37 2021 Deutsches Rotes Kreuz

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37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
37
                   Beiträge zur Transfusionsmedizin                                                                                              2021

Gestaltung der Abbildung: Tobias Tertel, Institut für Transfusionsmedizin, Universitätsklinikum Essen
Bereitstellung der elektromikroskopischen Aufnahme: Alain Brisson, Professeur Emérite UMR-CBMN CNRS-Université de Bordeaux

                                                                                                                             TITELTHEMA
                                                                                                                             Extrazelluläre Vesikel –
                                                                                                                             Zelltherapie der nächsten
                                                                                                                             Generation

                                                                                                                             WEITERE THEMEN IN DIESER AUSGABE:

                                                                                                                             • Der demografische Wandel als zuneh-
                                                                                                                               mende Herausforderung für die Ver-
                                                                                                                               sorgungssicherheit mit Blutprodukten
                                                                                                                             • #missingtype – Eine Aktion der
                                                                                                                               DRK-Blutspendedienste
                                                                                                                             • Blutspende unter Corona-
                                                                                                                               Herausforderungen
                   Deutsches Rotes Kreuz                                                                                     • Erfahrungen nach der Einführung der
                   DRK-Blutspendedienste                                                                                       Hepatitis-E-Testung für Blutspenden
                                                                                                                               am Beispiel des DRK-Blutspende-
                                                                                                                               dienstes West
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
Impressum                                             Inhalt
Herausgeber:
Die DRK-Blutspendedienste:
                                                      Editorial 37/2021                                                                   3
DRK-Blutspendedienst Baden-Württemberg –
Hessen, Mannheim
                                                      Der demografische Wandel als zunehmende Herausforderung für
Blutspendedienst des Bayerischen Roten Kreuzes,
München                                               die Versorgungssicherheit mit Blutprodukten                                   4–13
                                                        Dr. med. Linda Schönborn, Prof. Dr. Andreas Greinacher,
DRK-Blutspendedienst Mecklenburg-Vorpommern,
                                                        Prof. Dr. med. Hermann Eichler
Neubrandenburg

Blutspendedienst der Landesverbände des
DRK Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen,         Extrazelluläre Vesikel – Zelltherapie der nächsten Generation                14–25
Oldenburg und Bremen, Springe
                                                        Univ.-Prof. Dr. med. Eva Rohde, Prof. Dr. rer. nat. Bernd Giebel
DRK-Blutspendedienst Nord-Ost, Dresden

DRK-Blutspendedienst West, Ratingen
                                                      #missingtype – Eine Aktion der DRK-Blutspendedienste                        26–27
(gemeinnützige GmbHs)                                   Claudia Müller

Redaktion (verantwortlich):
                                                      Blutspende unter Corona-Herausforderungen                                   28–30
PD Dr. med. Thomas Zeiler, Breitscheid
Dr. med. Markus M. Müller, Kassel                       Stephan David Küpper

Adresse der Redaktion:                                Erfahrungen nach der Einführung der Hepatitis-E-Testung für
DRK-Blutspendedienst West gGmbH                       Blutspenden am Beispiel des DRK-Blutspendedienstes West                      31–35
Feithstraße 182, 58097 Hagen
                                                        Dr. med. Christian Faber
Tel.: 0 23 31/ 807-0
Fax: 0 23 31/ 88 13 26
E-Mail: redaktion@drk-haemotherapie.de
                                                      Leserfrage

Redaktion:                                              Rücknahme und Neuausgabe von Blutkomponenten                                     38
                                                        Dr. med. Andreas Opitz
Univ.-Prof. Dr. med. Tamam Bakchoul, Tübingen;
Dr. med. Christian Faber, Münster;
Claudia Müller, Münster;
Dr. med. Markus M. Müller, Kassel;                    Die Autoren                                                                 39–40
Dr. med. Andreas Opitz, Bad Kreuznach;
Dr. Ernst-Markus Quenzel, München;
Univ.-Prof. Dr. med. Hubert Schrezenmeier, Ulm;
Dr. Franz Wagner, Springe;
Univ.-Prof. Dr. med. Torsten Tonn, Dresden;
PD Dr. med. Thomas Zeiler, Breitscheid.

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SIGMA-DRUCK GmbH                                                         In eigener Sache ...
www.deltacity.net                                                        Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird davon abgesehen,
                                                                         bei Fehlen einer geschlechtsneutralen Formulierung sowohl die
Auflagen:                                                                männliche als auch weitere Formen anzuführen. Die nachste-
                                                                         hend gewählten männlichen Formulierungen gelten deshalb
Gesamtauflage: 16.500 Ex.
                                                                         selbstverständlich und uneingeschränkt auch für die weiteren
ISSN-Angaben auf der Rückseite                                           Geschlechter.

Zitierweise:
hämotherapie, 37/2021, Seite ...

  2                                                                                                                           37 2021
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
Univ.-Prof. Dr. Nina Worel                                                                   „Das Leben ist
                                   DGTI-Kongresspräsidentin                                                                     eine immer dichter
                                   Universitätsklinik für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin Wien                     werdende Folge
                                   Dr. Christian Gabriel                                                                        von Finsternissen.“
                                   DGTI-Kongresspräsident                                                                       Thomas Bernhard
                                   Universitätsklinik für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin Graz

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,                                                 die auch in Zukunft helfen den demografischen Wandel zu
                                                                               bewältigen.
COVID 19 geht in das zweite Jahr und unser Optimismus
                                                                               Viele Geheimnisse gibt es noch im Beitrag von Eva Rohde
einen prickelnden und erfrischenden Kongress in Wien zu
                                                                               und Bernd Giebel zu entdecken, aber sie zeigen auch, dass
organisieren, der insbesondere die Vitalität des Faches und
                                                                               uns noch Einiges verborgen bleibt: Extrazelluläre Vesikel
der Geburtsstadt der Immunhämatologie widerspiegelt, ist
                                                                               nehmen in den letzten Jahren einen rasanten Aufschwung
in einem „Gemischten Satz“ von Hoffnung, Verzweiflung, Un-
                                                                               und können schon vielseitig eingesetzt werden. Sie haben
glauben und Resilienz untergegangen, eher ertrunken*. Das
                                                                               einen zunehmenden Wert in der biomedizinischen For-
Abzählen des griechischen Alphabets erfordert mittlerweile
                                                                               schung erlangt und gewinnen in der Diagnostik interes-
einige Widerstandskraft und verwundert nimmt man neue
                                                                               sante Aspekte. Große Erwartungen werden an die thera-
Widerstände zur Wissenschaft und insbesondere der Medi-
                                                                               peutischen Möglichkeiten geknüpft. Als Zelltherapeutika
zin wahr, die man in ihrer Vehemenz bisher nie vermutet
                                                                               der nächsten Generation können sie vielleicht die Wirkung
hätte.
                                                                               von Medikamenten und Impfungen verbessern und in der
Diese neuen Phänomene wirken auf uns alle, sowohl im                           Onkologie und regenerativen Medizin eingesetzt werden.
privaten Umfeld, als auch im unmittelbaren Arbeitsum-                          Die Charakterisierung extrazellulärer Vesikel ist definiert,
feld der Transfusionsmedizin. Die Pandemie wird noch                           offen bleibt aber noch in vielen Bereichen der Wirkmecha-
enorme Änderungen triggern, beispielsweise in der Wirt-                        nismus. Erfreulicherweise ist in Salzburg bereits eine der
schaft, wie wir arbeiten und wie wir in Zukunft Gesundheit                     ersten GMP-Einrichtungen für extrazelluläre Vesikel etab-
und Wohlstand sichern werden. Entscheidend für den Lauf                        liert, worauf in diesem Beitrag ausführlich eingegangen wird.
der Zukunft sind Megatrends, die durch tiefgreifende und
                                                                               Christian Faber berichtet über den Einsatz der Hepatitis-
plötzliche Ereignisse voll zur Wirkung kommen. Klimaver-
                                                                               E-Tests in Nordrhein-Westfalen und darüber, wie sich das
änderung, soziale Kohärenz, Digitalisierung – beschleunigt
                                                                               Stufenplanverfahren auf den Ablauf in der Blutspende-Ein-
durch die Corona-Pandemie und eine noch nicht fassbare
                                                                               richtung ausgewirkt hat. Dass Hepatitis E kaum mehr über-
gesellschaftliche Wandlung werden uns die kommenden
                                                                               tragen wird, war auf Grund der hohen Sicherheit und Sta-
Jahre begleiten. Sie alle werden sich im Mikrokosmos der
                                                                               bilität der PCR zu erwarten. Mit der Erkenntnis der Übertra-
Transfusionsmedizin reflektieren indem wir uns immer mehr
                                                                               gungswege wurde in NRW das Angebot von Mettbrötchen
die Frage stellen müssen, wie wir die Patienten weiter ver-
                                                                               bei der Blutspende eingestellt.
sorgen können. War noch Patient Blood Management ein
dominantes Thema der vergangenen Jahre ist in dem Bei-                        Diese Ausgabe, die Sie in den Händen halten, sollten Sie
trag von Linda Schönborn, Andreas Greinacher und Her-                         bei der 54. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
mann Eichler, Der demografische Wandel als zunehmende                         Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI) vom
Herausforderung für die Versorgungssicherheit mit Blutpro-                    22.09. bis 24.09.2021 in Wien in der Kongressmappe vor-
dukten der kommende Megatrend der nächsten Jahre klar                         finden und wahlweise unter dem Riesenrad, dem Stephans-
skizziert. Der bewusst gesteuerte rückläufige Verbrauch                       dom, im Belvedere oder in Schönbrunn – tunlichst nicht im
an Blutprodukten wird die verminderten Spenderkapazitä-                       Heurigen bei einem Glas „Gemischten Satz“ – lesen.
ten nicht mehr balancieren. Spender werden weniger, Pati-
                                                                               Es ließ sich nicht ändern, der Kongress ist digital und nicht
enten immer mehr. Den Bedarf zu planen wird dadurch in
                                                                               in Wien. Dafür wird er an Ihre Arbeitszeiten zu Hause ange-
Zukunft immer schwieriger. Und wer weiß, ob nicht bald wie-
                                                                               passt und ermöglicht mit dem neuen Schema eine bes-
der die „Roaring Twenties“ einsetzen werden? Dann wer-
                                                                               sere Teilnahme an zahlreichen Sitzungen. Versuchen Sie
den auch die Menschen anders. Gesellschaftliche Effekte
                                                                               die neuen digitalen Interaktionen, die wir uns ausgedacht
wie sie nach der Spanischen Grippe zu bemerken waren,
                                                                               haben! Als Kongresspräsidenten laden wir Sie zur digitalen
sind sicherlich nicht der ideale Nährboden für Altruismus.
                                                                               DGTI-Jahrestagung unter www.dgti-kongress.de ein, und
Mit starkem Engagement haben die Blutspendedienste                             wenn Ihnen Wien abgegangen ist, so versäumen Sie es
sich gegen alle Widrigkeiten der Pandemie gestemmt. Viel                       nicht den Besuch in Wien unbedingt einmal nachzuholen.
Herzblut ist da geflossen und dies wird von Stephan David
                                                                               Auf ein baldiges Wiedersehen – vielleicht auch beim Heuri-
Küpper beschrieben. Mit Sicherheit kann man davon aus-
                                                                               gen – mit einem „Gemischten Satz“
gehen, dass hier wertvolle Erfahrungen gewonnen werden,
                                                                               Christian Gabriel & Nina Worel

* Der „Gemischten Satz“ ist eine, vornehmlich Wiener Eigenheit des Weinbaus. Verschiedene Reben aus einem Weingarten werden zu einem Wein gekeltert. Mit
  der EU-Verordnung 607/2009, konnte sich Österreich die Bezeichnung „Gemischter Satz“ sichern, d. h. kein anderes Land der EU darf Weinflaschen damit
  bezeichnen. Womit wir wieder belegen können: Wien ist anders

                                                                                                                                                           3
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
Dr. med. Linda Schönborn, Prof. Dr. Andreas Greinacher, Prof. Dr. med. Hermann Eichler

    Der demografische Wandel als zunehmende
    Herausforderung für die Versorgungs-
    sicherheit mit Blutprodukten

    Zusammenfassung                                                              Summary
    Dieser Artikel beschreibt die Auswirkungen des demografischen Wandels auf    This article describes the effects of the demographic change on blood supply
    die Blutversorgung anhand zweier Modellregionen in Deutschland. In einer     and transfusion demand using two model regions in Germany. In a prospec-
    prospektiven Longitudinalstudie werden in Mecklenburg-Vorpommern (MV)        tive longitudinal study, data on all whole blood donors and recipients of red
    seit 2005 und im Saarland seit 2017 Daten zu allen Vollblutspendern und      blood cell concentrates (RBCs) in Mecklenburg-Western Pomerania (MV)
    Empfängern von Erythrozytenkonzentraten (EK) ausgewertet und zu Bevöl-       since 2005 and in the Saarland since 2017 were assessed and the changes
    kerungsveränderungen in Beziehung gesetzt. Im Jahr 2015 deckten in MV        correlated with changes of the demographic data in the respective popu-
    die Vollblutspenden nur noch knapp den Bedarf an Erythrozytenkonzentraten    lations. In 2015, whole blood donations in MV barely covered the demand
    (+0,96 %), im Saarland bereits 2017 nicht mehr (-9,8 %). Bluteinsparungen    for RBCs (+0.96 %). In the Saarland in 2017 already whole blood donations
    durch Patient Blood Management sind weitestgehend ausgeschöpft. Die Blut-    did not cover the transfusion demand (-9.8 %). We also provide preliminary
    spendezahlen werden weiter sinken, gleichzeitig steigt der Transfusionsbe-   evidence that patient blood management measures will likely not result in
    darf, wenn die Baby-Boom-Generation die Altersgruppen > 65 Jahre erreicht.   additional reductions in demand. The number of blood donations will further
                                                                                 decrease, while the need for transfusions will increase when the baby-boom-
                                                                                 generation reaches the age groups > 65 years.

    HINTERGRUND                                                                  früher als in den westlichen Bundesländern. Um den Ein-
                                                                                 fluss des demografischen Wandels auf die Blutversor-
    In den letzten zehn Jahren beobachten wir in Deutschland                     gung untersuchen zu können, wurde an der Universitäts-
    einen ausgeprägten Rückgang (-26 %) der Transfusionen                        medizin Greifswald vor 15 Jahren die Studie zur Blutver-
    mit Erythrozytenkonzentraten           (EK)1.   Dies ist unter ande-         sorgung in Mecklenburg-Vorpommern ins Leben gerufen.
    rem auf eine aktive Einsparung der Transfusionen durch                       Hierbei werden im Abstand von fünf Jahren detaillierte
    Patient Blood Management (PBM)–Initiativen zurückzu-                         Daten zu sämtlichen Vollblutspendern und EK-Empfän-
    führen, z. B. durch eine kritischere Indikationsstellung zur                 gern im Bundesland ausgewertet und zur Bevölkerungs-
    Transfusion, einer präoperativen Anämiebehandlung, oder                      entwicklung in Beziehung gesetzt3 – 5. Als zweites Bun-
    durch perioperative Blutwiederaufbereitungssysteme. Der                      desland schloss sich im Jahr 2017 das Saarland dieser
    zeitgleiche Rückgang der Vollblutspenden (VB; seit 2010                      Datenerhebung an6. Zusammen machen die Einwohner
    -23,6 %) zur Minimierung des Verwurfs scheint bei dieser                     Mecklenburg-Vorpommerns (ca. 1,6 Millionen Einwohner)
    Entwicklung nur       naheliegend1.     Dennoch sehen sich Blut-             und des Saarlands (ca. 0,99 Millionen Einwohner) gerade
    spendedienste vor allem in den östlichen Bundesländern                       einmal 3,1 % der deutschen Gesamtbevölkerung aus2.
    Deutschlands zunehmend mit der Situation konfrontiert,                       Aufgrund der Verantwortung der einzelnen Bundesländer
    dass mehr und mehr Aufwand betrieben werden muss,                            für die Gesundheitsversorgung bilden die ca. 2,6 Millionen
    genügend Vollblutspender zu akquirieren, um die Ver-                         Einwohner beider Bundesländer jedoch weitestgehend
    sorgung mit Blutkonserven sicherzustellen. Grund hierfür                     den Blutbedarf einer größeren Bevölkerungsgruppe ab.
    ist der demografische Wandel. Um ca. 50 % gesunkene                          Wenn sich die Hochrechnungen für die zukünftige Blut-
    Geburtenraten nach der deutschen Wiedervereinigung                           versorgung auf andere Regionen Deutschlands übertra-
    1990 und das Älterwerden der geburtenstarken Baby-                           gen lassen, wird der demografische Wandel sowohl Blut-
    Boom-Generation (1955 – 1969) bewirken eine alternde                         spendedienste als auch Krankenhäuser in den nächsten
    Bevölkerung2      (Abbildung 1). Diese Entwicklung ist in den                zehn Jahren bei der Sicherstellung der Blutversorgung vor
    ehemals der DDR-angehörigen Bundesländern beson-                             erhebliche Herausforderungen stellen.
    ders ausgeprägt und geschieht hier in etwa zehn Jahre

4                                                                                                                                            37 2021
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
Flächenländer Ost                                                                    Flächenländer West

87                                                                        2030                                                                          87
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81                                                                        2005                                                                          81
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75                                                                                                                                                      75
72
                                                              Geburt vor dem 2. Weltkrieg                                                               72
69                                                                      < 1940                                                                          69
66                                                                                                                                                      66
63                                                                                                                                                      63
60                                                           2. Weltkrieg und Nachkriegszeit                                                            60
57                                                                     1940 – 1955                                                                      57
54                                                                                                                                                      54
51                                                                                                                                                      51
48                                                                                                                                                      48
45                                                               Baby-Boom-Generation                                                                   45
42                                                                    1955 – 1969                                                                       42
39                                                                                                                                                      39
36                                                                                                                                                      36
33                                                                    „Pillenknick“                                                                     33
30                                                                                                                                                      30
27                                                                                                                                                      27
24                                                                                                                                                      24
21                                                                                                                                                      21
18                                                                                                                                                      18
15                                                                                                                                                      15
12                                                                                                                                                      12
                                                                     Geburt nach
 9                                                                                                                                                       9
 6
                                                                   Wiedervereinigung                                                                     6
 3     Frauen                                      Männer                1990                Frauen                                      Männer          3
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
6.000

    Absolute Zahl der Vollblutspenden
                                        5.000
                                                                                                                  10-Jahres-Shift
                                                                                                             der Baby-Boom-Generation
                                                                                                                                                                                 2005
                                        4.000
                                                                                                                                                                                 2015
                                        3.000

                                        2.000

                                                     Geburten-
                                        1.000        schwache
                                                     Jahrgänge
                                                     nach 1990
                                           0
                                                18

                                                     20

                                                          22

                                                                24

                                                                     26

                                                                          28

                                                                               30

                                                                                    32

                                                                                         34

                                                                                              36

                                                                                                   38

                                                                                                        40

                                                                                                              42

                                                                                                                   44

                                                                                                                         46

                                                                                                                              48

                                                                                                                                   50

                                                                                                                                        52

                                                                                                                                             54

                                                                                                                                                  56

                                                                                                                                                       58

                                                                                                                                                            60

                                                                                                                                                                 62

                                                                                                                                                                      64

                                                                                                                                                                            66

                                                                                                                                                                                  68

                                                                                                                                                                                        70

                                                                                                                                                                                             72

                                                                                                                                                                                                  74
                                                                                                             Altersgruppe [Jahre]

      Abbildung 2: Absolute Anzahl der Vollblutspenden pro Altersgruppe in Mecklenburg-Vorpommern in den Jahren 2005 und 2015 (modifiziert nach Greinacher
      et al. 2017)

                                         200

                                         180
    Vollblutspenden / 1.000 Einwohner

                                         160
                                                                                                                                                                                 MV (2015)
                                         140
                                                                                                                                                                                 SL (2017)
                                         120

                                         100

                                          80

                                          60

                                          40

                                          20

                                           0
                                                 18 – 19       20 – 24    25 – 29   30 – 34   35 – 39    40 – 44        45 – 49    50 – 54   55 – 59   60 – 64    65 – 69        70 – 74     75 – 79

                                                                                                             Altersgruppe [Jahre]

      Abbildung 3: Vollblutspenden pro 1.000 Einwohner pro Altersgruppe in Mecklenburg-Vorpommern 2015 und im Saarland 2017 (modifiziert nach Eichler et al.
      2020)

       Der Rückgang der Vollblutspenden war zwischen den                                                                lut -12,9 %, Männer -4,0 %). Daraus lässt sich schluss-
       Geschlechtern unterschiedlich stark ausgeprägt. Wäh-                                                             folgern, dass junge, männliche Spender vor allem durch
       rend bei den < 30-Jährigen die Spenden von weiblichen                                                            den demografischen Wandel verloren gegangen sind,
       Spendern um 45,8 % zurückgegangen sind, waren es                                                                 es bei jungen, weiblichen Spendern aber noch andere
       bei männlichen Spendern nur 30,8 % Rückgang. Dabei                                                               Gründe gegeben haben muss, die zu einem Rückgang
       sind aber vor allem die Veränderungen der Spende-                                                                der Spenderate / 1.000 Einwohner geführt haben. Hier
       rate / 1.000 Einwohner in dieser Altersgruppe beach-                                                             besteht gegebenenfalls ein Ansatzpunkt für zukünftige
       tenswert. Während diese bei den < 30-jährigen männli-                                                            Spender-Werbemaßnahmen.
       chen Spendern sogar um 1,2 % angestiegen ist, ist die
       Spenderate von < 30-jährigen weiblichen Spendern                                                                 Unterschiedliche Blutspendedienste
       um 22,5 % rückläufig. Dieser Unterschied war bei den                                                             Wie auch im restlichen Bundesgebiet wird in Mecklen-
     > 30-Jährigen nicht so stark ausgeprägt (Frauen abso-                                                              burg-Vorpommern und im Saarland der Großteil der Voll-

6                                                                                                                                                                                      37 2021
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
blutspenden vor allem von den DRK-Blutspendediensten                                                   (ca. 91.700 VB). Die wichtigste Ursache für diese Abwei-
   gewonnen, gefolgt von den staatlich-kommunalen Blut-                                                    chung war die Lockerung der altersbedingten Spende-
   spendediensten, während private Blutspendedienste nur                                                   begrenzung zwischen 2005 und 2015. Hierdurch haben
    eine untergeordnete Rolle in der Versorgung mit Erythro-                                               mehr Spender im Alter > 65 Jahre weiter Blut gespendet.
  zytenkonzentraten spielen. Beachtenswert sind bei den                                                    Daraus schlussfolgern wir, dass sich die Zahl der zukünfti-
    einzelnen Blutspendediensten Unterschiede bezüglich                                                    gen Vollblutspenden durchaus anhand der Bevölkerungs-
   des Alters der Spender. Während private und staatlich-                                                  struktur vorausberechnen lässt und maßgeblich vom
    kommunalen universitäre Blutspendedienste einen gro-                                                   demografischen Wandel abhängig ist.
    ßen Teil ihrer Vollblutspenden von < 30-jährigen Spendern
   gesammelt haben, bezogen die DRK-Blutspendedienste
    ihre Spenden vor allem von Spendern der Baby-Boom-                                                     ENTWICKLUNG DES
   Generation. Diese Unterschiede in den Altersgruppen der                                                 TRANSFUSIONSBEDARFS
   Spender zeigen sich in Mecklenburg-Vorpommern und
    im Saarland. Entsprechend ist zu erwarten, dass beson-                                                 Transfusionsbedarf in den einzelnen
   ders die Blutspendedienste, deren Spenderpopulation                                                     Altersgruppen
   vor allem in der Altersgruppe der > 40-Jährigen zu finden                                               Circa zwei Drittel aller Erythrozytenkonzentrate werden
    ist, in den nächsten 10 – 15 Jahren besonders stark vom                                                Patienten transfundiert, die 65 Jahre oder älter sind. Auf-
   demografischen Wandel betroffen sein werden, wenn die                                                   grund des stetig zunehmenden Anteils dieser Bevölke-
   Baby-Boom-Generation allmählich altersbedingt oder                                                      rungsgruppen (Deutschland ≥ 65 Jahre 2005: 19,3 %;
   aufgrund von Komorbiditäten aus dem Spenderpool                                                         2015: 23,0 %; 2030 voraussichtlich 26,0 %), ist davon
   ausscheidet.                                                                                            auszugehen, dass sich die Zahl der transfusionspflich-
                                                                                                           tigen Patienten erhöhen wird. Trotz dessen wurde der
  Vorhersagbarkeit des Blutspendeaufkommens                                                                Bedarf an Erythrozytenkonzentraten bei hospitalisierten
  Anhand der erhobenen Daten wurde für Mecklenburg-                                                        Patienten in MV von 2005 (ca. 95.000 EK) bis 2015 (ca.
  Vorpommern 2005 das Spendeaufkommen für das Jahr                                                         82.500 EK) reduziert (-13,5 %). Im Saarland wurden laut
   2015 vorausberechnet. Die Grundlage hierfür bildeten                                                    Statistik des Paul-Ehrlich-Instituts ebenfalls weniger EK
    einerseits die alters- und geschlechtsspezifischen Spen-                                               verbraucht (2008: ca. 58.480 EK, 2017: ca. 47.900 EK;
   deraten mit der Annahme, dass sich diese nicht verän-                                                   -5,1 %) (Subanalyse aus1 durch O. Henseler, Paul-Ehr-
   dern würden, auf der anderen Seite die Bevölkerungsvo-                                                   lich-Institut). Dass dies zumindest in MV vor allem auf eine
    rausberechnungen des Statistischen Bundesamtes. Fak-                                                   aktive Reduzierung im Verbrauch zurückzuführen ist und
   tisch war 2015 das tatsächliche Blutspendeaufkommen                                                     weniger auf Veränderungen in der Bevölkerungsstruk-
   (ca. 97.000 VB) nur 5 % höher als das vorausberechnete                                                  tur, zeigt die Abnahme der Transfusionsrate / 1.000 Ein-

                                      300
Transfundierte EK / 1.000 Einwohner

                                      250
                                                                                  MV (2005)

                                      200
                                                                                  MV (2015)
                                                                                  SL (2017)
                                      150

                                      100

                                       50

                                       0
                                            0–4   5 – 9 10 – 14 15 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 54 55 – 59 60 – 64 65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 ≥ 85

                                                                                                 Altersgruppe [Jahre]

  Abbildung 4: Transfundierte EK pro 1.000 Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern 2005 und 2015 sowie im Saarland 2017 (modifiziert nach Greinacher et al.
  2017 und Eichler et al. 2020)

                                                                                                                                                                                       7
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wohner von 55,9 auf 51,2 EK / 1.000 Einwohner (-8,4 %).                       EK (15 %) und einem EK (11 %). Allerdings sind die Pati-
       Diese Reduktion findet sich hauptsächlich bei den Pati-                       enten, die ein bis vier EK erhalten haben (insgesamt 75 %
        enten, die 60 Jahre oder älter sind. Noch geringer ist                       aller transfundierten Patienten), für nur ca. ein Drittel des
       die Transfusionsrate / 1.000 Einwohner im Saarland mit                        Gesamtbedarfs verantwortlich. Die restlichen 25 % der
     40,9 / 1.000 Einwohner und auch hier zeigt sich die Dif-                        transfundierten Patienten, die > vier EK pro Patient erhal-
       ferenz wieder vor allem bei den über 60-Jährigen (Abbil-                      ten haben, verbrauchten zwei Drittel aller transfundierten
        dung 4). Diese Differenz des Blutbedarfs in den beiden                       EK. Dementsprechend ist der Großteil des Verbrauchs
       Bundesländern weist darauf hin, dass die medizinische                         auf relativ wenige Patienten zurückzuführen.
       Praxis in diesen beiden Regionen Deutschlands unter-
        schiedlich ist. Es wäre von größtem Interesse, die Alters-                   Transfusionsbedarf nach Krankenhausgröße
       verteilung der Transfusionsempfänger in den bevölke-                          Die Entwicklung des EK-Verbrauchs unterscheidet sich
        rungsreichen Bundesländern zu kennen. Dies würde die                         zwischen den Krankenhäusern hinsichtlich ihrer Größe.
      Abschätzung des künftigen Transfusionsbedarfs deutlich                         In Mecklenburg-Vorpommern bzw. im Saarland entfie-
        erleichtern.                                                                 len im Jahr 2015 bzw. 2017 ca. 45 % der transfundier-
                                                                                     ten EK auf große Krankenhäuser (> 700 Betten). Bei den
       Transfusionsbedarf in den Fachrichtungen                                      mittelgroßen Krankenhäusern (400 – 700 Betten) gab es
        In beiden Bundesländern wird der Großteil der EK von                         Unterschiede zwischen den Regionen. In MV haben diese
        internistischen Patienten verbraucht (MV: 39,3 %, SL                         Krankenhäuser zusammen nur ca. 14 % der Blutkonser-
       39,5 %), gefolgt von chirurgischen (MV: 33,4 %, SL                            ven transfundiert, während es im Saarland 37 % waren.
       31,7 %) und intensivmedizinischen bzw. Notfallpatien-                         Auf kleine Krankenhäuser (< 400 Betten) entfielen in MV
       ten (MV: 26,2 %, SL 23,2 %) (Abbildung 5). In Mecklen-                        30 % aller transfundierten Konserven, wohingegen es im
        burg-Vorpommern ist der Großteil der Reduktion des EK-                       Saarland nur ca. 17 % waren. Interessant ist, dass zwi-
      Verbrauchs zwischen 2005 und 2015 auf chirurgische                             schen 2005 – 2015 die kleinen (-18 %) und mittelgroßen
       Patienten zurückzuführen, wenngleich auch bei internis-                       (-19 %) Krankenhäuser im Vergleich zu den großen Kran-
       tischen und intensivmedizinischen Patienten eine Reduk-                       kenhäusern (-10 %) in MV einen deutlicheren Rückgang
       tion zu beobachten war.                                                       des Verbrauchs von EK verzeichneten. Auch der Trans-
                                                                                     fusionsbedarf, den der einzelne Patient hat, unterschied
       Transfusionsbedarf pro Patient                                                sich hinsichtlich Fachrichtung und Krankenhausgröße
       Der mit Abstand größte Teil der transfundierten Patienten                     (Tabelle 1). Unabhängig von der Krankenhausgröße, wie-
        in MV erhielt zwei EK (43 %) pro Patient, gefolgt von vier                   sen die intensivmedizinischen Patienten den höchsten

                                            100.000

                                             90.000
    Absolute Anzahl an transfundierten EK

                                             80.000   24,5 %

                                             70.000                                 26,2 %

                                             60.000

                                             50.000
                                                      37,4 %

                                                                                    39,3 %
                                             40.000

                                                                                                                                 23,2 %
                                             30.000

                                             20.000                                                                              39,5 %
                                                      35,1 %
                                                                                    33,4 %
                                             10.000
                                                                                                                                 31,7 %
                                                 0
                                                      MV 2005                      MV 2015                                      SL 2017

                                                      Chirurgie   Innere Medizin                   Intensiv- und Notfallmedizin

       Abbildung 5: Transfusionsbedarf in den einzelnen Fachrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland mit jeweiligem Anteil am Gesamtverbrauch in
       Prozent

8                                                                                                                                             37 2021
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
Mittelwert Transfusionsindex*
                                                                                                                                        (Median Transfusionsindex)**

                                                                                                                           Chirurgie           Innere Medizin          Intensiv- und
                                                                                                                                                                       Notfallmedizin

                        Männer                                                                                               3,7 (2)                  4,1 (2)               5,7 (3)
                        Frauen                                                                                               3,1 (2)                  3,4 (2)               4,7 (2)

                        Kleine Krankenhäuser (< 400 Betten)                                                                  3,2 (2)                  2,9 (2)               4,6 (2)
                        Mittelgroße Krankenhäuser (400 – 700 Betten)                                                         2,6 (2)                  3,0 (2)               4,3 (2)
                        Große Krankenhäuser (> 700 Betten)                                                                   3,5 (2)                  4,2 (2)               5,7 (3)

  Tabelle 1: Mittelwert und Median des Transfusionsindex abhängig von Patientengeschlecht, Krankenhausgröße und Fachrichtung (N = 12.011 Patienten
  transfundiert mit 54.665 EK) aus Schönborn et al. 2020
  *Transfusionsindex ist definiert als Zahl der transfundierten EK pro transfundiertem Patienten

   medianen Pro-Kopf-Verbrauch auf. Unabhängig von der                                                              Zwischen den einzelnen Krankenhäusern in MV gab es
  Fachrichtung war der mediane Pro-Kopf-Verbrauch in                                                                 deutliche Unterschiede bezüglich der Entwicklung des
  den großen Krankenhäusern (> 700 Betten) am größten.                                                               EK-Bedarfs im Beobachtungszeitraum (von 2005 – 2015
  Dies ist vor allem auf die Patientengruppe zurückzufüh-                                                           +41,4 % Zunahme bis -61,9 % Reduktion des Bedarfs).
   ren, die (zum Teil weitaus) mehr als vier EK benötigten.                                                          Dies ist wahrscheinlich nicht auf ein unterschiedliches
  Der höhere Transfusionsbedarf pro Patienten in den grö-                                                           Transfusionsverhalten zurückzuführen, sondern eher auf
   ßeren Krankenhäusern ist vermutlich dadurch zu erklären,                                                          andere Faktoren, wie beispielsweise auf die Ausweitung
  dass diese Krankenhäuser in der Regel die schwerkran-                                                              einiger Fachrichtungen, neue Spezialisierungen oder
   ken Patienten behandeln.                                                                                          eine andere Zusammensetzung der Patienten. Dies kann

                              16
                                                                                                               UMG gesamt
                              15

                              14
                                      Median                             Median       Median       Median       Median       Median        Median        Median       Median
                                    4,8 mmol/l                         4,6 mmol/l   4,6 mmol/l   4,5 mmol/l   4,5 mmol/l   4,5 mmol/l    4,4 mmol/l    4,4 mmol/l   4,5 mmol/l
                              13

                              12
Hb vor Transfusion (mmol/l)

                              11

                              10

                               0

                               8

                               7
                                                                                                                                                                                 6,2 mmol/l =
                                                 Implementierung PBM

                               6                                                                                                                                                 10 g/dl

                               5

                               4                                                                                                                                                 3,7 mmol/l =
                                                                                                                                                                                 6 g/dl
                               3

                               2

                               1

                               0
                                   2014 Q3 & Q4                         2015 Q3       2016         2017         2018         2019        2020 Q1        2020 Q2     2020 Q3

  Abbildung 6: Prätransfusioneller Hämoglobinwert (mmol/l) an der Universitätsmedizin Greifswald seit 2014

                                                                                                                                                                                                9
37 2021 Deutsches Rotes Kreuz
anhand der aktuell zur Verfügung stehenden Daten nicht                                                 analyse liegen nahezu alle Transfusionen im unteren
      geklärt werden.                                                                                        Bereich des von der Leitlinie Hämotherapie empfohlenen
                                                                                                             prätransfusionellen Hb-Wertes.
      Geschlechtsspezifische Unterschiede im
      Transfusionsbedarf                                                                                     Diese Zahlen weisen sehr darauf hin, dass die Einsparef-
      Obwohl in sämtlichen Beobachtungsjahren in Mecklen-                                                    fekte, die durch Optimierung des Transfusionsverhaltens
      burg-Vorpommern und im Saarland mehr Frauen als Män-                                                   erreicht werden konnten, mittlerweile erreicht sind. Es
      ner gelebt haben, wurden zu jeder Zeit mehr EK durch                                                    ist nicht zu erwarten, dass hier noch größere Einsparef-
      männliche Patienten verbraucht (53,1 – 56,8 %). Dies trifft                                            fekte erzielt werden können. Allerdings können Änderun-
      in MV für alle Patientenkategorien zu, wobei vor allem in                                              gen der medizinischen Praxis den Blutbedarf noch weiter
      der Intensivmedizin männliche Patienten mehr Blut benö-                                                reduzieren. Beispiele hierfür waren in den letzten Jahren
      tigen als Frauen (61,5 % der EK in der Intensivmedizin an                                              die Implantation von Aortenklappen über einen Herzka-
      männliche Patienten). Dies liegt einerseits an einer höhe-                                             theter ohne Operation oder der Einsatz von monoklonalen
      ren Zahl an männlichen Patienten, die transfundiert wur-                                               Antikörpern und Checkpoint-Inhibitoren in der Onkologie
      den, andererseits zeigt sich auch bei männlichen Patien-                                               anstelle einer Chemotherapie.
      ten ein höherer Pro-Kopf-Verbrauch als bei weiblichen
      Patienten (5,1 EK vs. 4,0 EK).                                                                         Außerdem gibt es einen weiteren Effekt, der einen anstei-
                                                                                                             genden Bedarf durch die alternde Bevölkerung bis-
      Vorhersagbarkeit des Transfusionsbedarfs                                                               her kompensiert hat. Die geburtenschwachen Jahr-
      Im Gegensatz zu den Vollblutspenden zeigt sich bei der                                                 gänge 1940 – 1950 (Zweiter Weltkrieg und unmittelbare
      Vorausberechnung des EK-Verbrauchs eine deutliche                                                      Nachkriegszeit) haben im Jahr 2015 die Altersgruppe
      Diskrepanz zwischen Vorausberechnung und tatsäch-                                                      der 65 – 75-Jährigen erreicht, die für gewöhnlich eine
      lichem Transfusionsbedarf. Anhand der Daten aus dem                                                    hohe Transfusionsrate aufweist. Durch die in den letz-
     Jahr 2005 wurde für Mecklenburg-Vorpommern im Jahr                                                      ten Jahren verhältnismäßig geringe Größe dieser Bevöl-
      2015 ein Verbrauch von ca. 104.900 EK prognostiziert.                                                  kerungsgruppe, fallen die hohen Transfusionsraten nicht
     Tatsächlich wurden aber nur ca. 82.600 EK benötigt. Dies                                                so sehr ins Gewicht. Dies wird sich in den nächsten Jah-
      sind 21,3 % weniger als erwartet. Diese Diskrepanz ist                                                 ren umkehren, wenn die geburtenstarke Baby-Boom-
      Ergebnis der aktiven Reduktion des Verbrauchs, z. B. im                                                Generation die Altersgruppen mit hohen Transfusionsra-
      Rahmen des Patient Blood Managements. Wir monito-                                                      ten erreicht. Dies wird deutlich, wenn man die prozentuale
      ren an der Universitätsmedizin Greifswald seit Jahren den                                              Veränderung der Bevölkerung und des Transfusionsbe-
      prätransfusionellen Hämoglobin (Hb)-Wert. Abbildung 6                                                  darfs von 2005 – 2015 in den einzelnen Altersgruppen
     zeigt, dass der mittlere prätransfusionelle Hb-Wert mitt-                                               nebeneinander darstellt (Abbildung 7). Eine Zunahme
      lerweile bei 4,5 mmol/l bzw. 7,25 g/dl liegt. In der Detail-                                           einer Altersgruppe (bspw. 55 – 65 Jahre) hatte unmittel-

                                                                 Geburtsjahrgang, der 2015 die entsprechende Altersgruppe erreichte:

                                       100
                                                        Nach                                                              Baby-Boom-           2. Weltkrieg und      Vor 2. Weltkrieg
     Veränderungen der Einwohnerzahl

                                                   Wiedervereinigung                                                        Generation          Nachkriegszeit           (< 1940)
                                       80              (> 1990)                                                           (1955 – 1969)          (1940 – 1955)
                                                                                       Transfundierte EK
         und des EK-Bedarfs in %

                                       60
                                                                                       Einwohner MV
                                       40

                                        20

                                         0

                                       -20

                                       -40

                                       -60

                                       -80
                                             0–4    5 – 9 10 – 14 15 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 54 55 – 59 60 – 64 65 – 69 70 – 74 75 – 79 80 – 84 ≥ 85

                                                                                                   Altersgruppe [Jahre]

      Abbildung 7: Prozentuale Veränderungen der Bevölkerung und des Transfusionsbedarfs in MV von 2005 – 2015 (modifiziert nach Schönborn et al. 2020)

10                                                                                                                                                                      37 2021
150.000
Absolute Zahl der transfundierten EK

                                       130.000                                                       Prognose bei unverändertem
                                                                                                  Transfusions- und Spendeverhalten

                                                          MV
       bzw. Vollblutspenden

                                       110.000

                                        90.000                                                                                                     -18.000
                                                                                                                                                     EK

                                        70.000

                                        50.000
                                                        Saarland                                                                                   -18.000
                                                                                                                                                     EK

                                        30.000
                                                 2005      2010              2015                  2020                  2025                  2030

                                                         Transfusionsbedarf               Vollblutspenden

 Abbildung 8: Prognose der zukünftigen Vollblutspenden und des EK-Bedarfs in MV und im Saarland (modifiziert nach Greinacher et al. 2017 und Eichler et al.
 2020)

  bar eine Zunahme des EK-Verbrauchs zur Folge. Anders-                           demografischen Wandels in einer ähnlichen Versorgungs-
  herum, reduzierte sich die Größe einer Altersgruppe                             situation befinden, so müsste man im Jahr 2030 deutsch-
 (bspw. 10 – 25 Jahre), zog das auch eine prozentual ähn-                         landweit mit einem Defizit von über einer Million EK rech-
  lich ausgeprägte Reduktion des Transfusionsbedarfs                              nen. Hierbei handelt es sich allerdings um ein Worst-
  nach sich. Nichtsdestotrotz war der prozentuale Rück-                           Case-Szenario: Die Annahme, dass sich zukünftige
 gang im Verbrauch in beinahe allen Altersgruppen stär-                           Spendezahlen anhand der Bevölkerungsentwicklung vor-
  ker ausgeprägt als der Rückgang der jeweiligen Bevölke-                         ausberechnen lassen, hat sich in unserer Langzeitstudie
  rungsgruppe. Diese Differenz spiegelt die aktive Reduk-                         bestätigt. Die Transfusionsrate reduzierte sich hingegen
 tion der Transfusionsraten wider.                                                deutlich, da sie maßgeblich von Änderungen in der medi-
                                                                                  zinischen Praxis abhängig war. Ob diese Entwicklung
                                                                                  jedoch weiter anhält und Transfusionsraten auch zukünf-
 PROGNOSE DER ZUKÜNFTIGEN                                                         tig weiter sinken, ist fraglich. Wie oben ausgeführt sind
 SPENDEZAHLEN UND DES                                                             die Möglichkeiten der Reduktion des prätransfusionel-
 TRANSFUSIONSBEDARFS                                                              len Hämoglobinwerts bereits ausgeschöpft. Dennoch ist
                                                                                  bei unzureichender Datenlage unklar, ob das Potenzial in
 Die Vorausberechnung des zukünftigen Spendenauf-                                 kleineren Krankenhäusern ebenso ausgeschöpft ist, wie
  kommens und Transfusionsbedarfs erfolgt auf Grund-                              an den Zentren der Maximalversorgung, bei denen der
  lage der Bevölkerungsvorausberechnungen des Statis-                             prätransfusionelle Hämoglobinwert systematisch gemes-
 tischen Bundesamtes und der Annahme, dass Spende-                                sen wurde. Unsere Studie hat gezeigt, dass es hinsicht-
  und Transfusionsraten konstant bleiben (Abbildung 8).                           lich des Transfusionsverhaltens zwischen verschiedenen
                                                                                  Krankenhausgrößen Unterschiede gibt.
 Dies würde für Mecklenburg-Vorpommern und das Saar-
  land im Jahr 2030 zusammengerechnet ein Defizit von                             Dennoch, europäische Nachbarländer haben z. T. deut-
 ca. 36.000 EK bedeuten, die aufgrund fehlender Vollblut-                         lich geringere Transfusionsraten als Deutschland (zum
  spenden nicht in diesen Bundesländern gewonnen wer-                             Vergleich: Deutschland 44 / 1.000 Einwohner 2018, Nie-
 den können und aus anderen Regionen importiert wer-                              derlande 24 / 1.000 Einwohner 20171,7). Die Ursachen da-
 den müssen. Daten aus anderen Bundesländern für Vor-                             für sind aktuell unklar. Ein unterschiedlicher Umgang mit
 ausberechnungen liegen derzeit nicht vor. Nimmt man                              Patienten unter Maximaltherapie oder chronisch transfusi-
 aber an, dass sich andere Bundesländer aufgrund des                              onspflichtigen Palliativpatienten, oder aber eine geringere

                                                                                                                                                              11
4,00

     Verhältnis der Bevölkerungsgruppen                                                                                Stadtstaaten
          18 – 64 Jahre / ≥ 65 Jahre      3,50

                                                                                                                       Westliche Bundesländer

                                          3,00                                                                         Gesamtdeutschland

                                                                                                                       Mecklenburg-Vorpommern
                                          2,50
                                                                                                                       Östliche Bundesländer
                                                                                                                       (ehem. DDR)

                                          2,00
                                                                                                                       Saarland

                                          1,50
                                                 2005   2010   2015   2020        2025         2030

      Abbildung 9: Ratio der Altersgruppe 18 – 64 Jahre („potenzielle Spenderpopulation“) zur Altersgruppe der ≥ 65-Jährigen („potenzielle Empfängerpopulation“,
      > 60% aller EK an diese Altersgruppe) für einzelne Regionen in Deutschland (modifiziert nach Schönborn et al. 2017)

      Anzahl an Intensivbetten sowie Operationen, die häufig                             rungsentwicklung einzelner Regionen Deutschlands wird
      mit EK-Transfusionen einhergehen, oder die Indikations-                            deutlich, dass dasselbe Verhältnis von potenzieller Spen-
      stellung für invasive / aggressive Therapien bei Patienten                         derpopulation zu potenzieller Empfänger-Population in
      mit fortgeschrittener Tumorerkrankung können diskutiert                            den westlichen Bundesländern ca. zehn Jahre (im Saar-
      werden. Aus unserer Sicht weisen die bisherigen Daten                              land ca. fünf Jahre) später eintritt als in den östlichen Bun-
      aus Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland aller-                                 desländern (siehe Abbildung 9). Daher ist auch in diesen
      dings deutlich darauf hin, dass der oft geäußerte Vorwurf,                         Regionen mit zunehmenden Problemen in der Blutversor-
      dass in Deutschland viel zu unkritisch transfundiert wird,                         gung zu rechnen, wenn die Zahl der Vollblutspenden nicht
      nicht zutrifft. Wenn derzeit in Mecklenburg-Vorpommern                             in ausreichendem Maße angehoben werden kann.
       ein Viertel der Patienten zwei Drittel aller Blutkonserven
      benötigt, kann die Reduktion der Transfusionsrate von
      ca. 52 / 1.000 Einwohner auf 24 / 1.000 Einwohner wie                              HERAUSFORDERUNG FÜR DIE
       in den Niederlanden nur dadurch erreicht werden, dass                             ZUKÜNFTIGE BLUTVERSORGUNG
      die Transfusion bei Patienten, die sehr viele Blutkonser-
      ven benötigen, stark eingeschränkt wird. Dies erfordert                            In vielen Regionen Deutschlands sind parallel zu einem
       eine ethische / gesellschaftliche Diskussion und nicht die                        sinkenden Transfusionsbedarf in den letzten Jahren die
      Entscheidung der Transfusionsmediziner, ausreichend                                Spenderzahlen aktiv reduziert worden, um den Verwurf
      Blutkonserven zur Verfügung zu stellen, wenn der behan-                            zu minimieren. In persönlicher Kommunikation der Auto-
      delnde Arzt eine Transfusionsindikation sieht.                                     ren mit den anderen Blutspendediensten in Mecklenburg-
                                                                                         Vorpommern und dem Saarland wird deutlich, dass es
                                                                                         jetzt jedoch zunehmende Anstrengungen erfordert, die
      ZWEI MODELLREGIONEN FÜR DIE                                                        Zahl der Vollblutspenden auf dem aktuellen Niveau zu hal-
      BLUTVERSORGUNG                                                                     ten und es noch deutlich schwieriger wird, sie in Hinblick
                                                                                         auf einen steigenden EK-Bedarf zu erhöhen. Diese Situa-
      Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland entspre-                                   tion hat sich durch die Corona-Pandemie nochmals ver-
      chen zusammen mit 2,6 Mio. Einwohnern nur ca. 3,1 %                                schärft. Wenn eine alternde Bevölkerung in diesen Regio-
      der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Inwieweit sich                                 nen in Zukunft wieder zu einer Erhöhung des EK-Bedarfs
      unsere Ergebnisse auf andere Bundesländer übertra-                                 führt, ist aktuell unklar, ob genügend Spender reaktiviert
      gen lassen, ist unklar. Vergleichen wir jedoch die Bevölke-                        werden können.

12                                                                                                                                                37 2021
Grundlage für eine verlässliche Bedarfsplanung sind
solide Informationen zum Transfusionsbedarf in verschie-
denen Altersgruppen und bei unterschiedlicher Grund-
erkrankung. Bereits heute stehen in Deutschland für alle
Patienten Daten zu Alter, Geschlecht, DRG sowie Trans-
fusionsbedarf zur Verfügung. Eine systematische Aus-
wertung, beispielsweise im Rahmen der Berichterstat-
tung nach Transfusionsgesetz § 21, fehlt jedoch bisher.
Ein Monitoring dieser Daten kann die Grundlage darstel-
len, die Strategien für die zukünftige Bedarfsplanung und
-sicherung zu verbessern, drohende Defizite der regiona-
len Blutversorgung rechtzeitig zu erkennen und diesen
lokal oder ggf. überregional entgegenzusteuern.

Die Autoren

                      Dr. med. Linda Schönborn                               Prof. Dr. med. Andreas Greinacher
                      Universitätsmedizin KdöR Greifswald                    Universitätsmedizin KdöR Greifswald
                      Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin       Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin
                      Abteilung Transfusionsmedizin                          Abteilung Transfusionsmedizin
                      Linda.Schoenborn@med.uni-greifswald.de                 Andreas.Greinacher@med.uni-greifswald.de

                      Prof. Dr. med. Hermann Eichler
                      Institutsdirektor, Facharzt für Transfusionsmedizin,
                      Hämostaseologe
                      Institut für Klinische Hämostaseologien und
                      Transfusionsmedizin
                      Universität des Saarlandes
                      hermann.eichler@UKS.eu

   Die Literaturhinweise zu diesem Artikel finden Sie im Internet zum
   Download unter: www.drk-haemotherapie.de

                                                                                                                                13
Univ.-Prof. Dr. med. Eva Rohde, Prof. Dr. rer. nat. Bernd Giebel

     Extrazelluläre Vesikel – Zelltherapie der
     nächsten Generation

     Zusammenfassung                                                                 Summary
     Neben Partikeln und löslichen Faktoren werden extrazelluläre Vesikel (EVs)      Among particles and soluble factors, extracellular vesicles (EVs) are secreted
     von vielen Zellarten im menschlichen Organismus sezerniert. EVs vermit-         by virtually all human cells. EVs mediate complex and targeted intercellular
     teln komplexe und zielgerichtete interzelluläre Kommunikationsprozesse          communication and essentially participate in physiological and pathophysio-
     und kontrollieren physiologische und pathophysiologische Prozesse. EVs von      logical processes. EVs of various cells may counteract pathogenic processes
     geeigneten Zellen können pathophysiologischen Prozessen entgegenwirken          and thus serve as a novel class of therapeutic agents in different approaches,
     und als neue Wirkstoffklasse in verschiedenen Anwendungsgebieten dienen:        including drug-delivery, pathogen-vaccination, anti-infectious, anti-tumour,
     optimierte Wirkstoffverabreichung, Impfungen, anti-infektiöse, Anti-Tumor-,     immune-modulatory or regenerative therapies. Translating EV-based thera-
     immunomodulatorische oder regenerative Therapien. Die Translation EV-           peutics into clinical evaluation requires the focus on efficacy, safety and a
     basierter Therapeutika in die Klinik erfordert den Fokus auf Wirksamkeit,       tight control of manufacturing and quality assurance. Here, we highlight sci-
     Sicherheit und die Kontrolle von Herstellungsprozessen durch Qualitätssiche-    entific achievements and strategies for the clinical investigation of EV-based
     rungsmaßnahmen. In diesem Artikel werden bisherige Erkenntnisse und zu-         therapeutics. We will illustrate how EVs as novel therapeutic entity perfectly
     künftige Strategien für die klinische Testung von EV-Therapeutika aufgezeigt.   fit into the aegis of Transfusion Medicine experts.
     Wir werden darstellen, warum die Entwicklung neuartiger EV-Therapeutika
     fachlich perfekt mit der Expertise von Teams in transfusionsmedizinischen
     Einrichtungen umzusetzen ist.

     EINLEITUNG                                                                      men, um multivesikuläre Strukturen (multivesicular bodies,
                                                                                     MVBs) zu bilden. Bei der Fusion von MVBs mit der Plas-
     Im Wesentlichen haben alle Zellen eines Organismus die                          mamembran, die erstmals 1983 am Beispiel von Reti-
     Fähigkeit, eine Vielzahl von Vesikeln (z. B. Exosomen,                          kulozyten beschrieben wurde, werden die intralumina-
     Mikrovesikel, apoptotische Körperchen) mit einer Größe                          len Vesikel als Exosomen in die extrazelluläre Umgebung
     von etwa 70 Nanometern bis zu einigen Mikrometern in                            freigesetzt5 – 7. Da mithilfe unterschiedlicher Labormetho-
     ihre extrazelluläre Umgebung freizusetzen. Diese sezer-                         den verschiedene Vesikel-Arten mit überlappenden Grö-
     nierten Vesikel werden zusammenfassend als extrazel-                            ßenbereichen angereichert werden, wird in diesem Arti-
     luläre Vesikel (EVs) bezeichnet. EVs übertragen Informa-                        kel die allgemeine Bezeichnung extrazelluläre Vesikel (EV)
     tionen zwischen Zellen, Organen und sogar zwischen                              verwendet, auch wenn in Originalarbeiten die kleinen EVs
     unterschiedlichen Organismen. Sie finden sich in vielen                         oftmals als Exosomen bezeichnet werden. Nach einer
     Körperflüssigkeiten einschließlich Blut, Urin, Liquor, Milch,                   wegweisenden Publikation von 2007 (Valadi et al.), in der
     cerebrospinaler Flüssigkeit und Speichel1 – 4. Des Weite-                       gezeigt wurde, dass humane mRNA über EVs in Mäuse
     ren transportieren sie mutmaßlich nicht prozessierbare                          übertragen werden konnten, sind EVs in den Fokus der
     Metabolite von Zellen zum Abbau in die Leber. EVs sind                          biomedizinischen Forschung gerückt8. Seither gibt es
     bläschenartige Strukturen, die von Phospholipidmembra-                          einen exponenziellen Anstieg von Veröffentlichungen zum
     nen umgeben sind. Sie können unterschiedlichste zellty-                         Thema. Unterschiedliche Methoden zur Charakterisierung
     pische Kombinationen von Proteinen, Enzymen, Wachs-                             von EVs, die Suche nach adäquaten Ausgangsmaterialien
     tumsfaktoren, kodierenden oder nicht-kodierenden RNAs,                          für EVs und die pharmazeutische Entwicklung von naiven
     Rezeptoren, Zytokinen, Lipiden und Metaboliten enthal-                          oder modifizierten EVs sind zentrale Punkte der Entwick-
     ten. Kleine EVs werden oft auch Exosomen genannt und                            lung von EV-Therapeutika (siehe Abb. 1: Charakterisie-
     sind als 70 – 150 nm große, nanovesikuläre Strukturen                           rung, pharmazeutische Produktion und klinische Entwick-
     definiert, die aus dem endosomalen Kompartiment von                             lung von EV-Therapeutika). Die Forschung an EVs kann im
     Zellen aktiv ausgeschleust werden. Während der Reifung                          Feld der Biomarker und für diagnostische Zwecke (Stich-
     knospen Teile der endosomalen Außenmembran als int-                             wort liquid biopsy) wertvolle Entwicklungen ermöglichen.
     raluminale Vesikel in das Innere der reifenden Endoso-                          EVs als Zelltherapeutika der nächsten Generation können

14                                                                                                                                                37 2021
Abbildung 1: Charakterisierung, pharmazeutische Produktion und klinische Entwicklung von EV-Therapeutika

im Sinne einer zellfreien Zelltherapie innovative Behand-                      tätssicherung von biologischen Arzneimitteln (beispiels-
lungsoptionen für vielfältige klinische Herausforderungen                      weise Blutprodukten und Zelltherapeutika), die mit unse-
liefern. Die therapeutischen Konzepte reichen von Mög-                         rem Fach verbunden ist, hat die Suche nach und die Her-
lichkeiten optimierter Wirkstoffverabreichung über Imp-                        stellung von effizienten und sicheren EV-Therapeutika ein
fungen bis hin zu Anti-Tumor-, anti-infektiösen, immunmo-                      spannendes und innovatives Kapitel für die Transfusions-
dulatorischen oder regenerativen           Therapien4.     Eine Auflis-        medizin eröffnet.
tung der in der Datenbank registrierten klinischen Studien,
Indikationsstellungen und Verabreichungsformen auf
www.clinicaltrials.gov des National Institute of Health (NIH,                  MODIFIZIERTE EVS UND SPEZIFISCHE
USA) ist in der Tabelle 1: Klinische Studien mit Prüfpräpa-                    WIRKSTOFFABGABE (DRUG DELIVERY)
raten „Extrazelluläre Vesikel, EV oder Exosomen“ zusam-
mengefasst. Die klinische Erprobung von EV-Therapeu-                           EVs rücken als Systeme zur gezielten Wirkstoffverabrei-
tika befindet sich derzeit meist im Stadium der Phase-                         chung von Arzneimitteln mit pharmakologisch schwieri-
I- oder Phase-II-Prüfung. Angesichts der Expertise für                         gen Profilen in den Vordergrund. Herausforderungen wie
pharmazeutische Produktion, Entwicklung und Quali-                             eine zu hohe Toxizität für den Organismus, geringe Anrei-

                                                                                                                                           15
cherung des Wirkstoffs im Zielgewebe oder kurze Halb-                ten in Frankreich zur Durchführung einer klinischen Phase-
     wertszeiten könnten durch Wirkstoffverpackung in EVs                 I-Studie bei Melanompatienten und einer klinischen
     überwunden     werden9 – 11.   Potenzielle Vorteile von EVs          Phase-I-Studie gegen Lungenkrebs in den USA 23,24.
     gegenüber synthetischen Vesikeln wie Liposomen kön-                  Beide klinische Studien verwendeten GMP-kompatible
     nen unter anderem durch verringerte Immunogenizität                  Protokolle (Good Manufacturing Practice) zur Herstellung
     und Toxizität, durch erhöhte Stabilität im Gewebe und                von EV-Präparaten aus Kulturüberständen von Patien-
     durch intrinsische Homing-Fähigkeiten von EVs gege-                  ten autologer, entsprechend konditionierter dendritischer
     ben sein12. Substanzen, die durch den EV-gestützten                  Zellen25. Mit einer kleinen Anzahl an Patienten zeigten
     Transport besonders gut am Zielort wirken können, sind               diese klinischen Studien hauptsächlich die Durchführbar-
     kleine RNA-Therapeutika, einschließlich miRNAs und siR-              keit und Sicherheit der EV-Verabreichung. In der Folge
     NAs, entzündungshemmende Mittel sowie Krebsmedika-                   wurde eine Studie der Phase II (NCT01159288) geplant
     mente10. RNAs können durch RNA-Interferenz die Hem-                  und an Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs
     mung spezifischer Genexpression in Zielzellen bewirken.              durchgeführt26 (siehe Tabelle 1: Klinische Studien). Auch
     Die Aufnahme in die Zielzellen ist jedoch für die großen             wenn die Therapie zu vielversprechenden NK-Zell-Effek-
     und hydrophilen Nukleinsäure-Moleküle durch die Zell-                ten führte, erfüllten die erzielten Ergebnisse leider nicht
     membran eingeschränkt. Daher werden EVs als Schleu-                  die Erwartungen; mutmaßlich wurde ein nicht optimales
     sensysteme benötigt. Im Vergleich zu viralen und kationi-            Adjuvans verwendet27.
     schen Carrier-Systemen können EVs die Wirkstoffe ohne
     die Gefahr der unkontrollierten Virusintegration in die Ziel-        Ein anderes Konzept einer EV-basierten Anti-Tumor-The-
     zellen beziehungsweise ohne Toxizität für das Zielgewebe             rapie verfolgt eine laufende Phase-I-Studie zur Behand-
     anliefern13.                                                         lung von metastasierendem Pankreas-Karzinom mit
                                                                          nachgewiesener KRAS G12D-Mutation. Hier soll die
     Um EVs zu modifizieren und mit therapeutischen Molekü-               onkogen-wirkende KRAS-Mutation mithilfe von kurzen
     len zu beladen, werden hauptsächlich zwei Verpackungs-               (short) interferierenden RNAs (siRNAs) in ihrer Wirkung
     Strategien untersucht: (1) in Post-Loading-Ansätzen wer-             neutralisiert werden; genauer, EVs von genetisch modifi-
     den EVs nach der Isolierung beladen, diese Strategie ist             zierten mesenchymalen Stromazellen sollen KRAS G12D-
     auch als exogene Beladungsmethode bekannt14; (2) mit                 siRNA in die Pankreastumorzellen transportieren und
     Pre-Loading-Methoden werden Zellen modifiziert, bevor                hierdurch die Translation konstitutiv aktiver KRAS-Prote-
     oder während sie EVs abgeben, auch endogene Bela-                    invarianten unterbinden (NCT03608631). Ergebnisse ste-
     dungsmethode genannt9, 10, 15. Einige Gruppen berichten              hen aus, so dass die sehr vielversprechende Ergebnisse
     einen funktionellen siRNA-Transport in Empfängerzellen               aus Tierstudien noch nicht durch klinische Daten unter-
     durch EVs, die mittels Elektroporation mit entsprechen-              mauert worden sind.
     den RNA-Molekülen beladen worden        sind16 – 18.   Die Effizi-
     enz der Beladung ist aufgrund der möglichen Aggregation              Auch gibt es weitere therapeutische Ansätze, die bereits
     von siRNAs im Elektroporationspuffer mutmaßlich deut-                in klinischer Erprobung sind. EVs von genetisch modifi-
     lich überschätzt worden19. Andere Arbeiten stellen die               zierten Zellen (human embryonic kidney cells, HEK 293)
     Elektroporation als Methode zur Beladung von EVs mit                 werden mit einem für seine Anti-Tumor-Wirksamkeit
     RNAs in Frage14, 20.                                                 bekannten STING Agonisten, dem small molecule CDN
                                                                          (cyclic di-nucleotide) beladen. Freie STING-Agonisten
                                                                          besitzen jedoch nur eine begrenzte Wirksamkeit (nied-
     EVS UND MALIGNE ERKRANKUNGEN                                         rige Tumorretention und schlechte Membranpermeabili-
                                                                          tät). Assoziiert mit EVs (ExoSTING™) wurde in Tumormo-
     Die Idee, EVs als Anti-Tumor-Impfstoffe zu verwenden,                dellen eine 100-fach erhöhte Wirksamkeit erzielt. Entspre-
     entwickelte sich bereits vor 25 Jahren21, 22. EVs wur-               chend wurde eine EV-basierte Therapie mit ExoSTING™
     den durch Ultrazentrifugation von konditionierten Medien             entwickelt, die nun in einer multizentrischen, nicht verblin-
     von Antigen-präsentierenden dendritischen Zellen geern-              deten Phase I/II klinischen Studie erprobt werden soll. Bis
     tet, die mit antigenen Peptiden stimuliert wurden. Diese             zu 180 Patienten sollen intratumorale Injektionen bei fort-
     EVs enthielten MHC-Peptid-Komplexe, die in Tiermodel-                geschrittenen, metastasierenden soliden Tumoren wie
     len eine CD4- und CD8-T-Zellantwort hervorriefen. In der             zum Beispiel bei Plattenepithelkarzinom von Kopf oder
     Tat wurde eine Abstoßung wachsender Tumore in immun-                 Hals oder bei triple-negativem Mammakarzinom erhalten
     kompetenten Mäusen durch aktivierte tumorspezifische                 (NCT04592484, siehe Tabelle 1: Klinische Studien).
     zytotoxische T-Zellen beobachtet21. Diese Befunde führ-

16                                                                                                                       37 2021
EVS UND INFEKTIÖSE ERKRANKUNGEN                               NATIVE MSC-EVS UND
                                                              GEWEBEREGENERATION DURCH
Krankheitserreger wie Pilze, Helminthen (Platt- und Spul-     IMMUNMODULATION
würmer) und Bakterien sowie parasitäre Protozoen ein-
schließlich   Plasmodium,     Toxoplasma,   Trypanosoma,      Die Rolle von EVs als wichtige Akteure bei der Vermittlung
Leishmania und Trichomonaden sezernieren ebenso wie           der biologischen Aktivität von MSCs wird zunehmend
menschliche Zellen EVs. Sowohl grampositive als auch          klarer. Ursprünglich wurden MSCs als Subpopulation von
gramnegative Bakterien können EVs freisetzen, diese           stromalen Knochenmarkszellen mit osteogenem Poten-
werden allgemein als outer membrane vesicles (OMVs)           zial beschrieben43, 44. MSCs wurden aufgrund ihrer ein-
bezeichnet28 – 32. Darüber hinaus können pathogeninfi-        fachen Handhabung und ihrem breiten in vitro-Differen-
zierte Zellen Vesikel freisetzen, die pathogenspezifische     zierungspotenzial vielfältig in regenerativen Therapien ein-
Antigene tragen. EVs mit erregerspezifischen Antigenen        gesetzt45 – 49. Sie können aus verschiedenen Geweben
wurden beispielsweise aus Makrophagen isoliert, die mit       wie Knochenmark, Fettgewebe und Nabelschnurblut und
Mycobacterium tuberculosis, Mycobacterium bovis BCG,          -gewebe gewonnen werden50–53 und vermitteln in vielen
Salmonella typhimurium oder Toxoplasma gondii sowie           Modellen lokale bzw. systemische immunmodulierende
aus murinen Retikulozyten, die mit Plasmodium yoelii infi-    Effekte. 2002 wurde erstmals beschrieben, dass MSC
ziert wurden. Ähnlich wie in den Anti-Tumor-Studien wur-      die Proliferation von mitogen-stimulierten T-Zellen unter-
den solche EVs als Impfstoffe in zahlreichen präklinischen    drücken54. Es stellte sich ebenso heraus, dass MSCs die
Mausmodellen    untersucht28, 33 – 39.                        Reifung und Aktivierung von dendritischen Zellen hem-
                                                              men, B-Zell- und NK-Zellfunktionen modulieren, die regu-
Vor mehr als zehn Jahren hat Novartis bereits einen Impf-     latorische T-Zell-Bildung fördern und die Polarisierung
stoff namens Bexsero entwickelt, der auf OMVs basiert,        von klassisch aktivierten proinflammatorischen M1-Mak-
die aus Neisseria meningitidis gewonnen werden. Bex-          rophagen zu alternativ aktivierten anti-entzündlichen
sero wird als Impfstoff gegen Meningokokken-Erkran-           M2-polarisierten Makrophagen bewirken55 – 62. Nachdem
kungen der Serogruppe B bei Kindern verwendet40, 41.          applizierte MSCs im Wesentlichen im Lungengewebe und
Außerdem, wurden in präklinischen Modellen Nanovesi-          nur äußerst selten in betroffenen Geweben gefunden wur-
kel, die aus bakteriellen Komponenten ohne äußere Bak-        den, die von der MSC-Therapie profitieren63 – 65, unter-
terienmembranen bestehen, als Impfstoff getestet. Es          suchten diverse Gruppen parakrine Wirkmechanismen
wurde festgestellt, dass diese bei Mäusen einen Schutz        der MSCs. In der Tat ließen sich ähnliche therapeutische
gegen bakterielle Sepsis induzieren42.                        Aktivitäten in MSC-Kulturüberständen nachweisen wie
                                                              sie nach Applikation der Zellen beobachtet wurden66 – 68.
Seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie sind weltweit             Auf der Suche nach den aktiven Komponenten in den
Millionen von Menschen von der COVID-19-Erkrankung            Kulturüberständen sind dann zwei Gruppen unabhängig
betroffen, wobei die Anzahl der Todesfälle weltweit die       voneinander auf EVs als Wirkstoffe gestoßen, die Gruppe
Millionengrenze übersteigt. Neben vielfältigen Studien        von Sai Kiang Lim und Dominique de Kleijn im Kontext
in den Lebenswissenschaften, gibt es auch etliche EV-         von myokardialen Infarktmodellen und die Gruppe von
basierte Studien. Beispielsweise wird in einer klinischen     Giovanni Camussi in einem akuten Nierenschädigungs-
Phase-I-Studie die Wirkung von durch Inhalation appli-        modell61, 69. MSC-EVs werden jedoch, ebenso wie EVs
zierte T-Zell abstammenden EVs auf die COVID-19-in-           von anderen Zellarten, selten als homogene Fraktion iso-
duzierte Pneumonien untersucht (NCT04389385). Auch            liert, sondern werden oft in unterschiedlichen Größen und
hier sind noch keine klinischen Ergebnisse berichtet wor-     gemeinsam mit löslichen Faktoren und Partikeln als para-
den. Im Gegensatz hierzu gibt es wie im nächsten Kapitel      krine Sekretomfraktion von Zellen gewonnen (siehe Trans-
detailliert beschrieben, eine Reihe von publizierten Arbei-   missionselektronenmikroskopie in Abb. 1).
ten, die die Sicherheit und Wirksamkeit von EVs aus mes-
enchymalen Stromazellen (MSC-EVs) als anti-inflammato-        Aufgrund des präklinisch therapeutischen Potenzials und
risches Agens bei der Therapie von COVID-assoziierten         dem Fehlen von Behandlungsalternativen wurde 2011 die
Lungenschäden beschreiben.                                    erste dokumentierte klinische MSC-EV-Gabe in einem
                                                              Heilversuch am Universitätsklinikum Essen (Forschungs-
                                                              gruppe Bernd Giebel) durchgeführt. In dieser experimen-
                                                              tellen Heilbehandlung einer steroidrefraktären GvHD-Pati-
                                                              entin wurden MSC-EVs in steigenden Dosen in Abstän-
                                                              den von zwei bis drei Tagen über einen Zeitraum von

                                                                                                                             17
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