Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit

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Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
2018—2

Architektur mit Faserzement

                                         Wohngenuss oder Dichtestress?
                      Um mehr ­Wohnraum zu schaffen, werden bestehende
                                  Siedlungs­gebiete erneuert und ergänzt.
                             Gefragt sind neue Bauten und Wohnformen.

                       WOHNBAU: SIEDLUNGEN
                      Michael Meier & Marius Hug und Armon Semadeni
                                        Siedlung Stöckacker Süd, Bern
                                         Buchner Bründler Architekten
                                  Genossenschaftshaus Stadterle, Basel
                                            Adrian Streich Architekten
                                        Wohnhaus B3 Green City, Zürich
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
2018—2

Architektur mit Faserzement

                                         Wohngenuss oder Dichtestress?
                      Um mehr ­Wohnraum zu schaffen, werden bestehende
                                  Siedlungs­gebiete erneuert und ergänzt.
                             Gefragt sind neue Bauten und Wohnformen.

                       WOHNBAU: SIEDLUNGEN
                      Michael Meier & Marius Hug und Armon Semadeni
                                        Siedlung Stöckacker Süd, Bern
                                         Buchner Bründler Architekten
                                  Genossenschaftshaus Stadterle, Basel
                                            Adrian Streich Architekten
                                        Wohnhaus B3 Green City, Zürich
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
EDITORIAL

                                                      Zusammen leben
3    DOMINO
4    FLASHBACK

                                                      Das vorliegende Heft widmet sich dem grossmass­-
                                                      stäb­lichen urbanen Wohnungsbau: mehrgeschossigen
     WOHNBAU: SIEDLUNGEN                              ­Häusern, Siedlungen oder Überbauungen mit zu­­
                                                       sätzlichen Nutzungen. Viele dieser Bauten sind in Faser­
8    SHARING WIE IM GRANDHOTEL
     In seinem Essay erörtert der Historiker
                                                       zement gekleidet: ihre Fassaden und Dächer, gross­
     Daniel Kurz die unterschiedlichen Bedürfnisse,    flächig oder partiell. Auch gewellte Faserzementplatten
     die ans Wohnen gestellt werden, und fragt         finden sich an so manchem Wohngebäude.
     sich, wieso ideenreiche Wohnüberbauungen die     Die hohe Zuwanderung und die räumliche Ballung
     Ausnahme bleiben.                                der Nutzungen lassen unsere Städte wachsen und stellen
                                                      uns vor grosse Herausforderungen. So haben neue
12   SIEDLUNG STÖCKACKER SÜD, BERN
                                                      Wohnbauten hohen Ansprüchen zu genügen: Die
     MICHAEL MEIER & MARIUS HUG UND
                                                      Grundrisse müssen den sich wandelnden Lebensformen
     ARMON SEMADENI
     Die Neubauten in einer bestehenden Siedlung
                                                      entsprechen, die Gebäude sollen ressourcenschonend
     bedeuten eine Stadterneuerung. Als Bauherrin     und nachhaltig erbaut werden und die Charakteristik
     wollte die Stadt Bern eine städtebaulich und     des Städtebaus fortschreiben. Der Wohnungsbau
     architektonisch wie auch sozial und ökologisch   ist eine höchst komplexe Bauaufgabe auf verschiedenen
     mustergültige Siedlung erstellen.                Massstabsebenen; nebst städtebaulichen und archite­
                                                      ktonischen sind auch soziale und gesellschaftsrelevante
24   GENOSSENSCHAFTSHAUS STADTERLE, BASEL             Aufgaben zu meistern.
     BUCHNER BRÜNDLER
                                                      Die in diesem Heft vorgestellten Beispiele stammen
28   WOHNHAUS B3 GREEN CITY, ZÜRICH                   aus grossen und kleinen Städten in der Schweiz
     ADRIAN STREICH                                   und in Österreich. Sie zeigen je eigene Ansätze und
                                                      Schwerpunkte auf. Alle suchen sie nach zeitgemäs-
32   BIKE CITY UND TIME 2 LIVE, WIEN                  sen Wohnbauformen und Wohnlichkeit.
     KÖNIGLARCH ARCHITEKTEN
                                                      Michael Hanak, Chefredaktor
33   WOHNÜBERBAUUNG ROOST, ZUG
     GMÜR & GESCHWENTNER

34   ÜBERBAUUNG STADTWERK LEHEN, SALZBURG
     TRANSPARADISO

35   BEDNAR PARK RESIDENCES, WIEN
     BAUMSCHLAGER EBERLE

36   SIEDLUNG HOFWIESENWEG, WINTERTHUR
     ATELIER STRUT

38   KNOW-HOW
40   DESIGN
42   CARTE BLANCHE & JAUNE
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
Drei Anliegen standen beim interdisziplinären
Entwicklungsprojekt «Empower» von Urban-­
Think Tank im Vordergrund, um den Slum
in Khayelitsha, eine der grössten Townships
in Südafrika am Stadtrand von Kapstadt,
aufzuwerten: 1. ein partizipativer Planungs­
prozess; 2. der Prototyp eines zweigeschossigen
Wohnblocks; 3. den Lebens­unterhalt ins Pro-
gramm zu integrieren. Mit einem festen Service-
kern und einer schützenden, temporären
­Fassadenbekleidung können die Wohnbauten
 schrittweise verbessert werden.
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
DOMINO – Eine Persönlichkeit aus Architektur und Design stellt einem Kollegen
            oder einer Kollegin eine Frage, die unsere Gesellschaft bewegt. Der österreichische
            Designer und Designtheoretiker Harald Gründl fragte den Architekten
            Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich:

WIE ENTWIRFT MAN
                                                                                  völkerung so jung wie heute: Mehr als die
                                                                                  Hälfte der 7,8 Milliarden Menschen auf der
                                                                                  Welt sind unter 25 Jahre alt. Bald wird einer
                                                                                  von drei jungen Menschen in Afrika aufwach-

HÄUSER FÜR SLUMS
                                                                                  sen und neun von zehn Menschen in Entwick-
                                                                                  lungsländern leben. Wer diese Tatsachen
                                                                                  ausblendet, schaut in die falsche Richtung.
                                                                                  In diesem Zusammenhang sehen wir, dass
                                                                                  Menschen – nicht Maschinen – die In­fra­

ODER INFORMELLE
                                                                                  strukturen ersetzen können, wenn wir Pro-
                                                                                  zesse und Objekte aktiv gestalten und
                                                                                  gleichzeitig verstehen, mit welchen Heraus-
                                                                                  forderungen die Gesellschaft konfrontiert

SIEDLUNGEN?
                                                                                  ist. Junge Menschen in unseren Städten
                                                                                  stellen heute die höchsten Anforderungen in
                                                                                  allen Bereichen an unsere Gesellschaft.
                                                                                  So steckt der weltweite Urbanisierungs­
                                                                                  prozess in einer tiefen Krise. Weil bessere
                                                                                  Lösungen fehlen, beginnt der Bau der meis-
                                Mehr als neunzig Prozent aller Gebäude            ten Siedlungen weltweit, indem Slums ent-
                                dieser Welt sind ohne Architekten entworfen       stehen. Wir haben dies als Tatsache und
                                und gebaut worden. Das ist weder ein Prob-        Aufgabe akzeptiert, obschon wir wissen,
                                lem der Architektur noch des Städtebaus,          dass es starke Allianzen und viele engagierte
                                sondern der Architekten, und hat verschie-        Entwerfer und Designer brauchen wird, um
                                dene Gründe. Ihr berufliches Talent entfaltet     dieses Problem zu lösen.
                                sich losgelöst von den grossen Herausforde-
                                rungen der Bevölkerungsgruppen mit dem            Es stimmt, dass man nicht mehr in einer
                                geringsten Einkommen. Nur durch den Markt         Stadt leben muss, um ein urbanes Leben zu
                                allein werden keine Entwurfslösungen, etwa        führen. Es trifft aber auch zu, dass man heute
                                für den öffentlichen Raum, entstehen, obwohl      gänzlich ohne urbane Qualitäten in einer
                                dafür ein grosses Bedürfnis vorhanden ist.        Stadt leben kann. Das führt zu einer Situati-
                                Stadtplanung braucht deshalb entschiedene         on, in der urban nicht mehr das Gegenteil von
                                Führung und Handlungsbereitschaft, um die         ländlich bedeutet, sondern einen Zustand
                                «Top-down–» und die «Bottom-up»-Kräfte            des Nicht-Urbanen beschreibt. Weder Urba-
                                miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt       nisierungsprozesse noch informelle Städte
                                jedoch weitere Hürden: An entscheidenden          können dieses Dilemma lösen. Es gilt viel-
                                Stellen sitzen zu viele bestechliche Leute;       mehr, eine neue Urbanität zu schaffen, die
                                zudem gehört es nicht mehr zum Berufsbild         das Informelle formalisiert und das Formelle
                                der Architekten, über das ihnen zugewiese-        ins Informelle auflöst. Es ist ein Prozess, bei
                                ne, eng begrenzte Marktsegment hinauszu-          dem eine Synthese entsteht, die wiederum zu
                                blicken. Aus meiner Sicht befassen sie sich       einer dritten Ordnung führt. Das bedeutet
                                zu wenig mit den grossen Herausforderungen        konkret, dass Urbanisierungsprojekte quali-
                                der Gesellschaft. Ich hingegen finde, dass die    tativ und quantitativ aufgewertet werden
                                Slums die nächste Herausforderung und             müssen, um in allen Massstäben Entwurfs­
                                gleich­zeitig das Labor für Innovation sind, in   lösungen für ein alternatives urbanes Para-
                                dem heute Städte neu erfunden und getestet        digma entwickeln zu können. Darin besteht
Hubert Klumpner (*1965) und     werden.                                           wohl die derzeit grösste Herausforderung.
sein Partner Alfredo Brillem-
bourg (*1961) sind Gründer      Während prominente Stimmen behaupten,                         In der nächsten Ausgabe von ARCH
und Direktoren des Urban-­      dass wir die Stadt für eine alternde Gesell-                  fragt Hubert Klumpner den Direktor
Think Tank (U-TT) in Caracas,   schaft gestalten müssen, belegen demogra-                     des Architekturmuseums München,
São Paulo und Zürich. Seit                                                                    Andres Lepik: «Kann eine Archi­
2010 haben sie den Lehrstuhl    fische Daten, dass das Zusammenleben der
                                                                                              tekturausstellung Einfluss auf die
für Architektur und Städtebau   Generationen ein eng verwobener, organi-                      Gesellschaft haben?»
an der ETH Zürich inne.         scher Prozess ist. Noch nie war die Weltbe-

                                                                   3
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
FLASHBACK – Mit dem Bau des Ortstockhauses gelangte die Moderne in
            die a­ bgeschiedene Glarner Bergwelt. In einer Art Willkommensgeste
            wendet sich die konkave Form dem Ortstock zu. Unlängst wurde der alpine
            Pionierbau sorgfältig renoviert.

GESTE DER GEBORGENHEIT
Das Berggasthaus, das Hans Leuzinger 1931 Haben die fortschritte der technik es möglich die weissen Fensterrahmen und das Rot von
oberhalb von Braunwald erbaute, liegt auf gemacht, die form zu verbessern, so ist im- Fensterläden, Dachgebälk und Rundstützen
einer Sonnenterrasse. Seine gebogenen Form mer diese verbesserung zu verwenden.»                     der Vorhalle einen klassischen modernen
nimmt Bezug auf die dahinterliegende Berg- Nach einem Besitzerwechsel nahm man 2016 Farbkontrast. Im Entwicklungslabor der Eter-
kette und wendet sich in einer Art Willkom- die seit Längerem anstehende Sanierung in nit (Schweiz) AG versuchte man, die Farbe
mensgeste dem Ortstock zu. Mit der konka- Angriff. Die Architekten strebten danach, der Originalplatten nachzumischen. Die Re-
ven Form, einem weit auskragenden Pultdach den ursprünglichen Bau so weit als möglich sultate waren aber zu wenig zufriedenstel-
und einer mit gleichformatigen Platten ge- wiederherzustellen, ihn aber für die weitere lend, da die einstige Faseroptik fehlte. Daher
fügten Fassade verlieh der Architekt dem Nutzung als Gasthaus zu ertüchtigen. Wäh- fiel die Wahl auf die anthrazitfarbene Plat­-
Bau ein charakteristisches Er-                                                                                  te aus der Xpressiv-Kollektion
scheinungsbild. Die Fenster samt                                                                                (Dark Grey 8220): Sie kam der
Läden – Schiebeläden im Erd­                                                                                    ursprünglichen Optik am nächs-
geschoss und Klappläden im                                                                                      ten. Das Ravenna-Rot der Holz-
Obergeschoss – und die leicht                                                                                   teile entsprach – zufälliger- und
vorkragenden Fenstersimse bil-                                                                                  glücklicherweise – dem Farbton
den horizontale Bänder.                                                                                         der Avera-Kollektion (AV 030).
Das Holzfachwerk wurde allsei-                                                                                  So wurden Platten dieses Farb-
tig mit grossformatigen, schwarz                                                                                tons für die Füllungen der Schie-
durchgefärbten Faserzement-                                                                                     beläden eingesetzt.
platten versehen. Das handliche                                                                                                   Michael Hanak
Plattenformat fand Leuzinger,
indem er die Fabrikationsgrösse
viertelte. «Es schien mir wider-
sinnig, dass der Eternit, der in
grossen Tafeln von 1,20 mal
                                             Die Postkarte aus den 1930er-Jahren zeigt das Ortstockhaus
2,40 m fabrikmässig hergestellt          in seinem ursprünglichen Zustand. (Foto: Hans Schönwetter-Elmer)
wird, zu seiner Verwendung als
Aussenbekleidung von Bauten
wieder in kleinste Formate zerschnitten wer- rend nur vier Monaten im Sommerhalbjahr
de, in blosser Nachahmung der Holzschindel- wurden originale Bauteile instand gesetzt,
oder Schieferbekleidung», wird der Architekt spätere Umbauten rückgebaut, fehlende alte
in der Zeitschrift Baumeister von 1932 zitiert. Bau­teile rekonstruiert und neue Sanitär- und
Damit beherzigte er Adolf Loos’ Regeln für Haustechnikanlagen, etwa Küche und Wasch­
den, der in den Bergen baut: «Achte auf die räume, installiert.
formen, in denen der bauer baut. Denn sie Die ursprüngliche Farbigkeit wiederherzu-
sind der urväterweisheit geronnene subs- stellen, war ein zentraler Aspekt der Sanie-
tanz. Aber suche den grund der form auf. rung. Einst bildeten die schwarzen Platten,

                                                                       4                           ARCH 2018–2
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
Das Ortstockhaus liegt auf der Braun-
waldalp, einer Geländeterrasse im Glarner-
land, umgeben von einem imposanten
­Alpenpanorama. Seit Sommer 2016
 ­erstrahlt das denkmalgeschützte Haus in
  neuem Glanz. Es bietet Wanderern
  und Ausflüglern Unterkunft, Verköstigung
  und Erfrischung sowie Ausblicke auf die
  vielen Gipfel und Grate.

Ortstockhaus, Braunwald, Schweiz
Architekt: Hans Leuzinger, Glarus / ­Zürich
Sanierung: Althammer Hochuli Architek-
ten, Zürich, und Steiger Architekten, Baden
Bauzeit: 1931
Sanierung: 2016
Eine Baumonografie ist geplant.

                                              5
Architektur mit Faserzement 2018-2 - Eternit
WOHNBAU: SIEDLUNGEN
Beim Wohnungsbau spielt die Architektur unterschiedlichste, meist flexible
Formen der Raumnutzung durch. Der Akzent liegt auf sozialer Durch-
mischung und Gemeinschaftlichkeit. Individuell leben, sich lebhaft aus­
tauschen: von Wohn- und Lebensformen in «Communities».

                                     6             ARCH 2018–2
7
    Illustration: Patric Sandri
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                        Die Wohnung deckt unterschiedlichste Bedürfnisse ab. ­
                        Warum nur bleiben ideenreiche Wohnüberbauungen
                        trotzdem eine Ausnahme?

                       Sharing wie im Grand­hotel

                        Text von Daniel Kurz                                             selt genauso für jede und jeden Einzelnen im Lauf des
                                                                                         Tages und mit den Phasen des Lebens: von der Kindheit
                        Eine Wohnung ist vieles – für (fast) jede und jeden              über die Ausbildungsjahre, das Leben als Single oder
                        bedeutet sie etwas anderes; vielleicht bloss Unterkunft          junges Paar, die Familienzeit und jene danach. Wohnun-
                        oder Obdach. Oft sind die eigenen vier Wände primär              gen, wäre daraus zu schliessen, können gar nicht indivi-
                        ein Ort der Erholung und der Intimität, Höhle oder Burg,         duell genug gedacht und geplant werden. Um so indivi-
                        ein geschützter Rahmen zum In-sich-Gehen oder Träu-              duellen Bedürfnissen zu genügen, sollten sie sich nicht
                        men. Mitunter auch ein Ort für Begegnung und Gesel-              nur voneinander unterscheiden, sondern zugleich an-
                        ligkeit, der äussere Rahmen von Familien- oder Bezie-            passbar sein für wechselnde Arten ihrer Nutzung.
                        hungsleben, nicht selten ein Arbeitsplatz. Und schliess-
                        lich ist die Wohnung meist auch Spiegel und                      Zu viel vom Immergleichen
                        Repräsentation des eigenen Selbst, in ihrer konkreten            Die Voraussetzungen dafür wären eigentlich günstig,
                        Lage, Grösse und Gestaltung bietet sie individuelle Ver-         denn selten wurden in der Schweiz so viele Wohnungen
                        ortung in der Gesellschaft.                                      gebaut wie in den letzten 15 oder 20 Jahren. Der Boom
                        Der Vorrang des einen oder anderen Bedürfnisses unter-           scheint sich, trotz allmählich wachsender Leerstände,
                        scheidet sich nicht nur von Person zu Person, er wech-           nicht abschwächen zu wollen; er hat ländliche Regionen
                                                                                         genauso erfasst wie die grossen Städte und ihr Umfeld.
                                                                                         Treiber des wachsenden Angebots scheinen freilich we-
                                                                                         niger die Bedürfnisse der Wohnungssuchenden zu sein
WOHNBAU SCHWEIZ KENNZAHLEN                                                               als der Bedarf für sichere Kapitalanlagen. Und da Anle-
                                                                                         ger gewöhnlich Risiken scheuen, gleicht sich die grosse
Wohnungsbestand (2016)                                                 4 420 829
                                                                                         Masse an neuen Wohnungen wie ein Ei dem anderen.
Neu erstellte Wohnungen (2015)                                            53 126        Die allermeisten sind für Familien ausgelegt, mit drei bis
Leerwohnungsziffer (2017)                                                 1,45 %        viereinhalb Zimmern, zwei Nasszellen, einem grossen
Durchschnittliche Fläche pro Wohnung (2016)                               99 m²         Wohnraum. Und das Wohnumfeld bleibt unspezifisch:
Wohnfläche pro Person (2016)                                              45 m²
                                                                                         rundum ein wenig Grün, eine einsame Schaukel. Nur
                                                                                         selten ist an eine kluge Zonierung und eine bewusste
Bewohner pro Wohnung (2016)                                                   2,2
                                                                                         Abstufung zwischen öffentlichem und privatem Raum
Bewohner pro Zimmer (2016)                                                 0,60         gedacht worden.
Wohneigentumsquote (2016)                                                 38,2%         Die Frage ist erlaubt, ob die grosse Masse des neu Ge-
                                                                                         bauten den Bedürfnissen der Zukunft – oder nur schon
Wohnungen nach Anzahl Zimmer (2016)
                                                                                         der Gegenwart – wirklich entspricht. 57 Prozent aller
                                                                                         Wohngebäude in der Schweiz sind Einfamilienhäuser;
        1                  2                   3        4        5        6+
                                                                                         am Mietwohnungsmarkt bilden die Vierzimmerwohnun-
    6,4 %              14,1 %                26,8 %   27,7 %   15,3 %    9,8 %           gen die grösste Gruppe. Lauter Wohnraum für traditio-
Quelle: Bundesamt für Statistik, Neuenburg                                               nelle Familien also, doch die bilden in unserer Gesell-

                                                                                     8                           ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

           schaft längst nicht mehr die Mehrheit. Schweizweit sind        Gemeinschaftssiedlungen übertragen auf das private Zu-
           Singlehaushalte mit 35 Prozent noch vor den Paarhaus-          hause, was wir in grossen Hotels so schätzen: Zugang zu
           halten die häufigste Wohnform, in den grossen Städten          grossen, gemeinschaftlichen Räumen – zum Preis eines
           erreicht ihr Anteil sogar gegen 50 Prozent. Da erstaunt        bescheideneren individuellen Flächenkonsums. Im Ho-
           es eigentlich, dass für diesen bedeutenden Markt kaum          tel hat der Einzelne nur sein Zimmer, vielleicht eine
           spezifische Angebote vorhanden sind. Denn wenn es mit          Suite, aber zugleich stehen ihm Foyer und Speisesaal,
           der Verdichtung ernst gelten soll, müssen für kleine           Billardzimmer und Bibliothek, vielleicht ein Tennisplatz
           Haushalte spezifische Angebote geschaffen werden, die          und ein Spa zur Verfügung. An diesem Reichtum orien-
           nicht von vornherein 60 oder 80 Quadratmeter pro Per-          tiert sich das neue Gemeinschaftswohnen, nicht an klös-
           son in Anspruch nehmen, wie das bei konventionellen            terlicher Kargheit.
           Dreizimmerwohnungen immer der Fall ist. Angebote               Urbanes Singlewohnen kann bedeuten, dass im eigenen
           auch, die den Alleinlebenden Anschluss an eine Form            Haus ein Gemeinschaftsraum, Lounge und Gästezimmer
           der Gemeinschaft geben und ihnen so die Möglichkeit            zur Verfügung stehen, vielleicht sogar ein Arbeitsplatz
           bieten, der Enge der eigenen vier Wände bei Bedarf zu          als Flexbüro. Arbeiten und Wohnen sind eng verbunden,
           entfliehen. Je kleiner der Haushalt als sozioökonomische       sodass im Wohnkomplex zu jeder Tageszeit Betrieb
           Einheit, desto fragwürdiger der Anspruch, dass alles in        herrscht. Die Wege sind kurz, das Auto wäre nur unnö-
           den eigenen vier Wänden stattfinden muss: Garten? Ter-         tiger Ballast. Nicht Verzicht und soziale Zwänge sind das
           rasse? Gästezimmer? Waschmaschine? Ein Tisch für               Thema, sondern zusätzliche Angebote. Gemeinschaftli-
           grosse Gästerunden? Bibliothek? Das alles wird eher sel-       ches Wohnen und Arbeiten macht es möglich, den Fern-
           ten gebraucht und lässt sich leicht teilen. Der Kern des       seher nicht zwingend in den eigenen vier Wänden zu ha-
           Wohnens bleibt ein relativ kleiner, intimer Bereich.           ben, dafür ein- oder mehrmals die Woche an einen ge-
                                                                          deckten Tisch zu sitzen, ohne langes Kochen und ohne
           Teilen, um mehr zu bekommen                                    Convenience Food. Im Austausch zu stehen mit Mitbe-
           Hier setzen die immer zahlreicheren Projekte der               wohnern – und trotzdem umso individueller zu leben:
           «neuen» Baugenossenschaften an, die mit gemeinschaft-          Die neuen Gemeinschaftssiedlungen sind Communities
           lichen Wohnformen die Enge der Normalwohnung                   moderner, ungebundener Grossstädter, einer Generation
           sprengen wollen: In der Zürcher Kalkbreite, im Zwi-            der digitalen Nomaden. Für sie ist «Sharen» das Alltäg-
           cky-Areal oder in der Basler Erlenmatt Ost. Die neuen          lichste der Welt.

Labore für zukünftige                         IBA WIEN:                                           IBA STADTREGION STUTTGART:
Wohn- und Lebensformen                        NEUES SOZIALES WOHNEN                               WANDEL IM WACHSTUM
Internationale Bauausstellungen (IBA)         Die IBA Wien fokussiert auf die zukünftigen         Mit der IBA 2027 will die Region Stuttgart
­setzen seit mehr als hundert Jahren Impul-   Herausforderungen des «neuen sozialen               zur Modellregion für industriell geprägte,
 se, die über ihre Zeit hinausweisen. Heute   Wohnens». «Stadt ist nicht, sie wird», so           polyzentrische Wachstumsräume und deren
 sind sie Grossveranstaltungen der Bau­       wird postuliert. Diese IBA nimmt sich drei          Erneuerung werden. Sie soll – hundert
 kultur, die neben ästhetischen und techno-   Leit­themen vor: neue soziale Quartiere,            Jahre nach Fertigstellung der Weissenhof-
 logischen Aspekten zunehmend komplexe        neue soziale Qualitäten und neue soziale            siedlung – Antworten finden auf die Frage:
 soziale, ökonomische und ökologische         Verantwortung. Es geht um urbane Suk­               Wie leben, wohnen, arbeiten wir im digi­-
 ­Fragen miteinbeziehen. Als Ausblicke auf    zessionsprozesse, Anforderungen an das              talen und globalen Zeitalter? Die vier Leit­-
  das Wohnen und das Leben von morgen.        Wohnen und um das Instrumentarium                   themen sind die Baukultur einer Neuen
                                              des geförderten Wohnbaus. 2020 will Wien            Moderne, integrierte Quartiere, neue Tech-
                                              in einer Zwischenpräsentation bis dahin             nologien für die lebenswerte Stadtregion
                                              entwickelte Projekte zur Diskussion stellen.        sowie «Region ist Stadt und Stadt ist
                                              Im Präsentationsjahr 2022 sollen dann               Region». Alle IBA-Projekte orientieren sich
                                              städtebaulich und sozial innovative Projekte        an den vier Querschnittsqualitäten einer
                                              aus den Handlungsfeldern Neubau, Be-                mobilen, nachhaltigen, solidarischen und
                                              standsentwicklung und Zusammenleben                 partizipativen Region.
                                              zu besichtigen sein.                                www.iba2027.de
                                              www.iba-wien.at

                                                                      9
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

ENTWICKLUNG HAUSHALTSGRÖSSEN RELATIV                             HAUSHALTSGRÖSSEN ABSOLUT

45 %                                                             2 000 000

                                                                 1 600 000
35 %

                                                                 1 200 000

25 %
                                                                 800 000

                                                                                                                            Quelle: Bundesamt für Statistik, Neuenburg
15 %                                                             400 000

1920    1940     1960    1980    2000     2020       2040        1920      1940   1960     1980    2000    2020     2040

           1 Person     2 Personen      3 Personen      4 Personen           5 Personen und mehr    Prognose 2017

Radikale Architektur für die neue Gemeinschaft                   den Innenausbau, wo roher Beton und Beplankungen aus
Im Osten des Basler Neubauquartiers Erlenmatt haben              Sperrholz dominieren. Im hofseitigen Winkel des Gebäu-
Buchner Bründler Architekten mit dem Genossen-                   des kommen alle Wege zusammen, eine breite Treppe
schaftshaus Stadterle dieser Vision einen direkten und           führt mit Grandezza zu den Gemeinschaftsräumen, un-
überzeugenden architektonischen Ausdruck gegeben.                ter den Blicken der Mitbewohner, denen die breiten Lau-
Der Neubau der jungen Genossenschaft «zimmerfrei»                bengänge als Veranda dienen.
vereinigt die unterschiedlichsten Wohnformen, von der
Familienwohnung über die Clusterwohnung bis zur                  Leichtes Wohnen ohne Gemeinschaftszwang
Gross-WG, zusammengehalten durch gemeinsame Be-                  Mit dem Gebäude MinMax im Glattpark am Nordrand
reiche wie den Dachgarten, den Waschsalon und einen              von Zürich haben EMI Architekten 2016 ein massge-
überaus grosszügigen Gemeinschaftsraum. In partizipa-            schneidertes Projekt für kleine und sehr grosse Haus-
tiven Prozessen haben die künftigen Bewohnerinnen und            halte geschaffen, ein Haus, das kleine Wohneinheiten mit
Bewohner ihr Projekt nach dem Wettbewerb zusammen                ungewöhnlich grosszügigen Gemeinschaftsangeboten
mit den Architekten weiterentwickelt. Der Gedanke ei-            verbindet, ohne jedoch die Bewohner zum Gemein-
ner nachhaltigen Lebensweise im Sinn der 2000-Watt-Ge-           schaftsleben zu verpflichten. Wüest & Partner entwickel-
sellschaft ist ihnen dabei ebenso wichtig wie der Grund-         ten das Programm für den Wettbewerb, dabei zeigten sie
eigentümerin im Stadtteil Erlenmatt Ost, der Basler Stif-        auf, dass im Neubauquartier mit seinem Überhang an
tung Habitat.                                                    Familienwohnungen eine Alternative gefragt war. Schon
Eine radikale und konsequente Ästhetik bestimmt den              äusserlich grenzt sich der Neubau vom Wohnquartier ab:
Charakter des grossen Hauses. Wellacryl-Bänder über-             Mit Sockel und Dachzone vertikal gegliedert strahlt
ziehen die Fassadenverkleidung aus Aluminium und Fa-             der dunkel eingekleidete Bau eine dezidiert städtische
serzement, dazu kommen die kräftigen Signale der offe-           Haltung aus. Im Inneren umschliesst er mit Terrassen
nen Treppentürme aus verzinktem Stahl. Das unvermit-             und Laubengängen einen intimen Innenhof. Die Mehr-
telte Nebeneinander der industrierohen Materialien               zahl der Wohnungen von MinMax sind knapp bemessen:
verleiht dem Gebäude einen sehr direkten Ausdruck: Er            40 Quadratmeter gross und schmal geschnitten; der tiefe
versinnbildlicht eine Gemeinschaft, die eben erst ent-           Wintergarten, ein frei stehendes Küchenmöbel und Glas-
standen ist und sich entwickeln will. Eine Gemeinschaft          wände zonieren den Raum – eine grosse Zelle nur, ein
auch, die auf Unnötiges gerne verzichtet und dem Nöti-           Studio, aber vielfältig bespielbar. Atelierwohnungen,
gen sichtbaren Ausdruck geben will. Das Gleiche gilt für         Maisonettes und drei grosse Cluster-Wohnungen mit Ge-

                                                            10                           ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

             meinschaftsküche ergänzen das Angebot. Das Wichtigste               Vermehrt wird nur noch das Basisangebot in den eige-
             jedoch: Alles, was unnötigen Raum einnimmt, ist aus                 nen vier Wänden genutzt, der Rest ist ausgelagert – es
             den Kleinwohnungen ausgelagert: die Waschküchen in                  kommt zu einer Co-Evolution zwischen Wohnung, Nach-
             einen Glasturm am Hof, der Aussenraum auf die gemein-               barschaft und Stadt.» Die Wohnung für mobile Gross-
             same Dachterrasse. Und wer mit Nachbarn oder Gästen                 städter muss in Zukunft vielleicht gar nicht mehr alle Be-
             den Abend verbringen will, kann sich den voll ausge­                dürfnisse auf einmal abdecken – vieles davon kann ins
             statteten Gemeinschaftsraum – pardon: die Party Box –               Umfeld ausgelagert werden. Sei es analog im eigenen
             reservieren.                                                        Haus oder virtuell über das weltweite Netz. Wohnen ver-
                                                                                 netzt sich damit verstärkt mit dem städtischen Umfeld.
             Die dekonstruierte Wohnung
             In seiner aktuellen Studie «Microliving» skizziert das              Daniel Kurz (*1957) ist promovierter Historiker und Architek-
                                                                                 turkritiker sowie seit 2012 Chefredaktor der Architektur­
             Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) eine dekonstruierte
                                                                                 zeitschrift werk, bauen + wohnen. Als Autor zahlreicher Publi-
             Wohnzukunft für die kleineren Haushalte: «Momentan                  kationen äussert er sich seit vielen Jahren zur Geschichte und
             erfüllt eine einzelne Wohnung eine Vielzahl von Funkti-             zur Praxis des Wohnens.
             onen: Schlafplatz, Kochnische, Reinigungsort, Wohn-
             zimmer, Arbeitsstätte, Erholungsraum, Wohlfühloase                  Quellen: GDI, Stefan Breit, Detlef Gürtler, «Microliving. ­
                                                                                 Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundert», Zürich 2018.
             oder Stauraum – ein ‹Heim›, das so erst im 20. Jahrhun-
                                                                                 Andreas Hofer, Ruedi Weidmann, «Inspiration Grandhotel»,
             dert entstanden ist. Im digitalen Zeitalter werden diese            in: Tec21 36/2013.
             Funktionen dekonstruiert und neu zusammengesetzt.

GENOSSENSCHAFTS-                        LEBEN IN DER                             ZÜRICHS JÜNGSTE                         WIENS SOZIALE
WOHNEN HEUTE                           ­GEMEINSCHAFT                             WOHNUNGSBAUTEN                          WOHNBAU­TRADITION
Dieses Buch stellt das Phänomen        In den europäischen Städten ent-          Seit Mitte der 1990er-Jahre ent-        «Wiens soziale Wohnbaupolitik ist
des genossenschaftlichen Bauens        stehen zurzeit gemeinschaftlich           standen im Grossraum Zürich eine        hinsichtlich ihrer langen Tradition
in der Schweiz und insbesondere in     orientierte Wohnprojekte, die eine        Reihe von Wohnbauten von aus­           und ihrer Kontinuität einzigartig.»
der Stadt Zürich in den Mittelpunkt.   enorme Kraft und Lebendigkeit             serordentlich hoher Qualität: Die       Ausgehend von dieser Feststellung
In den letzten 15 Jahren haben sich    entfalten. Noch vor wenigen Jahren        öffentliche Hand, eine hochstehen-      präsentiert das Buch Das Wiener
solche Genossenschaftsprojekte         sahen Kritiker in den neuen Wohn-         de Wettbewerbskultur und eine           Modell sechzig typische Projekte
deutlich verändert. Ermöglicht         projekten nur periphere Inseln für        rege Architektenszene haben ein         der vergangenen hundert Jahre.
durch Steuergelder und dank inno-      gemeinschaftssehnsüchtige Nostal-         Experimentierfeld guter Wohnbau-        Bemerkenswert ist unter anderem
vationsfördernden Wettbewerben         giker. Inzwischen finden gemein-          architektur hervorgebracht. Die         das innovative Ausschreibungs­
entwickelten sich in Zürich neue       schaftliche Wohn- und Lebenspro-          Anthologie über den Zürcher Woh-        system der sogenannten Bauträger-
Wohnformen, die einen grossen Ein-     jekte eine breite Anerkennung.            nungsbau versammelt mehr als            wettbewerbe, womit Wohnungs-
fluss auf die Stadt und das urbane     Vorliegendes Buch ist das Ergebnis        hundert Einzelbauten, Ensembles         standard und Bauqualität stetig
Leben haben. Diese Bauten können       aus einem Forschungsprojekt und           und Siedlungen, die innerhalb           verbessert und eine soziale Durch-
als vorbildhafte Modelle dafür die-    richtet den Blick auf die unter-          von zwanzig Jahren in der Stadt         mischung erreicht werden. Da die
nen, wie das global steigende Be-      schiedlichen Dimensionen der Quar-        Zürich entstanden sind. Es ist          Stadt rasch weiterwächst, liegt der
dürfnis nach städtischem Wohn-         tiervernetzung und Nachbar-               eine eindrückliche Übersicht zur        Schwerpunkt auch in Zukunft auf
raum zu befriedigen sein könnte.       schaftsbildung gemeinschaftlicher         Wohnbaukultur, die auch interna­        den Themen Integration und urbane
                                       Wohnprojekte. Diese wollen indi­          tional Beachtung findet.                Identität sowie dem Ziel einer
Dominique Boudet (Hrsg.), Wohn­        viduelles Leben ermöglichen, aber                                                 hohen Lebensqualität.
genossenschaften in Zürich.            auch neue Formen der Gemein-              Heinz Wirz und Christoph Wieser
Garten­städte und neue Nachbar­        schaft.                                   (Hrsg.), Zürcher Wohnungsbau            Wolfgang Förster, William Menking
schaften, Textbeiträge von Domi-                                                 1995 – 2015 / Zurich housing de­        (Hrsg.), Das Wiener Modell.
nique Boudet, Sylvia Claus, Irina      Susanne Dürr und Gerd Kuhn,               velopment 1995 – 2015, Textbeiträge     ­Wohnbau für die Stadt des 21. Jahr­
Davidovici, Daniel Kurz, Caspar        Wohnvielfalt: Gemeinschaftlich            von Daniel Kurz, Patrick Gmür,           hunderts, Deutsch / Englisch, Jovis
Schärer und Axel Simon sowie In-       wohnen – im Quartier vernetzt             Christoph Wieser, Quart Verlag,          Verlag, Berlin 2016.
terviews mit Peter Ess und Patrick     und sozial orientiert, Wüstenrot          Luzern 2017.
Gmür, Park Books, Zürich 2017.         Stiftung, Ludwigsburg 2017.

                                                                            11
12   ARCH 2018–2
Michael Meier & Marius Hug und Armon Semadeni

Vorbild in allen Belangen
Im Westen von Bern bieten drei unregelmässig geformte, viergeschossige Bauten Raum für
verschiedene Wohnformen. Mit Gewerberäumen, einer Kinderkrippe und einem Bistro trägt
die neue Siedlung Stöckacker Süd zur besseren sozialen Durchmischung des Quartiers bei.
Text: Michael Hanak, Fotos: Roman Keller, Jürg Zimmermann

                                                            13
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                         Die Siedlung Stöckacker Süd umfasst drei unregelmässig geformte, mehrfach abgewinkelte Gebäude.
                                Diese fassen 146 Wohneinheiten und ersetzen Satteldachhäuser aus den 1940er-Jahren.

In ihrem äussersten Westen liess die Stadt       Sozial gut durchmischt                            Strassen angeordneten Häuser der Vorgän-
Bern vor siebzig Jahren eine ganze Wohn-         Die drei unregelmässig geformten, mehr-           gersiedlung. Die drei «Figuren» – die aus
siedlung errichten. Nun realisierte sie im       fach abgewinkelten Häuser mit vier                der Vogelschau an einen Knochen, ein Beil
Quartier Bümpliz-Bethlehem zum ersten            Geschossen fassen 146 Wohneinheiten               und einen Anker erinnern – verschrän­ken
Mal wieder Wohnbauten: die Siedlung              mit dreieinhalb bis sechs Zimmern, Alters-        sich ineinander. Dazwischen entstehen
Stöck­acker Süd. Diese ersetzt die 1945 / 46     wohnungen mit eineinhalb bis drei Zim-            mehr oder minder gefasste Plätze und Hof-
erbauten dreigeschossigen Satteldach­            mern, aber auch mehrgeschossige «Town             bereiche; zu den Strassen hin Vorgar­ten­
häuser. Zwar stufte die Denkmalpflege            Houses» mit bis zu sechseinhalb Zimmern.          bereiche. Alle Aussenräume sind mit
jene als wirtschafts- und sozialgeschichtlich    Im Erdgeschoss befinden sich neben                Büschen und Bäumen bepflanzt und stehen
­bedeutsam ein; da die Bauten aber den           Gewerberäumen auch eine Kinderkrippe              der Gemeinschaft zur Verfügung. Die
 ­aktuellen Wohnbedürfnissen nicht mehr          und ein Bistro. Das Nebeneinander der             Erdgeschosswohnungen sind über Treppen
  genügten, wurden sie abgebrochen.              unterschiedlichen Wohnformen und Ge-              direkt mit dem Garten verbunden.
  Der anhaltende Boom im Wohnungsbau             werberäume soll eine soziale und alters-          Die Bauten sind allseitig gleich behandelt,
  betrifft vermehrt bestehende Siedlungen.       mässige Durchmischung bewirken und die            keine Ausrichtung scheint bevorzugt.
  Neuen Wohnraum zu schaffen, ist ein            Wohnqualität im Quartier erhöhen.                 Zur Bahnlinie sind die «Town Houses» mit
  wichtiges politisches Ziel.                    Die Wettbewerbsausschreibung liess die            je zwei Hauptgeschossen angeordnet:
  Rund 7850 Wohnungen oder gut zehn Pro-         Bebauungsform und -höhe offen: Die                die unteren sind über einen auskragenden
  zent aller Wohnungen gehören in Bern           baurecht­lichen Vorschriften sollten später       Windfang, die oberen über einen Lauben-
  gegenwärtig gemeinnützigen Wohnbauträ-         dem Bauprojekt angepasst werden.                  gang erschlossen. Vor der Lärmquelle
  gern; weitere rund 2000 Wohnungen              Das Grundstück wird von Quartierstrassen          weicht die Siedlung aber nicht zurück.
  befinden sich in städtischem Besitz. Mit       und einer Bahnlinie begrenzt; seine drei-
  der neuen Siedlung Stöckacker sah die          eckige Fläche bildete den Ausgangspunkt           Balkon als dynamisches Element
  Stadtverwaltung die Chance, in sozialer,       für die Bebauungsstruktur. Ungewöhnliche          Prägendes Merkmal der Fassaden sind die
  ökologischer und wirtschaftlicher Hinsicht     Umrisse mit stumpfen und spitzen Win-             Balkone, die – ausser an den Nordseiten
  vorbildlichen Wohnraum zu realisieren.         keln, Verengungen und Weitungen charak-           der drei Bauten – durchlaufen. Es gibt brei-
  Sie erhoffte sich damit eine Wirkung weit      terisieren die drei Baukörper, anders             tere und schmalere Bereiche. Die Aussen-
  über Bern hinaus.                              als die parallel und rechtwinklig zu den          wände sind mit grossformatigen, dunkel-

                                                                       14                          ARCH 2018–2
Illu Wohnungen
1:2000 / 1:400                                       WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                                                        Alterswohnung
                                                    Alterswohnung
                  Geschosswohnung
                 Geschosswohnung

                                                                                                                 Die drei Baukörper
                                                                                                                ­fassen verschiedene
                                                                                                                 Wohnungstypen
                                                                                                                 und bilden den Rahmen
                                                                                                                 für unterschiedliche
                                                                                                                 ­Lebens- und Wohn­
                                                                                                                  formen.

                                                                                               Doppelgeschosswohnung
                                                                                                 Doppelgeschosswohnung

                                                                                                /T
                                                                                               W

                Regelgeschoss (1. Obergeschoss)

   grauen Faserzementplatten bekleidet.           Holzstützen integriert: Diese hybride Kon-         Balkone vermitteln zwischen Wohnraum
   Dynamischer wirken die Balkone dank ver-       struktion bringt nebst einer positiven             und Umgebung. Im Aussenraum überzeugt
   tikal strukturierten, hellgrauen Glasfaser-    Ökobilanz Vorteile in der Fertigung. Die           die Balance zwischen Privatsphäre und
   betonelementen mit mal tieferen, mal           hinterlüftete Fassade mit den stockwerk­           Öffentlichkeit. Den beabsichtigten Vorbild-
   höheren Brüstungshöhen. Dahinter befin-        hohen Faserzementplatten gewährleistet             charakter erreichte man bei der Siedlung
   den sich diagonale Gitter. Hellrote Vor-       einen wirtschaftlichen Unterhalt und               Stöckenacker auch bezüglich Ökologie und
   hänge, die sich entlang der trapezförmigen     erlaubt eine getrennte Auswechslung oder           Nachhaltigkeit im Sinn der 2000-Watt- und
   Aufenthaltsbereiche als Sonnen- und Sicht-     Erneuerung. Alle Wohnungsfenster sind              1-Tonne-CO2-Gesellschaft: dank verschie-
   schutz vorziehen lassen, bringen Farbe in      – vor allem aus ökonomischen Gründen –             dener Massnahmen wie Erdsonden, Son-
   die Siedlung. Zusammen mit dem braunen,        ebenfalls geschosshoch und in den gleichen         nenkollektoren und integrierter Wasser-
   pulverbeschichteten Aluminium­blech der        Grössen ausgeführt.                                und Biomassenutzung.
   Storenkästen, der Tür- und Fenster­rahmen      Die Siedlung trägt zur städtebaulichen
   erhält die Siedlung aber eher eine zurück-     Identität bei: Indem sich die Architektur
   haltende Tonalität.                            auf die Geschichte und den Ort bezieht,
   Wohnungstrennwände und Treppenkerne            passen sich die Neubauten in das gewach-
   aus Beton sind tragend, dagegen sind           sene Quartier ein. Die einfachen Mate­
   die Deckenplatten äusserst schlank dimen-      rialien sind eine Reminiszenz an die Vor-
   sioniert. In die Aussenwände sind tragende     gängersiedlung. Differenziert gestaltete

                                                                        15
WOHNUNGSBAU

     16       ARCH 2018–2
WOHNUNGSBAU

Die einfachen Mate­­-
r­ialien sind eine
Reminiszenz an die
Vorgängersiedlung
aus der frühen Nach-
kriegszeit.

                             17
Für die Balkone entwi-
ckelten die Architek-
ten gezackt profilierte
Glasfaserbetonele-
mente. Die Aussen-
wände der Gebäude
sind mit grossformati-
gen, dunkelgrauen
Faserzementplatten
bekleidet.

                          18   ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

 1 cm         Bern
              horizontal section
              Scale: 1:20
Die neue Siedlung
­bietet Einheiten für
 verschiedenste Wohn-
 formen: neben
 ­Wohnungen mit drei-
  einhalb bis sechs Zim-
  mern auch kleinere
  Alterswohnungen und
  mehrgeschossige
  «Town Houses».

          6   7   6    8                            9     10                                                                          12

                           1   2   3   4   5                                                          11

 1   Faserzement, 8 mm                                                            Standort: Bethlehemstrasse 161 – 167, 169 – 173,
 2   Hinterlüftung, Vertikallattung                                               175 – 183, Bern, Schweiz
 3   Horizontallattung                                                            Bauherrschaft: Immobilien Stadt Bern
 4   Feuchtigkeitssperre
                                                    1    Swisspearl® 8 mm             Architekten: Planergemeinschaft Michael Meier
 5   Gipsfaserplatte                                2    Hinterlüftung, Vertikallattung
                                                                                      & Marius Hug Architekten AG, Zürich, und
 6   Wärmedämmung, Mineralwolle                     3    Horizontallattung            Armon Semadeni Architekten GmbH, Zürich
 7   Grobspanplatte                                 4    Feuchtigkeitssperre
 8   Gipskartonplatte                               5    Gipsfaserplatte              Bauleitung: ANS Architekten und Planer
 9   Französisches Fenster, Dreifachverglasung      6    Wärmedämmung, Mineralwolle   SIA AG, Worb
10   Französisches Geländer, Streckmetall           7    Grobspanplatte               Landschaftsarchitekten: Müller Illien
11   Brandriegel                                    8    Gipskartonplatten           ­Landschaftsarchitekten, Zürich
                                                    9    Französisches Fenster, Dreifach-Isolierverglasung
12   Festverglasung                                                                   Bauzeit: 2014 – 2017 (Wettbewerb 2008 / 09 )
                                                    10   Französisches Geländer, Streckmetall
                                                    11   Brandriegel                  Fassadenbau: Holzbau Burn AG, Adelboden
                                                    12   Festverglasung
                                                                                  Fassadenmaterial: Faserzement Swisspearl
                                                                                  Xpressiv, Grau 8060

                                                                 19
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

Wie kam die Zusammenarbeit für das                 Seither haben Sie bei einer Reihe von Wett­   Armon Semadeni: Der Wohnungsbau ist
Projekt der Siedlung Stöckacker in Bern            bewerben den ersten Preis geholt. Verraten    unser zentrales Thema, da das Wohnen
zustande?                                          Sie uns Ihr Erfolgsrezept?                    eine Hauptbeschäftigung des Menschen ist.
Michael Meier: Die Zusammenarbeit ent-             Armon Semadeni: Voraussetzungen, dass         Die Bauaufgabe ist vielfältig, da jede Lage
wickelte sich schrittweise aus der ehe­            wir an einem Wettbewerb teilnehmen,           und jede Bauherrschaft – ob öffentlich,
maligen Mitarbeit und aus Freundschaft;            sind, dass uns das Programm interessiert      privat oder genossenschaftlich – anders ist.
weniger aus Ressourcenbedürfnissen.                und dass er gut begleitet und juriert wird.
Armon Semadeni: 2009 machte ich                    Michael Meier: Am wichtigsten scheint         An der Stelle der Siedlung Stöckacker in
mich selbstständig und arbeitete noch etwa         mir, dass wir immer wieder möglichst offen    Bern standen zuvor gewöhnliche Bauten
50 Prozent bei Michael Meier und Marius            und neu an eine Aufgabe herangehen.           aus den 1940er-Jahren. Inspirierten die
Hug. Die offene Ausschreibung des Berner           Wir wollen gute, gültige Antworten finden     bestehenden Bauten und deren «normale»
Wettbewerbs stand am Anfang einer                  und nicht eine Autorenhaltung wiederho-       Ästhetik Sie bei Ihrem Entwurf?
bis heute anhaltenden Serie gemeinsamer            len. Entscheidend ist auch, zu Beginn die     Armon Semadeni: Tatsächlich sind die
Projekte.                                          richtige Strategie zu finden.                 einfachen Materialien eine Reminiszenz an
                                                   Armon Semadeni: Wir bearbeiten etwa           die Vorgängersiedlung aus der frühen
                                                   einmal im Jahr einen grösseren Wettbewerb     Nachkriegszeit, als nur wenige Baumateria-
                                                   zusammen. Bisher konnten wir drei             lien verfügbar waren.
                                                   Projekte gemeinsam ausführen: das Natur­      Michael Meier: An der früheren Siedlung
«Wir benutzen ­gerne                               museum St. Gallen, die Siedlung Stöck­        gefielen uns besonders die Gärten und

Industrie­produkte                                 acker in Bern und die Wohnbauten der
                                                   Gaiwo in Winterthur (siehe Abbildungen).
                                                                                                 die Balkone. Auch die pragmatische Mate-
                                                                                                 rialisierung mit Putzfassaden und Well­
mit handwerklichem                                 Beschäftigen Sie sich eher aus geschäft­
                                                                                                 eternit vor den Balkonen hat uns fasziniert.
                                                                                                 Diese Qualitäten wollten wir übernehmen,
­Potenzial oder                                    lichen oder ideellen Motiven mit dem
                                                   Wohnungsbau?
                                                                                                 ohne sie zu karikieren. Wie die einstigen
                                                                                                 Fassaden zeigen auch die neuen eine Fein-
 ­Hintergrund.»                                    Michael Meier: Alle Fragen des Wohnens        heit und einen gewissen formalen Reich-
                                                   interessieren uns sehr. Zudem betreffen       tum.
                                                   viele Wettbewerbsausschreibungen
                                                   ­Wohnbauten an spannenden Orten mit
                                                    städtebaulichem Potenzial.

                                                                                                 Naturmuseum St. Gallen, 2016

           Marius Hug (*1970) und Michael Meier (*1972) gründeten
           2001 ihr Architekturbüro in Zürich. Zuvor hatten beide bei
           ­Miller & Maranta in Basel gearbeitet. Michael Meier hat an der                       MFH Kastellweg, Winterthur, 2014
            FH ­Winterthur und Marius Hug an der ETH Zürich studiert.
            Das Büro zählt heute rund fünfzig Mitarbeiter. Ihre Bauten de-
            cken ein breites Spektrum verschiedener Bauaufgaben und
            konstruktiver Lösungen ab.

           Armon Semadeni (*1979), rechts im Bild, arbeitete nach dem
           Studium an der EPF Lausanne und ETH Zürich im Büro Michael
           Meier und M ­ arius Hug Architekten und gründete 2008 sein
           eigenes A­ rchitekturbüro, das etwa 25 Mitarbeiter zählt. Fast
           alle bisher realisierten Bauten resultierten aus Wettbewerben.

                                                                                                 Züri-WC am Stadthausquai, 2014

                                                                             20                  ARCH 2018–2
1 cm   CH_Siedlung_Bern_vs
                                                Vertical     section
                                                WOHNBAU: SIEDLUNGEN

Wie wählen Sie Materialien aus?
                                                Scale: 1:20
Michael Meier: Oberstes Gebot bei der
Siedlung Stöckacker war die Material­
trennung. Wir entschlossen uns schon im                                                             12   13   14   15   16   17
­Wettbewerb zu einer Konstruktion mit
 Beton­decken und Holzstützen, ebenso zur
 hinterlüfteten Fassade mit industriellen
 Materialien. Danach experimentierten wir
 hauptsächlich mit Strukturen und mit
 der ­Farbigkeit.
 Armon Semadeni: Wir erwogen eine textile
 Struktur und eine Lasur der Faserzement-
 platten. Heute bin ich froh, dass wir davon                                                    1
 abkamen. Wir sahen uns die Siedlung Bur-                                                       2
 riweg in Zürich-Schwamendingen an, die
                                                                                                3
 Frank Zierau 2000–2002 erbaute, und wa-
                                                                                                4
 ren überzeugt von den Faserzement­platten
                                                                                                5
 mit der lebendigen Oberflächenzeichnung.
                                                                                                6

Ihre Bauten prägen häufig strukturierte
Oberflächen und die Kombination                                                                                                   7

verschiedener Materialien. Beides verleiht                                                                                        6
den Fassaden Tiefe und Lebendigkeit.                                                                                              8
Armon Semadeni: Bieder will es ja niemand
haben. Die Tendenz zum Collagierten
gefällt mir, aber sie birgt auch ein gewisses
Risiko: Wir wollen nicht, dass es aufge­-
setzt wirkt.
Michael Meier: Wir benutzen gerne Indus­
trieprodukte mit handwerklichem Potenzial
oder Hintergrund. Die heutige Vielfalt
an Fassadenmaterialien macht die Auswahl
allerdings nicht einfach. Für die Siedlung
in Bern entwickelten wir gezackt profilierte
Glasfaserbetonelemente von geringer Di-
cke, die eine hohe Wertigkeit ausdrücken.
Wir wollten die Fassade aber zum Beispiel
                                                                                     11
                                                        9
nicht mit Mustern gestalterisch aufladen.
                                                        10

Wir befinden uns in einer spannenden
Phase des Wohnungsbaus: Neue Ideen
sind gefragt und werden auch umgesetzt.                                                                                               1    Swissp
Was bringt die Zukunft?                                                                                                               2    Hinter
                                                                                                                                      3    Horizo
Armon Semadeni: Gegenwärtig herrscht                                                                                                  4    Feucht
eine Überproduktion an konventionellen,                                                                                               5    Gipsfa
                                                                                                                                      6    Wärm
stinknormalen Wohnungen. In den letzten                                                                                               7    Grobsp
Jahren entwickelten sich Vorstellungen                                                                                                8    Gipska
davon, anders zu wohnen. In Zukunft müs-            1   Faserzement, 8 mm                                                             9    Balkon
                                                    2   Hinterlüftung, Vertikallattung                                                10   Brüstu
sen wir weitere alternative Modelle finden                                                                                            11   Balkon
                                                    3   Horizontallattung
und mutig ausprobieren.                             4   Feuchtigkeitssperre
                                                                                                                                      12   Begrün
                                                                                                                                      13   Drains
Michael Meier: Ökologische Forderungen              5   Gipsfaserplatte                                                               14   Abdich
dürfen kein Bremsklotz sein. Innovative             6   Wärmedämmung, Mineralwolle                                                    15   Wärm
Wohnkonzepte sollten mit guter architek-            7   Grobspanplatte                                                                16   Damp
                                                    8   Gipskartonplatten                                                             17   Beton
tonischer Gestaltung zusammenkommen.
                                                    9   Balkongeländer, Streckmetall
                                                   10   Brüstungselement, Glasfaserbeton
Für ARCH sprach Michael Hanak mit                  11   Balkonplatte, vorfabrizierter Beton
Michael Meier und Armon Semadeni.                  12   Begrünung, extensiv
                                                   13   Drainschutzbahn
                                                   14   Abdichtung
                                                   15   Wärmedämmung, expandierter Polystyrol
                                                   16   Dampfbremse
                                                   17   Beton

                                                             21
22   ARCH 2018–2
23
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

Buchner Bründler

Postindustrielle
­Lebensvielfalt
Auf dem Areal Erlenmatt Ost entstand an der Stelle
eines ehemaligen Güterbahnhofs ein Wohnquartier um
einen Park. Mit vielen Wohnungstypen will der
genossenschaftliche Bauträger verschiedenen Lebens­
phasen und Lebensentwürfen gerecht werden.
Text: Buchner Bründler
Fotos: Rory Gardiner

                                   24                 ARCH 2018–2
25
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

Genossenschaftshaus Stadterle, Basel
Das Ziel beim Wohnhaus Stadt­erle war es,
das gemeinschaftliche Leben und den
nachbarschaftlichen Austausch zu fördern.
Die Wohnungsgrundrisse sind sparsam,
dennoch erzeugen sie ein Gefühl von
Weite, da sie einfach strukturiert und zwei-
seitig orientiert sind. Intim ist das Wohnen
zum Park, sozial aktiv zum Hof, denn
erschlossen werden die Wohnungen durch
einen Laubengang. Dieser dient der Begeg-
nung und soll von den Bewohnern, einer
eigenen Veranda gleich, belebt werden.
Von der sozial wie architektonisch verbin-
denden Laube betritt man die Wohnungen
hofseitig über die Wohnküche, die in
Seekiefersperrholz gehalten ist und deren
farbige Lasur von den Bewohnern be-
stimmt wurde. Die Privatheit nimmt über
den anschliessenden Wohnbereich zu den
Schlafzimmern zu. Der für einen Genos-
senschaftsbau dieser Art wichtige Aspekt
der Finanzen wurde in der Erstellung und
Materialisierung des Baus respektiert.
Die mehrschichtige Fassade beherrschen
In­dustriematerialien, die unterhaltsarm
und langlebig sind. Industrierohes Alumi-
nium, unbehandelte gewellte Faserzement-
platten, verzinkte Elemente und Acryl-­
Wellplatten nehmen den ursprünglichen
Charakter des Orts auf und verleihen dem
Haus durch ihre Direktheit einen hapti-
schen und lebendigen Charakter. Grüne,
transparente Wellplatten kleiden das Haus
in horizontale Bänder ein, sodass die
Schichtung lesbar bleibt. Grosszügige Son-
nensegel geben ihm Leichtigkeit, zwei
offene Treppenhäuser an den Stirnseiten
des Winkelbaus Plastizität. Das Haus
ist aus Kostengründen ein Hybridbau mit
einer Massivstruktur aus Beton und hat
eine Holzkonstruktionsfassade.

Standort: Goldbachweg 8, Basel
 Bauherrschaft: Wohngenossenschaft
­Zimmerfrei, Basel
Architekten: Buchner Bründler Architekten,                                         Breite Laubengänge
Basel                                                                              erschliessen die
Bauzeit: 2016 /17 (Wettbewerb, 2014 )                                              Wohnungen und die-
Holzbauingenieur Fassade: Makiol Wiederkehr                                        nen als Begegnungs-
AG, Beinwil am See                                                                 zone wie auch als
                                                                                   Veranda.
Fassadenplaner: Christoph Etter, Basel
Fassadenbau: Hürzeler Holzbau AG, Madgen,
und Rudolf Senn AG, Muttenz
Fassadenmaterial: Faserzement-Wellplatte
Ondapress 36, Naturgrau

                                                       26            ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                                                 1. Obergeschoss

                                                                       0    2.5       5    7.5           15                                 30

                                                                       2 11 _ Ge no s s e ns c ha f t s ha us Sta dter le | Gr undr iss 1. O G | 1:5 0

Die Küchen sind mit
farbig lasiertem
Seekiefersperrholz
ausgebaut. Die
Bewohner durften                  Erdgeschoss
die Farbe wählen.

                                                                   0       2.5    5       7.5           15                                 30

                                                                   2 11 _ Ge no s s e ns c ha f t s ha us Sta dter le | Gr undr is s E G | 1:5 0 0

       1 cm    CH_Siedlung_Erlenmatt
               Scale: 1:5000
               N

                                                27
Adrian Streich Architekten

L(i)ebenswerte Wohnmaschine
In Green City, Zürichs jüngstem Neustadtgebiet, entsteht auf einem ehemaligen
Industrieareal ein dicht bebautes Wohnquartier. Adrian Streichs Wohnblock
öffnet sich zu einem Innenhof, der Zurückgezogenheit und Gemeinschaftlichkeit
zugleich verspricht.
Text: Adrian Streich Architekten, Fotos: Roland Bernath

                                                     28   ARCH 2018–2
29
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

Wohnhaus B3 Green City, Zürich
Der Wohnbau wird als Wohnmaschine in-
terpretiert. Von einer grosszügigen Ein-
gangshalle aus erschliessen zwei Treppen-
häuser jeweils vier Wohnungen pro
Geschoss. Ein halbgeschossiger Versatz
zwischen den beiden Haushälften erzeugt
im Erdgeschoss unterschiedliche Raum­
höhen bis zu 4,3 Metern. Zum Spinnerei­
platz hin sind eine Bäckerei mit Café
und der Gemeinschaftsraum für alle ge-
meinnützigen Wohnbauträger des Areals
untergebracht, in den übrigen Bereichen
liegen Atelierwohnungen.
Ein acht mal zehn Meter messender Innen-
hof gibt dem Wohnhaus eine Mitte. Der
im Splitlevel verlaufende Balkonring dient
als privater Aussenraum und ermöglicht
nachbarschaftliche Besuche; da er keine
Fluchtwegfunktion erfüllt, kann er frei
möbliert werden. Im ersten Obergeschoss
und im Dachgeschoss angeordnete Winter-
gärten und Dachterrassen sind allen Be-
wohnern zugänglich.
Die Wohnungen in den mittleren Geschos-
sen sind um den Innenhof gruppiert.
Während sich deren Wohn- / Essbereiche
zum gemeinschaftlichen inneren Freiraum
orientieren, richten sich die übrigen Zim-
mer nach aussen.
Die hinterlüftete Fassade sollte eine robuste
Konstruktion sein. Die Kombination von
Betonelementen, Faserzement-Wellplatten
und Aluminium erinnert an die indust­ri­-
elle Vergangenheit des Areals und verstärkt
das serielle Moment der Wohnmaschine.
Die Faserzement-Wellplatten haben als
Material eine hohe Wertigkeit, und das
                                                                                     Die Balkone rings
schöne Licht- und Schattenspiel verleiht
                                                                                     um den gemeinschaft-
der Fassade zusätzlich Tiefe. Durch die La-                                          lichen Innenhof er-
sur bleibt die Zementstruktur gut sichtbar;                                          leichtern den Kontakt
im Streiflicht wirkt die Oberfläche fast                                             zu den Nachbarn.
samtig. Im Hof und in den ­Loggien reflek-
tieren die weiss getünchten Faserzement-­
Wellplatten das Sonnenlicht und schaffen
helle, freundliche Aufenthaltsorte.

Standort: Maneggplatz 34 / Maneggstrasse 73,
Zürich (Baufeld B3 Süd)
Bauherrschaft: Genossenschaft Hofgarten,
Zürich
Architekten: Adrian Streich Architekten AG,
Zürich
Bauzeit: 2015 – 2017 (Wettbewerb, 2011)
Fassadenbau: Durrer AG, Alpnach Dorf
Fassadenmaterial: Faserzement-Wellplatte
Ondapress 36, Lasur Warmgrau N214
(Hauptfassade) und Blanc P113 (Loggien,
Innenhof, Balkone, Dachterrasse)

                                                        Längsschnitt

                                                        30             ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

2. Obergeschoss

Erdgeschoss

                          31
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                      Königlarch Architekten
                      Wohnhausanlage
                      Bike City und
                      Time 2 live, Wien

                      Dieses Projekt hat sich zum Ziel gesetzt,
                      Anreize zur Nutzung umweltfreundlicher
                      Verkehrsmittel zu bieten. Einige bau-
                      liche Massnahmen erleichtern das und mo-
                      tivieren: ein einfacher und komfortabler
                      Zugriff auf das eigene Fahrrad, grosszügige
                      Erschliessungsflächen, kurze Wege sowie
                      verschiedene Möglichkeiten, die unter-
                      schiedlichen Ansprüchen genügen, um das
                      Fahrrad sicher unterzubringen. Besonders
                      attraktiv sind die extragrossen Transport-
                      lifte, in denen man Fahrräder mitnehmen
                      kann, und die Abstellplätze direkt bei
                      den Wohnungseingängen. Für die 99 Woh-
                      nungen wurden etwa 330 Fahrradstell-
                      plätze und separate Räume für Kinderfahr-
                      räder geschaffen.
                      Die unverwechselbare, markante Architek-
                      tur, die Massstäblichkeit der Baukörper
                      und die differenzierte Gestaltung der Frei-
                      räume sollten in Bike City dazu führen,
                      dass sich die künftigen Mieter stark mit
                      ihrer Anlage identifizieren. Die Erdge-
                      schosszone samt vorgelagertem Aussen-
                      raum steht den Einrichtungen für Fahrrad
                      und Wellness zur Verfügung. Die Aussen-
                      haut der vorwiegend hinterlüfteten Bau­-
                      teile zeigt diverse Oberflächen wie Faser­
                      zementplatten,
                               1 cm  AUT_Siedlung_WienBike
                                       Profilbleche und
                      Alu-Glas-Konstruktionen.
                                     Scale: 5000
                                     N
                      Standort: Vorgartenstrasse 130 – 132, Wien
                      Bauherrschaft: Gesiba, Wien (Bike City);
                      Projekta, Wien (Time 2 live)
                      Architekten: Königlarch, Wien (Claudia König,
                      Werner Larch)
                      Bauzeit: 2006 – 2008 (Wettbewerb, 2003 )
                      Fassadenbau: Thyssen-Krupp Systembau, Wien
                      Fassadenmaterial: Faserzementplatte Auria C
                      6710 (Bike City); Faserzementplatte Auria T
                      Sonderfarbe (Time 2 live)

        32            ARCH 2018–2
WOHNBAU: SIEDLUNGEN

                      Gmür & Geschwentner
                      Wohnüberbauung
                      Roost, Zug, Schweiz

                      Preisgünstiger Wohnungsbau mit Seeblick
                      in der Stadt Zug, einer der steuergünstigs-
                      ten Gemeinden der Schweiz? Das alleine
                      ist schon eine Sensation! Die vier Häuser,
                      deren Adressen prägnante, teils brückenar-
                      tig ausgebildete Eingangsportale markie-
                      ren, weisen einen vielfältigen Wohnungs-
                      spiegel auf. Aus der Hanglage werden in
                      den unteren zwei Geschossen Maisonettes
                      gewonnen, je mit patioähnlichem Aussen-
                      sitzplatz. Im Übrigen dominiert der be-
                      währte Wohnungstyp mit grosser Wohnkü-
                      che, Rundlauf um einen zentralen
                      Nasszellenkern und klar voneinander abge-
                      trennte Tag- und Nachtbereiche. Gross-
                      wohnungen profitieren von der Ecklage.
                      Die unteren beiden Häuser weisen zudem
                      Attikageschosse auf.
                      Die Fassaden schöpfen ihre architektoni-
                      sche Kraft aus der schieren Länge der
                      Baukörper. Durchlaufende Balkone auf
                      beiden Längsseiten betonen die Grosszü-
                      gigkeit optisch. Eine pastellig bleiche
                      Farbgebung für die feingliedrig gestalteten
                      Geländer, die Stahlstützen und die
                      Deckenunter­sichten verleihen den Häusern
                      eine beschwingte Leichtigkeit. Die weiss
                      lackierten      CH_Siedlung_Zug
                             1 cm Faserzement-Wellplatten und

                      die blau-weiss gestreiften Balkonmarkisen
                                     Scale: 1:5000
                      runden die mediterrane Stimmung ab.
                                     N
                      Standort: Fridbachweg 1– 3, 5 – 9, 11– 17, 19 – 23,
                      Zug
                      Bauherrschaft: Stadt Zug, AWZ Allgemeine
                      Baugenossenschaft Zug, Gewoba Genossen-
                      schaft für gemeinnützigen Wohnungsbau
                      Architekten: Gmür & Geschwentner, Zürich
                      Bauzeit: 2004 – 2008 und 2010 – 2013
                      (Studien­auftrag, 2001 )
                      Fassadenbau: Gerber & Gadola Fassaden AG,
                      Cham
                      Fassadenmaterial: Faserzement-Wellplatten
                      Ondapress 36, Nobilis, weiss (Spezialfarbton)

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