2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)

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2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
SCHWERPUNKTTHEMA

                                                      FORSCHUNG FÜR
                                                      PRÄZISE MEDIZIN

                                                      5
Das Magazin des Paul Scherrer Instituts

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                                          03 / 2019

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2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
SCHWERPUNKT THEMA:
                           FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN

                                                                 1

                                           HINTERGRUND

                                           Krebszellen unter
                                           Beschuss
                                           So präzise wie keine andere Behandlungs­
                                           methode gegen Tumore: die Protonen­
                                           therapie. Nur das PSI bietet in der Schweiz
                                           diese Therapie an.

                                           Seite 10

R E P O R TA G E

Medikamente
mit Strahlkraft
Die Radiopharmazie am PSI entwickelt
strahlende Wirkstoffe, mit deren Hilfe
sich Krebszellen aufspüren und bekämpfen
lassen.

Seite 18

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NACHGEFRAGT

                                                                  Was machen Sie da, Herr Strässle?                        4

                                                                  DAS PRODUKT

                                                                  Datenspeicher	 6

                                                                  DAS HELFERLEIN

                                                                  Einweg-Kaffeelöffel                                      7

                                                                     SCHWERPUNKTTHEMA:
                                                                     
                                                                     FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN                         8

                                                                     H I N T E R G R U N D
                                                                        
                                                                     Krebszellen unter Beschuss                           10

                                                                     I N F O G R A F I K
                                                                      
                                                                     Feuer frei auf Tumore                                16

                                                                     R E P O R TA G E
                                                                     
                                                                     Medikamente mit Strahlkraft                          18

                                                                  IM BILD

                                                                  Niels Schröter                                          21
                                                     I N H A LT

                                                                  IN DER SCHWEIZ

                                                                  5 000 000 000 000 000 Bytes
                                                                  von Villigen nach Lugano                                22
                                                                  Wie Forscher und Ingenieure die Datenflut
                                                                  am PSI bändigen.

                                                                  IN KÜRZE

                        2                                         Aktuelles aus der PSI-Forschung                         26
                                                                  1 Das Energiesystem der Zukunft
INFOGRAFIK
                                                                  2	P SI-Bildgebung hilft bei Raketenstarts

Feuer frei auf Tumore                                             3 Molekulare Schere stabilisiert Zell-Skelett

                                                                     G
                                                                      ALERIE
Vom Protonenbeschleuniger bis in das                                 
Gewebe von Patienten. Eine Grafik verrät,                            Hand in Hand für die Gesundheit                      28
was bei der Bestrahlung von Patienten                             Die Menschen vor und hinter den Kulissen
passiert.                                                         der Protonentherapie.

Seite 16                                                          ZUR PERSON

                                                                  Er macht seine Träume wahr                              34
                                                                  Früher arbeitete Philippe Stutz am PSI als Techniker,
                                                                  heute ist er Goldschmied in Luzern.

                                                                  WIR ÜBER UNS                                            38

                                                                  IMPRESSUM                                               40

                                                                  AUSBLICK                                                41

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                         3
2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
Was machen Sie da,
              Herr Strässle?
NACHGEFRAGT

              Am PSI werden mit einem hier erfundenen Verfahren Protonen
              auf Tumore geschossen und damit zerstört. Das bedeutet
              Heilung für bisher Tausende von Krebskranken, darunter mehr
              als 500 Kinder. Thierry Strässle, Direktor ad interim, erklärt,
              wie das PSI Patienten hilft – nicht nur mit dieser Protonentherapie.

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NACHGEFRAGT

                                   Herr Strässle, aus der ganzen Schweiz kommen Patienten
                                   nach Villigen, um sich am PSI behandeln zu lassen. Wieso?
                               Weil sie sich bei uns einer ganz besonderen Therapie unterzie­
                               hen können, der sogenannten Protonentherapie. Das PSI ist
                               die einzige Institution in der Schweiz, die diese Bestrahlungs­

                     1
                               möglichkeit zur Behandlung von Tumoren anbietet. Am PSI
                               behandeln wir Patientinnen und Patienten damit bereits seit
                               mehr als 30 Jahren – und erzielen einzigartige Erfolge. Nicht
                               zuletzt wurde hier die Spot-Scanning-Technik entwickelt, die
                               mittlerweile weltweit bei der Heilung von Krebskranken hilft.
                               Bei dieser Technik rastert ein dünner Protonenstrahl einen Tu­
                               mor im Körperinneren präzise ab und vernichtet ihn so. Der
                               Strahl wirkt nur in der Tiefe, wo der Tumor sitzt; davor- und
                               dahinterliegendes gesundes Gewebe wird geschont.

                                   Das PSI ist doch ein Forschungsinstitut und keine Klinik.
                                   Wie passt das zusammen?
                               Die Protonentherapie ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie
                               Grundlagen- und Anwendungsforschung ineinandergreifen
                               und Nutzen für viele Menschen schaffen. Hier in Villigen ha­
                               ben wir bereits mehr als 7200 Patienten behandelt, darunter

                     2
                               mehr als 500 Kinder. Letztere profitieren besonders von der
                               sehr präzisen und schonenden Protonentherapie. Das ist nur
                               möglich, weil wir hier über Jahrzehnte geforscht haben: so­
                               wohl für Aufbau und Betrieb der notwendigen Anlagen als
                               auch für die Entwicklung neuer Methoden zur Bestrahlung.
                               Wir ruhen uns aber nicht auf dem Erfolg aus, sondern for­
                               schen weiter, um die Behandlungsmöglichkeiten stetig zu
                               verbessern. Das gilt selbstverständlich auch für das zweite
                               Gebiet der medizinischen Forschung, auf dem wir uns enga­
                               gieren: die Radiopharmazie.

                                   Was ist das?
                               Dabei wird ein radioaktives Element mit einem Molekül verbun­
                               den, das sich an Krebszellen heftet. Über eine Infusion gelangt
                               der Wirkstoff in die Blutbahn des Patienten. Das geschieht in
                               einer der Kliniken, die sich in der Nähe des PSI befinden. In
                               der Nähe deshalb, weil die Wirkstoffe aufgrund ihres radioak­

                     3
                               tiven Zerfalls meist nicht sehr lange haltbar sind und binnen
                               sehr kurzer Zeit zur Anwendung kommen müssen. Hat sich der
                               Wirkstoff an die Krebszellen geheftet, sorgt das radioaktive
                               Element dafür, dass Ärzte den Tumor und seine Ableger genau
                               lokalisieren können. Bei einigen Wirkstoffen kann die radioak­
                               tive Strahlung den Tumor sogar schädigen und damit bei der
                               Heilung helfen. Auch mit dieser Forschung nehmen wir welt­
                               weit eine Spitzenposition ein und tragen zum Fortschritt in der
                               Medizin bei.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                   5
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DAS PRODUKT

So manches, was am PSI untersucht wird, könnte                 Je mehr Wissen die Menschheit generiert und in
eines Tages dazu beitragen, Alltagsprodukte zu                 elektronischer Form abspeichert, desto mehr steigt
verbessern. Zum Beispiel                                       auch der Strombedarf dafür. Sogenannte multifer­
                                                               roische Materialien könnten in der Zukunft energie­
                                                               sparsame Datenspeicher ermöglichen, denn bei

             Datenspeicher                                     ihnen sind die elektrischen und magnetischen Ei­
                                                               genschaften aneinandergekoppelt. Somit würde es
                                                               genügen, ein elektrisches Feld anzulegen, um mag­
                                                               netische Bits und Bytes zu speichern. Dies würde
                                                               deutlich weniger Strom benötigen als herkömmliche
                                                               Magnetspeicher. Die Krux: Die meisten Multiferroi­
                                                               ka erhalten ihre besondere Eigenschaft nur weit
                                                               unter null Grad Celsius.
                                                                   Doch vor Kurzem gelang es Forschenden am PSI,
                                                               ein neues, möglicherweise multiferroisches Material
                                                               unter anderem aus Kupfer und Eisen zu erschaffen.
                                                               Im Labortest behielt dieses die magnetische Eigen­
                                                               schaft sogar bei plus einhundert Grad Celsius – und
                                                               damit auch bei der Betriebswärme von Computern.
                                                                   Nun tüfteln die Forschenden weiter, um bei Be­
                                                               triebstemperatur nachweislich nicht nur die relevan­
                                                               te magnetische, sondern auch die elektronische Ei­
                                                               genschaft und die Kopplung der beiden zu erhalten.

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2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
DAS HELFERLEIN

In der Spitzenforschung kommen manchmal                              50 000 kleine Kaffeelöffel aus Kunststoff haben
überraschend alltägliche Hilfsmittel zum Einsatz.                    Forschende benutzt, um die gleiche Anzahl Proben
Zum Beispiel gewöhnliche                                             für die Untersuchung an der Synchrotron Lichtquel­
                                                                     le Schweiz SLS am PSI abzufüllen. Es handelte sich
                                                                     um eine Studie von Geologen aus Finnland, die das

Einweg-Kaffeelöffel                                                  Gesteinspulver aus einem Bergwerk erforschten, in
                                                                     dem unter anderem Kupfer gefördert wird. Die
                                                                     50 000 Proben waren in mehreren Hundert Bohrun­
                                                                     gen gesammelt worden. Das Ziel: eine detaillierte
                                                                     dreidimensionale Karte der dortigen Gesteinszu­
                                                                     sammensetzung und ein besseres Verständnis geo­
                                                                     logischer Formationen, das für die künftige Gewin­
                                                                     nung von Metallen nützlich sein wird.
                                                                         Dass für jede Probe ein eigenes Löffelchen be­
                                                                     nutzt wurde, liegt an der Empfindlichkeit der Un­
                                                                     tersuchungsmethode mit den Röntgenstrahlen der
                                                                     SLS: Jedes Stäubchen, das von der vorherigen Pro­
                                                                     be am Löffel verblieben wäre, hätte das Ergebnis
                                                                     verfälscht. Zugleich ermöglichte erst die Schnellig­
                                                                     keit der SLS -Methode dieses immense Projekt:
                                                                     Jede Probe war innerhalb von nur 12,8 Sekunden
                                                                     vermessen.
                                                                         Am Ende behielten die Forschenden einige der
                                                                     Kunststofflöffel zur Erinnerung – der Rest kam ins
                                                                     Recycling.

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2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
HINTERGRUND

                          Krebszellen unter
                          Beschuss                                                                       2
                          Seite 10
                                                                                            INFOGRAFIK

                                        1
                                                                                            Feuer frei auf Tumore
                                                                                            Seite 16

                       Forschung für präzise
    SCHWERPUNKTTHEMA

                       Medizin
                       Am PSI arbeiten Ärzte und Forscher daran, Tumore so exakt wie möglich
                       zu lokalisieren und zu behandeln. Sie bestrahlen sie mit Protonen oder spüren
                       sie mit komplexen Molekülen und Isotopen auf, um sie zu bekämpfen.
                       Die Fortschritte, die sie dabei erzielen, dienen nur einem Zweck: der Gesund­­-
                       heit der Patienten.

8
2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN

                    3

                  R E P O R TA G E

                  Medikamente mit Strahlkraft
                  Seite 18

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                            9
2D - FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN - Paul Scherrer Institut (PSI)
Diagnose Krebs:
Wenn der Tumor ausfindig gemacht ist,
lässt er sich meist auch behandeln.

10
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – HINTERGRUND

Krebszellen unter
Beschuss
Am Paul Scherrer Institut PSI erhalten Krebskranke eine in der Schweiz
einzigartige Therapie. Der Beschuss mit Protonen macht Tumoren den
Garaus – und das so präzise wie mit keiner anderen Form der Bestrahlung.
Das erweitert die Behandlungsmöglichkeiten bei komplizierten Fällen
und insbesondere bei Kindern.

Text: Sabine Goldhahn

Olga Jose aktiviert die Gegensprechanlage. Wäh­         derter Protonentherapie behandelt. Massgeschnei­
rend die Radiologie-Fachfrau einen der vielen Bild­     dert heisst: die richtige Dauer, Intensität und Häufig-
schirme mit ihren Augen fixiert, fragt sie: «Können     keit der Bestrahlung am richtigen Ort. Mit einer der­
wir bitte den Strahl haben.» Auf einem Monitor sieht    art individuell angepassten Strahlentherapie haben
sie das Bild, das eine Kamera im nur wenige Meter       die Spezialisten am PSI schon mehr als 8000 Krebs­
entfernten Therapieraum aufnimmt. Dort, an einem        patienten geholfen, ihre Erkrankung zu besiegen.
der drei Behandlungsplätze für Protonentherapie
am PSI, der sogenannten Gantry 3, liegt ein junger          Diagnose: Krebs
Mann ganz ruhig auf einer Liege. Der Patient wartet
auf die Bestrahlung. Nachdem Jose erfahren hat,         Auch der junge Patient – nennen wir ihn Noah
dass der geforderte Strahl abgerufen werden kann,       Schmid – ist wegen dieser technologisch fortschritt-
drückt sie auf den Bestrahlungsknopf.                   lichsten Methode zur Krebsbestrahlung ans PSI
     Fünfzig Meter entfernt, hinter der Gantry 3, be­   gekommen.
ginnen nun positiv geladene Teilchen, sogenannte             Die ersten Krankheitszeichen seien ganz unspe­
Protonen, ihre Reise zum Patienten. Mit einer Ge­       zifisch gewesen, erinnert er sich: Schnupfen und
schwindigkeit von bis zu 175 000 Kilometer pro          leichte Kopfschmerzen. Als keine Medikamente hal-
Sekun­de – fast zwei Drittel der Lichtgeschwindig­      fen, sei er zum Arzt gegangen. Schon nach wenigen
keit – fliegen sie auf den jungen Mann zu. Sie durch­   Untersuchungen stand fest: Eine seltene Krebsge­
dringen Haut und Gewebe, bis sie den Endpunkt           schwulst breitete sich in seinen Nebenhöhlen und
ihres rasanten Fluges erreichen: die Krebszellen,       im Rachenraum aus, wucherte entlang der Riech­
die das Leben des Patienten bedrohen.                   nerven zum Gehirn und befiel einen Lymphknoten
     Der bleistiftdicke Protonenstrahl steuert sein     nach dem anderen, bis hinunter zum Hals. Keine
Ziel äusserst präzise an. Nur weniger als einen Mil­    Frage: Der Tumor musste raus. Doch durch die Nähe
limeter kann er davon abweichen und benachbartes,       zu den Sehnerven durften die Chirurgen nur sehr
gesundes Gewebe treffen. «Im Vergleich zu anderen       vorsichtig operieren und konnten nicht alle bösar­
Bestrahlungsmethoden, beispielsweise mit Photo­         tigen Zellen entfernen. Es folgten Chemotherapie
nen, ist das eine sehr schonende Behandlung», sagt      und eine Anfrage beim Paul Scherrer Institut. Die
Barbara Bachtiary, Radioonkologin am PSI.               Ärzte wussten: Am PSI gibt es die Protonenthera­
    An dieser Meisterleistung der Präzision haben       pie, und die kann Noah Schmid helfen.
viele Mitarbeitende des PSI ihren Anteil. Mediziner,         «Krebszellen wachsen oft sehr nahe an emp­
Physiker und Techniker arbeiten am Zentrum für          findlichen Strukturen wie Sehnerv, Innenohr oder
Protonentherapie ZPT tagtäglich daran, Protonen         Rückenmark», erklärt Barbara Bachtiary. «Herkömm-
möglichst genau in Tumore zu lenken und diese zu        liche Strahlentherapie würde diese Strukturen
zerstören. Dabei bauen sie auf ihr jeweiliges Exper­    ebenfalls treffen und dadurch Nebenwirkungen ver­
tenwissen, die richtige Infrastruktur und viele Jahre   ursachen.» Die Protonentherapie hingegen ist von
Erfahrung. Hier, in Villigen, werden Krebspatienten     allen Bestrahlungsarten gegen Krebs diejenige, wel­
immerhin schon seit 35 Jahren mit massgeschnei­         che am genauesten gerichtet und dosiert werden

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                11
kann. Das schont gesundes Gewebe. Deshalb ver­         blaue Fläche daneben zeigt die Areale, welche viel­
wenden Ärzte diese Form der Bestrahlung vor allem      leicht auch noch Tumorzellen enthalten und eben­
bei Tumoren im Kopf- und Halsbereich, wo oft we­       falls mit einer starken Dosis bestrahlt werden sollen.
nige Millimeter darüber entscheiden, ob ein Patient    Daneben folgen gelbe Areale, wo gefährdete Struk­
beispielsweise erblindet oder sein Gehör verliert.     turen liegen und nur eine schwache Protonendosis
So fürchtet auch Noah Schmid um sein Augenlicht.       auftreffen darf. Grün umrahmt sind schliesslich
Seine Stimme wird leise, als ihm Bachtiary behut­      noch einzelne Krebszellnester entlang der Blut- und
sam erklärt, wie nah der Protonenstahl an den Seh­     Lymphgefässe am Hals.
nerv herankommen wird: fünf Millimeter. Diese Si­
cherheitszone will die Ärztin unbedingt einhalten.         Sicherheit durch Teamarbeit
     Um die Bestrahlung so genau wie möglich zu
planen, werden von jedem Patienten zunächst aktu­      Schon im Vorfeld der Bestrahlungsplanung haben
elle Schichtbilder vom Kopf und Hals angefertigt. Zu   sich die Mediziner am PSI bei jenen Ärzten über
diesem Zweck hat das ZPT eigene medizinische           den Patienten informiert, die ihn vorher behan-
Grossgeräte wie Computertomograf (CT) und Mag­         delt hatten.
netresonanztomograf (MRT). Die Geräte liefern sehr         «Wir legen sehr viel Wert auf die enge Zusam­
detaillierte Bilder, die Kopf und Hals in Schichten    menarbeit mit den Medizinern der zuweisenden Kli­
von weniger als einem Millimeter Dicke zeigen. Auf     niken und schätzen den fachlichen Austausch mit
den schwarz-weissen Aufnahmen erkennt Bachtia­r y      allen Schweizer Universitäts- und Kantonsspitälern.
die Knochenstrukturen und Weichgewebe, wie etwa        In den letzten drei Jahren wurden uns die meisten
Nervenstränge. Am Monitor zeichnet sie mit dünnen,     Patienten aus dem Universitätsspital Zürich, dem
farbigen Linien die Umrisse von empfindlichen          Inselspital Bern und den Kantonsspitälern St. Gallen
Strukturen und Tumorresten nach. Das erfordert         und Aarau zugewiesen», sagt Damien Charles We­
Übung, doch die Ärztin hat in ihrem Leben schon        ber, Leiter und Chefarzt des ZPT.
zigtausende Aufnahmen gesehen.                             Bei Noah Schmid dauerte es knapp drei Wo­
     Diese Bilder sind dann die Grundlage für die      chen, bis der Behandlungsplan ausgearbeitet war
Behandlung und das wichtigste Werkzeug für den         und er seine erste Bestrahlung erhielt. Bachtiary
Bestrahlungsplan: Rot schraffiert ist der Bereich,     hatte ihm die Therapie eingehend erklärt: Bei der
den die Protonen am stärksten treffen sollen, also     Behandlung schädigt ein gebündelter Strahl von Pro-
Krebsgewebe und befallene Lymphknoten. Eine            tonen die Erbsubstanz DNA in seinen Krebszellen,

Bei der Planung wird die betroffene Region
des Körpers in verschiedene Zonen
eingeteilt, die mit unterschiedlicher Intensität
bestrahlt werden, um gesundes Gewebe
zu schonen.

12
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – HINTERGRUND

wodurch diese ihre Fähigkeit zur Zellteilung und       richtige Position, die Reihenfolge der Bestrahlungs­
Vermehrung verlieren und absterben. Der entschei­      felder und beobachtet, ob der Patient ruhig liegt.
dende Vorteil bei der Bestrahlung mit Protonen: Die    Alles scheint okay. Die Maschinerie, die für eine
schnellen schweren Teilchen lassen sich sehr gut       ordnungsgemässe Bestrahlung des Patienten sorgt,
lenken und bremsen, damit sie ihre maximale Ener­      arbeitet reibungslos.
gie nur im Tumor deponieren. Sie verlieren bloss           Kopf und Hals des Patienten werden aus vier
sehr wenig Energie auf dem Weg dorthin und stop­       verschiedenen Richtungen bestrahlt. Deshalb muss
pen exakt im Tumorgewebe, was wiederum gesun­          die Gantry beziehungsweise ihr Bestrahlungskopf
des Gewebe vor und hinter der Geschwulst schont.       um den Patienten herumgedreht werden. Hinter ei­
Der Erfolg der Protonentherapie hängt also letztlich   ner weissen Wand verborgen, arbeiten dafür zwei
davon ab, dass die Bestrahlung des Tumorgewebes        Elektromotoren mit jeweils zehn PS, um den ge­
so exakt wie möglich erfolgt.                          waltigen Drehkörper der Gantry mit 220 Tonnen
    Patient Schmid weiss, dass er sieben Wochen        zu bewegen.
lang jeden Tag ans PSI kommen und auf dem Be­
handlungstisch der Gantry 3 möglichst regungslos           Bestrahlungstechnik am PSI entwickelt
liegen muss. Obwohl eine einzelne Bestrahlung in
ein bis zwei Minuten vorbei ist, kann ein ganzer Be­   Im Bestrahlungsraum verrät kein Geräusch, dass
strahlungsdurchgang mit Umlagerung des Patien­         die Protonen nun mit zwei Drittel der Lichtge­
ten über eine Stunde dauern.                           schwindigkeit in den Körper von Noah Schmid ein­
                                                       dringen und im Tumor abrupt stoppen. Wie bei einer
    Bloss nicht bewegen                                Vollbremsung geben sie dabei ihre ganze Energie ab
                                                       und erreichen damit ihre maximale Wirkung. Hinter
Doch bevor es losgeht, muss Schmid es geduldig         diesem Energieabfall, Bragg Peak genannt, kommt
über sich ergehen lassen, dass die Radiologie-Fach­    keine Strahlung mehr an. Diese besondere physika­
frau Olga Jose ihm ein Kissen und eine Kopfmaske       lische Eigenschaft der Protonen liegt der Spot-­
aus Kunststoff anpasst. Beides wird mit Druck­         Scanning-Technik zugrunde, die vor über zwanzig
knöpfen an der Behandlungsliege in der Gantry be­      Jahren hier am PSI entwickelt wurde. Damien
festigt. «Für einige Patienten ist es unangenehm,      Weber: «Das Verfahren verhalf der Protonenthera­
wenn sie ihren Kopf und ihr Gesicht während der        pie weltweit zum Durchbruch, denn es ermöglich­
Bestrahlung nicht bewegen können», erklärt Jose.       te überhaupt erst, Patienten in angemessener Zeit
«Die Maske hilft, dass wir sie an jedem Tag der        zu behandeln und sehr unregelmässig geformte
mehrwöchigen Behandlung genau gleich positionie­       Tumore exakt zu bestrahlen.» Bei der Spot-
ren können.» Trotzdem dauert es vor der ersten Be­     Scanning-­Technik rastert der bleistiftdünne Proto­
strahlung noch eine halbe Stunde, bis sich Kopf,       nenstrahl den Tumor von hinten nach vorne, Ebene
Hals und Schultern des Patienten an genau demsel­      für Ebene und Reihe für Reihe ab: zuerst die am
ben Ort in der Bestrahlungsposition befinden wie       tiefsten liegende Schicht des Tumors und dann die
auf den Planungsbildern vorgesehen. Die Überein­       nächsthöher liegende und so fort. Ohne die damit
stimmung kontrollieren Jose und Bachtiary noch         erreichbare Präzision hätten Patienten wie Noah
einmal gemeinsam.                                      Schmid ebenso wenig eine Chance auf eine erfolg­
    Die Radiologie-Fachfrau fährt die Gantry auf       reiche Behandlung wie viele Kinder.
die erste Bestrahlungsposition für die nun anste­
hende Behandlung, dann verlässt sie den Bestrah­
lungsraum und begibt sich in den Kontrollraum, von
dem aus sie das Verfahren starten kann.

    Die Sicherheit im Blick
                                                                 «Wir legen sehr viel Wert auf
Hier zeigen neunzehn Monitore Bilder der Kameras
aus dem Behandlungsraum, den Weg des Protonen­                   die enge Zusammenarbeit
strahls, die Funktionsfähigkeit der Sicherheitssys­
teme und vieles mehr. Besonders wichtig: der Be­                 mit den Medizinern der zuwei-
strahlungsplan. Aufmerksam blickt Jose auf einen
Bildschirm nach dem anderen. Sie kontrolliert die                senden Kliniken.»
                                                                 Damien Charles Weber, Leiter und Chefarzt des
                                                                 Zentrums für Protonentherapie ZPT

5232      Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                13
Der Protonenstrahl gibt seine Energie genau
     im Tumor ab. Er rastert das Krebsgewebe
     zeilenweise in Schichten ab und zerstört es.

     «Bei Kindern liegen empfindliche Organe und Struk­     Ulrike Kliebsch, die am ZPT für Patientenstudien
     turen sehr nah beieinander. Ihre Zellen haben noch     verantwortlich ist, erzählt: «Bei uns laufen regel­
     viele Zellteilungen vor sich und somit Jahrzehnte      mässig Studien zur Wirksamkeit unserer Therapie.
     Zeit, Mutationen zu bilden und zu entarten. Des-       Zudem werden Kinder im zentralen Kinder-Krebs­
     halb sollte man ihre Zellen im Kindesalter möglichst   register der Schweiz erfasst. Das erlaubt später
     wenig ionisierenden Strahlen aussetzen, die ein        Rückschlüsse auf die wirksamsten Bestrahlungspa­
     zusätzliches Risiko darstellen. Zudem vertragen        rameter, allfällige Nebenwirkungen und die Lebens­
     sie nur eine geringe Strahlendosis», erklärt Weber.    qualität. Tumore bei Kindern sind sehr selten und
     «Wenn Kinder Krebs haben, ist die viel genauer an­     man will möglichst viel darüber wissen.»
     wendbare Protonentherapie für sie besser geeignet          Wenn ein Patient seine Bestrahlung beendet
     als herkömmliche Strahlentherapie mit Photonen.        hat, erfolgt nach acht bis zwölf Wochen die erste
     Diese lassen sich nicht so gut fokussieren, weil sie   Kontrolluntersuchung, danach meist halbjährlich
     ihre Energie nicht so punktgenau abgeben wie           oder jährlich. Diese Nachsorge liegt allen Mitarbei­
     Protonen. Deshalb schädigen sie auch Gewebe vor        tenden besonders am Herzen. Manche Patienten
     und hinter den Tumoren oft stärker.» Das Team am       schicken später Postkarten und Dankesbriefe oder
     ZPT hat bei der Protonenbestrahlung der kleinen        kommen fit und gesund persönlich vorbei. Das ist
     Krebspatienten grosse Erfahrung: Unterstützt von       für das Team am ZPT das Schönste.
     Kinder- und Narkoseärzten wurden hier schon über           Noah Schmid hat seine erste Bestrahlung hinter
     500 Kinder behandelt, die meisten von ihnen nach       sich. Die Maske wird ihm abgenommen und er
     genau definierten Therapieprotokollen im Rahmen        streckt sich. Das reglose Liegen war anstrengend.
     internationaler Studien.                               Bachtiary und Jose reichen ihm die Hand und ver­
                                                            abschieden ihn. Bis zum nächsten Tag.
         Nachsorge zum Wohl der Patienten

     Alle wichtigen Informationen zur Behandlung und
     zum Befinden der kleinen und grossen Patienten
     werden akribisch in einer Datenbank gesammelt.

14
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – INTERVIEW

       «Es ist wichtig,
       weiter zu forschen»
       Die Protonentherapie ist aufwendig und teurer als          Wie werden die Indikationen zur Protonen­
       die herkömmliche Strahlentherapie, doch ihre               therapie festgelegt?
       Treffsicherheit bei Tumoren ist unübertroffen. Da­     Das ist in jedem Land anders. Die Liste in der
       von ist nicht nur Damien Weber vom PSI überzeugt.      Schweiz wurde vor zwanzig Jahren aufgestellt, als
       Europaweit entstehen neue Zentren, um mehr             die Protonentherapie noch am Anfang war. Seitdem
       Krebspatienten damit behandeln zu können. Das          wurden keine neuen Krankheiten hinzugefügt. Auch
       hilft nicht nur den betroffenen Kindern und Er­        wenn ich als Arzt von der Protonentherapie über­
       wachsenen, sondern trägt auch zur Sicherheit bei.      zeugt bin: Wir müssen Daten liefern, die beweisen,
                                                              dass die Protonentherapie der herkömmlichen
           Herr Weber, wie kommt es, dass am PSI Pa­          Strahlentherapie überlegen ist und weniger Kompli­
           tienten behandelt werden?                          kationen macht, oder eben nicht. Doch die Patien­
       Die grössten und erfahrensten Protonentherapie­        tenzahl in der Schweiz ist klein, deshalb muss man
       zentren weltweit sind aus Forschungsinstituten         international zusammenarbeiten, um für die ein­
       hervorgegangen. Das hat historische Gründe. Man        zelnen Krankheitsbilder genügend zuverlässige
       braucht eine riesige Infrastruktur und das PSI, wie    Daten zur Protonentherapie zu bekommen.
       auch andere Zentren, hatte diese. Das ermöglichte
       es überhaupt erst, die Methode zu entwickeln, sie          Wie wollen Sie den Nachweis erbringen?
       patiententauglich zu machen und kontinuierlich zu      Die Zahl der Protonentherapiezentren in Europa
       verbessern. Die Protonentherapie braucht grosse        steigt. Im Jahr 2024 werden es ungefähr dreissig
       Erfahrung, insbesondere für die Patientensicher­       sein. Einige von ihnen haben sich in einem Netz­
       heit und für noch bessere Ergebnisse.                  werk, dem Euro­pean Particle Therapy Network,
                                                              zusammengeschlos­sen, um gemeinsam klinische
           Das PSI hat das einzige Protonentherapie­          Studien mit dreihundert und mehr Patienten durch­
           zentrum in der Schweiz. Reicht das, um alle        zuführen. Das PSI war einer der Gründer dieses
           Patienten zu versorgen?                            Netzwerks. Ausserdem ist das PSI assoziiertes Mit­
       Das ist eine heikle, aber wichtige Frage in einem      glied im amerika­nischen NRG-Oncology-Netzwerk.
       Land, das die Gesundheitsversorgung auf kantona­       Es ist geplant, dass das PSI in nicht allzu ferner
       ler Ebene reguliert. Wenn man sich die Zahlen an­      Zukunft an ein bis zwei randomisierten Studien der
       schaut, reicht es im Moment, denn nicht alle Patien­   Phase 3 teilnimmt. Bei einer wird es um Lungen­
       ten, bei denen eine Protonentherapie angezeigt         krebs gehen.
       wäre, bekommen sie auch. Das Bundesamt für Ge­
       sundheit BAG hat eine Liste an Krebserkrankungen            Die Lunge bewegt sich beim Atmen. Kann
       festgelegt, bei denen die Protonentherapie ange­            man Lungenkrebs denn überhaupt so genau
       wendet werden darf. Diese Liste umfasst derzeit             bestrahlen wie Tumore in anderen Körper­
       zehn Indikationen bei Erwachsenen sowie sämtli­             regionen?
       che Tumore im Kindes- und Jugendalter bis acht­        Wir haben eine Technik entwickelt, mit der das mög­
       zehn Jahre. In der Schweiz haben wir mit zwei          lich ist. Vor Kurzem haben wir eine 17-jährige Frau
       Gantrys bereits mehr als doppelt so viele              erstmals damit behandelt. Es ist sehr ungewöhnlich,
       Bestrahlungs­plätze pro Einwohner wie beispiels­       dass Kinder oder Jugendliche Lungenkrebs bekom­
       weise Gross­britannien. Ein Protonentherapiezent­      men, unter dem sonst Erwachsene leiden. Jetzt
       rum muss eine kritische Masse an Patienten aufwei­     ist sie krebsfrei. Das zeigt, wie wichtig es ist, auf
       sen, um gut zu sein. Wenn es nur eine begrenzte        diesem Gebiet zu forschen und die Methoden wei­
       Anzahl von Pa­tienten hat, fehlt die Erfahrung.        terzuentwickeln.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                        15
Feuer frei auf Tumore

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An den Behandlungsplätzen des Zentrums für Pro­           5 Der Protonenstrahl rastert den Tumor Schicht für

tonentherapie am PSI (hier abgebildet Gantry 3)          Schicht ab. Im Körper übertragen die Protonen den
können Tumore aus jeder Richtung bestrahlt wer­          grössten Teil ihrer Energie genau im Krebsgewebe.
den. Deshalb muss die Gantry beziehungsweise ihr          6 Protonen haben eine hohe Energiedichte. Da­

Bestrahlungskopf um den Patienten herumgedreht           durch kommt es in der Krebszelle zu direkten
werden. Der gewaltige Drehkörper 3 der Gantry ist        Schäden an der Erbsubstanz DNA, die sich im Zell­
220 Tonnen schwer und bis zu 10,5 Meter breit. Die­      kern befindet und alle wichtigen Informationen für
se Masse kommt unter anderem durch ein rotieren­         das Überleben der Zelle enthält. Ebenfalls entste­
des Stahlgerüst, 9 Magnete zum Lenken des Proto­         hen durch die aufgenommene Energie in der Zelle
nenstrahls, das Vakuumrohr, in dem die Protonen          sehr reaktive Verbindungen, sogenannte freie Ra­
gebündelt werden, Vorrichtungen zur Strahlendiag­        dikale. Auch diese freien Radikale schädigen die
nostik und einen 1,5 Meter breiten Kabelschlepp          DNA der Zelle 7 .
zustande. Die Drehung selbst leisten 2 Elektromo­
toren mit jeweils 10 PS.                                 Die Folge ist, dass Krebszellen, deren DNA stark
                                                         beschädigt ist, nicht überleben können. Die Über­
 1 Ihren Ursprung nehmen die Protonen an der Io­         bleibsel der abgestorbenen Zellen werden vom Im­
nenquelle, die im Ringbeschleuniger COMET sitzt.         munsystem des Körpers beseitigt. Genau das ist
In ihr werden kontinuierlich Wasserstoffatome in         das Ziel der Protonentherapie.
Bruchteilen von Sekunden in negativ geladene Elek­
tronen und positiv geladene Protonen zerlegt. Ein
elektrisches Feld saugt die Protonen in den Ringbe­
schleuniger, wo sie 630 Mal auf einer Kreisbahn
rotieren. Anschliessend werden sie in den Strahlen­
gang geleitet 2 und dort mithilfe von Magneten
gebündelt.

Die Protonen fliegen mit zwei Dritteln der Lichtge­
schwindigkeit durch den 50 Meter langen Strahlen­
gang zur Gantry 3 und werden gezielt auf den Tu­
mor gefeuert. 4 Wie tief sie in den Körper eindringen,
entscheidet ihre Energie. Für das richtige Energiele­
vel sorgen Graphitkeile. Je dicker die Graphitschicht
ist, die die Protonen durchdringen müssen, um so
grösser ist die Bremswirkung und desto früher geben
die Protonen ihre Energie im Gewebe ab. Wie weit
diese Keile in den Strahlengang eingerückt werden
müssen, bestimmt ein Dosimetrist bei der Therapie­                                                             4
planung.

16
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – INFOGRAFIK

                                                            3

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                 5                                                          7

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                  17
Medikamente
     mit Strahlkraft
     Im Dienst der Kranken arbeiten PSI-Wissenschaftler mit radioaktiven
     Stoffen und entwickeln Arzneimittel, die Strahlung aussenden.
     Damit helfen sie, Krebsleiden und Entzündungen aufzuspüren und
     Tumore am Wachstum zu hindern. Ihre Forschung unterstützt
     Spitäler und ist für die Schweizer Industrie von grossem Interesse.

     Text: Sabine Goldhahn

     Der Wettlauf gegen die Zeit startet Montagmorgen      Komponente signalisiert den Ort durch Radioakti­
     im Reinraumlabor des Zentrums für radiopharma­        vität. Sie besteht nämlich aus einem Radionuklid.
     zeutische Wissenschaften ZRW am PSI. Ärzte vom        So heissen instabile Atome, die bei ihrem Zerfall
     Kantonsspital Baden wollen einen Patienten mit        Strahlung aussenden. Für medizinische Zwecke
     Prostatakrebs untersuchen und haben dafür beim        werden Radionuklide mit einer Halbwertszeit von
     PSI ein Radiopharmakon bestellt, ein radio­aktives    wenigen Minuten bis eine Woche verwendet. Wegen
     Arzneimittel. Mit seiner Hilfe wollen die Mediziner   der Radioaktivität ist ihre Herstellung nur unter
     Tumorzellen im Patienten aufspüren. Das Arznei­       bestimmten Sicherheitsvorkehrungen erlaubt, die
     mittel besteht aus zwei Hauptkomponenten. Ein         am PSI gegeben sind. Für die Diagnostik des
     Teil, der sogenannte Tracer, passt genau zu           Prostatakarzinoms stellt das Team im Reinraum­
     Zielstrukturen, die auf der Oberfläche von Tumor­     labor das radioaktive Arzneimittel 68Ga-PSMA-11
     zellen sitzen, und heftet sich dort an. Die zweite    her. Dafür hat es zwei Tage Vorlauf, doch Mittwoch,

18
F O R S C H U N G F Ü R P R Ä Z I S E M E D I Z I N – R E P O R TA G E

am Produktionstag, muss es sich beeilen – in nur            reicht. Sie kann Krebszellen direkt zerstören, so­
68 Minuten verliert das verwendete Radionuklid              bald das Radiopharmakon an ihnen andockt.
die Hälfte seiner Strahlkraft.                                   Die besondere Strahlencharakteristik von Lute­
     10:00 Uhr: In einer mit dicken Bleiplatten ab­         tium-177 haben sich Chemiker Martin Béhé und sei­
geschirmten sogenannten heissen Zelle startet auf           ne Arbeitsgruppe am ZRW zunutze gemacht und das
Knopfdruck die Synthese des Wirkstoffs. Langsam             Radionuklid mit einem Minigastrin als Tracer ge-
tropft eine unscheinbare, klare Flüssigkeit vom Syn­        koppelt. Dieses Molekül bindet sich ganz gezielt an
theseapparat in ein Gefäss.                                 den sogenannten Cholecystokinin-2(CCK2)-Rezep­
     10:40 Uhr: Die Flüssigkeit mit dem Wirkstoff wird      tor, den Tumorzellen des bösartigen medullären
in ein daumengrosses Glasfläschchen abgefüllt und           Schilddrüsenkarzinoms auf ihrer Oberfläche tragen.
in einen strahlensicheren Behälter gepackt.                 Bei dieser Art von Schilddrüsenkrebs ist die sonst
     11:00 Uhr: Das Medikament ist zum Versand              etablierte Radio-Jod-Therapie nicht wirksam. Er bil­
per Gefahrguttransport bereit. Der Behälter wird            det früh Tochtergeschwülste in anderen Organen
30 Minuten später im Spital ankommen. Dort wartet           und trifft manchmal auch Kinder und junge Erwach­
bereits der Patient.                                        sene. «Wenn dieser Tumor Metastasen gebildet hat,
     11:30 Uhr: Das Team am PSI kontrolliert eine zu­       war eine Heilung bisher nicht möglich», sagt Béhé.
rückbehaltene Probe des Arzneimittels auf seine             Deshalb suchte er mit seinem Team mehrere Jahre
Qualität und Reinheit und informiert die Klinik über        lang nach einem radioaktiven Wirkstoff, um die
die Freigabe.                                               Tochtergeschwülste zu finden und zu vernichten.
     12:00 Uhr: Das Fachpersonal zieht mit einer            Die Forschenden prüften intensiv, welcher Wirk­
Spritze die für den Patienten berechnete Wirkstoff­         stoff schnell im Körper aufgenommen wird, nur an
menge auf und spritzt sie in dessen Venen. Die              den CCK2-Rezeptor bindet und andere Gewebe
Untersuchung geht los.                                      schnell wieder verlässt, um mit seiner Strahlung
     Einmal im Blutkreislauf angekommen, sucht              keine gesunden Zellen zu schädigen. Diese und wei­
sich das radioaktive Arzneimittel sein Ziel im Kör­         tere spezielle Anforderungen erschwerten die Su­
per: die Krebszellen. Diese tragen auf ihrer Oberflä­       che nach einer passenden Substanz. Erfolg hatte
che Strukturen, die charakteristisch für eine Krebs­        die Gruppe erst, als sie das Peptid Minigastrin
art sind, und die gesunde Zellen nicht aufweisen. An        (PSIG-2) mit dem Lutetium-177 kombinierte: Es rei­
diese Strukturen dockt das Arzneimittel an, das an          cherte sich gezielt an den Zellen des medullären
das Radionuklid gekoppelt ist.                              Schilddrüsenkarzinoms an, verblieb nicht in ande­
     Die radioaktive Strahlung der Arznei macht win­        ren Geweben und wurde rasch aus den Nieren aus­
zige Ableger des Tumors sichtbar, die man sonst             geschieden, um dort keinen Schaden anzurichten.
nicht sehen würde. Das gelingt mithilfe von Spezial­        Damit waren die wichtigsten Voraussetzungen er­
kameras. Sie erfassen die Strahlung, die der Wirk­          füllt, um den Wirkstoff im Reinraumlabor des PSI
stoff aus dem Körper des Patienten nach aussen              standardisiert nach pharmazeutischen Vorschriften
schickt. Daraus errechnet ein Computer Bilder, auf          herzustellen – der erste Schritt für den kontrollier­
denen Tumorherde farbig erscheinen und gut er­              ten Einsatz am Patienten im Rahmen einer Studie.
kennbar sind. Auch an diesem Tag erfüllt der einge­
setzte Wirkstoff seine Aufgabe und die Ärzte am
Kantonsspital Baden wissen nun, wo sich der Tumor
und seine Ableger im Körper ihres Patienten befin­
den. Diese Informationen werden genutzt, um eine                    «Die Eigenschaften eines Radio­
auf die Situation des Patienten abgestimmte Thera­
pie zu entwickeln.                                                  nuklids bestimmen, ob man
     Aber strahlende Substanzen können weitaus
mehr, als Krebszellen aufzuspüren. «Die Eigen­                      es zur Diagnostik verwendet oder
schaften eines Radionuklids bestimmen, ob man es
zur Diagnostik verwendet oder ob man damit die                      ob man damit die Krebszellen ge-
Krebszellen gezielt zerstört», erklärt Roger Schibli,
Leiter des ZRW, einer gemeinsamen Einrichtung des                   zielt zerstört.»
PSI, der ETH Zürich und des Universitätsspitals Zü­
rich. Manche Radionuklide wie Lutetium-177 senden                    Roger Schibli, Leiter des Zentrums für
auch zerstörerische Teilchenstrahlung, sogenannte                    radiopharmazeutische Wissenschaften ZRW
Betastrahlung, aus, die nur wenige Millimeter weit

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                  19
2016 war es dann soweit: Mit Erlaubnis der Schwei­           Am Universitätsspital Basel hat inzwischen
zerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für          der zweite Teil der Patientenstudie mit dem
Heilmittel Swissmedic durften Ärzte der Klinik für      PSI-Wirkstoff begonnen. «Diese Studie ist eine
Radiologie und Nuklearmedizin des Universitäts­         sogenannte Dosis-Eskalationsstudie», erklärt
spitals Basel den neuen, inzwischen patentierten        Rottenburger. «Hier geben wir Patienten mit medul­
Wirkstoff erstmals am Menschen einsetzen. «In           lärem Schilddrüsenkarzinom eine als sicher erach­
dieser ersten Studie haben wir den Wirkstoff sechs      tete Wirkstoffdosis und beobachten, ob sie diese
Patienten gegeben, die ein medulläres Schilddrü­        Dosis gut und ohne höhergradige Nebenwirkungen
senkarzinom in einem fortgeschrittenen Stadium          an anderen Organen vertragen. Wenn dies der Fall
hatten», berichtet der Basler Nuklearmediziner          ist, kann die Wirkstoffdosis dann weiter gesteigert
Christof Rottenburger.                                  werden.» Mit diesem Vorgehen tasten sich die Bas­
    Zu dieser Zeit informierte das PSI auf seiner       ler Mediziner gemeinsam mit dem PSI an die Strah­
Webseite über die Entwicklung des Wirkstoffs und        lendosis heran, welche Patienten gefahrlos für eine
dessen Zulassung als Studienmedikament. Dieser          Behandlung erhalten können. Für die Dauer der
Artikel weckte das Interesse der Schweizer Pharma­      Studie wird das radioaktive Arzneimittel noch wei­
industrie. Das Lausanner Unternehmen Debio­             terhin im Reinraum am PSI hergestellt – so wie an­
pharm meldete sich bei Martin Behé am PSI. Die          dere Radiopharmaka, die von den Kliniken der Re­
Geschäftsleute liessen sich erklären, woraus der        gion bestellt werden. Am ZRW tüfteln die
Wirkstoff besteht und wie er im PSI-Labor herge­        Forschenden bereits an den nächsten vielverspre­
stellt wird, sie stellten Fragen und prüften Unterla­   chenden Substanzen.
gen, und sie schauten sich die Ergebnisse der ers­
ten Patientenstudie ganz genau an. Das Resultat             nd so werden die Radionuklide am
                                                           U
überzeugte: Im Dezember 2017 unterzeichneten               PSI hergestellt: https://www.psi.ch/de/media/
Debiopharm und das PSI einen Lizenzvertrag, der            forschung/im-fokus-der-protonen
es dem Unternehmen erlaubte, den PSI-Wirkstoff
für Anwendungen in der Krebsbehandlung weiter­
zuentwickeln und ihn bis zur Zulassung und damit
zur Marktreife zu bringen. Im Juli 2018 war es dann
endlich soweit. Der Wirkstoff mit dem Namen 177Lu-
PSIG-2 heisst nun auch nach dem Lausanner Phar­
maunternehmen: Debio1124.

Das Detektormolekül, an das ein Radionuklid
gekoppelt ist, bindet spezifisch an die Oberfläche
von Tumorzellen. Die Strahlung des Radio-
nuklids hilft bei der Lokalisierung von Tumoren
und kann diese sogar zerstören.

20
IM BILD

Niels Schröter                                             Neue Materialien, in denen Elektronen exotische
                                                           Verhaltensweisen zeigen, faszinieren Niels Schröter.
                                                           Diese könnten sich für die Elektronik der Zukunft
                                                           als nützlich erweisen – beispielsweise in Quanten­
                                                           computern. Der Physiker sucht dafür nach Materia­
                                                           lien mit besonderen Quasiteilchen, zum Beispiel
                                                           Majorana-Fermionen. Und kürzlich entdeckten er
                                                           und seine Kollegen in einem Kristall aus Aluminium-
                                                           und Platin-Atomen erstmals Rarita-Schwinger-Fer­
                                                           mionen. Diese Teilchen waren bislang nur theore­
                                                           tisch vorhergesagt worden – vor mehr als 75 Jahren.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                              21
22
IN DER SCHWEIZ

                                                                                Das Bandarchiv des CSCS: Der Roboter
                                                                                zwischen den Regalen kann auf jedes
                                                                                der 3600 Datenbänder zugreifen, auf denen
                                                                                die Daten von wichtigen Experimenten
                                                                                lagern.

                                            5 000 000 000 000 000
                                            Bytes von Villigen nach
                           IN DER SCHWEIZ

                                            Lugano
                                            Bei Untersuchungen winziger Strukturen mit den Grossforschungs­
                                            anlagen des PSI fallen riesige Datenmengen an. Diese werden
                                            im Supercomputerzentrum CSCS in Lugano archiviert. Dort steht
                                            auch «Piz Daint» – diesen Supercomputer nutzen die Forschen-
                                            den für ihre Simulationen und Modellierungen.

                                            Text: Christina Bonanati

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                        23
Zwischen den Daten: Leonardo Sala
                                                                                                im Serverraum der Synchrotron Lichtquelle
                                                                                                Schweiz SLS. Hier werden die Daten
                                                                                                zwischengespeichert, die an SLS und
                                                                                                SwissFEL produziert werden.

Am Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL in Vil­        Rhodopsin-Proteinkristalle eine Rohdatenmenge
ligen strömt ein winziger Proteinkristall in einer       von etwa 250 Terabyte. Das ist ungefähr das Tau­
Zahnpastaartigen Masse langsam aus einem Injek­          sendfache, das ein handelsüblicher Laptop an Spei­
tor. Ein Laser trifft ihn und löst Bewegungen im Mo­     cherkapazität aufweist.
lekül aus. Es verändert seine Struktur – etwa wie            Nicht nur am SwissFEL, auch an anderen Gross­
wenn eine Katze einen Buckel macht. Eine billions­       forschungsanlagen wie der Synchrotron Lichtquel­
tel Sekunde später durchdringt ein Röntgenlicht­         le Schweiz SLS oder der Neutronenquelle SINQ
puls die Probe und trifft auf einen Detektor. Damit      führen Fortschritte in der Beschleuniger- und De­
wird die Strukturänderung des Proteins quasi foto­       tektortechnik zu Leistungssteigerungen, wodurch
grafisch festgehalten. Bei dem so abgelichteten          bei Experimenten immer mehr Daten erzeugt wer­
Protein handelt es sich um lichtempfindliches Rho­       den. So werden derzeit am PSI jährlich bis zu 5 Peta­
dopsin, das zum Beispiel in der Netzhaut des             byte Daten produziert. Das entspricht in etwa der
menschlichen Auges vorkommt. Dessen Struktur­            Speicherkapazität von einer Million DVDs.
veränderung ist der Ausgangspunkt für die Übertra­
gung von Lichtreizen zum Gehirn.                             Wohin mit den vielen Daten?
     Im Versuchsaufbau treffen pro Sekunde 25
Röntgenlichtpulse auf die Proteinkristalle in der zäh-   Für diese Datenmengen ist das Rechenzentrum
flüssigen Masse. Die Pulse dauern nur eine billiard­     des PSI nicht ausgelegt. Seit 2018 findet die Archi­
stel Sekunde an und haben eine extrem hohe Dich­         vierung von Daten daher am Supercomputerzent­
te an Photonen. Das ermöglicht hochauflösende            rum Centro Svizzero di Calcolo Scientifico (CSCS)
Bilder von molekularen Strukturen. Am Ende ent­          in Lugano statt. Das sogenannte Petabyte-Archiv
steht aus den vielen einzelnen Aufnahmen eine Art        wurde in enger Zusammenarbeit zwischen Kolle­
Daumenkino von den Bewegungen des Proteins.              gen von PSI und CSCS entwickelt. Computerexper­
«Bei derlei präzisen Filmaufnahmen wächst der Da­        ten der beiden Einrichtungen arbeiteten eigens
tenberg gewaltig in die Höhe», so Leonardo Sala,         einen Managementprozess aus, mit dem digitale
Gruppenleiter des Bereichs High Performance              Informationen komprimiert, sicher übertragen, ar­
Computing am PSI. So lieferten die Aufnahmen der         chiviert sowie wieder abgerufen und nach Ablauf

24
IN DER SCHWEIZ

der mindestens 5-jährigen Archivierungszeit ge­          puter am CSCS nutzen wir schon seit 15 Jahren», so
löscht werden können. Über ein Glasfaserkabel            Andreas Adelmann, Leiter des Labors für Simulati­
werden mit einer speziell entwickelten Netzwerk­         onen und Modellierung am PSI. Denn für Simulati­
verbindung zwischen PSI und CSCS pro Sekunde             onen und Modellierungen von Grossforschungsan­
10 Gigabyte Daten übertragen.                            lagen und Experimenten, zum Beispiel in den
     Ein Ende der Datenflut ist nicht zu erwarten. Mit   Material- und Biowissenschaften, benötigen die
der Aufrüstung der SLS zur SLS 2.0 werden künftig        Forschenden enorm hohe Rechenleistungen. Die­
noch sehr viel mehr Bits und Bytes produziert. «Wir      se finden sie am «Piz Daint» des CSCS, einem der
arbeiten derzeit an einer Prozedur, um dieses Volu­      leistungsfähigsten Supercomputer der Welt. Schaff­
men zu reduzieren und komprimieren», sagt Sala.          te 1941 der erste in der Praxis einsetzbare, frei pro­
Spezielle Algorithmen sollen die Daten, die von den      grammierbare Rechner, die "Z3", knapp zwei Addi­
Detektoren kommen, sortieren, sodass nur noch die        tionen pro Sekunde, so beträgt die Rechenleistung
für die Forschungsarbeiten relevanten Informatio­        des «Piz Daint» heute 25 000 Peta­flop in der Se­
nen gespeichert werden. Sala erklärt, weshalb das        kunde. Das sind 25 Billiarden Rechenoperationen,
sinnvoll ist: «Bei der Messung der Proteine an der       14 000 -mal schneller als eine Grafikkarte der Play­
SLS treffen weniger als 20 Prozent der Röntgenpulse      station 4.
ein Protein und produzieren ein brauchbares Bild.»           Prinzipiell wird in der PSI-Forschung für fast
Die Signale, die kein Ergebnis liefern, müssen also      alles Modellierung und Simulation benötigt, sei es,
nicht aufwendig gespeichert werden.                      um zu verstehen, wie sich etwa Risse in Materiali­
     Was sich so einfach anhört, ist in der Realität     en fortpflanzen oder um Komponenten von Brenn­
eine gewaltige Herausforderung. «Einem Computer          stoffzellen zu erforschen.
beizubringen, welche Messungen unbrauchbar sind,             Teilchenbeschleuniger wie das Zyklotron zur Pro-
ist sehr schwierig», räumt denn auch Sala ein. Doch      tonenbeschleunigung, die SLS oder der SwissFEL
das ist nur der erste Schritt zur Eindämmung der         werden mithilfe von Simulationen nicht nur neu
Datenschwemme. Nach dem automatisierten Aus­             konstruiert, sondern auch weiterentwickelt und
sortieren können die IT-Spezialisten das Datenvo­        optimiert. Zudem können die Forschenden berech­
lumen um den Faktor zehn verringern, indem sie           nen, wie ein Experiment wahrscheinlich verlaufen
nicht Rohdaten, sondern die zur Endnutzung aufbe­        wird, um so mögliche Probleme in der Versuchs­
reiteten Informationen abspeichern.                      anordnung zu erkennen.
                                                             Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum
    Von Villigen den Roboter                             man gerne und mit gutem Gewissen seine Daten für
    in Lugano aktivieren                                 die Berechnungen und Archivierung nach Lugano
                                                         schickt: «PIZ Daint» ist seit 2013 der günstigste und
Am CSCS in Lugano finden sich die Ergebnisse der         energieeffizienteste Petaflop-Supercomputer der
Messungen der Proteinforschungsgruppe schliess­          Welt, denn für dessen Kühlung verbrauchen keine
lich in einer sogenannten Bandbibliothek wieder.         energieintensiven Klimaanlagen Strom. Dass die
Eingelagert in einem Regal befinden sich etwa            elektronischen Superhirne des CSCS nicht heiss
3600 Datenbänder, bei denen es sich um ähnliche          laufen, verhindert das Wasser des Luganersees.
Magnetbänder handelt, wie man sie vor Jahrzehn­          Aus 45 Meter Tiefe wird etwa 6 Grad kaltes Nass
ten noch für Videokassetten benutzte. «Zu Anfang         entnommen und nach der Nutzung in eine Tiefe von
stehen uns in der Bandbibliothek 10 Petabyte Spei­       12 Meter zurückgeführt. Dabei wird die durch den
cher zur Verfügung. Der grosse Vorteil an der            Höhenunterschied entstehende, potenzielle Ener­
Zusammenarbeit mit dem CSCS ist, dass wir das bei        gie des Wassers mithilfe von Turbinen auch noch für
Bedarf beliebig aufrüsten können», so Sala. Bis          Stromerzeugung genutzt.
2022 plant das PSI, rund 85 Petabyte zur Archivie­
rung an das CSCS zu übertragen.
     Daten zu speichern, ist die ein Sache, sie wieder
aus dem Archiv herauszuholen, eine völlig andere.           «Zu Anfang stehen uns in der
Deshalb listet ein speziell dafür eingerichteter Ka­
talog auf, wo sich welche Informationen befinden.           Bandbibliothek 10 Petabyte Speicher
Bei Bedarf stöbern Forschende einfach in diesem
Katalog und aktivieren von Villigen aus einen Robo­         zur Verfügung. Bei Bedarf
ter, der die passenden Bänder heraussucht, in ein
Laufwerk eines Computers steckt und das Versen­             können wir das beliebig aufrüsten.»
den zum PSI auslöst. Die Zusammen­arbeit mit dem
CSCS geht jedoch über die reine Archivierung von             Leonardo Sala, Gruppenleiter des Bereichs
Forschungsergebnissen hinaus. «Den Supercom­                 High Performance Computing am PSI

5232       Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                25
Aktuelles aus der
PSI-Forschung
1	Das Energiesystem
   der Zukunft

Das Projekt ReMaP, eine Forschungs­
kooperation des PSI, der Eidgenössi­
schen Materialprüfungs- und Forschungs-
anstalt Empa und der ETH Zürich, ist
gestartet. Damit werden die Forschungs-
und Entwicklungsplattformen NEST,
move und ehub der Empa mit der For­
schungs- und Entwicklungsplattform ESI
des PSI vernetzt. Mit Letzterer soll bei­
spielsweise ein Algorithmus, also letzt­
lich ein Computerprogramm, entwickelt
werden, das Energieverbrauch und -ge­
winnung miteinander abgleicht und
Schwankungen automatisch ausgleicht.
Dabei wird mit Solarmodulen gewonne­
ne Energie mittels Elektrolyse in Wasser­
stoff zwischengespeichert und über eine
Brennstoffzelle später wieder in Strom
umgewandelt, wenn ein entsprechender
Bedarf auftritt.

Weitere Informationen:
http://psi.ch/node/28856

26
IN KÜRZE

                                Am 20. Juni 2019 fand der
                                Ariane-5-Rakete statt.
                                                            104.           Start einer

                                Diese Mission brachte    2  Kommunikationssatelliten
                                erfolgreich in die Erdumlaufbahn.

                                10 594              Kilogramm betrug das Gesamt­
                               gewicht der Nutzlast dieser Mission.

                                           2	PSI-Bildgebung hilft
                                              bei Raketenstarts

                                           Raketen der Europäischen Weltraum­
                                                                                         3 Molekulare Schere
                                           organisation ESA fliegen mit Unterstüt­
                                           zung des Paul Scherrer Instituts PSI ins        stabilisiert Zell-Skelett
                                           Weltall. In Kooperation mit dem Unter­
                                           nehmen Dassault Aviation durchleuch­          Forschende des Paul Scherrer Instituts
                                           ten PSI-Forschende an der Neutronen­          PSI in Villigen haben erstmals die Struk­
                                           quelle SINQ des PSI sogenannte                tur wichtiger Enzyme in menschlichen
                                           pyrotechnische Bauteile, die später in        Zellen aufgeklärt, die wesentliche Bau­
                                           Trägerraketen vom Typ Ariane 5 sowie          steine des Zell-Zytoskeletts verändern.
                                           Vega eingebaut werden. Die Neutronen-         Es handelt sich dabei um die sogenann­
                                           Bildgebung des PSI dient dabei der Qua­       ten Vasohibine. Damit ist der noch feh­
                                           litätssicherung dieser Komponenten.           lende Teil des Kreislaufs aufgedeckt, der
                                           Die pyrotechnischen Bauteile fungieren        den Auf- oder Abbau von Stützelemen­
                                           beim Raketenstart als Zündschnüre oder        ten der Zelle regelt. Die untersuchten
                                           Zündkörper und sorgen unter anderem           Enzyme wirken als molekulare Schere.
                                           dafür, dass innerhalb der richtigen hun­      Sie schneiden einen kleinen Teil vom
                                           dertstel Sekunde die Boosterraketen ab-       Zell-Zytoskelett ab. Das stabilisiert das
                                           geworfen werden. Beispielsweise wurden        Skelett über das übliche Mass hinaus,
                                           am 20. Juni 2019 Satelliten in die Umlauf­    was wiederum eine normale Zellentwick­
                                           bahn der Erde gebracht – mit einer Ariane-    lung behindern und beispielsweise Krank-
                                           Rakete, deren pyrotechnische Kompo­           heiten des Nervensystems verursachen
                                           nenten zuvor am PSI durchleuchtet wor­        kann. Die strukturelle Aufklärung der Va­
                                           den waren.                                    sohibine bietet nun neue Möglichkeiten
                                                                                         für die Entwicklung spezifischer Hemm­
                                           Weitere Informationen:                        stoffe. Diese liessen sich dann für medi­   Foto: ESA/CNES/ARIANE-SPACE – Service Optique CSG
                                           https://www.psi.ch/node/28979                 zinische Therapien nutzen.

                                                                                         Weitere Informationen:
                                                                                         http://psi.ch/node/29057

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                                 27
Hand in Hand für die
               Gesundheit
               Für einen optimalen Verlauf der Protonentherapie braucht es viele
     GALERIE

               verschiedene Spezialisten. Mediziner für die Diagnose, Dosimetristen
               für die Therapieplanung, Medizinisch-technische Radiologie-Fachper­
               sonen für die Betreuung der Patienten während der Therapie und
               Überwachung des korrekten Ablaufs der Bestrahlung, Physiker für
               den Betrieb der Anlagen und Forschende, die die Therapie weiterent­
               wickeln. Sie alle arbeiten zusammen für die Gesundheit der
               Patienten.

               Text: Sebastian Jutzi

28
FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – GALERIE

                                                                      Diagnose
                                                                      Damien Weber ist seit 2013 Leiter und Chef­
                                                                      arzt des Zentrums für Protonentherapie am
                                                                      PSI. Jede Woche analysiert er mit Kollegin­
                                                                      nen und Kollegen Aufnahmen von Patienten,
                                                                      die mit einem Magnetresonanztomografen
                                                                      angefertigt wurden. Auf ihnen erkennt man
                                                                      genau, welches Gewebe mit Protonen be­
                                                                      schossen werden muss.

5232   Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                                                29
Therapieplanung
     Dosimetrist Nicola Bizzocchi plant die The­
     rapie für jeden Patienten ganz individuell.
     Dazu teilt er mithilfe eines speziellen Com­
     puterprogramms den Tumor in verschiede­
     ne Zonen ein. Jede dieser Zonen wird prä­
     zise mit einer eigens für sie definierten
     Intensität bestrahlt. Das minimiert mögli­
     che Nebenwirkungen der Behandlung und
     garantiert einen bestmöglichen Erfolg der
     Therapie.

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FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – GALERIE

       Therapie
       Olga Jose ist Medizinisch-technische Ra­
       diologie-Fachfrau und stellvertretende
       Leiterin der Gruppe der Radiologie-Fach­
       personen. Sie macht die Qualitätskontrolle
       am Bestrahlungsgerät und führt die Be­
       handlung durch. So positioniert sie die
       Liege mit dem Patienten in der richtigen
       Ausgangsstellung und achtet darauf, dass
       die Bestrahlung reibungslos abläuft und
       sich die Patienten – soweit als möglich –
       wohlfühlen.

5232     Das Magazin des Paul Scherrer Instituts                                31
Betrieb
     Das Revier von Betriebsphysikerin Zema
     Chowdhuri liegt hinter den Kulissen der
     Behandlungsräume und erstreckt sich
     vom Protonenbeschleuniger COMET über
     die Strahllinie, durch die die Protonen zur
     Behandlungsstation flitzen, bis in die Gan­
     try, dem eigentlichen Behandlungsraum.
     Sie stellt den einwandfreien Betrieb der
     Anlagen sicher, mit deren Hilfe die Proto­
     nen exakt gelenkt und dosiert werden.

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FORSCHUNG FÜR PRÄZISE MEDIZIN – GALERIE

                                                 Forschung
                                                 Physiker David Meer forscht, um die Proto­
                                                 nentherapie weiter zu verbessern und noch
                                                 präziser zu machen. So untersucht er bei­
                                                 spielsweise mithilfe eines menschlichen
                                                 Phantoms, wie sich die Behandlung von
                                                 Tumoren im Brust- und Bauchraum opti­
                                                 mieren lässt. Dort sind Tumore besonders
                                                 schwer exakt zu treffen, weil das Gewebe
                                                 durch die Atmung ständig in Bewegung ist;
                                                 auch das Herz schlägt permanent.

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Er macht seine
                  Träume wahr
     ZUR PERSON

                  Am PSI baute Philippe Stutz unter anderem Spinnrotatoren für
                  Experimente am Protonenbeschleuniger oder zeichnete Pläne
                  für eine 20-Tonnen-Betonbrücke. Heute fertigt er als Goldschmied
                  in Luzern Hochzeitsringe und andere wertvolle Schmuckstücke.

                  Text: Joel Bedetti

                  Es gibt Menschen, die einen Raum betreten und            den andern kündigte Stutz seinen geliebten Job als
                  jeden darin mit ihrer positiven Energie anstecken.       Techniker am Protonenbeschleuniger des Paul
                  Philippe Stutz ist so einer. Wenn der Innerschwei­       Scherrer Instituts, um Goldschmied zu werden.
                  zer Hüne mit sanfter Stimme sein Goldschmiede­                Ereignisreich war das Leben von Philippe Stutz
                  atelier am Schwanenplatz Nummer 4 betritt, strömt        immer. Als er vier Jahre alt war, trennten sich seine
                  seine gute Laune durch den elegant möblierten            Eltern. Stutz wuchs bei der Mutter, einer Filzmache­
                  und schwarz gestrichenen Verkaufsraum in die an­         rin, im Luzernischen auf. Sie gab ihm das Interesse
                  grenzende Werkstatt, wo gerade drei seiner sechs         am Handwerk mit. Nach der Lehre als Mechaniker
                  Angestellten arbeiten und ihn mit grossem Hallo          montierte und entwarf er einige Jahre lang Anlagen
                  empfangen.                                               bei seinem Vater in der Firma, die Gummigranulat für
                      Wie ein Wirbelwind führt Stutz den Besuch            Sportplätze produziert. Von ihm, sagt Stutz, habe er
                  durch sein Reich. Begeistert bleibt er vor der neu       das Unternehmerische. Als er, Ende zwanzig, wieder
                  erstandenen Occasion-Walzmaschine stehen, ein            mit seiner Jugendliebe Jasmin zusammenkam, zog
                  hüfthohes, metallgrünes Gerät mit Kurbel zum ma­         er in ihren Studienort Lausanne und fand dort einen
                  nuellen Plattwalzen von Gold. «Gute alte Qualität»,      Job in der Versuchswerkstatt eines Zahnradherstel­
                  betont Stutz und springt zurück in den Verkaufs­         lers. «Wir machten einen Ausflug ans CERN», erin­
                  raum, wo er über den Holztisch streicht, an dem er       nert sich Stutz, «und ich dachte: In so einer riesigen
                  Kunden seine Schmuckmodelle präsentiert. «Den            Forschungsanlage will ich auch einmal arbeiten.»
                  habe ich mit meinen Angestellten selbst gezimmert»,           Wenige Monate später ging der Wunsch in Erfül­
                  erzählt Stutz und hält bereits eine Kinderhalskette      lung. Jasmin nahm eine Stelle am Universitätsspital
                  hoch, Spezialität des Hauses und Schmucktrend            Zürich an, Stutz sah sich nach einem Job in der Re­
                  seit den 90er-Jahren. «Sieh mal, diesen schlichten       gion um. Von einem Freund, der an der ETHZ und am
                  Stern als Anhänger kann man auch als junger Mann         PSI doktorierte, hörte er, dass ein Techniker für den
                  noch tragen», ist er überzeugt. Zuletzt steht Stutz,     grossen Protonenbeschleuniger gesucht wurde.
                  der sich eine kindliche Freude bewahrt hat, wieder       Stutz bewarb sich und erhielt den Zuschlag. Als Mit­
                  im Eingang und ahmt mit geweiteten Augen und             glied eines vierköpfigen Teams war er nun für Be­
                  offe­nem Mund das Kind eines Kunden nach, das die        trieb und Unterhalt des ringförmigen Beschleuni­
                  Spielecke mit altem Schulpult, Malstiften und Holz­      gers mit einem Umfang von rund 48 Metern zu-
                  klötzen entdeckt. «Auch sie sollen sich wohlfühlen»,     ständig, in dem Protonen mit etwa 80 % der Licht­
                  sagt er. «Es darf auch mal laut sein hier drin.»         geschwindigkeit kreisen. In der riesigen Halle der
                      Schnell wird klar: Philippe Stutz sprudelt nicht     Anlage installierte er mit seinen Kollegen Geräte für
                  nur vor Ideen, er verwirklicht sie auch. So schnell es   Experimente oder skizzierte neue Bauteile, etwa für
                  geht, selbst wenn sie radikal sind. Nur so lässt sich    eine mehr als 20 Tonnen schwere Betonbrücke über
                  die Wende erklären, die der 39 -Jährige seinem Le­       einer Experimentierstation. «Am PSI durfte ich
                  ben vor sieben Jahren gab. Fast von einem Tag auf        schnell viel Verantwortung übernehmen», erzählt er.

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