35 Jahre NICARAGUA VEREIN - Infobrief Dez. 2019
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Inhaltsverzeichnis • Editorial 1 • Entstehung und Entwicklung des Nicaragua Vereins Hamburg 2 • 35 Jahre Nicaragua Verein – wichtige Daten im Überblick 5 • Das Gesicht des Nicaragua Vereins in León 7 • Wie geht es der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und León? 9 • Nicaragua Hilfe – wer wir sind und was wir tun 12 • Spendenaufruf 13 • Unsere Revolution unter einer extremen Repression - Bericht 14 • Gioconda Belli mit poetisch-politischem Programm in Hamburg 19 • Dr. Ernesto Medina: In Nicaragua ist ein langer Atem nötig 23 • Studentenführerin Amaya Coppens zu Gast im Curio-Haus 25 • „Aus Liebe zu Nicaragua“ – das Super-Konzert 28 • Im Interview: Sergio Ramírez 30 • Wie ist der Stand der Projekte des Nicaragua Vereins Hamburg? 34 • Romero-Filmtage 2019 40 • Die neue Webseite des Vereins 41 • Wir brauchen Hilfe! 42 • Ausblick43 • Impressum 44
Editorial Editorial Der Rahmen ist zerbrochen – und doch! Wie kann man die zentrale Zielsetzung des Nicaragua Verein Hamburg - Hilfe zur Selbst- hilfe für ein Leben in Würde, Aufrichtigkeit, Selbstbestimmung und Solidarität – noch um- setzen? Die aktuelle Krise in León, in Nicaragua ist kein normales Problem. Sie ist ein Problem ganz eigener Qualität, und das heißt, dass man darauf anders reagieren muss als bisher. Es reicht nicht mehr aus, einfach die Projekte weiter zu unterstützen, obwohl sie die Hilfe dringender denn je benötigen. Vielmehr muss das gesamte Umfeld genauestens mitbetrach- tet werden, da jede Orientierung verlorengegangen ist. Solange es keinen Wandel gibt, ist strengstens auf die Beachtung der gesetzlichen Vorga- ben zu achten, um die Hilfsmöglichkeiten für die Bedürftigsten u.a. die Kinder, Frauen und auch die Umwelt nicht zu verspielen. Dabei ist die Gratwanderung der ausländischen Nicht- einmischung und des Sich-nicht-ausnutzen-Lassens für Propagandazwecke zu bestehen. Nachdem Nicaragua trotz der vorhandenen Armut eines der sichersten Länder Mittelame- rikas war, kehren jetzt Zehntausende ihrer Heimat den Rücken, da Willkür herrscht, und gewöhnliche Kriminelle daran mitwirken bzw. nichts zu befürchten haben. Diese völlige Verunsicherung strahlt teilweise aus bis in die Flüchtlingscamps, in denen die Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner mit ihren Kindern Zuflucht gefunden haben. Zum Beispiel in Hamburg, wo alle in Deutschland Asyl Suchenden aus Nicaragua zusammenge- führt werden und einen schwierigen Weg vor sich haben. Durch diese Tatsache ist dem Nicaragua Verein Hamburg eine neue Aufgabe zugewachsen. Er kooperiert bei der Flüchtlingsbetreuung mit anderen Organisationen und Einzelperso- nen, neben der weitergehenden Projektbetreuung und der Öffentlichkeitsarbeit. Nachdem 2018 die jungen Leute, unterstützt von breiten Teilen der Bevölkerung, für Frei- heit und Demokratie auf die Straßen gingen und eine gewisse internationale Öffentlichkeit erreichten, berichten die deutschen Medien heute nur noch über die neuen Unruhen in Süd- amerika. Die verschärfte tägliche und individualisierte Repression in Nicaragua, die an So- moza erinnert, findet in den hiesigen Medien nicht mehr statt. Hier setzten 2019 die Veranstaltungen des Nicaragua Vereins in seinem 35. Jahr an. Wir haben versucht, das Informationsdefizit über Nicaragua in Hamburg zu verringern, Kultur aus Nicaragua in Hamburg zu erleben und die hier Gestrandeten dadurch etwas aufzubauen. Passend zu den 35 Jahren Nicaragua Verein waren 2019 neben den jungen, friedlich Pro- testierenden und Verfolgten, wie zum Beispiel Amaya Coppens, auch langjährige Wegbeglei- terInnen wie u.a. Vilma Nuñez, Matthias Schindler, Gioconda Belli, Ernesto Medina, Amalia Cuadra, Carlos Mejía Godoy und Sergio Ramírez in Hamburg und Deutschland. Sie alle haben mit ihrem Einsatz für ein freies Nicaragua Spuren hinterlassen, nicht nur in unserem Infobrief! Viel Spaß beim Lesen!
Entstehung und Entwicklung des Nicaragua Vereins Hamburg Entstehung und Entwicklung des Nicaragua Vereins Hamburg I n diesem Rückblick auf 35 Jahre Geschichte des Nicaragua Vereins Hamburg soll es nicht darum gehen, wie viele Projekte der Verein in Nicaragua finanziert hat. Hier genügt der Hinweis, dass wäh- rend dieses Zeitraums eine Vielzahl unterschiedlichster Entwicklungsprojekte in León mit mehreren Millionen Euro durch weit überwiegend ehrenamtliches Engagement unterstützt wurden. In diesem Artikel möchte ich einige wichtige Meilensteine benennen, die die politische Geschichte des Nicaragua Vereins geprägt haben. nach, die die aktuellen Entwicklungen als eine Fortsetzung der Revolution der 1980-er Jahre und die demokratischen Proteste gegen seine Herr- schaft als Putschversuche der USA bezeichnen. Der Nicaragua Verein hat seine Aktivitäten in diesem langen Zeitraum mehrfach an die jeweils neu entstandenen Situationen anpassen müssen. Gleich nach dem Sieg des Volksaufstandes über den Diktator Somoza im Juli 1979 begannen – Auf der Staatsfinca Miraflor schreibt Matthias Schindler (li.) – hier mit Wolf Dietrich Harlos, der heute noch in Nicaragua insbesondere in den USA, in Lateinamerika und lebt – im Januar 1984 seine Berichte von der 1. Kaffeebrigade auch in Westeuropa – internationale Solidaritäts- (Foto: Archiv Schindler) aktionen für Nicaragua. In Hamburg wurden sie Als der Nicaragua Verein 1984 gegründet wur- vom Nicaragua Komitee organisiert, das in enger de, war die Sandinistische Befreiungsfront FSLN Koordination mit anderen Komitees, für El Sal- bereits im fünften Jahr an der Macht. Aber ihr vador, Guatemala und anderen mehr, Informati- Selbstbestimmungsprojekt wurde politisch, wirt- onsveranstaltungen und Demonstrationen gegen schaftlich und militärisch massiv von den USA die US-Intervention organisierte. Nach der Inva- bekämpft. In der sandinistischen Revolution setz- sion der USA auf der kleinen Karibikinsel Grena- ten sich Christen und Marxisten gemeinsam für da im Herbst 1983 bildeten sich innerhalb weni- ein neues, pluralistisches Gesellschaftsmodell ein. ger Wochen Arbeitsbrigaden, um durch ihre Eine politisch weit gefächerte weltweite Soli-dari- Anwesenheit in Nicaragua und durch ihre prakti- tätsbewegung setzte große Hoffnungen auf diese sche Aufbauhilfe auf die auch dort drohende In- Revolution, die einen Sozialismus mit menschli- vasion der USA aufmerksam zu machen. chem Antlitz propagierte. Als die etwa dreißig Hamburger Arbeitsbriga- Im Gegensatz dazu wird das Regime Orte- dist/innen, die in der Kaffeeernte mitgeholfen ga-Murillo, das immer noch unter den Fahnen hatten, nach zehn Wochen zurückkamen, brach- der FSLN antritt, aktuell von einer friedlichen ten sie diverse Projekte aus León mit zurück, für und demokratischen Massenbewegung scharf ab- die nun Partner/innen gesucht werden mussten, gelehnt und kann sich nur durch massive Unter- um sie zu unterstützen. Wir – auch ich war einer drückungsmaßnahmen an der Macht halten. Es von ihnen – kamen mit großer Begeisterung zu- hat – mit der Ausnahme von Kuba und Venezuela rück, und viele von uns berichteten in ihren je- - keinerlei Unterstützung mehr aus dem Ausland. weiligen Kreisen über die Situation in Nicaragua Nur noch kleine sektiererische Zirkel stehen hin- und gewannen schnell neue Unterstützer/innen. ter dem Regime und beten die Floskeln Ortegas 2
Entstehung und Entwicklung des Nicaragua Vereins Hamburg Die persönliche Erfahrung in Nicaragua, das Solidarität wuchs weit über den Nicaragua Verein sich in einem revolutionären Aufbruchprozess hinaus. befand, wurde zum wichtigsten Instrument der weiteren Ausweitung der Solidarität. In dieser Si- Diese Basispartnerschaften trugen auch immer tuation wurde 1984 der Nicaragua Verein Ham- wieder die Forderung an den Hamburger Senat burg von allen Solidaritätskomitees mit Mittel- heran, eine offizielle Städtepartnerschaft mit León amerika gemeinsam gegründet, um eine staatlich einzugehen. Dadurch sollten einerseits auch öf- anerkannte gemeinnützige Institution zu haben, fentliche Finanzmittel Hamburgs in den Aufbau die Bildungsreisen durchführen und Spendenbe- von León fließen. Andererseits sollten derart for- scheinigungen für die eingehenden Projektspen- malisierte Kontakte zwischen den Stadtverwal- den ausstellen konnte. tungen in Deutschland und Nicaragua aber auch als diplomatischer Schutz für jenes Land, das ja Die Öffentlichkeitsarbeit wurde zu einem Eck- heftig von den USA angegriffen wurde, dienen. pfeiler der Vereinstätigkeiten. Es wurden kleinere Jedes Mal, wenn ein prominenter Besuch aus Ni- und größere Informationsveranstaltungen orga- caragua in Hamburg war, gelang es uns – mit Hil- nisiert, und es wurde eine Nicaragua Zeitung he- fe von engagierten Leuten aus dem Rathaus oder rausgegeben, die in ihrer Hochzeit viermal im aus der SPD – einen Senatsempfang für die Gäste Jahr erschien und eine Auflage von bis zu 3.000 aus Nicaragua zu initiieren, was diese wiederum Exemplaren erreichte. dafür nutzen konnten, den Gedanken einer Städ- tepartnerschaft erneut ins Gespräch zu bringen. Der Nicaragua Verein beteiligte sich aber auch an Aktivitäten, die weit über Hamburg hinaus reichten. Er beteiligte sich an bundesweiten Kam- pagnen der Nicaragua Solidarität, er spielte eine aktive Rolle bei der bundesweiten Koordination der Städtepartnerschaften mit Nicaragua, und er war eine der tragenden Kräfte der Konferenzen aller Partnerstädte von León. Es dauerte fünf Jahre, bis der Hamburger Senat Matthias Schindler (re.) besucht im Oktober 1984 als Vertreter des Nicaragua Vereins Hamburg die Kooperative Arnoldo Quant im Jahre 1989 endlich grünes Licht für eine Städ- (León), die danach über viele Jahre hinweg von einer Hamburger tepartnerschaft mit León gab und im Hamburger Basisgruppe unterstützt wurde (Foto: Archiv Schindler) Rathaus einen entsprechenden Vertrag unter- zeichnete. Dadurch bekamen die Nicaragua-Ak- Der Nicaragua Verein entwickelte sich schnell tivitäten in Hamburg einen nochmaligen Auf- zum Kommunikationszentrum zwischen Ham- schwung. Entwicklungsprojekte wurden jetzt burg und León. Er initiierte und vermittelte im- auch durch öffentliche Gelder finanziert, es fan- mer mehr Basispartnerschaften, die die Partner- den gegenseitige offizielle Besuche statt, und es schaftsprojekte in León durch praktische entwickelte sich eine sehr konstruktive Zusam- Solidaritätsmaßnahmen unterstützen sollten. Die menarbeit zwischen dem Senat und zivilgesell- zu ihrem Höhepunkt über dreißig Schulpartner- schaftlichen Nicaragua Initiativen. schaften mit ihrer jährlichen Kampagne „Ein Container für León“ spielten dabei eine herausra- Jedoch bedeutete die Wahlniederlage der FSLN gende Rolle. Es entstanden viele neue Gruppen 1990 einen herben Rückschlag für die internatio- und Initiativen, und die Hamburger Nicaragua nale Solidaritätsbewegung mit Nicaragua. Die 3
Entstehung und Entwicklung des Nicaragua Vereins Hamburg Enttäuschungen waren jedoch in Hamburg nicht Der Wahlbetrug bei den Gemeinderatswahlen so stark zu spüren, weil die Sandinisten die Ge- von 2008 stellte einen wichtigen Wendepunkt in meinderatswahlen in León deutlich gewonnen den Beziehungen zwischen León und Hamburg hatten und auch weil der damalige Bürgermeister dar. Obwohl die Projektabwicklungen seitens des von León Luis Felipe Pérez Caldera eine sehr of- Bürgermeisteramtes kaum etwas zu wünschen fen gesinnte und vertrauenswürdige Person war. übrig ließen und obwohl die Prioritäten nach wie vor auf die Armen und Benachteiligten ausge- richtet waren, beschloss der Nicaragua Verein – und dann auch alle anderen Hamburger Nicara- gua-Gruppen – keinerlei Projekte mehr über das Bürgermeisteramt abzuwickeln, weil dem neu er- nannten Bürgermeister wegen der massiven Wahlfälschungen zu Lasten des Kandidaten der Opposition jegliche demokratische Legitimation fehlte. Im Jahr 2009 wurde der Nicaragua Verein offi- ziell in das nicaraguanische Vereinsregister einge- In León konnte der Nicaragua Verein nach dem Hurrikan tragen. Dies hat die Arbeitsmöglichkeiten des „Mitch“ den Bau von ca. 150 Häusern koordinieren und finan- Vereins in Nicaragua deutlich verbessert. Zeit- zieren – durch Spenden (Foto: Peter Borstelmann) weise wurden alle Projektzuwendungen des Se- nats durch den Nicaragua Verein verwaltet und Da León als Hochburg der FSLN von der neu- ausschließlich an die Zivilgesellschaft gegeben. en konservativen Regierung von Violeta Barrios Aber die staatliche Kontrolle über die Vereinsak- de Chamorro in vielerlei Hinsicht benachteiligt tivitäten hat sich dadurch ebenfalls erhöht. Seit wurde, entstand in Hamburg sogar ein gewisser Daniel Ortega 2007 wieder die Präsidentschaft jetzt-erst-recht-Effekt. Während in der Haupt- übernommen hat, verfolgt die Regierung Nicara- stadt Managua die Weichen in Richtung neo-li- guas in Bezug auf die Städtepartnerschaften eine beraler wirtschaftlicher und politischer Maß- Politik, möglichst alle Projekte über die Zentral- nahmen zu Lasten der breiten Massen gestellt behörden in Managua abwickeln zu lassen und wurden, war das Bürgermeisteramt in León im- möglichst wenig lokale Initiativen zuzulassen. mer noch nach Kräften darum bemüht, die Stadt Dennoch lässt sie immer noch verhältnismäßig im Interesse der Bedürfnisse der armen Mehrheit viele direkte Beziehungen zwischen León und der Bevölkerung zu organisieren. León wurde Hamburg zu, weil sie sich davon bisher immer als Alternative zu Managua wahrgenommen, die noch größere politische Vorteile verspricht als Abwicklung der Projekte war weiterhin transpa- durch deren Beendigung. rent und korrekt, die staatliche Korruption hielt sich in sehr engen Grenzen. León war aber auch In dem Maße, wie sich die Verhältnisse in Ni- in Bezug auf die Sandinisten eine volksnahe und caragua in eine autoritäre Richtung entwickelt pluralistische Alternative im Vergleich zu den haben, die von vielen Vereinsmitgliedern kritisch immer stärker werdenden parteiübergreifenden gesehen wird, hat sich auch die Arbeit des Vereins korrupten Tendenzen, die ihre Krönung im Pakt deutlich verkompliziert. Angesichts der Auswei- zwischen Aleman und Ortega fanden und durch tung von Korruption und der Verstärkung von die undemokratischen Machtstrukturen in den Vetternwirtschaft und repressiven Tendenzen in nationalen Führungszirkeln der FSLN gedeckt Nicaragua war und ist es eine Gratwanderung, wurden. den richtigen Weg zwischen freier Meinungsäu- 4
35 Jahre Nicaragua Verein Hamburg e.V. - wichtige Daten im Überblick. ßerung und legitimer Kritik auf der einen Seite 35 Jahre Nicaragua Verein Ham- und unerwünschter politischer Einmischung auf burg e.V. - wichtige Daten im der anderen zu finden. Überblick. Die Probleme der Solidaritätsarbeit haben sich 1979: Sturz der Somoza-Diktatur in Nicaragua seit dem Beginn der offen diktatorischen Repres- durch die Sandinistische Nationale Befreiungs- sionspolitik der Regierung Ortega-Murillo im front (FSLN). Alle Aktivitäten zu Nicaragua wer- April 2018 noch einmal dramatisch verschärft. den in Hamburg von Solidaritätskomitees durch- Alle Personen und Organisationen der Solidarität geführt, die sich den revolutionären Bewegungen wurden durch diese Ereignisse mit einer Reihe in ganz Mittelamerika widmen. von Dilemmas konfrontiert, für die es keine ein- fachen Lösungen gibt. Während die demokratische Opposition in Ni- caragua dazu aufruft, das Regime Ortega mit Sanktionen politisch und wirtschaftlich unter Druck zu setzen, wollen Aktivisten aus Hamburg humanitäre Projekte von NGOs in León nicht aufgeben. Wenn wir unsere demokratischen und humanitären Überzeugungen öffentlich äußern, könnten die Autoritäten in León negativ darauf reagieren. Wenn wir sie verschweigen, verstecken wir unsere eigenen politischen Ideale. Wenn wir Kritik an Ortega üben, ist es möglich, dass die Personen, mit denen wir in León zusammenar- Matthias Schindler, Mitbegründer des Nicaragua Verein Ham- burg e.V. beim Kaffeepflücken mit der 1. Arbeitsbrigade auf der beiten, dafür berufliche oder andere Nachteile Staatsfinca Miraflor (bei Estelí) im Januar 1984 (Foto: J. Kaffer) erleiden müssen. Kritisieren wir ihn nicht, lassen wir ihn erst recht ungestört seine Unterdrü- 1984, Juni: Nicaragua Verein Hamburg e.V. ckungsmaßnahmen vollziehen. Finanzieren wir wird durch Mitglieder dieser Komitees gegrün- weiterhin Entwicklungsprojekte, werden die da- det. Teilnahme an internationalen Arbeitsbriga- mit verbundenen Verbesserungen der Lebenssi- den zur Unterstützung der Sandinisten gegen die tuation vom Präsidenten Ortega für sich verein- US-Interventionspolitik der Reagan-Regierung. nahmt, und er wird dadurch politisch gestärkt. Stoppen wir diese Finanzierungen, müssen die Beginn der Vermittlung dutzender Basispart- Ärmsten der Armen am meisten darunter leiden. nerschaften zwischen Hamburg und León: Unter- stützung diverser Aufbauprojekte und Herstel- Auch wenn es in dieser Situation keine Ideallö- lung persönlicher Kontakte. sung gibt, müssen die verschiedenen Kräfte der Solidarität versuchen, einen Weg zu finden, der Aktiver Einsatz des Vereins für eine Städtepart- es erlaubt, berechtigte Projekte weiterhin zu un- nerschaft durch erste Kontakte zum Bürgermeis- terstützen, ohne sich dabei für Propagandazwe- teramt in León und zur Gewerkschaft für Lehr- cke des Regimes Ortega missbrauchen zu lassen. kräfte ANDEN. Matthias Schindler 5
35 Jahre Nicaragua Verein Hamburg e.V. - wichtige Daten im Überblick. 1988: Nicaraguas Vize-Präsident Sergio Ramí- 2000: Der Nicaragua Verein wird von nun an rez kommt auf Einladung des Vereins nach Ham- durch eine ständige Mitarbeiterin bzw. einen Mit- burg, trifft mit Hamburgs Erstem Bürgermeister arbeiter in León vertreten. 9 Jahre später wird der Dr. Henning Voscherau zusammen. Verein als gemeinnützige Organisation in Nicara- gua anerkannt. 2007: Krise der Städtepartnerschaft: Offener Brief des Vereins an das Bürgermeisteramt in León nach den Kommunalwahlen. Es werden Wahlfälschung sowie die massive Verletzung de- mokratischer Rechte und Freiheiten angepran- gert. Um jedoch zu verhindern, dass in der Folge die offizielle Hilfe Hamburgs für die Menschen in León abreißt, erklärt sich der Verein bereit, die Gelder für die Senatsprojekte zu kanalisieren. Die Fahnen als Symbole für die Städtepartnerschaft seit dem Jahr 1989 (Foto: Peter Borstelmann) 1989: Unterzeichnung des Städtepartner- schaftsvertrags zwischen Hamburg und León: Der Verein wird vorwiegend zur Koordinations- instanz von Basispartnerschaften und eigenen Projekten. 1998, Herbst: Hurrikan Mitch verwüstet Nica- Die „Alcaldía“, das Rathaus von León (Foto: Peter Borstelmann) ragua: Der Nicaragua Verein koordiniert ein Hausbauprojekt in León: Im Rahmen einer breit 2018, April: Protestwelle in Nicaragua gegen aufgestellten Solidaritätsaktion werden innerhalb den autokratischen Stil des Regimes Ortega-Mu- weniger Wochen über 1,5 Millionen DM gesam- rillo. Beginn des Rückfalls in diktatorische Ver- melt. hältnisse mit massiver Repression. Im Frühsom- mer Ankunft erster Flüchtlinge aus Nicaragua, auch aus León, in Hamburg. Seitdem verstärkte Hilfe für die Flüchtlinge und Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema, aber auch weiterhin Unterstüt- zung in León. Zusammenstellung: Sabine Gondro Das Hausbauprojekt nach Hurrikan „Mitch“ (Foto: Peter Borstelmann) 6
Das Gesicht des Nicaragua Vereins in León Das Gesicht des Nicaragua Vereins in León D er Nicaragua Verein Hamburg hat seit Be- ginn seiner Arbeit zum Aufbau der Städte- partnerschaft Hamburg - León mehrere Gesich- mals angespannt wurden, und die Änderungen in der Form der Arbeit wurden stärker. Für die damalige Vertreterin war es eine schwere und un- ter in León gehabt, mit der Absicht, Präsenz zu sichere Zeit, denn das bedeutete, sich in der Art zeigen und die Freundschaft mit den Leuten in der Arbeit völlig umzustellen, und sie war außer- den gemeinsamen Projekten aufrecht zu erhal- dem das kritische Gesicht des Nicaragua Vereins ten. In Wirklichkeit glaube ich, dass, als Matth- in León. Und das wurde nie vergessen. Die Kritik ias Schindler, Gründer des Nicaragua Vereins an der Sozial- und Parteipolitik wurde seitdem Hamburg, die Idee hatte, die Bevölkerung von weder von der lokalen, noch von der nationalen León durch die Städtepartnerschaft zu unter- Regierung toleriert. stützen, er niemals dachte, dass die Vertretung eine so formale Rolle wie jetzt spielen würde. Seit dieser Zeit steht der Nicaragua Verein am Scheideweg in Bezug auf die Entscheidung, wel- Während der 35 Jahre seiner Arbeit ist der Ni- che Position er gegenüber der Situation, in der caragua Verein in León durch verschiedene Ge- Nicaragua und insbesondere León sich befinden, sichter vertreten worden, vor allem von Frauen, einnehmen soll. Trotzdem, und mit dem Gedan- die versucht haben, die Botschaft und menschli- ken an das Wohlergehen der NutznießerInnen che Wärme zu überbringen, mit der die Freiwilli- der Projekte, die der Verein in León unterstützt, gen im Büro des Vereins in Hamburg arbeiten. wurde die direkte Arbeit mit den verschiedenen Organisationen in León immer fortgesetzt, auch Die Rolle der Vertretung in León hat sich auf- wenn es ohne Mithilfe des Bürgermeisteramtes grund der Notwendigkeiten und im Zusammen- hang mit der Realität in León verändert. Eine Zeit lang waren die Beziehungen zwischen der lokalen Regierung und dem Verein eng, und man arbeite- te zusammen. 2009 wurde die offizielle Vertretung des Nicaragua Vereins Hamburg ansässig in der Casa Hamburgo in León, durch die Regierung anerkannt (Foto: Yesenia Zapata) Im Jahr 2009 gab es viele Veränderungen für den Nicaragua Verein in León. In diesem Jahr erhielt der Nicaragua Verein seine offizielle An- erkennung für seine Vertretung in León durch die nicaraguanische Regierung. Im selben Jahr änderte sich die Art seiner Arbeit nach dem Wechsel der lokalen Regierung. Der Verein ent- schied sich, seinen Grundgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe für die Projektpartner in den Vorder- grund zu stellen und direkt mit den Nicht-Re- gierungs-Organisationen zusammenzuarbeiten, ohne Vermittlung durch das Bürgermeisteramt. Die Kritik des Vereins an der irregulären Über- Patio der „Casa Hamburgo“ mit „Alsterschwanenpaar“ (Foto: nahme der Regierung durch den Bürgermeister Peter Borstelmann) war die Ursache dafür, dass die Beziehungen erst- 7
Das Gesicht des Nicaragua Vereins in León komplizierter wurde. Aber die VertreterInnen der lich geworden, sowohl für die Vertretung als auch lokalen Organisationen haben es geschafft, die für die Leute, die in León mit dem Nicaragua Ver- Arbeit fortzusetzen, und wenn man die Zusam- ein verbunden sind. Das gilt selbstverständlich menarbeit mit dem Bürgermeisteramt brauchte, auch für die Vertretungen anderer Hamburger haben sie die nötigen Anträge gestellt, um die ge- Organisationen, die im Hamburg-Haus ihre Bü- wünschten Ziele zu erreichen. Diese Position und ros haben. Genauso wie die Bevölkerung in León die Art der Arbeit des Nicaragua Vereins hatte die haben sie Angst vor Repressalien, weil sie Kritik Zustimmung der Senatskanzlei Hamburg, um in geübt haben oder etwas gesagt haben, das der lo- einigen Fällen weiterhin ihre Projekte ohne Ein- kalen oder nationalen Regierung nicht gefällt. schalten des Bürgermeisteramtes und in guter Zusammenarbeit mit dem Nicaragua Verein zu Zusätzlich zur Unsicherheit der Arbeit in León unterstützen. kommt die Arbeit in Hamburg, wo mit der An- kunft von NicaraguanerInnen in Deutschland, um Asyl zu beantragen, und der NicaraguanerIn- nen, die nach Costa Rica geflüchtet sind, Hilfe notwendig wird, aber das bedeutet eine offen- sichtliche Positionierung, mit der die Vertretung in León in Gefahr gebracht wird. Was soll man angesichts dieser Unsicherheit machen? Einer- seits will niemand die Unterstützung der Men- schen in León aufgeben und sie somit noch ver- letzlicher machen in dieser schwierigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situati- on in der Partnerstadt, und andererseits will man eine klare und kritische Position gegenüber der wenig demokratischen Politik der Verwaltung der Stadtregierung einnehmen. In diesem Büro arbeitet die Vertreterin (Foto: Yesenia Zapata) Die Situation in Nicaragua seit April 2018 hat wieder die Diskussion hervorgebracht, wie die Arbeit weitergehen soll, und gleichzeitig darüber, ob man eine klare und kritische Position gegen- über den Geschehnissen in León einnehmen soll. In erster Linie ist der Nicaragua Verein keine par- teipolitische Organisation, aber er ist den Men- schenrechten und der Demokratie verpflichtet, die im letzten Jahr in Nicaragua schwerwiegend Das Regal vor dem Eingang zum Büro enthält auch Materi- verletzt worden sind. In dieser schwierigen Zeit alien wie alte Ausgaben der Hamburger Nicaragua-Zeitung eine kritische Position gegenüber der Politik der des Vereins, die die Geschichte in der Zusammenarbeit mit der Stadt-Regierung spiegeln (Foto: Yesenia Zapata) lokalen Regierung einzunehmen, ist sogar gefähr- 8
Wie geht es der Städtepartnerschaft Solange es keine positiven und gerechten Ver- Bis es zu Veränderungen in Nicaragua kommt, änderungen für alle gibt, versuchen der Nicara- und solange die Autoritäten des Landes die Ver- gua Verein und seine Vertreterin in León, kleine tretung in León legal arbeiten lassen, wird der Freiräume ohne die Polarisierung zu schaffen, die Nicaragua Verein im Rahmen seiner Möglichkei- zurzeit in den verschiedenen Projekten und Or- ten die freie Entscheidungsmöglichkeit der Men- ganisationen in León vorherrscht. In Hamburg schen in León weiterhin unterstützen, indem er wird versucht, die schwierige Situation, in der Ni- die anfänglichen Ideen fortführt, und durch die caragua sich befindet, sichtbar zu machen, die Arbeit mit Kindern dazu beiträgt, dass die Bevöl- gekennzeichnet ist durch ein Regierungssystem, kerung in Nicaragua und insbesondere in León in dem die freie Beteiligung der Bevölkerung ein- ohne Angst und Bedingungen über ihr eigenes geschränkt wird. Schicksal entscheiden kann. Eylin Somarriba (Übersetzung: Karin Uhlenhaut) Wie geht es der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und León? Wenn wir wissen wollen, in welcher Situation stützt. Die damit verbundenen materiellen Pro- sich die Städtepartnerschaft zwischen Hamburg jekte hatten daher auch ausdrücklich den Cha- und León befindet, könnte ein Blick auf die ur- rakter, internationalen Druck auf die USA sprünglichen Ziele dieser Partnerschaft hilfreich auszuüben. Wenn eine Städtepartnerschaft heute sein. Dafür werde ich auf verschiedene Doku- eine sinnvolle Botschaft überbringen will, dann mente zurückgreifen, die vor vielen Jahren ge- sollte sie nicht zuletzt auch dazu dienen, unsere schrieben und verbreitet wurden. Sorge über die Repression in Nicaragua auszu- drücken und die Opfer dieser Repression zu Die Initiative zu einer Städtepartnerschaft zwi- schützen. schen Hamburg und León hatte ein zutiefst poli- tisches Anliegen. Es wurde von einer „deutlichen politischen Geste gegen den Kriegs-Kurs der Re- agan Regierung“ gesprochen (Nicaragua Komi- tee, 1983). „Jede offizielle Beziehung nach Nicara- gua ist ein weiterer Beitrag zur Verhinderung der aggressiven US-Politik gegen dieses Land“ (Stra- tegiepapier zum Aufbau von Städtepartnerschaf- ten, 1985). US-Präsident Reagan hatte Nicaragua in das „Reich des Bösen“ verbannt und einen un- erbittlichen Kampf gegen das Land begonnen. In Deutschland hatte die 1983 ins Amt gekommene Regierung Kohl jegliche Unterstützung für Nica- Im Oktober 1984 übergibt Matthias Schindler die erste ragua gestoppt. Daher bemühte sich die Solidari- Geldspende aus Hamburg für den Gesundheitsposten in La tätsbewegung, Partnerschaften zwischen deut- Ceiba an den Vertreter der Regionalregierung von León Coman- dante Alonso Porras (Foto: Archiv Schindler) schen und nicaraguanischen Städten zu initiieren, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass man den selbstbestimmten Weg Nicaraguas unter- 9
Wie geht es der Städtepartnerschaft Als ich mich im Jahr 2004 nach zwanzigjähri- ren, aber heute sollen wir unseren Mund halten. ger Mitarbeit aus dem Vorstand des Nicaragua Drittens werden die Bedürfnisse unserer Partner/ Vereins zurückzog, verfasste ich eine kurze Dar- innen als unser wichtigster Orientierungspunkt stellung der wichtigsten Ziele des Vereins. Da sich genannt. Ein großer Teil der Bevölkerung Leóns diese Aussagen sicherlich in einem hohen Maße möchte heute in Freiheit leben, möchte echte Be- mit den Zielvorstellungen anderer Vereine und rufschancen haben, ohne dafür zwangsweise an Initiativen zu Nicaragua decken, werde ich hier pro-Ortega Demonstrationen teilnehmen zu versuchen, die aktuelle Situation in Nicaragua an müssen, möchte Gerechtigkeit für die von Para- diesen Kriterien zu messen. militärs und Polizei getöteten Menschen erfah- ren, und die Flüchtlinge möchten in ihr Land zu- rückkehren, ohne Angst vor Verfolgung zu haben. Diese neuen Bedürfnisse unserer Partner/innen müssen sich in unseren Aktivitäten wiederfinden! Viertens wollten wir die demokratische Selbstor- ganisation unserer Projektpartner/innen fördern. Eine solche Selbstorganisation ist jedoch das ab- solute Schreckgespenst der aktuellen Präsident- schaft von Ortega und Murillo und wird von ih- nen mit allen Mitteln bekämpft. Im fünften Punkt werden als die beiden entscheidenden Kriterien für eine Zusammenarbeit mit dem Bürgermeis- Mit den Mitteln der Senatskanzlei Hamburg wurde Anfang der 2000er Jahre der Bau einer 2. Markthalle in León realisiert (Foto: Peter Borstelmann) So wird in dem Artikel erstens gesagt, dass wir die Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit der Men- schen in León fördern wollen, um die Lebenssitu- ation unserer Partner/innen zu verbessern. Wäh- rend aktuell jedoch ein Teil der Leóner Bevölkerung in eine völlig passive und autoritäts- gläubige Abhängigkeit gegenüber ihrem Führer Ortega geraten ist, ist Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit nur noch bei denen zu erken- nen, die sich unter großen Risiken und Opfern für Freiheit und Demokratie einsetzen. Es wird zweitens auf die Notwendigkeit hingewiesen, auf gleicher Augenhöhe miteinander zu kommuni- Mauricio Carrión,1984 Sekretär der Revolutionären Stadtjunta zieren. Aber aktuell wird uns von nicaraguani- von León, und Matthias Schindler am 19. Februar 2014 vor dem scher Seite geradezu ein Maulkorb verpasst. Falls Rathaus von León. 30 Jahre nach ihrem ersten Zusammentref- fen am gleichen Ort. Carrión ist inzwischen verstorben (Foto: wir dennoch Kritik üben, wird uns vorgeworfen, Larissa Benavides) uns in die inneren Angelegenheiten in Nicaragua einzumischen. Einst wurden wir von der FSLN teramt von León dessen Orientierung an den Be- gerufen, um uns öffentlich mit ihr zu solidarisie- dürfnissen der Armen und eine korrekte Verwen- 10
Wie geht es der Städtepartnerschaft dung der Projektmittel genannt. Diese Position gut über Nicaragua informiert sind und sich da- wurde jedoch schon 2008 korrigiert, als die Ham- her für León engagieren wollen? Oder ist es nicht burger Partnerschaftsinitiativen beschlossen, kei- eher so, dass den Menschen hier gar nicht be- nerlei Gelder mehr über das Bürgermeisteramt zu wusst ist, wie tief die nicaraguanische Gesellschaft kanalisieren, weil ihm auf Grund des Wahlbetru- inzwischen gespalten ist und wie feingliedrig die ges bei den Kommunalwahlen die nötige Legiti- Repression inzwischen bis in die kleinsten Cuad- mität fehlte. ras (Häuserblocks) hinein durchorganisiert ist? In den großen öffentlichen Medien Deutschlands ist Die Fälschung der Kommunalwahlen war also Nicaragua kein Thema mehr. Die Internetplatt- Grund genug, um eine solche politische Antwort formen, die täglich über die bedrückenden Ver- zu geben. Ist dann nicht eine klare politische Re- hältnisse in Nicaragua berichten, sind weitgehend aktion auf die mörderische staatliche Repression unbekannt. Zusätzlich sind diese Informationen des Jahres 2018 umso mehr gerechtfertigt? Der meistens in spanischer Sprache verfasst, was die 18. April des vergangenen Jahres ist eine politi- Verbreitung direkter und authentischer Informa- sche Wasserscheide. Danach ist nichts mehr so, tionen zusätzlich erschwert. Die Realitäten in Ni- wie es vorher war. Kein einziger der hier ange- caragua nicht wahrzunehmen, bedeutet aber sprochenen Punkte kann noch auf die aktuelle nicht, dass es sie nicht gäbe. Situation übertragen werden. Die Solidaritätsar- beit mit Nicaragua muss von Grund auf neu über- legt und konzipiert werden. Im Rundbrief des Nicaragua Vereins vom No- vember 2010 schrieb ich zum gleichen Thema: „Der Schlüssel für die Weiterentwicklung der Be- ziehungen zwischen den beiden Partnerstädten liegt in León: Wenn uns weiterhin signalisiert wird, dass wir nur noch dafür zuständig seien, materielle Hilfe zu schicken und uns ansonsten mit unseren Meinungen zurückhalten sollten, dann wird es sicherlich immer schwieriger, Men- schen in Hamburg dafür zu gewinnen, sich durch Spenden oder andere Aktivitäten für León einzu- setzen.“ Die offen diktatorischen Maßnahmen der Regierung Ortega werden von der Stadtver- waltung Leóns kritiklos unterstützt. Auch León Ulrike Hanemann (hier 1984 in León) war langjährige Vertrete- hat Todesopfer zu beklagen. Die Verfolgung und rin des Nicaragua Vereins in León und maßgeblich mit Matthias Schindler an den ersten Verhandlungen für eine Städtepart- Unterdrückung oppositioneller Meinungen ge- ner-schaft zwischen Hamburg und León beteiligt (Foto: Archiv hört zum – für Besucher/innen von außen – nicht Schindler) immer leicht erkennbaren Alltagsgeschäft der FSLN in León. Die Signale aus León sind sehr Wenn zu der Zeit, als die Beziehungen zu León deutlich: Als Geldgeber sind wir Hamburger/in- aufgebaut wurden, Verhältnisse geherrscht hät- nen willkommen, als Mahner in Bezug auf Frei- ten, wie sie heute in Nicaragua bestehen, dann heit und Demokratie nicht. wäre niemals eine so starke Solidaritätsbewegung entstanden. Und es wäre niemals zum Aufbau der Die Solidaritätsbewegung muss sich fragen las- Städtepartnerschaft gekommen! sen: Kann sie in Hamburg immer noch Spenden- gelder mobilisieren, weil die Menschen hier so Matthias Schindler 11
Nicaragua Hilfe - wer wir sind und was wir tun Nicaragua Hilfe - wer wir sind und was wir tun I m November 2018 hatte der Nicaragua Verein Hamburg zu einer ersten Informationsveranstaltung zu den Ereignissen in Nicaragua eingeladen. Die Veranstaltung in der Werkstatt 3 war sehr gut be- sucht. Neben bekannten Gesichtern aus der Solidaritätsbewegung der 1980er und 1990er Jahre konnte man viele junge Menschen sehen. Anwesend waren auch fast alle der Geflüchteten aus Nicaragua, die bis zu diesem Zeitpunkt nach Hamburg gekommen waren. Die Berichte über die Ereignisse in Nicara- nisch; gua und über einzelne Schicksale Geflüchteter, >private Einladungen, Ausflüge, Sightseeing, Mu- über deren Erfahrungen mit dem Bundesamt seumsbesuche usw.; für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den > Ein regelmäßiger, monatlicher Termin/Jour fixe Ausländerbehörden in Hamburg sowie über die zum Austausch zwischen Unterstützer*innen – Lebensbedingungen in den Flüchtlingsunter- Geflüchteten ist in Planung. künften waren sehr beeindruckend und bedrü- ckend. In einer spontanen Aktion hat der Autor Jetzt konnten in Zusammenarbeit mit dem die Teilnehmenden an der Veranstaltung dazu Nicaragua Verein und dem Bündnis Hamburger aufgerufen, sich an der Unterstützung für die Flüchtlingsinitiativen (BHFI) die Voraussetzun- Geflüchteten zu beteiligen. In eine um-laufende gen geschaffen werden, um Geflüchtete hier in Liste trugen sich knapp 30 Personen ein. Aus die- Hamburg auch finanziell zu unterstützen – siehe sem Kreis ehemaliger Ak-tivisten in der Nicara- Spendenaufruf. Aus dem Spendenaufkommen gua-Solidarität und Mitgliedern des Nicaragua sollen zinslose Darlehen vergeben werden, um Vereins hat sich die kleine, konstante Gruppe von u.a. Anwalts- oder Behandlungskosten zu bezah- Unterstützer*innen gebildet, die sich nun Nicara- len, die nicht von der Prozesskostenhilfe (bisher gua Hilfe nennt. in keinem Fall bewilligt) oder der Krankenversi- cherung im Rahmen des Asylbewerberleistungs- Aktivitäten der Nicaragua Hilfe: gesetzes übernommen werden. Die Darlehen können in kleinen Raten zurückgezahlt werden, > Vorbereitung der Asylbewerber auf die An- wenn eigene Einkünfte erzielt oder die Sozialleis- hörungen beim BAMF und Begleitung zu den tungen erhöht werden. Anhörungen („Kontrolle“ der offiziellen Dolmet- scher*innen);· Da die Gruppe der Geflüchteten hier in Ham- > Informationen zu Sprachkursen, Hilfe bei der burg noch stetig Zuwachs bekommt, nicht jedoch Integration in Arbeit und Ausbildung, bei der Su- die Nicaragua Hilfe, sucht diese dringend weitere che von Privatunterkünften usw.; · Mitstreiter*innen. Wenn Interessierte gute Spa- > Begleitung zu Ärzten und Ämtern (allein kön- nischkenntnisse haben, ist das gut. Gebraucht nen die Geflüchteten ihre Ansprüche oft nicht werden aber auch engagierte Menschen, die Kor- durchsetzen);· respondenz erledigen, Spendenbescheinigungen > Vermittlung zu Beratungsstellen und Anwälten, verschicken oder die den Jour fixe mit begleiten. wo Spanisch gesprochen wird; >Vermittlung von Tandempartner*innen für den Jens Jarke wechselseitigen Spracherwerb Deutsch Spa- für die Nicaragua Hilfe 12
Nicaragua Hilfe - wer wir sind und was wir tun Spendenaufruf für Nicaraguaner*innen in Deutschland Der Nicaragua-Verein Hamburg und ehrenamtliche Unterstützer*innen bitten um Hilfe für Geflüchtete aus Nicaragua in Hamburg Im April 2018 begannen in Nicaragua erste Demonstrationen wegen der Kürzungen im Sozialsystem und bei den Pensionszahlungen, initiiert von der älteren Bevölkerung, die sich zu einer breiten, von Hunderttausenden unterstützten friedlichen Protestbewegung gegen das autokratische Ortega-Re- gime entwickelten. Noch im April 2018 begann die Regierung Daniel Ortegas auch mit brutalen Un- terdrückungsmaßnahmen. Ab Mai schossen sogar Scharfschützen auf friedliche Demonstranten, man spricht von mehr als 600 Toten. Viele, die verdächtigt wurden an Demonstrationen teilgenom- men zu haben, wurden bedroht, verfolgt, unterdrückt, verhaftet, z.T. gefoltert. Trotz öffentlichen Druckes aus dem In- und Ausland sind und werden immer noch Nicaraguaner*innen von der Polizei unrechtmäßig verfolgt und gefangen genommen. Eine große Flüchtlingswelle begann, die bis heute anhält. Nicaraguaner*innen flohen ins Nachbar- land Costa Rica, aber auch in Europa suchten sie Unterstützung und Asyl, u.a. in Spanien und Deutschland. Hamburg wurde das zentrale Aufnahmeland der Bundesrepublik Deutschland für alle asylsuchen- den Nica. Derzeit, Stand Oktober 2019, sind es 70 Erwachsene, z.T. Familien mit Kindern, sodass jetzt mehr als 80 Geflüchtete in Hamburg leben. Eine völlig neue Situation ist dadurch für den Ni- caragua-Verein, andere Organisationen und für Freund*innen Nicaraguas entstanden, die eine Gruppe ehrenamtlicher Unterstützer*innen unter dem Namen „Nicaragua-Hilfe“ gebildet haben. Der Unterstützungsbedarf besteht bei der Begleitung der Nicaraguaner*innen zu den BAMF-Anhö- rungen, da die Übersetzungen nicht immer korrekt sind; beim Umgang mit den Hamburger Behör- den und dem Vermitteln von Wissen über Rechte und Pflichten Asylsuchender; beim Deutschlernen; bei medizinischen Problemen; bei der Arbeits- und Wohnungssuche u.v.a.m. Bei den Asylanträgen gab es bisher nur eine Anerkennung und 32 Ablehnungen; man geht davon aus, dass sich diese Praxis nicht ändern wird. Gegen alle Ablehnungsbescheide haben die Asylbe- werber*innen Klage eingereicht und benötigen rechtliche Betreuung und Beratung. Die Satzung des Nicaragua-Vereins lässt eine individuelle Unterstützung von Personen in Deutschland nicht zu. Der gemeinnützige „Verein der Freunde des Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen (BHFI) e.V.“ kann eine derartige individuelle Unterstützung leisten. Über die Unterstützergruppe können Nicara- guaner*innen Darlehen beantragen z.B. für die Anwaltskosten oder andere dringende finanzielle Bedarfe, die aus dem Spendenaufkommen bedient werden sollen. Geschenke soll es nicht geben. Bitte spenden Sie auf das Konto „Verein der Freunde des BHFI e.V.“ IBAN DE09 4306 0967 1022 5991 00 Stichwort „Nicaragua-Hilfe“! Sie erhalten eine Spendenbescheinigung. Bitte die Anschrift bei der Überweisung angeben! Freund*innen Nicaraguas und Organisationen für Nicaragua werden gebeten, diese Initiative zu un- terstützen! Es gilt den Nicaraguaner*innen in Deutschland zu helfen und durch rechtlichen Beistand zu verhin- dern, dass sie abgeschoben und wieder den anhaltenden Unterdrückungsmaßnahmen der nicara- guanischen Regierung ausgesetzt werden. Unterstützergruppe c/o Nicaragua Verein Hamburg e.V. info@nicaragua-verein.de Nicaragua Hilfe Nernstweg 32 www.nicaragua-verein.de info@nicaragua-hilfe.de 22765 Hamburg 10/2019-3 13
Unsere Revolution unter einer extremen Repression Unsere Revolution unter einer extremen Repression Gewidmet Jonathan Eduardo Morazán Meza (21-jähriger Student für Grafikdesign, der bei dem „Marsch der Mütter“ in Managua ermordet wurde). Aus dem Exil … nichts taten, um das zu stoppen, ich glaube, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen I ch nutze das Pseudonym „jaña de la rata“, um anonym zu bleiben, denn wegen der alltäglichen extremen Repression und der brachte. Das war der Funken, der den Freiheits- geist der Studierenden und eines Volkes entzün- det hat, denn nach und nach, über 4 Jahrzehnte individuellen Repressalien seitens der Re- lang, nach einer Revolution, haben sie uns alle gierung versuchen wir aus dem Exil, unse- Freiheiten genommen und dies mit der Rhetorik re Familien soweit wie möglich zu schützen. gerechtfertigt, dass sie es „im Namen der Armen“ machten. Wir haben nicht bemerkt, dass wir je- Ich bin schon 20 Jahre alt, aber mit 18 musste den Tag mehr in eine Situation kamen, in der ich ins Exil gehen. Ich war Medizinstudentin in wir nicht mal mehr denken konnten, vor allem der Hauptstadt, obwohl ich aus einer Stadt aus diejenigen, die die vorherige Diktatur nicht mehr dem Landesinneren komme. erlebt hatten. Es ist schwierig sich vorzustellen, wie ein Er- Es war nichts Organisiertes, nichts Finanzier- eignis das Leben einer Person, vieler Personen… tes, durch keine Partei und durch kein Land, es eines ganzen Landes, völlig verändern kann. Aber war einfach das spontane Erwachen eines gan- anzusehen, wie einige Jugendliche der Sandinis- zen Volkes angesichts der Zunahme der Barba- tischen Jugend in León grausam alte Menschen rei durch die Polizei und die Paramilitärs, die verprügelten, bei einer friedlichen Kundgebung ebenso wie die Gräueltaten jeden Tag zunahm. wegen der 5%-igen Steuererhöhung auf die schon Leider beschränkte sich die Glut der Proteste auf armselige Rente. Die Autoritäten zu sehen, die Absperrungen und Barrikaden, die mit Rufen 14
Unsere Revolution unter einer extremen Repression nach Frieden und Freiheit, mit Steinen und eini- monstration gab es gleich direkte Auseinander- gen Mörsergranaten verteidigt wurden, aber un- setzungen mit den Aufstandsbekämpfungs-Ein- sere stärkste Waffe war die Überzeugung, unser heiten nahe meiner (damaligen) Universität, geliebtes Land von einer blutigen Diktatur, wie wobei ich nur eine Fahne trug, und sie waren wir sie zurzeit in Nicaragua haben, zu befreien. schwer bewaffnet, bis hin zu Scharfschützen. In diesem Moment spürte ich am eigenen Leib die Alles begann an einem 18. April, während die harte Repression, die wir erlebten. Aber sie irrten Mehrheit der Studierenden ihr Jahres-Abschluss- sich, wenn sie dachten, dass sie uns mit Angst und examen machte. Ich erinnere mich, dass ich mit Repression zum Schweigen bringen würden, im einer Studiengruppe zu Hause war, als wir ange- Gegenteil, wir wachten auf. rufen wurden, damit wir die Nachrichten ansehen sollten, dass die Proteste bereits begonnen hatten, Mit noch mehr Entschlossenheit ging ich auf man konnte schon die Repression gegen die Alten weitere Demonstrationen. Da ich Medizinstuden- sehen, und die Leute, die sie verteidigten. tin war, hatte ich schon Kenntnisse in Erster Hilfe, und somit begann ich, einen Erste-Hilfe-Kasten Ich erinnere mich gut an den 19., wir waren in meinem Rucksack mitzunehmen und wie die gerade dabei, mit dem Examen zu beginnen, als anderen im Arztkittel zu laufen, damit man mich das Massaker anfing. Es fielen Schüsse, und sie leichter identifizieren konnte, falls es Verletzte begannen mit einer derartigen Repression, die gab. meine Generation noch nie gesehen hatte. Ange- sichts dieser verwirrenden und schockierenden Es war ein unglaubliches Gefühl, ein ganzes Situation wurde alles abgebrochen, und wir wur- vereintes Volk protestieren zu sehen. Dort waren den nach Hause geschickt. Jugendliche, Kinder, Alte, Schwangere, Behinder- te, Kirchenleute, einfach alle. Es war überwälti- In diesem Moment hat die Reaktion jeder/ gend, diese friedlichen Proteste als Ausdruck der jedes Studierenden ihre oder seine Zukunft be- Rebellion gegen die Regierung zu sehen. Trotz der stimmt. Es mag ein bisschen poetisch klingen, schlechten Lage des Landes versuchten die Leute aber es war unsere größte Ehre und bestimmte immer, Essen, Wasser, Süßigkeiten und Schutz zu auch unser zukünftiges Schicksal. Unsere Kom- teilen. militonInnen an den anderen Universitäten wur- den unterdrückt und massakriert, wir konnten davon einfach nicht unberührt bleiben. Die Mehrheit der anderen Jugendlichen wollte sofort etwas unternehmen, in irgendeiner Form beitragen und helfen, Kraft geben und die Protes- te intensivieren. Diese ganze, politisch desinteressierte Gene- ration, die zuvor von ihrer Umgebung als passiv bezeichnet wurde, hatte mit einer Kraft reagiert, die man sich vorher niemals vor-gestellt hätte, sie hatten uns unterschätzt. „Wir waren Studenten und nicht straffällig!“ – mit diesem Slogan demonstrierten die Studierenden, nachdem die Kriminalisierung Wie die Mehrheit der Studierenden schloss ich der Proteste durch die Regierung begann (Foto: Eddy López/ La mich den Protesten an. Bei meiner ersten De- Prensa) 15
Unsere Revolution unter einer extremen Repression Schon nach wenigen Tagen wurden im ganzen Ich war am Gesundheitsposten und bei der Land Straßensperren aufgebaut, und ich beteilig- Versorgung. Ich half bei der Wundversorgung, te mich so zufällig und spontan wie möglich. Es Wunden reinigen, Verbände machen, Wunden war dieser so menschliche, empathische, liebevol- nähen. Ich kochte und verteilte auch Essen (für le, patriotische Wunsch, so rational und gleich- mehr als 100 Personen pro Mahlzeit), ich zählte zeitig irrational, alles Mögliche für ein freies und die Leute, die an den Straßensperren teilnahmen, gerechtes Nicaragua zu tun, in dem die Men- ich erhielt und brachte Spenden, und oft war ich schenrechte respektiert wurden. Es war auch der unterwegs, um Spenden und Geld für die medi- Wunsch, meinen FreundInnen zu helfen, denn zinischen Materialien aufzutreiben. Bei den ge- ich wusste, dass sie bei einer Auseinandersetzung meinsamen Aktivitäten kontrollierte ich oft den mit der Polizei verletzt werden konnten oder Durchlass der Autos, oder ich blieb als Verant- noch Schlimmeres. wortliche bei den Bereichen der Straßensperren, die am weitesten weg waren von der Befehlsstelle, Zwischen der Instabilität, Spontaneität und um Ruhe sicher zu stellen. Im wirklichen Leben dringenden Bedürfnissen wurden in allen Orten war alles sehr spontan, und jeder tat das, was im Bewegungen gegründet, um zu versuchen, die Moment möglich war. Wir blieben alle zusam- Straßensperren, die Märsche und Demonstrati- men. Wenn die Stoßtrupps gerade keine Ausein- onen zu organisieren, um so auch das Chaos zu andersetzungen mit der Polizei hatten, schützten verhindern und vor allem, den Kampf friedlich und halfen sie uns. und ohne Gewalt weiterzuführen. Diese waren folgendermaßen organisiert: 1. Gesundheitsposten: Studierende aus dem Bereich der Medizin oder mit Kenntnissen in Erster Hilfe, die immer an dem als Gesund- heitsposten zugewiesenen Ort blieben, um auf Verletzte zu warten. 2. Versorgung und Essen: die Personen, die die Essensspenden erhielten (sei es vorberei- Ein symbolisches Bild – das Vertrauen in die Regierung Ortega tetes oder schon fertiges Essen, oder rohe Lebens- ist für einen Großteil der Bevölkerung im Frühjahr im Kugel- mittel zum Kochen), waren dafür zuständig, die hagel der Polizei und Aufstandsbekämpfungstruppen endgültig Anzahl der Personen an den Straßensperren zu zerbrochen (Foto: Eddy López/La Prensa) bestimmen, um diese mit täglich 3 Mahlzeiten versorgen zu können. Oft mussten wir in impro- Es ist noch zu erwähnen, dass wir uns in visierten Küchen kochen. Schichten ablösten, wir blieben nicht alle 24 Stun- den lang an den Straßensperren, das hing von der 3. Stoßtrupps: die sich der Polizei entge- Verfügbarkeit der einzelnen Personen ab. Ob- gen stellten. Die uns mit Mörsergranaten (Feuer- wohl wir alle versuchten, so viel Zeit wie möglich werkskörpern) gegen die Kugeln der Polizei ver- dort zu verbringen. teidigten. Warum erkläre ich das? Warum möchte ich, Es gab Aufgaben, die wir alle erledigten, wenn dass ihr wisst, was ich gemacht habe? Ich möchte, es ein bisschen ruhiger war, z.B. zeitlich gestaffelt dass ihr als Leser die unterschiedlichen Aufgaben Autos durchzulassen, u.a. oder Aktivitäten versteht, die wir einerseits unter 16
Unsere Revolution unter einer extremen Repression den Mitgliedern der Opposition aufgeteilt hatten, kannten fallen, und du kannst nichts machen. Du und andererseits denen der Partei. Wir kochten siehst wie deine GenossInnen verhaftet werden und regelten den Verkehr, sie planten Morde und oder verschwinden, du kannst nicht zur Beerdi- Entführungen (und vieles andere mehr). Ihr sollt gung deiner toten Familienangehörigen gehen, verstehen, welche Aktivitäten dazu führten, dass du gehst in die Welt, aber du fühlst, dass du nicht viele Studierende und andere Personen ins Ge- in ihr bist. Du bist außerhalb deiner Umgebung, fängnis kamen, verschwanden oder sogar star- an einem unbekannten Ort und hast einfach ben. Sehnsucht nach allem. Es war eine wunderbare und gleichzeitig Wie das Leben so spielt, kam ich nach Deutsch- schrecklich bittere Erfahrung. Wunderbar wegen land und musste hier politisches Asyl beantragen. der gemeinsamen Arbeit im Team, der Solidarität Das war nicht einfach, denn die deutsche Regie- und aller Erfahrungen, die wir machten. Traurig rung nimmt gegenüber der Situation in Nicara- und bitter wegen unserer Toten, Verletzten, Ver- gua keine klare Haltung ein. Die Umstände zwan- schwundenen und aller Konsequenzen, die wir gen mich dazu, Nicaragua zu verlassen, aber nicht erleiden mussten. die Überzeugungen oder den Kampf, den ich von hier aus auf unterschiedliche Weisen fortsetze. Nach einiger sehr intensiver Zeit kam der Mo- Ich bin eine Exilierte, so wie mehr als 80.000 Ni- ment, in dem die Paramilitärs mich umzingelt cas, aber ich lebe … hatten, ich dachte, sie hätten mich festgenom- men. Sie drohten mir mit Dingen, die ich lieber Aus meiner Sicht als nicaraguanische Migran- nicht öffentlich machen möchte, und stellten mir tin in Deutschland glaube ich, dass wir hier eine ein Ultimatum. Ich war nicht nur im Schock und Sicherheit erreicht haben, die wir nicht gewöhnt empört, tief im Inneren war ich dankbar, dass sie sind. Der Eingewöhnungsprozess ist schwie- mich wenigstens nicht getötet oder ins Gefängnis rig, wenn man schon Angst vor seinem eigenen gebracht hatten wie so viele andere. Sie bedrohten Schatten und vor der Dunkelheit hat, in ein Land mich nur, und ich musste fliehen. Und ich musste zu kommen, das uns aufnimmt, uns unterstützt es machen wie die Mehrheit meiner Kampfgenos- und uns einen Ausweg aus dem persönlichen und sInnen, nicht nur aus Angst, dass sie mir etwas familiären Drama ermöglicht, das wir alle erlebt antun würden, sondern meiner Familie. In die- haben. sem Moment verwandelte ich mich in eine Exi- lierte. Die von uns, die das Glück oder das Privileg hatten, unter diesen Umständen nach Deutsch- Habe ich mir irgendwann vorgestellt, dass land zu kommen, müssen das nutzen, indem wir ich an diesem Punkt ankommen würde? Nein. uns so gut wie möglich in das System integrieren, Irgendjemand spielte Gott. Irgendjemand ent- die neuen Regeln befolgen, an die wir manchmal schied nicht nur willkürlich über ein Land, son- nicht gewöhnt sind, d.h. die Gesetze und hiesigen dern bestimmte auch die Zukunft der Mehrheit Gewohnheiten. Die Mehrheit der Länder in der von uns, sie ERMORDETEN uns. Und in die- Welt akzeptiert uns nicht, und wenn sie uns als sem Fall entschieden ihre Komplizen über mein Flüchtlinge anerkennen, ist es nur das, die An- Schicksal, das Exil. kunft. Essen, schlafen, sich kleiden usw. muss je- der selber für sich regeln, deswegen ist es für mich Aber was fühlt man als Exilierte? Es bedeutet, wirklich ein Privileg, in Deutschland zu sein. Die dass du von deiner Familie getrennt bist, dass schwierigen Situationen, die man manchmal in du deine FreundInnen zurück gelassen hast, du einer Flüchtlingsunterkunft erlebt, sind in Wirk- bemerkst, wie viele deiner FreundInnen und Be- lichkeit nichts gegen das, was wir in unserem 17
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