitarbeitenden. Es steht außer Zweifel, dass der             Desbina Kallinikidou, Ansprech-
                                                      ken und Vorstellungen von Hilmar Hoffmann und                 Prozess zur Diversitätsorientierung nur gelingen             partnerin für Internationale Be-
                                                      seinem Konzept „Kultur für alle“ im Vordergrund               kann, wenn er von der Führungsebene gewollt                  ziehungen, Europa und Diversität
                                                      stand. Hilmar Hoffmann hat nach seinen Erfah-                 ist. Ebenso steht fest, dass er nur gemeinsam                im Büro für Interkultur

                                                      rungen als Leiter der Volkshochschule und Kul-                mit allen Mitarbeitenden in praktisches Handeln
                                                      turdezernent der Stadt Oberhausen in den 70er                 umgesetzt werden kann, sonst bleiben auch die

                                                                                                                                                                                                                            11
                                                      Jahren einen neuen Kulturbegriff entwickelt, der              besten Konzepte kraftlose Papiertiger.
                                                      umfassender ist als die bis dahin bestehende
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
Foto: Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

                                                                                    12    Hilmar Hoffmann überlegt lange. Sein Blick
                                                                                          ist konzentriert, Stille lastet zentnerschwer
                                                                                          über seiner Antwort, die wie ein Resümee
                                                                                                                                              kulturellen Lebens. Für Hoffmann war Kultur
                                                                                                                                             „kein absoluter Wert, der an sich selbst gemes-
                                                                                                                                              sen werden kann, sondern nur an den gesell-
                                                                                          seiner jahrzehntelangen Arbeit wirkt. „Das          schaftlichen Entwicklungen, die sie bewirkt
                                                                                          Projekt ‚Kultur für alle‘ ist immer noch ein        oder deren Bedingungen ihre Entfaltung
                                                                                          utopisches. Es ist noch längst nicht eingelöst      unterworfen ist“.
                                                                                          und ich sage heute: ‚Kultur für alle‘ ist eine
                                                                                          Prognose und keine Retrospektive. Das heißt,       Die Erkenntnisse, die Hoffmann zu einem
                                                                                          wir müssen, was mit den Steuergeldern aller        radikalen Wandel in der Kulturpolitik auf-
                                                                                          aufgebracht wird, nämlich kulturelle Infra-        rufen ließ, hatte er in Oberhausen gesammelt,
                                                                                          struktur, allen Menschen zugänglich machen         der Stadt, in der er nach dem Krieg eine neue
                                                                                         - um ihrer selbst willen. Es gibt bis heute keine   Heimat fand, sie prägte und sie auf die Welt-
                                                                                          überzeugende Darstellung dessen, was Kul-          karte des internationalen Films hob.
                                                                                          turpolitik dazu beitragen kann, dass wir im
                                                                                          nächsten Jahrhundert eine friedliche Zukunft       Wer war dieser Mann, der in der Bonner Repu-
                                                                                          gewinnen.“                                         blik die Kulturpolitik maßgeblich beeinflusste,
                                                                                                                                             ganz im Sinne des damaligen Bundeskanzlers
                                                                                         Das Interview gibt Hoffmann im Jahr 2015, da        Willy Brandt und dessen Maxime „Mehr De-
                                                                                         ist er bereits fast 90 Jahre alt. Dass Hoffmanns    mokratie wagen“?
                                                                                         Forderung nach „Kultur für alle“ noch nicht
                                                                                         umgesetzt ist, empfindet er aber nicht als          Hilmar Hoffmann wird am 25. August 1925 als
                                                                                         Scheitern, sondern als stete Herausforderung.       jüngster von drei Söhnen in Bremen geboren.
                                                                                         Denn er weiß: „Zukunft ist ein kulturelles          Die Ehe der Eltern zerbricht am erstarkenden
                                                                                         Programm“.                                          Nationalsozialismus. Der Vater ist beken-
                                                                                                                                             nender Marxist, die Mutter eine begeisterte
                                                                                         Hoffmann sitzt in einem ehemaligen Forst-           Anhängerin Hitlers. 1933, im Jahr der Machter-
                                                                                         haus am Stadtrand von Frankfurt am Main,            greifung, verlässt der Vater Deutschland. Nie
                                                                                         in das er Anfang der 1970er Jahre gezogen           wieder wird Hilmar Hoffmann etwas von ihm
                                                                                         ist, direkt nachdem er Oberhausen verlassen         hören. Die Mutter kümmert sich allein um die
                                                                                         hat. Das Haus gleicht einem Museum. Gemäl-          Erziehung der Kinder. Als Hoffmann elf Jahre
                                                                                         de, Grafiken und Fotografien stapeln sich bis       alt ist, übernimmt seine Mutter, gefördert
                                                                                         unter das Dach, die meisten davon Geschenke         durch einen NS-Gauleiter, die Leitung eines
                                                                                         namhafter Künstler. Hinzu kommen etliche            Kinderheims in Oberhausen. So verschlägt es
                                                                                         Aktenordner mit fein säuberlich ausgeschnit-        den Hanseaten Hoffmann an den Rand des
                                                                                         tenen Filmkritiken aus Zeitungen. Auf einer         Ruhrgebietes. Seine Brüder werden begeister-
                                                                                         Kommode thronen Schallplatten, die der              te Offiziere in Hitlers Armee. Als Jungvolkfüh-
                                                                                         Mann mit den markant buschigen Augen-               rer will Hilmar ihnen nacheifern. Er sucht die
                                                                                         brauen drapiert hat wie Exponate. Da steht          Anerkennung, die er zu Hause nicht findet.
                                                                                         der Klassiker „Bookends“ des Duos Simon and

                                                           DER KULTUR-
                                                                                         Garfunkel neben der „Abbey Road“ von den
                                                                                         Beatles. Musik, die dem einflussreichsten Kul-
                                                                                                                                             In „Generation Hitlerjugend“ be-
                                                                                         turpolitiker Deutschlands viel bedeutet.            schreibt Hoffmann später das
                                                                                         Auf zwei Etagen beherbergen wuchtige Regale         Gefühl der Eingebundenheit in
                                                                                         tausende Bücher. Es sind mehr als 15.000            einer strengen Hierarchie, ein-

                                                            SCHOCKER
                                                                                         Exemplare. Weit mehr sogar. Aber bei 15.000
                                                                                         hat Hoffmann aufgehört zu zählen. Fünfzig           gelullt durch einen gefühligen
                                                                                         der Werke tragen seinen Namen auf dem               Blut- und Boden-Mystizismus,
                                                                                         Buchrücken, die Cover seiner wichtigsten
                                                                                         Titel hängen gerahmt an der Wand. Darunter          begeistert durch Nazirituale und
                                                                                         sein letztes und persönlichstes Buch „Genera-
                                                                                         tion Hitlerjugend“, in dem Hoffmann mit sich
                                                                                                                                             ihre heroisierende Überhöhung in
                                                               von Jens Brambusch        selbst schonungslos ins Gericht geht, sein be-      Leni Riefenstahls Filmen. Er fühlt
                                                                                         rühmtes „Taubenbuch“ und natürlich „Kultur
                                                                                         für alle“. Das Buch, mit dem Hoffmann die
                                                                                                                                             sich als Teil einer „zusammenge-
                                                                                         Kulturpolitik Deutschlands aufrüttelte und          schweißten Lebensgemeinschaft
                                                                                         neue Strukturen schuf.
                                                                                                                                             unter einer uns alle beschirmen-
Hilmar Hoffmann war Deutschlands visionärster Kulturpo-                                  „Kultur für alle“ ist nicht irgendein Buch, das     den Fahne“, die es gegen „bol-
litiker. Schon in den 70er Jahren forderte er „Kultur für alle“                           Werk ist nicht weniger als Hoffmanns Vision
                                                                                          von einem neuen Kulturbegriff in den verkrus-      schewistischen und jüdischen
und war damit seiner Zeit weit voraus. Kultur war für Hoff-
                                                                                          teten Strukturen der noch jungen Bundesrepu-       Verrat“ zu verteidigen gelte, bis
                                                                                          blik, manifestiert auf 357 Seiten. Erschienen in
                                                                                          den 70er Jahren hat das Buch bis heute nicht       zum Heldentod.
mann weit mehr als Museen-, Theater- und Opernbesuche,                                    an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil. Es
                                                                                          ist aktueller denn je. Immer noch sind weite       Doch so weit kommt es nicht, Hoffmann ent-
er sah in ihr den Schlüssel für ein friedliches Zusammen-                                 Teile der Gesellschaft von der Kultur abge-
                                                                                          koppelt. Oder fühlen sich nicht angesprochen.
                                                                                                                                             geht dem Heldentod. Wenn auch als einziger
                                                                                                                                             seiner ehemaligen Schulklasse in Oberhausen.
leben der Kulturen. Hoffmanns wegweisende Erkenntnisse                                    Hoffmann forderte bereits vor 50 Jahren den
                                                                                          Abschied von der Vorherrschaft des Bildungs-
                                                                                                                                             1944 gerät er in Frankreich in Kriegsgefangen-
                                                                                                                                             schaft. Durch einen Dokumentarfilm erfährt

hatte er als Kulturdezernent der Stadt Oberhausen gewonnen.                                                                                                                                    13
                                                                                          bürgertums in der Kulturpolitik und wies den       er dort von den Nazi-Verbrechen. Hoffmann
                                                                                          Weg hin zur Öffnung und Erweiterung des            ist schockiert. Im Herbst 1947 kehrt er zu
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
seiner Mutter nach Oberhausen zurück und
findet Arbeit als Dolmetscher bei der briti-
schen Rheinarmee. Dem Colonel gefällt der
                                                   spruch des Manifests ist kein geringerer als die
                                                   Schaffung eines neuen deutschen Kinos: „Der
                                                   alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Das
                                                                                                       14   Gerade im Kontext von Diversität
                                                                                                            – also, kurz gesagt, im Hinblick
                                                                                                                                                             Er unterrichtet Filmtheorie und Kulturpolitik
                                                                                                                                                             an den Universitäten von Bochum und Frank-
                                                                                                                                                             furt, ist Honorarprofessor in Marburg und
junge Mann. Er schickt ihn nach Wilton Park        Manifest zeigt Wirkung. So wird als Folge die            auf Geschlecht, Alter, Religion,                 Gastprofessor in Jerusalem und Tel Aviv.
in Buckinghamshire, der Kaderschmiede für          kulturelle staatliche Filmförderung ins Leben
den demokratischen Neubeginn im befreiten          gerufen. Bis 1970 leitet Hoffmann das Festival,          soziale und nationale Herkunft,                   Als Hoffmann 1993 einen neuen Job in München
Deutschland. Dort trifft Hoffmann den Philo-
sophen Bertrand Russell. Eine Begegnung, die
                                                   die letzten fünf Jahre in Oberhausen ist er zu-
                                                   gleich Kultur- und Sozialdezernent der Stadt.
                                                                                                            Ausbildung, Einkommen, geistige                   angeboten bekommt, kann er nicht ablehnen.
                                                                                                                                                              Die Aufgabe ist für ihn wie auf den Leib ge-
sein Leben prägen soll.                                                                                     und körperliche Fähigkeiten sowie                 schneidert. Hoffmann wird Präsident des Goe-
                                                    In dieser Zeit entwickelt Hoffmann einen                                                                  the-Instituts, dessen Aufgaben die Förderung
In dieser Phase erkennt Hoffmann, wie die           neuen Kulturbegriff. „Das Ziel ist die Erziehung
                                                                                                            sexuelle Orientierung - erhalten                  der deutschen Sprache im Ausland, die Pflege
Nazis Kunst und Kultur als Werkzeug miss-           eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der           die Gedanken Hoffmanns noch-                      der internationalen kulturellen Zusammenar-
braucht haben, wie Goethe, Hölderlin und            imstande ist, durch einen permanenten Lern-                                                               beit sowie die Vermittlung eines umfassenden
Wagner instrumentalisiert worden sind. Er           prozess die Bedingungen seiner sozialen Exis-           mal eine besondere Bedeutung.                     Deutschlandbildes durch Informationen über
realisiert, wie raffiniert Filme zu Waffen des      tenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend            Sie geben Orientierung und Im-                    das kulturelle, gesellschaftliche und politi-
Antisemitismus werden konnten, wie Propa-           zu verhalten.“ Es sind Sätze wie Donnerhall, die                                                          sche Leben umfassen. Bis 2001 navigiert Hoff-
ganda eingesetzt wurde, um eigenständiges           Hoffmann bei seiner Antrittsrede als Kultur-            pulse, wie die Herausforderungen                  mann erfolgreich das Goethe-Institut durch
Denken auszuschalten.                               dezernent der Stadt Frankfurt fallen lässt. Dem         einer immer vielfältiger werden-                  schwierige Zeiten. Erst mit Mitte 1980 legt er
                                                    Ruf an den Main konnte er nicht widerstehen.                                                              alle Ämter nieder, zieht sich in das Forsthaus
So etwas, beschließt Hoffmann, darf nie wieder      In der Finanzmetropole werden ihm die Mittel            den Gesellschaft angegangen                       am Frankfurter Stadtrand zurück, in das er
geschehen. In Bildung und Kultur sieht er das
wirksamste Mittel gegen Verblendung. Deshalb
                                                    in Aussicht gestellt, das umzusetzen, was er in
                                                    Oberhausen entwickelt hat. Sein Programm:
                                                                                                            werden können - und müssen.                       1970 mit seiner Frau und den beiden Kindern
                                                                                                                                                              gezogen ist, und widmet sich fortan verstärkt
muss sie allen zugänglich sein. Hoffmann hat       „Kultur für alle“.                                       Hoffmann hat ein Vermächtnis                      dem Schreiben. Sein fünfzigstes Buch, das
den Anspruch, dass Kultur nichts Elitäres sein                                                                                                                wichtigste seiner Karriere, will er vollenden:
darf, sondern der breiten Bevölkerung offenste-    Hoffmann fordert den Abschied von der Vor-
                                                                                                            hinterlassen, das in Oberhausen,                 „Generation Hitlerjugend“.
hen muss - ein zentraler Gedanke hinter dem        herrschaft des Bildungsbürgertums in der Kul-            aber auch in anderen Städten,
Konzept der Volkshochschule.                       turpolitik und weist den Weg hin zur Öffnung                                                              Jeden Morgen, das berichtet später sein Sohn
                                                   und Erweiterung des kulturellen Lebens. Er               gepflegt wird.                                   der Frankfurter Rundschau, schreibt Hoff-
In Oberhausen wird Hoffmann 1951 der jüngs-        betont, Kultur sei „kein absoluter Wert, der an                                                           mann mit großer Selbstdisziplin an dem Werk.
te Direktor einer Volkshochschule in der           sich selbst gemessen werden kann, sondern nur            Was Hoffmann unter „Kultur für alle“ ver-        Er steht früh auf, frühstückt und setzt sich
Bundesrepublik. Mit gerade einmal 26 Jah-          an den gesellschaftlichen Entwicklungen, die             steht, demonstriert er zunächst in Frankfurt.    an den Schreibtisch. Selbst, als er schon 90
ren. Hoffmann geht in seiner neuen Aufgabe         sie bewirkt oder deren Bedingungen ihre Ent-             Und beweist, dass es möglich ist. Er bewirkt,    Jahre alt ist. Kultur sei „sein Lebenselixier“.
vollkommen auf. Sein Arbeitstag umfasst 16         faltung unterworfen ist.“                                dass der Eintritt in die Dauerausstellungen      Man brauche sie, „um ein ganzer Mensch zu
Stunden und mehr. 1953 begründet Hoffmann                                                                   der Museen kostenlos ist und macht die           werden“, hat Hoffmann in einem seiner letzten
die „Internationalen Westdeutschen Kurzfilm-       Für Hoffmann bedeutet „Kultur in der Stadt               Buchmesse in der Öffentlichkeit präsenter.       Interviews gesagt. Am 1. Juni 2018 verstarb
tage“ in Oberhausen und hebt damit die Stadt       daher, die Kommunikation zu fördern und                  Literatur findet nun nicht mehr nur auf dem      Hilmar Hoffmann im Alter von 92 Jahren in
im westlichen Ruhrgebiet auf die Weltkarte des     damit der Vereinzelung entgegen zu wirken,               Messegelände und auf Verlagspartys statt,        Frankfurt. Als ganzer Mensch.
Films. Film ist für Hoffmann mehr als Unter-       Spielräume zu schaffen und damit ein Gegen-              sondern auch in der Öffentlichkeit, wie etwa
haltung. Film ist Politik. Kulturpolitik. Und so   gewicht gegen die Zwänge des heutigen Lebens             bei „Literatur im Römer“. Der Autor Claus-
trägt das erste Festival auch das Motto „Kultur-   zu setzen, die Reflexion herauszufordern und             Jürgen Göpfert schreibt in der Biografie über
film – Weg zur Bildung“. Gezeigt werden 45         damit bloße Anpassung und oberflächliche Ab-             den ehemaligen Kulturdezernenten: „Kaum
Filme aus der Bundesrepublik, Frankreich und       lenkung zu überwinden.“                                  ein anderer Kulturpolitiker in Deutschland
den Vereinigten Staaten. Beim vierten Festi-                                                                nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete eine
val sind bereits 190 Filme aus 29 Ländern im       Hoffman legt den Finger in die Wunde und                 solche Wirkungsmacht, hinterließ diese Spuren.
Programm vertreten. Oberhausen wird zu einer       scheut auch nicht davor zurück, auszuteilen.             Vieles, das er anstieß, fand Nachahmer in
Institution in der Branche. Viele Filme aus        Den Frankfurter Ratsmitgliedern schleudert er            anderen deutschen Kommunen.“
dem sogenannten Ostblock kann man nur hier         entgegen: „Unsere Gesellschaft leidet unter ei-
sehen. Ein Umstand, der zum raschen Aufstieg       ner zu starken Ausrichtung auf wirtschaftliche           Hoffmanns Lebenswerk ist das Frankfurter
der Kurzfilmtage und zu ihrem Ruf als „Mekka       Ziele, dies schränkt den kulturellen Bereich ein         Museumsufer. Insgesamt gehen 15 Museen auf
des Kurzfilms“ beiträgt. 1959 wird das Festival    und verurteilt die Kultur zu einer Randerschei-          seine Initiative zurück. Die Finanzmetropole
umbenannt in „Westdeutsche Kurzfilmtage“.          nung.“ Hoffmann versteht die „Demokratisie-              Frankfurt giert damals nach Kultur und
                                                   rung der Kultur“ als Abbau von Barrieren beim            Anerkennung, Hoffmann stillt den Appetit.
Größen des Films bekommen glänzende Augen,         Zugang zum kulturellen Leben, er sieht die kul-          Da Kultur aber nicht nur aus Museen besteht,
wenn sie an Oberhausen denken. „Hier habe          turelle Bildung als konstitutives Element der            fördert Hoffmann ein Netz von Stadtteilbiblio-
ich meine erste Zigarette geraucht. Hier habe      Sozialisation an“. Als Bestandteil der „Kultu-           theken, baut die Bürgerhäuser aus und grün-
ich jahrelang jeden Film gesehen, mich alljähr-    rellen Demokratie“ nennt er die Anerkennung              det ein kommunales Kino, das heute im Film-
lich gefreut auf die Tage in Oberhausen. Diese     der Existenz unterschiedlicher Kulturen und              museum integriert ist. Eben: Kultur für alle!
Ereignisse waren für mich, für meinen Ent-         deren Einbeziehung in die Kulturförderung. Er
schluss Filme zu machen, wichtig“, sagt Filme-     würdigt alternative Kulturformen, fordert die            Hoffmann ist ein leidenschaftlicher Vorreiter
macher Wim Wenders. Roman Polanski nennt           Aufnahme neuer Bereiche wie Kino, Jazz und               und Verfechter der Kultur in ihrer breitesten
Oberhausen „eine wichtige Station meiner           Vereinsarbeit in die Kulturförderung.                    Form. Nicht nur in Frankfurt, sondern in der
Entwicklung zum Regisseur.“                                                                                 gesamten Bundesrepublik. Zwanzig Jahre
                                                   Hoffmann ist seiner Zeit voraus. Weit voraus.            prägt er die Kulturlandschaft Frankfurts - von
 Die Kurzfilmtage sind ein Festival für die neue   Hoffmann versteht schon in den 1970er Jahren             1970 bis 1990. Auch als die Christdemokraten
 Generation der Filmschaffenden. Das polni-        Kulturentwicklung als Prozess, an dem alle               das Bürgermeisteramt bekleiden, darf Genos-
 sche, jugoslawische und kubanische Kino feiert    Schichten der Gesellschaft, auch die Zuwan-              se Hoffmann, ein leidenschaftlicher Sozial-
 hier Triumphe. In Oberhausen trifft sich die      derer, aktiv an der Veränderung und Neu-                 demokrat, aufgrund seiner hervorragenden
 Avantgarde der Branche. Und so überrascht es      gestaltung des kulturellen Lebens beteiligt              Verdienste im Amt bleiben. Und auch als er
 nicht, dass im Jahr 1962 von Oberhausen aus       sein sollten. Sätze, die auch heute, 50 Jahre            den Sessel des Kulturdezernenten nach zwei
 die deutsche Filmszene erschüttert wird. Das      später, aktueller denn je sind. Nicht zuletzt in         Jahrzehnten verlässt, kommt Hoffmann, den

                                                                                                                                                                                                               15
„Oberhausener Manifest“ ist eine Abrechnung        Oberhausen, der Stadt, in der Hoffmann sein              Freunde wegen seines markanten Äußeren
 mit und eine Abkehr von „Opas Kino“. Der An-      Konzept entwickelte.                                     gerne mit Goethe vergleichen, nicht zur Ruhe.
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
Büro für Interkultur
                                                                                                               16
                                                                                                                                                                                      Teilnehmermerinnen der MULTI 2018, Fotos: Ant Palmer

          Oberhausen -
          international
          und vielfältig
                             von Marc Grunenberg, Desbina Kallinikidou

Als der erste Jugendaustausch mit England            Das Büro für Interkultur beschäftigt sich [unter
1953 stattfand, waren die Wunden des Zweiten         anderem auch] mit den internationalen Bezie-
Weltkrieges noch überall sichtbar und die krie-      hungen und Kontakten der Stadt Oberhausen.
gerischen Auseinandersetzungen zwischen den          Dabei handelt es sich zunächst einmal um die
beiden Ländern schmerzhafte Erinnerungen im          Beziehungen zu den Partnerstädten Middles-
Gedächtnis der jungen Menschen, die sich nun         brough (Großbritannien), Saporishja (Ukraine),
„die Hand zur Versöhnung reichten“.                  Carbonia und Iglesias (Italien), Mersin (Türkei)
                                                     und Tychy (Polen).
Als der Oberbürgermeister von Middlesbrough,
Ray Mallon, etwa 50 Jahre später gemeinsam           Hinzu kommen viele andere Partner, die am
mit seinem deutschen Amtskollegen Klaus Weh-         internationalen Jugendaustausch MULTI teilneh-
ling das Bunkermuseum besuchte, war er tief          men, wie z. B. Marokko, Peru, China und die USA,
bewegt. Denn er musste an seinen Onkel Fronzie       oder die in einem (europäischen) Projekt mit der
denken, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat in       Stadt Oberhausen zusammenarbeiten, wie Sisak
Deutschland war. Und an die Fliegerangriffe auf      (Kroatien), Thessaloniki (Griechenland), Madrid
das Rheinland vom englischen Stützpunkt Thor-        (Spanien). Es gibt zahlreiche weitere Kontakte,
naby aus, den er oft mit seinem Vater besucht        z.B. über das Goethe-Institut eine Anfrage und
hatte. Er stellte sich vor, wie der junge Klaus in   ein Besuch aus Kuba zur Kulturarbeit in Ober-
dem Bunker saß, der jetzt ein Museum war, wäh-       hausen, eine Anfrage und ein Besuch aus Südko-
rend britische Bomber über ihn hinwegflogen.         rea zum Strukturwandel, ein Fachaustausch zur
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Städte-            Jugendarbeit mit Marokko. Und es gibt immer
partnerschaften begründet, um die Verständi-         wieder weitere Anfragen zur Begründung einer
gung zwischen den Völkern Europas aufzubauen,        Partnerschaft oder zur Projektzusammenarbeit
den Frieden dauerhaft zu sichern und Kriege zu       aus der ganzen Welt.
verhindern. Der Leitgedanke dabei war und ist,
dass Menschen, die sich kennen und verstehen,        INTERNATIONALITÄT ALS MOTOR
weniger anfällig sind für Hass und militärische      FÜR ENTWICKLUNG
Konflikte. England und vor allem auch Frankreich     In einer globalisierten Welt ist es für eine moder-
haben mit den Städtepartnerschaften die Ent-         ne Stadt wichtig, international aufgestellt zu sein,           Oberbürgermeister Daniel Schranz steht mit Unterstützung von Dolmetscher Boris Schwarzmann

                                                                                                                                                                                                                                             17
wicklung der Demokratie im Nachkriegsdeutsch-        denn die Prozesse in Wirtschaft, Wissenschaft,                 den Journalist:innen in Saporishja Rede und Antwort. Foto: Büro für Interkultur
land vorangetrieben.                                 Kultur und Politik sind international stark miteinander
KULTUR FÜR ALLE - KULTUR MIT ALLEN - Eine Momentaufnahme zur Diversitätsarbeit der städtischen Kultureinrichtungen in Oberhausen - Stadt Oberhausen
verwoben. Das ist in der Pandemiesituation für alle
Bürger:innen besonders spürbar geworden, als
                                                      Die internationale Arbeit ist auf unterschied-
                                                      lichen Ebenen sehr vielfältig, denn sie erstreckt
                                                                                                            18   Bei internationalen Kontakten stellen wir auch
                                                                                                                 fest, wie unterschiedlich der Umgang mit Min-
                                                                                                                                                                               MULTI OBERHAUSEN – EIN TREFFPUNKT FÜR
                                                                                                                                                                               JUGENDLICHE AUS ALLER WELT
plötzlich spürbar wurde, wie sehr Lieferketten        sich über alle Themenbereiche: von Kultur bis              derheiten und Diversität bei den verschiedenen                Die MULTI ist seit 1992 die internationale Ju-
zur Herstellung verschiedener Produkte inter-         Wirtschaftsförderung, von Umwelt bis Migration,            Partner:innen ist. Wie sehr sind religiöse und                gendbegegnung der Stadt Oberhausen. Sie ist
national eng miteinander verwoben sind. Dass          humanitäre Hilfe etc. Sie richtet sich an unter-           ethnische Minderheiten akzeptiert und integ-                  über die Jahre kontinuierlich gewachsen und ist
sich die Städte auf der wirtschaftlichen Ebene in     schiedliche Gruppen, wie z. B. Politiker:innen,            riert? Werden Menschen mit Behinderung be-                    heute mit 15 Partnerländern von fünf Kontinen-
einem internationalen Wettbewerb zueinander           (Verwaltungs-)Fachleute, Jugendliche, Schü-                rücksichtigt? Mit einem Tabu ist vielerorts nach              ten die größte multilaterale Jugendbegegnung
befinden und gegeneinander konkurrieren, war          ler:innen, Künstler:innen, Akteur:innen aus der            wie vor sexuelle Diversität belegt.                           auf kommunaler Ebene deutschlandweit.
den meisten Bürger:innen durch die Diskussionen       Zivilgesellschaft, Vertreter:innen aus der Wirt-                                                                         Die MULTI verbindet durch ihr Konzept der in-
um Abwanderung und Ansiedlung von Arbeits-            schaft etc. Sie beschäftigt sich mit der politi-           Bei der Vorbereitung und Durchführung von                     tensiven Begegnung junger Menschen aus aller
plätzen schon wiederholt deutlich geworden.           schen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen          internationalen Besuchen, Begegnungen,                        Welt eine Vielzahl von Diversitätsmerkmalen.
                                                      Situation, den Vorstellungen, Wünschen und                 Konferenzen, Workshops etc. ist ein Merkmal                   Bei der MULTI treffen sich Jugendliche unter-
In den vergangenen Jahren hat die kommunale           Erfordernissen der internationalen Partner:in-             immer wieder auffällig und fordert besondere                  schiedlicher Ethnien, kultureller Hintergründe
Ebene immer mehr an Bedeutung gewonnen.               nen und berücksichtigt diese bei allen ihren               Beachtung: die Verteilung der Geschlechter.                   und Religionen. Sie kommen aus verschiedenen
Denn es steht fest, dass die großen Themen            Vorhaben.                                                  Ganz augenfällig ist dies bei der Besetzung von               sozialen Schichten und verfügen nicht alle über
unserer Zeit, wie Digitalisierung, Arbeit, Kli-                                                                  Delegationen, denn nach wie vor sind es vorwie-               den gleichen Grad an Bildung. Im direkten Mit-
ma, Mobilität, Verkehr, Sicherheit, Demokratie,       Im Dialog mit den Partner:innen erfolgt die Ver-           gend Männer, die international reisen und ihre                einander der Jugendlichen spielen Faktoren wie
Migration und Integration, weitgehend auf der         ständigung, welche Themen bearbeitet werden,               Stadt, ihre Gruppe im Ausland repräsentieren.                 Geschlecht, sexuelle Orientierung und Freizeit-
lokalen Ebene bearbeitet und umgesetzt werden.        welche Zielgruppen angesprochen werden, welche             Darüber hinaus ist in einigen Situationen ein                 verhalten eine zentrale Rolle in den zwischen-
Das muss jedoch in einem europäischen oder            Ziele angestrebt und welche Projekte gemeinsam             unterschiedliches Rollenverständnis im Umgang                 menschlichen Begegnungen - und es sind genau
globalen Zusammenhang geschehen, wenn die             umgesetzt werden.                                          miteinander deutlich spürbar. Das macht sich                  diese zahlreichen Ebenen der Diversität, die
Bemühungen nachhaltig sein sollen. Regeln und                                                                    in der geschlechterspezifischen Rollenzuteilung               während des Programms einer MULTI inhalt-
Gesetze hierzu werden zwar auf übergeordneten         INTERNATIONALE KONTAKTE – SPANNENDE                        von männlichen und weiblichen Teilnehmenden                   lich in all ihren Facetten bearbeitet werden. Die
Ebenen gemacht, umgesetzt werden die meisten          WERKSTATT FÜR DIVERSITÄT, DIALOG UND                       bemerkbar.                                                    Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern
von ihnen jedoch dort, wo die Menschen leben:         VERSTÄNDIGUNG                                                                                                            findet dabei sowohl in Einzelkontakten direkt
in den Städten und Gemeinden. Zudem stellt            Internationale Arbeit heißt nicht, dass alle                                                                             zwischen den Gastgeschwistern, in Kleingruppen
sich in den letzten Jahren immer mehr heraus,         Vorstellungen und Wünsche des Gegenübers                                                                                 an einzelnen Aktionstagen sowie in der Gesamt-
dass dort, wo es auf der zwischenstaatlichen          uneingeschränkt akzeptiert werden. Vielmehr                                                                              gruppe statt.
Ebene Spannungen und Meinungsverschieden-             geht es darum, Formen des Dialogs zu finden, in
heiten gibt, Stichwort „Urban Democracy“, die         denen der eigene Standpunkt deutlich gemacht
kommunale Ebene und die Zivilgesellschaft             und auch erklärt werden kann. Wenn muslimi-
gefragt sind, Kontakte zu Städten und Gemein-         sche Gäste kein Schweinefleisch essen, ist das
den und ihren Bürger:innen in anderen Ländern         fraglos zu akzeptieren. Wenn Witze auf Kosten              Oberbürgermeister Klaus Wehling und Bürgermeister Guiseppe Casti weihen
aufzubauen, um den Dialog zu pflegen, eine            homosexueller Menschen gemacht werden, ist                 die Via Oberhausen in Carbonia ein. Foto: Büro für Interkultur
Verständigung und eine Verbesserung der zwi-          das nicht unwidersprochen hinzunehmen, auch
schenstaatlichen Beziehungen zu erreichen.            wenn es die Harmonie in der Beziehung zu den
Aus diesen Gründen ist es wichtig, dass die           internationalen Partner:innen stören mag. Es
Bürger:innen vor Ort die Sichtweisen der Men-         sind viele weitere Beispiele zu nennen, in denen
schen anderer Länder und Städte kennenlernen,         es unterschiedlich Sichtweisen gibt. Dabei ist es
internationale Prozesse verstehen und darüber         oft erhellend, eine andere Sichtweise kennen-
auch die Möglichkeit erhalten, Einfluss auf diese     zulernen und die eigene Einstellung zu hinter-
Situationen und Prozesse zu nehmen. Das kann          fragen. Ein Beispiel hierfür ist die weitgehende
im Rahmen internationaler kommunaler Zusam-           Bürgerbeteiligung, die in Oberhausen praktiziert
menarbeit, z. B. in einem deutsch-ukrainischen        wird. Auch wenn sie für uns ein hohes Gut ist,
Projekt zum Thema Zivilgesellschaft, der Fall         müssen wir z. B. die Meinung unserer ukraini-
sein – ein Thema, das zentral ist für die Demo-       schen Partner:innen akzeptieren, die sehr deut-
kratieentwicklung. Dies trifft im EU-Projekt EPIC     lich darauf hinweisen, dass sich dadurch für die
(European Platform for Integrating Cities) zu, in     gesamte Stadt wichtige Entwicklungen zeitlich
dem Akteur:innen aus Oberhausen gemeinsam             verzögern oder von einer Minderheit verhindert
mit Kolleg:innen aus acht weiteren europäischen       werden können. Solche Rückmeldungen sind
Ländern an der Entwicklung einer gemeinsamen          Denkanstöße, die zur Weiterentwicklung des
Migrations- und Integrationspolitik arbeiten. Und     Bestehenden führen können.
es ist in einem Corona-Hilfsprojekt für die mol-
dawische Stadt Drochia der Fall, in dem Ärzte         DIVERSITÄT - NICHT NUR BEI UNS
aus Oberhausen ihr medizinisches Know-how an          Bei internationalen Kontakten ist das Thema
ihre moldawischen Kolleg:innen weitergeben.           Diversität immer wieder präsent. Der Kontakt
                                                      und die direkte Begegnung ermöglichen es, die
MIT EMPATHIE UND KOMMUNIKATION                        Vorstellung, die über ein Land, eine Stadt, eine
ZUM ERFOLG                                            Gruppe von Menschen vorherrscht, zu ver-
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit              ändern. Der direkte Kontakt zwingt uns zudem
Menschen aus unterschiedlichen Ländern und            dazu, festzustellen, wie divers andere Städte
Städten ist es erforderlich, einen guten Kontakt      und Menschen sind. Das geschieht z. B., wenn
zu den jeweiligen Partner:innen aufzubauen und        eine Stadtverordnete mit indischen Wurzeln die
diesen kontinuierlich zu pflegen. Das setzt zu-       englische Partnerstadt repräsentiert oder die
nächst voraus, dass sich die Partner kennen und       Jugendlichen aus Kalifornien asiatischer Her-
eine gemeinsame Sprache für ihre Kommunika-           kunft sind. Die Begegnung mit Jugendlichen aus
tion finden. Dabei geht es immer auch darum,          der türkischen Partnerstadt Mersin hat schon
die unterschiedlichen Mentalitäten, Werte, Vor-       vielen die Augen dafür geöffnet, wie vielfältig die
stellungen, Arbeitsweisen und Ziele der Partner       türkische Gesellschaft ist.

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kennenzulernen und sich mit ihnen auf dieser
Basis zu verständigen.
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