Fliegen und Fallen DER ZINER Was steht hinter Medi? - Von Höhen und Tiefen im Medizinstudium
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Inhaltsverzeichnis Editorial Reportagen 4 Vergleich der Universitäten «Im Medizinstudium kann man zwei Dinge wäh- 8 Studieren rund um die Welt len: Schlaf, Sozialleben oder Studium. Alles zu- sammen geht nicht», sagte ein Kommilitone kürz- 14 Abspringen - das Medizinstudium abbrechen? lich zu mir. Dass unser Leben während den sechs 17 Der Fall - die Tiefen in Studium und Beruf Jahren an der Uni kein Spaziergang werden würde, 28 Am Anfang einer akademischen Karriere war uns schon bei der Anmeldung zum Numerus 31 Die Curriculum-Revolution Clausus bewusst. Im Nachhinein sagen manche Ärzte, sie hätten die wertvollste Zeit ihres Erwach- 32 Willkommen in Basel senenlebens in Bibliotheken verbracht. 39 Viele Wege führen zum Medizinstudium 41 Verbinde die Punkte Gerade weil unsere Ausbildung ein grosses Mass an Aufopferung erfordert, sollten wir sie ständig hinterfragen. Lange konnten die Universitäten an archaischen Ausbildungsmethoden festhalten, ohne dass jemand protestierte – geschweige denn eine Alternative bereithielt. Nun bringt das neue Lehrmodell für das Medizinstudium an der ETH Titelbildentstehung - Schnee, Matsch und Trampolin frischen Wind in die medizinische Ausbildung – und die Frage drängt sich auf: Ist die Didaktik in unserem Studium noch zeitgemäss? Und: Wie ge- hen die Lehrverantwortlichen damit um, dass die Digitalisierung auch vor den Türen des Kranken- hauses keinen Halt macht? Bereits im Herbstsemester 2016 prophezeite ein Dozent, wir würden in Zukunft alles von einer Google-Brille ablesen können: Patientendaten, Normwerte, Differentialdiagnosen, Interaktionen von Medikamenten. Dann werde das klassische Pauken von Fakten – woraus unser Studium nach wie vor zu einem beträchtlichen Teil besteht – vor- bei sein. Die medizinische Ausbildung an der ETH steckt noch in den Kinderschuhen. Die Universität Zürich ist derzeit in der komfortablen Situation, ihren Erfolg oder ihr Scheitern abwarten zu kön- nen. Wenn Ersteres eintritt, kommt sie aber ge- waltig unter Zugzwang. Das Studium müsste revolutioniert werden, und das trockene Auswen- diglernen hätte womöglich ausgedient. Und wer Rubriken weiss: Vielleicht haben die Studenten von morgen 10 Im Gespräch genug von allem: Schlaf, Sozialleben und Studium. Medizin studieren an der ETH Tim Honegger 13 Kulturcafé Redaktionsleiter (Un)entbehrlicher Ratgeber fürs Wahlstudienjahr 16 homo politicus Gedanken zur Privatisierung unserer Spitäler 19 Meine Masterarbeit Aus dem Sezieren wird eine Masterarbeit 20 Mein Facharzt Facharzt für Dermatologie und Venerologie 22 Fun Das Dozenten-Memory 24 Medizingeschichte Unser Studium im Wandel 26 Um uns herum Sozialberatung für den medizinischen Erfolg 33 Mein Wahlstudienjahr Von 36-Stunden-Schichten und Katzenimpfungen 42 Kreuzworträtsel Der Ziner, März 2018
Schweizer Unis im Vergleich Schluss mit der Gerüchteküche! Das weiss doch jeder: In Lausanne und Genf ist ein Medizinstudent der Erzfeind des anderen, die Berner und Basler haben Patientenkontakt, bevor sie wissen, wo anterior und posterior ist, und die Zürcher Medis wälzen nur verstaubte Bücher bis kurz vor dem Staatsexamen. Oder? Um frische Luft in die verqualmte Gerüch- teküche zu bringen, haben wir für einen fundierten Univergleich Informationen von den Universitäten in Basel, Bern, Fribourg, Genf, Lausanne, Zürich und der ETH mit Hilfe eines Fragebogens zusammengetragen. Eine Zusammenstellung der interessantesten Fakten präsentieren wir hier. Aufbau des Studienganges line und das Angebot der ETH befindet ten Studienjahr wieder das Schlusslicht. Der grösste Unterschied liegt im An- sich noch im Aufbau. Wann die anderen Skills-Labs bieten nur die Unis in Basel, gebot der Studiengänge selbst. Die Uni- Unis dem guten Beispiel folgen werden, Bern und Zürich an. versität Fribourg und die ETH bieten ist ungewiss. Sprachlich halten es die nur den Bachelor an, den Master müssen Unis ähnlich: In der Deutschschweiz Studentenleben die Studierenden an einer anderen Uni- wird vor allem auf Deutsch unterrich- Entgegen der Erwartungen sticht Lau- versität absolvieren. Zudem bilden die tet, in der Westschweiz auf Französisch. sanne nicht mit Partys jedes Wochenen- Hochschulen unterschiedlich viele Stu- Fribourg bildet die Ausnahme mit einem de aus der Masse. An allen Institutionen dierende aus: Die Uni Zürich führt mit zweisprachigen Unterricht (Deutsch und finden pro Semester ca. zwei bis drei von ungefähr 400 Studierenden pro Jahr, da- Französisch). Auf Englisch wird in al- Medizinstudenten organisierte Partys nach kommen Bern (± 220), Lausanne (± len Institutionen nur selten gelehrt, am statt. Allerdings haben die Unis Basel, 200 ab dem 3. Jahr), Basel (± 180), Genf meisten noch an der ETH. Grosse Unter- Lausanne, Zürich und die ETH je eine (± 150 ab dem 3. Jahr) und am kleins- schiede gibt es aber bei der Herausgabe Bar auf dem Campus; die spontanen Fei- ten sind die Jahrgänge in Fribourg und des Stundenplanes: In Genf und Bern ern sind also nicht mitgezählt. Mit ihrem an der ETH mit je ca. 100 Studierenden. wird er schon ungefähr acht Wochen vor Engagement sind die Studierenden an al- Dies sind die Zahlen der neuesten Stu- Semesterbeginn veröffentlicht, in Basel len Hochschulen gut vertreten, obschon diengänge, wobei diese an den meisten bis zu vier Wochen davor und in Lau- in den verschiedenen Jahrgängen unter- Unis in den letzten Jahren aufgestockt sanne, an der ETH und der Uni Zürich schiedlich ausgeprägt. Prozentual enga- wurden. Der Studiengang der ETH be- erst in den letzten zwei vorlesungsfreien gieren sich am meisten Studierende in steht sogar erst seit letztem Sommer. Wochen. Fribourg und an der ETH, was aber auf Ausserdem ist der Zugang zu den Studi- die Grösse des jeweiligen Studienganges enplätzen in der Deutschschweiz durch Praktische Erfahrung zurückzuführen ist. Und was die Kon- den Numerus Clausus begrenzt. In Lau- Den ersten Patientenkontakt haben die kurrenz zwischen den Studenten angeht, sanne und Genf muss der Eignungstest Studierenden aus Basel und Bern be- ist diese vor allem in den ersten Jahren nicht absolviert werden, stattdessen wird reits im ersten Semester, gefolgt von der in Genf und Lausanne stärker zu spü- in den ersten zwei Jahren radikal gesiebt. ETH im zweiten Semester. Im zweiten ren als anderswo. Dass aber deswegen Im ersten Jahr sind in Genf deshalb un- Studienjahr sehen Studierende in Genf Laptops geklaut, oder absichtlich falsche gefähr 500 Studierende eingeschrieben, und Lausanne zum ersten Mal Patien- Skripte verteilt würden, ist tatsächlich in Lausanne sogar bis zu 700. Das ent- ten von Nahem, an den Unis Zürich und ein Gerücht. Beim Erlernen ärztlicher spricht einer Durchfallquote von 70%! Fribourg ist dies erst im dritten Jahr der Fähigkeiten liegen Basel und Fribourg Fall. Beim Sezierkurs haben die Basler an der Spitze: Die Studenten üben die Vorlesungen die Nase vorne: Sie beginnen bereits im Blutabnahme, eine Infusion zu legen, Tatsächlich ist der Anteil an praktischen zweiten Semester damit. Die Unis in die Wundnaht und die Handhabung des Kursen in Bern am grössten, allerdings Bern, Fribourg, Zürich, Lausanne und Ultraschalls. In Bern und Genf wird es gleichauf mit Genf. Am meisten Theo- die ETH ermöglichen den Studieren- ähnlich gehandhabt, nur gibt es dort kei- rie wird verhältnismässig in Lausanne den den Sezierkurs im zweiten Studien- nen Nähkurs. Die Uni Zürich ermöglicht gelehrt, danach folgt Zürich. Auch Pod- jahr. Nur in Genf wird überhaupt nicht einen Crashkurs im Nähen und Infusio- casts bieten lediglich die Universitäten seziert. Richtiges Bedside-Teaching be- nen legen und die Uni in Lausanne bietet Bern und Genf an, in Lausanne stellt ge- ginnt praktisch an allen Standorten im nur die Blutentnahme an. rade mal ein Professor die Vorlesung on- dritten Jahr; Genf bildet mit dem vier- DER ZINER 4
Von Schall und Rauch... Alles hat damit angefangen, dass Maria sich für ein Medizinstu- dium entschieden hatte: „Sie haben keine Zeit für diesen ganzen theoretischen Kram“, ha- ben sie gesagt und ihr ein Infusionsset in die Hand gedrückt. „Na los, gehen Sie schon. Die Infusion legt sich nicht von selbst!“. Mit zitternden Händen starrte Maria die Nadel an, als plötzlich der Chefchirurg sie an der Schulter packte. „Ah, da sind sie ja! Wir haben uns schon gewundert wo die neuen Studierenden blei- Prüfungen ben. Kommen Sie, wir brauchen Sie dringend im OP.“ Bevor Maria An allen Standorten ist die Anzahl und etwas erwidern konnte, leuchtete plötzlich der Alarmknopf über Art der Prüfungen (mündlich oder der Tür auf und ein Pfleger kam aus dem Zimmer geschossen: schriftlich) unterschiedlich, je nach „Kommen Sie schnell Frau Studentin! Wir haben hier einen Herz- Studienjahr. Stark unterscheiden sich die Institutionen in der Länge der Lern- stillstand!“ phase. Während sie in Basel, Bern, Fri- So hatte Maria sich den Erstsemestrigen-Tag nicht vorgestellt… bourg und der Uni Zürich jeweils rund ein Monat dauert, haben die Studenten der ETH im Winter sechs Wochen und im Sommer zwei Monate dafür Zeit. Ent- sprechend kürzer sind dann allerdings auch die Ferien. Auch die Anzahl der „Nur jeder fünfte von euch wird es schaffen.“ Prüfungsversuche vor dem Ausschluss Max steht vor dem Spiegel und schmiert sich mit selbstbewusster aus dem Studium ist unterschiedlich: In Miene die Kriegsbemalung auf die Wangen. Bern und Basel haben die Studierenden „Niemand hier ist euer Freund. Keinem könnt ihr trauen.“ In sei- pro Prüfungsblock je drei Versuche, in nem Kopf hallen die Worte des Professors aus der Einführungs- Genf und an der ETH sind es immer nur vorlesung. wieder: „Das ist ein Kampf auf Leben und Tod...“ Er zwei. An der Uni Zürich sind in der Vor- bindet sich die Haare zu einem Zopf und knüpft das rote Stirnband klinik zwei und ab der Klinik drei Ver- zu. suche pro Prüfungsblock möglich. Als „…Und am Ende überleben nur die Stärksten!“ Feedback der schriftlichen Prüfungen ist an allen Unis die Mitteilung der Punkt- Ein letztes Mal atmet er tief ein und starrt sein Spiegelbild an. Er zahl und des Prozentranges üblich, bei ist bereit. Es ist der zweite Tag des Medizinstudiums und Max zieht den mündlichen Prüfungen gibt es kein heute in den Kampf. detailliertes Feedback, sondern nur die Mitteilung der erreichten Note. Kosten Die Studiengebühren pro Semester wei- sen auch starke Unterschiede zwischen „Und Albert, wie war dein erster Tag so?“ den Universitäten auf. Am teuersten „Ach weisst du, nichts Besonderes eigentlich. Wir haben so `ne ist das Studieren an der Uni Zürich mit Ratte genommen und ihr den Schädel aufgeschnitten, um das Ge- CHF 900 pro Semester (die Prüfungs- hirn freizulegen. Dann haben wir eine mikroskopische Fluores- gebühr von CHF 160 mit eingerechnet), zenzkamera über ihrem Kopf installiert, um mithilfe von Koin- gefolgt von Basel (CHF 860), Bern (CHF zidenzschaltung die Aktivität im Hypothalamus zu messen. Wir 805), Fribourg und der ETH (beide CHF haben die Ratte dann auf eine bewegliche Kugel gesetzt und sie 650) und Lausanne (CHF 580). Am vor einen 180° Bildschirm platziert, damit die Ratte denkt, sie lau- günstigsten ist es, in Genf zu studieren fe durch ein Labyrinth. So konnten wir die Ratte an einem fixierten (CHF 500). Grundsätzlich werden die Punkt festhalten und die Erregung der Platzzellen genau erfas- sen. Das Übliche halt…“ „Aaaaha… Und wie sieht euer Stundenplan so aus?“ „Ach, den gibt’s noch nicht. Sind ja ein neuer Studiengang. Stun- DER ZINER denpläne sind sowieso überbewertet.“ 5
gebühren auch im Wahlstudienjahr be- zahlt, mit gutem Beispiel voraus geht hier nur Lausanne. Dort zahlt man während des Wahlstudienjahres nur CHF 210 pro Semester. Die Fahrtkosten zu den Prakti- ka sind in Basel, Bern und Fribourg sehr Es ist ein düsterer, verregneter Frühlingstag. Die Dritt- gering. In Genf wird die Zugfahrt mit jahrstudenten haben sich nach den Prüfungen versam- dem Halbtax-Preis vergütet, Lausanne melt, um die gemeinsame Zeit gebührend zu verabschie- vergütet pauschal CHF 200 Fahrkosten den. Es war die schönste Zeit ihres Lebens. Eine Zeit, in pro Semester. An der Uni Zürich kann es der sie sich als Familie lieben gelernt haben. Eine Zeit, hingegen vergleichsweise teuer werden: von der sie sich nun trennen müssen. Je nach zugeteiltem Spital fallen Fahr- Alle sind in tristem schwarz gekleidet und die schwar- kosten von bis zu CHF 700 pro Semester zen Regenschirme ragen wie eine riesige Phalanx aus für den einzelnen Studierenden an – fast der Menge empor. Manche liegen sich heulend in den Ar- schon eine ganze Semestergebühr zu- men, andere wischen sich gefasst die einzelne Träne von sätzlich. Dafür ist das Standardmenu der der Wange. Es ist ihr letzter gemeinsamer Tag als gros- Mensa an der Uni Zürich mit CHF 5.40 se herzliche Familie. Schon bald werden sie getrennte am günstigsten. Es folgen die ETH (CHF Wege gehen und die düsteren Abgründe der fremden 6.20), Bern (CHF 6.60) und Basel (CHF Unis bestreiten müssen. Ein Aufbruch ins Ungewisse 7.50). Am teuersten ist es in Genf mit und alle ahnen, dass nichts so sein wird, wie es früher CHF 10 pro Mahlzeit. einmal war… Angebote der Hochschulen An den Universitäten Bern und Genf ist ein Auslandsaufenthalt im dritten Studi- enjahr möglich, in Basel und an der Uni Zürich im vierten. Im Wahlstudienjahr des Masterstudiengangs ist es zudem überall möglich, einen Einsatz im Aus- land zu absolvieren. Alle Universitäten „Wie man unschwer erkennen kann, erleidet der Patient bieten den Studierenden ein vielfältiges in diesem Moment eine Torsade de Pointes Tachykar- Sportangebot an. In Genf und Zürich die mit daraus resultierendem Kammerflimmern. Am erhält man zudem vergünstigten Ein- wahrscheinlichsten ist diese Pathologie zurückzuführen tritt zu kulturellen Anlässen wie Kon- auf die Medikation des Patienten, namentlich dem Amio- zerten, Theater, Oper und Ballett. Viele Universitäten bieten den Studierenden daron, welches die QT-Zeit signifikant verlängern kann. auch die Möglichkeit, den Studiengang Wichtig ist hierbei anzumerken, dass nicht die absolute mitzugestalten. So gibt es in Basel und QT-Zeit ausschlaggebend ist, sondern die frequenzkor- an der Uni Zürich Feedbackgruppen, die rigierte QTc-Zeit beachtet werden sollte. Ist diese ab- dem Dekanat nach jedem Semester eine seits des Normbereiches bei 450ms, deutet das auf eine Rückmeldung geben. In Genf, Bern und verlängerte Repolarisationszeit hin, welche ihrerseits an der ETH können zu den Veranstal- wiederum kreisende Erregungen – „ tungen Feedbackfragebögen ausgefüllt „Der Patient krepiert gerade! Tun sie doch etwas ver- werden. Einsitz in Kommissionen bieten dammt!“ Basel, Bern, die Uni Zürich und die ETH „Im Falle eines kardiogen bedingten Schockzustandes ihren Studierenden an. müssen sofort lebensrettende Massnahmen eingeleitet werden. Speziell sind dies…“ Zusammenfassend verhält es sich im Medizinstudium gleich wie überall – wahrscheinlich steckt hinter vielen Ge- rüchten ein Körnchen Wahrheit. Aller- dings entpuppen sich die meisten der Behauptungen unserer Gerüchteküche als Schall und Rauch. Nathalie Bohl Dmitrij Marchukov Bea Albermann Adrian Walter DER ZINER 6
Warum Medizin? „Medizin ist extrem vielfältig und hat mich schon immer fasziniert. Die Kombination von theoretischem Wissen, manuellen Tätigkeiten und dem Umgang mit Menschen, seien es Patienten, Angehörige, Mitarbeiter oder nun wie bei mir viele Studierende, ist immer wieder spannend und macht mir weiterhin grosse Freude.“ Prof. Dr. med. Johannes Loffing bQm Kulturcafé & Bar • Unter der Polyterrasse Leonhardstrasse 34, 8092 Zürich Tel. 044 632 75 03 • info@bqm-bar.ch
Studieren rund um die Welt Wie ist eigentlich das Medizinstudium in ..? ...Brasilien Brasilien. Karneval. Meer. Ferien? - Alltag! Gustavo ist 20 Jahre alt. Er studiert im 3. Jahr Medizin an einer Bei den chirurgischen Fächern schauen wir eigentlich nur zu.» privaten Universität in Itajaí, im Süden von Brasilien. Er lebt mit Im zweiten Jahr lernen die Studierenden chirurgische Techniken. einem Freund in einer Wohnung nicht weit vom Campus am Gustavo hat noch an Hasen und Ratten geübt. Heute verwendet Strand. Wie verbringt er seine Freizeit? Mit Baden im Meer und seine Uni aber kaum noch Tiere, sondern künstliche Präparate. Fussball – natürlich, er ist ja Brasilianer. Mittlerweile im dritten Jahr ist Gustavo zwei bis drei Ich habe mit Gustavo über den Uni-Alltag und das Schulsystem Nachmittage pro Woche in Kliniken tätig. Pädiat- gesprochen. rie, Gynäkologie und Dermatologie lernen die Kinder in Brasilien sind theoretisch bis zum 14. Lebensjahr Studierenden in diesem Semester. schulpflichtig, das bedeutet acht Jahre Grundschule. Dennoch Gustavo ist mit 40 anderen im Jahr- besuchen Schüler durchschnittlich nur 4.9 Jahre lang die Schule. gang. Die Hörsäle sind kleiner – ver- Viele Familien können sich Schulgelder, Uniformen und Bücher gleichbar mit Schweizer Klassen- nicht leisten. Privatschulen sind einem Bruchteil der Bevölke- zimmern. Unterrichtet wird mit rung vorbehalten. Obwohl die Regierung immer mehr Geld in Powerpoint-Präsentationen. Bildung investiert, scheint sich die Qualität des Unterrichts nicht Es ist zeitintensiv, für die zu bessern. Denn die Gelder versickern im Sumpf der Bürokratie, 30 Prüfungen im Ver- anstatt die Schulen zu erreichen. Die schlechten Saläre demoti- lauf eines Semesters zu vieren die Lehrpersonen. Höhere Löhne und bessere Arbeitsplät- lernen. Dazu bereiten ze erlangt man nicht durch gute Arbeit, sondern durch Verbin- sich die Studierenden dung in die Politik. in Bibliotheken mit Gustavo absolviert nach vier Jahren Sekundarschule als 17-Jähri- Büchern vor oder sit- ger das vestibular, eine Aufnahmeprüfung, um an Universitäten zen zusammen und zugelassen zu werden. In seinem Jahrgang ist er einer der Jüngs- repetieren Anatomie ten, denn er schaffte die Aufnahmeprüfung gleich beim ersten an Skeletten. Versuch: «Ich hatte auch Glück», schmunzelt Gustavo. Andere wiederum besuchen für teuer Geld jahrelange Vorbereitungskur- Der charmante bra- se, sogenannte cursinhos. Somit können dank finanziellen Mit- silianische Akzent teln entweder bessere cursinhos besucht, oder Studienplätze an von Gustavo unter- privaten Universitäten erkauft werden. malt seine Leiden- Die Studiengebühren sind hoch, sodass viele Familien an dieser schaft für das Fach. finanziellen Hürde scheitern. Mittlerweile ist es immerhin mög- In holprigem Deutsch lich, teilzeit zu studieren, um nebenher einem Job nachzugehen. schwärmt er: «Das Stu- Eine Arbeitslosenquote von 30% bei den Jugendlichen erschwert dium wirklich gefällt aber die Finanzierung vom Studium deutlich. mir zu viel. Es ist einfach Die privaten Universitäten sind eher berufsorientiert und es wird wundervoll.» keine Forschung betrieben. Das fällt auch Gustavo auf: Die ers- Später möchte Gustavo ten drei Jahre des Medizinstudiums verbringen die Studierenden Chirurg oder Pädiater wer- an der Uni, die drei darauffolgenden Praktikumsjahre in Kran- den. Ich bin mir sicher, dass kenhäusern und Kliniken. Danach kommen meistens noch zwei sich seine Patienten – egal ob Jahre residência dazu, in denen man sich auf eine Fachrichtung gross oder klein – bei ihm wohl- spezialisiert. fühlen werden. «Schon am Ende vom ersten Jahr absolvieren wir Praktika im Spital. Aber wir beraten und reden lediglich mit den Patienten. Catrina Pedrett DER ZINER 8
...Syrien Illustration von Catrina Pedrett Anatomie Lernen im Angesicht des Bürgerkriegs Zu spät ins Praktikum wegen etlichen Strassenkontrollen, ausfal- verfolgen. Ein neues Land, eine neue Sprache, aber für Esra ist lende Vorlesungen wegen Bombenwarnung – so sah Esra’s Alltag klar: Das gute alte Medizinstudium bleibt - egal wo - einfach das als Medizinstudentin an der Universität Damaskus aus. Mitten Medizinstudium. im Bürgerkrieg studierte sie dort sechs Jahre lang und absolvier- te daraufhin das syrische Staatsexamen. Seit zweieinhalb Auf die Frage, was sie am meisten genervt habe in ihrer Studien- Jahren ist sie nun in der Schweiz und auf dem zeit in Damaskus, antwortet sie schmunzelnd: „Die Prüfungen. Weg, ihren Traum in Zürich weiter zu Die vielen Lernphasen waren nicht witzig.“ In Damaskus wer- den die Studierenden in circa sieben Fächer pro Jahr geprüft und das nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich als Teil einer praktischen Prüfung. Dass Medizinstudierende überall doch ir- gendwie gleich sind, zeigt sich in dem syrischen Klischee eines Standard-Medizinstudenten: „Die anderen Fakultäten haben uns wohl als arrogante Nerds beschrieben und gedacht, dass wir menschenscheu und schüchtern sind, weil wir nicht so häufig auf Partys waren, sondern eher in der Bibliothek.“ Dass Klischees nicht immer zuträfen, sei natürlich auch überall auf der Welt der Fall, ergänzt sie lachend. Der Aufbau des Studiums an der Universität Damaskus unter- scheidet sich nicht grundlegend von dem in Zürich. Lediglich das Wahlstudienjahr ist im sechsten Jahr, nicht im fünften wie bei uns. Esra befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrer Familie im Libanon und muss für ihre verschiedenen Praktika immer wieder über die Grenze durch Syrien nach Damaskus pendeln. Für diese Strecke, welche normalerweise zwei Stunden in Anspruch nimmt, braucht sie aufgrund der komplizierten Grenzkontrollen und Checkpoints des syrischen Regimes bis zu sieben Stunden. In Damaskus wohnt sie dann in Studentenhei- men oder bei Freunden, die Tage verbringt sie im Spital. Zurück- blickend sagt sie: „Das Medizinstudium bei uns war irgendwie genau gleich wie hier, aber halt keineswegs normal.“ In der Schweiz angekommen war das erste Ziel klar: Deutsch ler- nen. Ohne die Sprache zu können, hat man im ärztlichen Alltag keine Chance. Mit einem abgeschlossenen Staatsexamen im Aus- land bieten sich dann zwei Optionen an: Entweder man arbeitet drei Jahre lang als Unterassistenz oder man rackert sich nochmal durch die vier Klinikjahre, beide Wege werden mit dem Schwei- zer Staatsexamen abgeschlossen. Esra hat sich dazu entschlossen, wieder als Studentin an die Uni zu gehen. „Das ist schon ein biss- chen frustrierend, die ganze Mikrobiologie und all das nochmal zu machen.“ Aber glücklicherweise ist der Körper in Syrien auch nicht anders zusammengesetzt als in der Schweiz: Anatomie bleibt Anatomie. Bea Albermann DER ZINER 9
Im Gespräch Zwei Interviews zum ETH-Medizinstudium „Manche von uns sind überfordert“ Romeo Albrecht studiert im ersten Jahr Medizin an der ETH. Er hat uns seine Sicht auf neuen Studiengang beschrieben. Erzähl uns doch einmal von Deinem Jahrgang sind, ist es immer top durchorga- Anderes. Ausserdem war die ETH für viele Studiengang. Was schätzt Du daran? nisiert. Was mir ausserdem sehr gut gefällt, Studierende nicht die erste Wahl. Sie kom- Es ist ein sehr zukunftsorientiertes Stu- ist das Familiäre an unserem Studiengang. men überhaupt nicht damit zurecht, dass dium, was meiner Meinung nach im Be- Da wir nicht sehr viele sind, kann ein viel sie sich, anders als Studenten von anderen reich Medizin immer wichtiger wird. Ich persönlicherer und interaktiverer Unter- Unis, ein so vertieftes Wissen in den Natur- bin auch total begeistert vom naturwissen- richt geführt werden. wissenschaften aneignen müssen. schaftlichen Aspekt des Studiengangs. Die Im zweiten Studienjahr erfolgt die Zutei- ETH will es einfach anders machen, daher Und was stört Dich? lung für den Masterstudiengang auf die ist es definitiv kein klassisches Medizin- Wir haben einen wirklich vollgestopften Partneruniversitäten im Tessin, in Basel studium. Man merkt allerdings wirklich, Stundenplan. Jeden Tag haben wir bis 17 und in Zürich aufgrund verschiedener wieviel Aufwand die Verantwortlichen hier Uhr Vorlesungen. Wenn man dann noch Faktoren. Erste Priorität dabei haben per- hineinstecken, denn obwohl wir der erste pendelt, bleibt einem nicht viel Zeit für sönliche Bedürfnisse, beispielsweise der Wohnort des Ehemannes oder der Ehefrau, gefolgt vom Wohnsitz der Eltern und dem individuellen Leistungsniveau eines jeden Studierenden. Dieser Umstand fördert meiner Meinung nach auch das Konkur- renzdenken innerhalb des Jahrgangs, was ich als eher kritisch betrachte. Wie aufwändig ist das Studium? Es werden wirklich hohe Ansprüche an unsere Disziplin, Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung gestellt. Die ETH setzt eine sattelfeste naturwissenschaftliche Grundlage voraus. Das merken wir vor allem im Fach Pharmakologie. Mit dieser Grundlage sollte die Pharmakologie, trotz des frühen Zeitpunktes im Curriculum, eigentlich kein Problem darstellen. Wenn doch, liegt es an uns, das Fehlende aufzu- holen. Zudem ist der Umfang des Stoffes immens. Es ist viel zu viel, um es gut zu machen, manche von uns sind überfordert. Wird das Konzept des Studiengangs auch wirklich so umgesetzt? Durchaus. Das Konzept ist sehr profes- sionell gehalten und wird laufend neu angepasst. Beispielweise ist so nun ein Pharmakologie Tutorat entstanden. Auch der Trend der Digitalisierung ist zu spü- ren. Man muss sich praktisch für alles auf Moodle, unserer Datenplattform, auf der alle PDF und Skripte hochgeladen werden, vorbereiten. Professor Goldhahn hat am Anfang gesagt, ein Tablet würde für das Medizinstudium genügen und es stimmt. Wir merken auch, dass viel auf Teamarbeit gesetzt wird, da wir laufend mit neuen Leuten in Gruppen geworfen werden. Von dem her ja, das Konzept hält wirklich, was es verspricht. Sophia Diyenis und Nathalie Bohl
„Das Verständnis kommt vor der Vollständigkeit“ Professor Dr. Jörg Goldhahn ist der Projektleiter des Pilotprojekts «Me- dizinstudium ETH». Wie es mit dem neuen Studiengang funktioniert und was er genau beinhaltet, hat er uns in diesem Interview dargelegt. Herr Goldhahn, aus welchem Grund nischen Grundlagen und einen verstärkten wird an der ETH ein Medizinstudium Fokus auf die Forschung. Wir legen vor etabliert? allem Wert auf drei Aspekte: Erstens wol- Die ETH hat ein grosses Know-how im len wir durch gezielte Selbstlernblöcke, die medizinischen Bereich – rund ein Drittel Vorträge von Studenten für Studenten be- der Professorinnen und Professoren be- inhalten, das Potential der Studenten nut- schäftigen sich mit Forschung im medi- zen und ihnen gleichzeitig den Umgang zinischen Feld. Auch in der Lehre ist die mit der Informationsflut vermitteln. ETH bereits in vielen verwandten Gebieten Zweitens versuchen wir, sehr viel mit den aktiv: Wir lehren Biologie, Biochemie und neuesten Technologien zu arbeiten. In Zu- Romeo Albrecht: Ersti im neuen Medizinstudiengang der ETH, kontrolliert überfordert Biotechnologie, Pharmazie, Gesundheits- kunft wird die Medizin sich immer mehr wissenschaften und Technologie, sowie auf technologische Errungenschaften ver- Biomedical Engineering. Vor ein paar Jah- lassen können. Bereits heutzutage gibt man ren hatte der Bundesrat die universitären Patienten ein 24h-Blutdruckmessgerät mit, Hochschulen angefragt, ob sie einen Bei- anstatt sich mit nur einem Messwert zu be- trag zur Behebung des Ärztemangels leis- gnügen. ten könnten. Dadurch nahm die Idee des Drittens wollen wir die Teamfähigkeit Medizinbachelors konkrete Gestalt an. der Studenten fördern, da die Spezialisie- rung der Ärzte nach wie vor zunimmt und Wo lagen die Herausforderungen? immer mehr in „Spezialteams“ gearbei- Die Herausforderungen lagen vor allem in tet wird. Dafür müssen die Studenten in der Umsetzung des neuen Lernzielkata- Teams klinische Situationen meistern, was logs. Ausserdem mussten wir das zu ver- in dieser Form bisher erst auf Facharztebe- mittelnde Wissen auf die verschiedenen ne anzutreffen ist. Studiengänge in den Partneruniversitäten, Die Studierenden belegen auch Kurse in wo unsere Bachelorabsolventinnen und der Mathematik, da sie jeder Naturwissen- -absolventen den Master machen werden, schaft zugrunde liegt. Speziell in der Medi- abstimmen. So legt Zürich zum Beispiel zin ist sie eine wichtige Grundlage für die mehr Wert auf die Zweijahresblock-Tren- später folgende Statistik. Gleichzeitig le- nung: gesunder Mensch – kranker Mensch gen wir Wert auf praktische Erfahrungen. und klinische Erfahrung, wohingegen Ba- Unserer Studierenden absolvieren bis zum sel vollständig auf die Unterscheidung zwi- Bachelorabschluss ein vierwöchiges Prak- schen Bachelor und Master setzt. tikum in einem von uns anerkannten Spi- tal und belegen beispielsweise Kurse über Nach welchem Konzept ist das Medi- die Arzt-Patienten Kommunikation. Auch zinstudium an der ETH aufgebaut? die Zusammenarbeit mit dem Institut für Für die ETH war von Anfang an klar, dass Hausarztmedizin gehört dazu. sie ihre spezifischen Stärken in den Stu- diengang einfliessen lassen will. So wer- Wie soll man sich den Unterricht an den die Studieninhalte gemäss dem neuen der ETH vorstellen? Schweizer Lernzielkatalog der Humanme- Wir wollen unseren Studierenden durch dizin ergänzt durch eine ETH-spezifische ein integriertes Curriculum das Lernen Vertiefung in naturwissenschaftlich - tech- möglichst einfach machen. Generell setzen wir auf das contextual learning. Das sieht dann beispielsweise so aus: Eine Studien- „Selbststudium, neue woche fängt mit einem Fallbeispiel an, sa- gen wir mit einer Frau, die an Rheuma in Technologien und ihrer Hand leidet. Im Laufe der Woche be- Teamfähigkeit sind schäftigen sich die Studenten erst mit der anatomischen Beschaffenheit der Hand, Kernpunkte des ETH- dann mit der Pathophysiologie von rheu- Medizinstudiums. “ matischen Erkrankungen und am Schluss kommen immer mehr
Im Gespräch klinische Aspekte hinzu, wie zum Beispiel versitäten in die Entwicklung unseres Cur- diengang laufend zu verbessern. So holen die Behandlungsmöglichkeiten. Dies soll riculums einbezogen. Im Gegenzug unter- wir regelmässig ein Feedback von den Stu- das Verständnis und die Motivation der stützen wir etwa die USI im Tessin beim dierenden und den Dozierenden ein, was Studierenden fördern. Aufsetzen ihres Masterstudiengangs. es uns ermöglicht, auch kurzfristig Anpas- sungen vorzunehmen. Wenn so viele weitere Fächer wie Wie viele Studenten werden tatsäch- Mathematik und Informatik Teil des lich mit ihrem Masterstudium an den Wieviel kostet ein Medizinstudent die Curriculums sind, wo werden dann Partneruniversitäten beginnen? ETH? die Einbussen gemacht? Alle unsere hundert Studierenden haben Auch die ETH hält die interkantonalen Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass einen Platz an einer Partneruniversität zu- Anlagesätze ein. Wieviel ein Student oder Medizinstudierende an der ETH keinerlei gesichert. Noch wissen wir aber nicht, wie eine Studentin genau kostet, können wir Wahlmöglichkeiten haben. Im Gegensatz viele genau übertreten werden, denn der noch nicht sagen, da wir uns noch ganz am etwa zur Uni Zürich kennen wir kein Man- Anfang des Projekts befinden. Wir gehen telstudium, und es gibt keine Chemie- und davon aus, dass sich alles im erwarteten Physikpraktika. Wir müssen ganz gezielt „Der Studiengang ist für Rahmen halten wird. auswählen, was in den Stundenplan soll einen Übertritt in den und was nicht. Ein konkretes Beispiel ist Medizinmaster konzipiert.“ Was ist Ihr Fazit nach einigen Wochen das Histologiepraktikum. Dieses Prakti- Semesterbetrieb? kum vermittelt zwei Kompetenzen, kor- Es gab einige kleine Organisationsproble- rektes Mikroskopieren und das Betrachten erste Jahrgang hat noch zwei Jahre vor sich. me, aber für den Start von null auf hundert von histologischen Präparaten. Wir haben Obwohl die Studierenden mit dem Bache- hat alles sehr gut geklappt. Begeistert bin die beiden Kompetenzen auseinander- lorabschluss grundsätzlich auch die Mög- ich von unseren Studierenden: Sie sind genommen und vermitteln sie einzeln: lichkeit, einen Master in Health Science topmotiviert und engagiert. Studierende lernen den Umgang mit dem and Technology zu machen, ist das nicht Mikroskop in einem eintägigen Kurs noch unser primäres Ziel. Der Studiengang ist Gibt es noch etwas, das Sie den Stu- in den Einführungstagen. Parallel werden für einen Übertritt in den Medizinmaster denten gerne mitgeben würden? wichtige Präparate im dazu passenden konzipiert. Ich rate ihnen, nicht zu früh in den „Stu- Themenblock gezeigt. dents Survival Mode“ zu fallen. Sie sollen Generell setzen wir viel auf das Verständ- Wie gestaltet sich das Verhältnis mit ihren Horizont möglichst offen halten. nis, was auch einmal auf Kosten der Voll- den Partneruniversitäten? ständigkeit gehen kann. Die Qualifikations- und Anforderungspro- Sophia Diyenis und Nathalie Bohl file werden ständig ausgetauscht. Das führt An wen richtet sich der Bachelorstu- zu einem regen Aus- diengang Medizin der ETH? tausch zwischen den Das Studium richtet sich an alle, die Me- Partneruniversitäten. dizin studieren wollen und gleichzeitig ein Unsere Partner sind Interesse an Naturwissenschaften mitbrin- aber auch interessiert gen. Auch für junge Leute, die sich stark für an den Erfahrun- Forschung interessieren, ist es bestimmt gen, die wir machen. die richtige Wahl. Denn dafür sind Kennt- Das von Grund auf nisse in den Naturwissenschaften eine op- neue Curriculum timale Voraussetzung. bietet die Chance, vieles auszuprobie- Wie sind die Prüfungen aufgebaut? ren. Neue Ansätze, Die Prüfungen, die im ersten Jahr des Me- die sich bewähren, dizinstudiums abgelegt werden, entspre- können von anderen chen dem Standard des ETH-Basisjahrs. Universitäten über- Wie auch an der Universität Zürich beste- nommen werden. hen die Prüfungen zu einem Teil aus Mul- tiple Choice Fragen. Allerdings wurden Wie sieht die Zu- auch so genannte Essay Fragen eingebaut, kunft des Studien- bei denen die Studierende ihre Antwor- ganges aus? Wird ten frei formulieren. Damit wollen wir das er weiter ausge- Verständnis der Zusammenhänge prüfen baut? und präzises Formulieren fördern. Das wissen wir zur- zeit noch nicht. Der Wie Sie bereits erwähnt haben, bie- Studiengang wurde tet die ETH nur den Bachelorstudien- als sechsjähriges Pi- gang an. Wie werden die Medizin- lotprojekt lanciert. studierende auf den Master an den Erst nach Ablauf der verschiedenen Partneruniversitäten sechs Jahre wird da- vorbereitet? rüber entschieden, Das Curriculum ist auf die Masterstu- wie es weitergeht. diengänge an den Partneruniversitäten Für uns geht es zur- abgestimmt. Wir haben die Partneruni- zeit darum, den Stu-
Kulturcafé Ein (un)entbehrlicher Ratgeber für das Wahlstudienjahr „Der UHU-Knigge“ von Toralf Sperschneider Das nahende Wahlstudienjahr kann einen denen Plicae transversales recti des Chef- gewissenhaften Medizinstudenten in ner- arztes zwangsläufig von der Gunst oder vöse Zustände versetzen. Die bisherigen Missgunst des Assistenzarztes abhängt. vier Studienjahre waren gefüllt mit sorg- Der Assistenzarzt, direkter Vorgesetzter sam durch das Dekanat vorbereiteten des UHUs, ist der Schlüssel zur Tür eines Stundenplänen, im Voraus geplanten Prü- brillanten Karrierestarts. Oder zumindest fungsphasen und angenehm langen Mit- ein Teil des Schlüssels. Mindestens der tagspausen. Plötzlich wird man jedoch ins Schlüsselanhänger. Der Assistenzarzt, im eiskalte Wasser des Arbeitsalltags gewor- alltäglichen Umgangston auch mit „Euer Sperschneider, selber Assistenzarzt, hat fen, den rauen Elementen der Spitalhierar- Hochwohlgeboren“ oder „Magnifizenz“ die Nöte seiner Untergebenen erkannt und chie schutzlos ausgeliefert. Wie soll man anzusprechen, verdient also vollkommene, sich der leidenden Unterassistentenschaft sich darauf vorbereiten? Ist man überhaupt selbstlose Verehrung in allen Arbeitssitu- erbarmt. Nur so erklärt sich die selbstlose bereit, Verantwortung zu tragen? Was, ationen. Der Ausführung dieser Ehrerbie- Hingabe, mit der er auch die detailliertes- wenn der vorgesetzte Assistenzarzt niesen tung im Detail ist der grösste Teil dieses te Benimmregel anschaulich erklärt. Ver- muss und man kein mit seinen Initialen epochalen Werkes gewidmet. ständlich und praktisch umsetzbar legt besticktes Taschentuch zur Hand hat? Al- er die durch das starke Hierarchiegefälle les legitime Ängste. Glücklicherweise ver- Das A und O ist dabei zum Beispiel der vorgeschriebenen Verhaltensweisen eines schafft der „UHU-Knigge“, geschrieben korrekt ausgeführte Hundeblick. Anhand guten UHUs gegenüber seinem Assistenz- von Toralf Sperschneider, Abhilfe. Dieser von praktischen Abbildungen kann der arzt dar. Entstanden ist dadurch ein Opus, kompakte Ratgeber, inspiriert durch die noch unerfahrene Leser diesen vor Stellen- dessen Weisheiten ein jeder UHU bis ins Werke des berühmten Freiherrn von Knig- antritt im Spiegel üben. Andere Abbildun- Detail befolgen sollte, will er die Gunst gen illustrieren die richtige Körperhaltung seiner Vorgesetzten für sich gewinnen und bei der Fussreflexzonenmassage (immer so seiner im Dunst der entfernten Zukunft mit dem Lieblingsmassageöl des Assistenz- schwebenden Arztkarriere Auftrieb ver- arztes, versteht sich), sowie die angebrach- leihen. Nicht auszudenken, wie die Unter- te Handkusstechnik (eine angedeutete assistenten der Vergangenheit ohne diese Lippenbewegung über dem Handrücken helfende Hand zurechtkamen, denn das des Assistenzarztes), im Vergleich zu der erfolgreiche Wahlstudienjahr eines jeden daneben abgebildeten falschen Handkuss- Medizinstudenten wäre ohne sie kaum technik (unter Einsatz der Zunge). Ist sich denkbar. Man darf also aufatmen. der UHU nicht sicher, wie viel Freizeit er sich erlauben darf, ist die Antwort natür- Der etwas kritischere Leser wird jedoch lich im Bereich homöopathischer Dosen den Eindruck nicht los, dass der Assistenz- zu finden, wobei es sich empfiehlt, eine arzt Sperschneider selber einer guten Fuss- halbe Stunde vor Arbeitsbeginn zu erschei- reflexzonenmassage nicht abgeneigt wäre. nen, um den Bürostuhl des Assistenzarz- Er scheint doch etwas gar viel Gewicht tes auf 36°C vorzuwärmen. Das Verteilen auf diejenigen Dienste eines UHUs gegen- von Rosenblättern, das Luft-Zufächern über seinem Assistenzarzt zu legen, die mit Palmwedeln, gelegentliche Hofknick- er sich vielleicht selber insgeheim erhofft. se und das stete Mitführen einer Kleider- Die etwas verbissene Anstrengung mit der bürste und eines Mini-Bügeleisens für den Sperschneider versucht, seine Ratschläge ge, hat für (fast) jede Situation im Leben assistenzärztlichen Kittel gehören zu den in Humor zu verpacken erwecken im Le- eines Unterassistenten wertvolle Tipps Grundratschlägen des „UHU-Knigge“. Die ser leichte Zweifel. Ob das wortwörtliche und Tricks auf Lager. Er beginnt mit dem korrekte, gebückte Haltung eines Unter- Befolgen seiner Ratschläge tatsächlich zu Grundgesetz eines jeden UHUs: „Sei artig assistenten, zu befolgende Tischsitten (wie einer hieb- und stichfesten Arztkarriere und tüchtig. Sei ehrfürchtig und unterwür- das ordnungsgemässe Abwischen der as- führt, fragt man sich leise, oder ob man fig. Sei fleissig, aber bleibe dabei immer ein sistenzärztlichen Mundwinkel), die richti- nicht doch dezent hinters Licht geführt Schatten. Sei anspruchslos und verlerne die ge Bekleidung (je nach Situation lediglich wird. Man wagt gar zu vermuten, dass das Kunst der Beschwerde. Sei Schmeichler, ein Lendenschurz), Konversationsregeln Wahlstudienjahr auch ohne dieses Büch- aber verbirg die Schleimspur.“ Er erinnert (Schweigen ist meistens Gold) und viel lein zu bewältigen wäre. Wer weiss. den zukünftigen UnterHUnd (oder V.I.P., mehr werden durch diesen unentbehrli- Very Insufficient Pinscher) daran, dass das chen Ratgeber abgedeckt. Christiana Carson Erklimmen der Leiter bis zu den verschie- DER ZINER 13
Abspringen Illustration von Arcangelo Carta Um im Medizinstudium aufgenom- ausforderung. Eigentlich interessierte er zuvollziehen, weshalb er diesen Weg men zu werden, mussten wir alle den sich mehr für Wirtschaft und Politik als überhaupt eingeschlagen hatte. Eignungstest überwinden. Viele haben für Medizin, weshalb er sich überlegte an Jacquelines Eltern sind als Zahnärzte für diesen Test teure Vorbereitungskur- der HSG zu studieren. Mit dem Medizin- ebenfalls im medizinischen Bereich tä- se belegt, unzählige Stunden mit Üben studium begann er hauptsächlich, weil er tig. Sie versuchten nie, ihre Tochter zum verbracht und sich selbst unter Druck den EMS bestanden hatte. Medizinstudium zu drängen. Dennoch gesetzt, beim Konzentrationstest noch Schon von Anfang an hatte Ruben Zwei- meint Jacqueline, dass es sie unbewusst zehn Sekunden mehr herauszuholen. fel. Ihn störten „das sterile Auswendig- in ihrer Entscheidung beeinflusst hat. Wer einen solchen Aufwand für einen lernen und die intellektuelle Unterfor- Damals überlegte sie sich, Geschichte Studienplatz betreibt, wird davon über- derung“. Als sich im zweiten Jahr keine anstatt Medizin zu studieren. Gegenüber zeugt sein, würde man meinen. Dennoch Verbesserung zeigte, beschloss er, das vielen Fächern, einschliesslich Geschich- gibt es auch für uns neben Phasen, in Studium abzubrechen. Die Entscheidung te, hatte sie jedoch eine negative Einstel- denen wir begeistert sind, auch Phasen, fiel ihm sehr schwer und zog sich deshalb lung entwickelt, weil sie zu Berufen mit während denen uns das Lernen eintönig über ein Jahr hin. Immer wieder ver- nur geringem Verdienst führten. Sie be- erscheint und uns die Motivation fehlt suchte er, sich selbst zu motivieren und lächelte diese Wissenschaften als „Pseu- – fliegen und fallen eben. Doch es gibt ging dazu in Vorlesungen der höheren dowissenschaften“ und wünschte für sich auch Studenten, die grundsätzlich nicht Jahrgänge. Um sich den klinischen Alltag einen bedeutsamen Beruf, der ihr als vom Medizinstudium überzeugt sind, näher zu bringen, besuchte er ein Spital vielversprechende Basis für eine erfolg- die nicht nur fliegen und fallen, sondern und schaute bei Operationen zu. Keines reiche Karriere dienen würde. Medizin ‚abspringen‘. Zwei Studenten, die ihr Stu- von beiden konnte ihn vom weiteren bot sich an, weil sie sich für den mensch- dium an der Universität Zürich abgebro- Weg überzeugen. lichen Körper interessierte und es aus- chen haben, sind Ruben und Jacqueline. Für die meisten seiner Mitmenschen serdem die Studienwahl war, hinter der Beide haben ihre Beweggründe in einem kam Rubens Entscheidung nicht überra- ihre Eltern am meisten standen. schriftlichen Interview geschildert. schend, da er seine kritischen Gedanken Wie Ruben war Jacqueline nie von dieser Rubens Eltern sind beide im Gesund- schon früh geäussert hatte. Nach dem Entscheidung überzeugt. Sie überlegte heitsbereich tätig. Dadurch waren ihm Studienabbruch nahm er sich eine Aus- sich oft, abzubrechen und Geschichte die medizinischen Berufe schon früh zeit von einem Semester. Danach begann zu studieren. Sie zweifelte an Medizin vertraut, als Vorbilder sah er seine El- er am King‘s College London sein Stu- bereits Ende des ersten Semesters. Sie tern jedoch nicht. Die Medizin lockte dium in „European Studies“. Er ist dort spürte immer mehr, dass ihr das Arzt- ihn durch die Sicherheit und das soziale sehr glücklich und denkt nur noch selten sein nicht zusagte – also gerade der Prestige als Arzt. Ausserdem reizte ihn an seine Zeit als Medizinstudent zurück. Beruf, von dem sie sich anfangs so viel der Eignungstest als persönliche Her- Es ist für ihn inzwischen schwierig nach- versprochen hatte. Jacqueline wurde DER ZINER 14
sich der Tatsache bewusst, dass sie lieber Gesprächen, sie zum Weitermachen zu Als sie aber in Berlin ihr Studium in Li- Journalistin werden würde, hätte sie den überreden oder wenigstens noch den teratur und Geschichte beginnen konnte, Mut dazu. Während des Studiums lern- Bachelor abzuschliessen, damit dieser ging es ihr besser. Sie hatte nie auch nur te sie nur widerwillig und besuchte im im Lebenslauf stehe. Diese Diskussionen geringste Zweifel daran, die richtige Ent- ersten Semester die Vorlesungen kaum. waren für Jacqueline sehr ermüdend, scheidung getroffen zu haben. Dadurch musste sie sich in den Lern- doch sie bekräftigten sie in ihrer Ent- Auch wenn Medizinstudenten sich mo- phasen sehr viel Stoff innerhalb kurzer scheidung. Es ging ihr im Leben nicht natelang auf den EMS vorbereiten, sind Zeit einprägen. Später zwang sie sich darum „Punkte für den Lebenslauf zu sie nicht restlos von ihrer Studienwahl dazu, in die Vorlesungen zu gehen, um sammeln“. Prestige und Karriere gehör- überzeugt. Durch Druck seitens der soziale Kontakte zu den Mitstudenten ten nicht mehr zu den Werten, die für Familie oder aus Angst vor schlechten aufzubauen. Am schlimmsten waren für Jacqueline wichtig waren. Später began- Berufsaussichten erscheint vielen die Jacqueline die Praktika. Sie empfand sie nen ihre Eltern, ihre Entscheidung zu ak- Medizin als einfachster Weg, was in als anstrengend, uninteressant, war nie zeptieren, auch wenn sie noch immer ab- Wahrheit aber nicht zwingend den eige- vorbereitet und hatte keine Ahnung vom geneigt waren. Anders als früher konnte nen Interessen entspricht. Einen solchen jeweiligen Thema. Trotzdem gab es auch die Meinung ihrer Eltern Jacqueline in Absprung, wie ihn Ruben und Jacqueline Phasen, in denen sie motiviert war, den ihrem Vorhaben nicht mehr beeinflussen gewagt haben, sollte man deshalb nicht Stoff zu lernen und zu verstehen. Beson- – sie war überzeugt, „endlich den richti- als Scheitern betrachten. Wir alle wagen ders wenn sie sich zu etwas mehr Einsatz gen Weg zu gehen.“ ‚Absprünge‘ auf der Suche nach dem, was zwang, machte ihr das Studium Spass. Nach Abbruch des Medizinstudiums uns wirklich entspricht. Ohne sie wären Solche Zeiten waren jedoch nur von kur- arbeitete Jacqueline in einem Restaurant wir kaum davon überzeugt, uns auf ein zer Dauer. und unternahm später mit ihrem Freund Ziel hinzubewegen. Möglicherweise hilft Die Entscheidung, das Medizinstudium eine Reise. Es war ihre erste Pause seit uns die Offenheit von Jacqueline und Ru- abzubrechen, traf Jacqueline zu Beginn der Schulzeit. Ein Alltag ohne Pflichten ben einen Absprung – auch in anderen des vierten Semesters, als sie einsah, dass und die Unsicherheit, ob sie einen Studi- Lebensbereichen – früher zu wagen. sich ihre Einstellung gegenüber der Me- enplatz in Berlin bekommen würde, wa- dizin und dem Arztberuf nicht ändern ren nicht immer einfach für Jacqueline. Simon Christiaanse würde. Sie erkannte, dass sie Medizin vor allem gewählt hatte, weil sie den Mut Ruben störten das sterile Auswendig- VOM Hörsaal lernen und die intellektuelle IN DIE KlINIK Unterforderung. summer school für Medizinstudierende 11. bis 13. Juli 2018 nicht hatte aufbringen können, ein Fach wie Geschichte oder Literatur in Angriff zu nehmen. Für Jacquelines Entschei- dung hat ihr Freund eine wichtige Rolle Save the date gespielt, mit dem sie oft über ihre Wün- 11.–13. Juli 2018 sche und Ziele sprach. Er bestärkte sie Summer School darin, das zu tun, was sie wirklich wollte Winterthur und darin, dass „Sicherheit und Prestige keine Gründe für ein Studium sein soll- ten“. Er war der einzige in ihrem Umfeld, der sich gegen das Medizinstudium aus- sprach. Anders als bei Ruben waren Jacque- lines Mitmenschen sehr erstaunt, dass Nach aller Theorie die ganze Palette der Medizin sie nach bestandenen EMS und Prüfun- endlich hautnah erleben? ipw und KSW laden gen das Studium abbrechen wollte. Ihre ein zur Summer School. Diese bietet Medizin- Freunde verarbeiteten die Überraschung studierenden spannende Einblicke und prakti- schnell. Jacquelines Eltern reagierten sche Erfahrungen im vielfältigen Klinikalltag ganz anders. Zuerst ignorierten sie ihren unterschiedlicher Disziplinen. Die Summer Beschluss und zogen das Ganze ins Lä- School findet vom 11. bis zum 13. Juli 2018 statt und cherliche, da Jacqueline schon oft davon richtet sich an Medizinstudierende am Ende gesprochen, aber noch nie einen Schritt des zweiten Studienjahres. in diese Richtung gewagt hatte. Sie fühlte Mehr Informationen ab Mitte Mai sich missverstanden und sprach vorerst www.ksw.ch/summerschool nicht mehr mit ihren Eltern darüber. Mit der Zeit merkten ihre Eltern, dass sie es ernst meinte und versuchten in langen
homo politicus Liebe InvestorInnen, Spitalaktie gefällig? Gesundheit ist ein Menschenrecht. Alle Menschen sollen Zugang zu medizinscher Versorgung haben. Jetzt sollen aber immer mehr Spitäler privatisiert werden, weil der finanzielle Druck in den Kantonen steigt. Verkaufen wir unsere Gesundheit und unterwerfen sie dem Aktienmarkt? Vergangenen Mai haben die Stimmberech- tigten des Kantons Zürich über die Um- wandlung des Kantonsspitals Winterthur in eine Aktiengesellschaft abgestimmt. Die Initiative wurde mit knapp 57% der Stimmen abgelehnt, und das Spital gehört weiterhin öffentlich-rechtlich dem Kanton. Der Kanton kann somit auch in Zukunft mitentscheiden und sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu ärztlicher Versor- gung haben. Ausserdem werden Spitäler finanziell unterstützt, damit sie unabhängig handeln können. Die Spitalleitung muss so weniger darauf achten, was finanziell sinn- und reizvoll, sondern vielmehr was für Ge- sundheit, Patienten und Angestellte gut ist. Das Spital kann Entscheidungen – etwa be- züglich Neubauten oder grösseren Anschaf- fungen – in dieser Situation jedoch nicht selbstständig treffen. Der Kanton muss in Entscheidungen miteinbezogen werden. Daraus folgt, dass Prozesse verlangsamt werden und die Spitaldirektion weniger effizient agieren kann. Eine Privatisierung soll Spitäler also entfesseln. Als Aktienge- sellschaft hätten Kliniken mehr Spielraum und könnten im Wettbewerb auf dem im- mer härteren Spitalmarkt besser mithalten. Es geht darum, attraktive Arbeitsplätze zu schaffen, durch den Wettkampf schneller Fortschritte zu erzielen und flink reagieren zu können. Private Spitäler sind unterein- ander im Konkurrenzkampf. Sie wetteifern Eine Institution wird privatisiert und plötz- rurgie bringt Geld – dass eine schmalere um die lich dreht sich alles um den Profit. Folgen- Nase und grössere Brüste keine dringlichen Zufriedenheit der Patienten und um eine des Szenario gleicht einer film medizinischen Fälle sind, wäre dann se- möglichst grosse Reichweite. Sie werden reifen Dystopie: Da die Altersmedizin je kundär. Und Patienten, die sich kein Fünf- Tag für Tag auf die Probe gestellt, um auf nachdem wenig lukrativ ist, bietet Exit eine stern-Spitalzimmer leisten können, aber dem Markt mithalten zu können. Heute Möglichkeit, um den Aufwand in diesem medizinische Versorgung brauchen, stün- stehen Spitäler eher wenig in Konkurrenz Bereich gering zu halten. Dafür werden Pri- den dann hinten an. und Patienten können in das Spital verlegt vatversicherte als Goldesel betrachtet und werden, in dem sie am besten behandelt sollen möglichst lange im Zimmer mit See- Eine Privatisierung der Spitäler kann werden können. blick und Fünfgangmenu logieren; selbst, durchaus Probleme bergen. Eine Aktienge- wenn die medizinische Indikation sellschaft arbeitet nach der Maxime der Ge- Der Verdacht liegt nahe, dass hinter der winnorientiertheit. Eingespart wird beim Privatisierung eines grossen, rentablen dafür gar nicht besteht. Ebenso geschätzt Lohn des Reinigungspersonals. Werden Spitals Privatpersonen mit finanziellen In- wären dann Patienten mit ästhetischen Aktien an Anleger verkauft, so gibt man teressen stecken. Das Schema ist bekannt: Wünschen. Diese Art von plastischer Chi- – notabene medizinische – Entscheidungs- DER ZINER 16
Der Fall Der Kartenleser piepst. Seine Augen sind blutunterlaufen. Ein weite- rer Schluck Kaffee berührt seine Lippen und fliesst wärmend durch seine Kehle. Fast schon mechanisch setzt er einen Fuss vor den an- deren, ohne den Blick vom Boden zu lösen. Er kann sich jetzt keine Pausen erlauben. Nicht in dieser Lernphase. Nicht so kurz vor seiner Prüfung. Das Beatmungsgerät zischt. Ihre Pupillen sind geweitet. Ein weiterer Schweisstropfen löst sich von ihrer Stirn und rinnt ihr schleichend über die Schläfe. Fast schon mechanisch setzt sie den nächsten Schnitt, ohne den Blick vom Skalpell zu lösen. Sie kann sich jetzt keinen Fehler erlauben. Nicht bei dieser Operation. Nicht so kurz vor ihrem Schichtende. Der Wecker klingelt. Seine Augen sind schon geöffnet. Eine weitere fähigkeit aus der Hand. Kennzeichnend Nacht hinterlässt ihn schlaflos und dringt beissend durch seinen Ver- dafür ist das Paradoxon, dass in einem rein stand. Fast schon mechanisch wirft er die Decke zur Seite, ohne den gewinnorientierten Spital leere Betten ein Blick von der Leere zu lösen. Er kann sich jetzt keine Emotionen er- schlechtes Zeichen sind. lauben. Nicht in diesem Leben. Nicht so kurz vor ihrem Tod. Gesundheit ist ein Menschenrecht. Aber Es ist sieben Uhr morgens. Der Winter hat das Land in seine Arme können Spitäler deswegen finanziell kom- geschlossen und die Luft mit angenehmer Leichtigkeit erfüllt. Ein plett zulasten des Staats gehen? Zwar wird zarter Nebel schwebt über den Strassen und lässt die Laternen matt somit das Menschenrecht geschützt. Ohne werden. Der Frost prickelt in den Fingerspitzen und der Atem haucht Profit der Spitäler werden die Staatsgelder gespenstisch dem Himmel entgegen. jedoch ausgelaugt. Mit der steigenden Le- Es ist sieben Uhr morgens. Draussen fällt der erste Schnee. Illustration von Catrina Pedrett benserwartung wird sich dieses Problem Die Augen der Drei sind weit geöffnet, doch sie sehen es nicht. zunehmend verschärfen. Ausserdem senkt die staatliche Subvention den Ansporn für Als Patrick die Bibliothek betritt empfindet er gar nichts. Zu oft hat Exzellenz und Fortschritt. er schon dieses Ritual gelebt und zu oft ist er schon durch diese Tür Die Spitäler brauchen mehr Handlungs- gelaufen. Er ist sich nicht mal mehr sicher, welcher Tag heute ist. spielraum, um sich entwickeln zu können. Aber wen kümmert es denn? Alles was Patrick weiss, ist dass er noch Aus diesem Grund müssen sie aber nicht dreiundachtzig Vorlesungen bearbeiten muss. Dass er noch einein- gleich verkauft werden. In Zürich haben ei- halb Themenblöcke zusammenfassen und drei Karteikartensätze nige Spitäler bereits andere Rechtsformen reinwürgen muss. Er weiss auch, dass er das niemals in der verblei- übernommen und diese funktionieren of- benden Zeit schaffen wird. Keine Chance. fenbar. So sind etwa die Spitäler Männe- Als Patrick um Punkt zwölf Uhr das Neurologie Buch zuklappt und dorf, Wetzikon und Bülach und die Klinik zur Cafeteria aufbricht, sieht er, wie zwei seiner besten Freunde Hirslanden schon heute Aktiengesellschaf- ebenfalls aufstehen. Sie werfen sich schnell den universellen „Pau- ten, die aber in staatlichen Händen sind. se?“ Blick zu und verlassen gemeinsam die Bibliothek. Auch das - ein Es steht die Frage im Raum, ob das eine tägliches Ritual. endgültige Lösung ist oder lediglich ein „Und?“, fragt Patrick trocken. Zwischenschritt, bis sie dann trotzdem ver- „Jojo“, antwortet der Eine, „jojo“, der Andere. kauft werden. In der Cafeteria herrscht wie immer reges Treiben, welches auf den ersten Blick chaotisch erscheint, auf den Fünfzigsten aber ein klares, Menschenrecht und Pragmatismus müs- monotones Muster preisgibt: Die Mikrowellen drehen und piepsen sen in ein funktionelles Gleichgewicht durch die Gegend, eine Schlange von brummenden Zombies bildet kommen. Die Rechtsform eines Spitals soll sich vor den Kaffeeautomaten und an den Tischen wird lauthals dis- nicht einschränkend sein und gleichzei- kutiert. tig soll aus dem Gesundheitssystem keine Die drei nicken kurz ein paar Kommilitonen zu und setzen sich mit Profitmaschinerie entstehen. Vielleicht be- ihrem Mittagessen an einen Tisch. stünde eine Möglichkeit zur Sanierung der Das Essen schmeckt wie immer. Spitäler darin, weniger Ressourcen in die „Hey, fragt ihr euch auch manchmal, ob es das wirklich alles wert Verwaltung zu stecken. Somit kann Geld ist?“, fragt Patrick plötzlich. gespart werden und die Hierarchie würde „Wie meinst du das?“ flacher gehalten werden. Es bleibt zu hof- „Naja, ihr wisst schon… was ist, wenn der Arztberuf am Schluss fen, dass weiterhin die gesamte Bevölke- doch total ätzend ist? Wenn mich die Patienten aufregen und dann rung Zugang zu ärztlicher Versorgung in die ganzen Nachtschichten und Überstunden. Und überhaupt die Spitälern hat, die sich in einem gesunden Verantwortung und all das. Ich weiss nicht…“ Wettkampf untereinander befinden. Für einen kurzen Moment ist es still. Einen ganz kurzen Moment. So kurz, dass man es fast nicht merkt. Aber eben nur fast. Catrina Pedrett „Aaaach was. Das ist doch genau das Geile dran! Die Abwechslung,
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