AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag

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AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
U4/Titel_kulturnews_02_2023.qxp_U4/Titel_kulturnews_12_2022.qxp 18.01.23 13:35 Seite 1

                                                                                         kulturnews Das Magazin für Popkultur 2/2023
                                                                                                                                       2/2023                                            Das Magazin für Popkultur

                                                                                                                                       KINO                           MUSIK                  BUCH

                                                                                                                                                                                              Nicht traurig,

                         AB 26. JANUAR IM KINO
                                                                                                                                        Traurig + komisch                                     aber schaurig
                                                                                                                                        WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER    Traurig + schön        OTTESSA
                                                                                                                                        SO, WIE ES NIE WAR             SYML                   MOSHFEGH
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
U2/U3_kulturnews_02_2023.qxp_U2/U3_kulturnews_12_2022 18.01.23 13:33 Seite 1

                                                                                                                        VON MARTIN MCDONAGH, DR EHBUCHAUTOR UND R EGISSEUR VON
                                                                                                                         THREE BILLBOARDS UND
                                                                                                                                           N BRÜGGE SEHEN... UND STER BEN?
  BALLETTFESTWOCHE                                                             31.3. – 8.4.2023
                                                                                                                                           “Eine Geschic
                                                                                                                                                       chte, die es in sicch hat.”

   31.3. SCHMETTERLING                                                                                            “Besonders originell. gro
                                                                                                                                        g ssartige wiie kluge Komödiee.”
   1.4. EIN SOMMERNACHTSTRAUM                                                                                                                    “Es ist einee Freude zuzuseh
                                                                                                                                                                            hen.”
   2.4. SCHMETTERLING
   3.4. ROMEO UND JULIA
   4.4. PASSAGEN
   5.4. CINDERELLA
   8.4. TSCHAIKOWSKI-OUVERTÜREN

                                                                                                                                                                   © 2022 20TH CENTURY STUDIOS. ALL RIGHTS RESERVED.
                                                                                                                                                                                                                V

   Bayerisches Staatsballett                                                      www.staatsballett.de
                                                                                                                                    A B 5. J A N U A R EXK L U S I V I M K I N O
                                                                                                         1140_13_Banshees_kulturnews_movies_AZ_185x250_02.indd 1                                                       06.12.22 12:23
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 3

                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Inhalt

                                                                                                                                                                          4              Musik
                                                                                                                                                                                                              18            Jazz
                                                                                                                                                                                                                                                 28 Film
                                                                                                                                                                                   38                  Literatur
                                                                                                                                                                                                                                                         44               Krimi

                                                                                                                                                                                              46 Kulturhighlights
    Titelmotiv: FKP Scorpio | Titelfotos: Warner Bros. (Wann wird es endlich wieder so wie es nie war) | Sarah Cass (SYML) | Jake Belcher (Ottessa Moshfegh)

                                                                                                                                                                                            50 Kunst
                                                                                                                                                                                                     52  Bühne

                                                                                                                                                                                                           Wir klären auf
                                                                                                                                                               In diesem Magazin lesen Sie, wie einsam toxische Arbeits-              Fahrt auf und zeigt auf einer 20-seitigen Verfolgungsjagd, warum
                                                                                                                                                               beziehungen machen. Und natürlich auch, was dagegen hilft:             Erfahrung auch in dieser Branche zählt. Das werden wir uns zu
                                                                                                                                                               der Zuspruch von Kolleg:innen und alten Freund:innen;                  gegebener Zeit abgucken, nehmen wir uns hiermit vor!
                                                                                                                                                               der Musiker Rhodes ist damit gut gefahren (Seite 12). Sie lernen       Überhaupt, südkoreanische Ästhetik – auf Seite 28 lesen Sie
                                                                                                                                                               weiterhin, dass es auch für eine Auftragskillerin nicht einfach ist,   Spannendes über die Bildsprache des Krimimelodrams „Die Frau
                                                                                                                                                               ins Rentenalter einzutreten:                                                                                  im Nebel“. Außerdem
                                                                                                                                                               Die Muskeln schmerzen,                                                                                        können Sie sich auf 2023

                                                                                                                                                                                                          Kultur erleben
                                                                                                                                                               und manchmal hat sie                                                                                          auf guten Jazz freuen. Und
                                                                                                                                                               Probleme, mit dem Messer                                                                                      wer den Unterschied zwi-
                                                                                                                                                               zu wirbeln. Zu alt zum                                                                                        schen Natas und Nanas
                                                                                                                                                               Morden? Doch dann
                                                                                                                                                               nimmt der südkoreanische
                                                                                                                                                                                                                                             .de                             (hä?) nicht kennt: Aufklä-
                                                                                                                                                                                                                                                                             rung gibt’s auf Seite 50!
                                                                                                                                                               Krimi „Frau mit Messer“

                                                                                                                                                                                                                                                                                                kulturnews | 3
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                                          Musik

      Alles tanzt: Wenn selbst Beyoncé auf ihrem jüngsten Album     hauptung zugleich. Doch zentral bleibt immer ihre in-
      House feiert, sind die Zeichen der Zeit klar. Auch Kelela     härente Coolness, die Kelela davon abhält, auf allzu
      kehrt jetzt auf den Dancefloor zurück, doch bei ihr ist das   gleißende Instrumentals oder poppige Melodien zu setzen.
      alles andere als ein Zugaufsprung: Schon auf ihrem            Stattdessen gibt es kühle Gesangslinien und subtile
      Debüt-Mixtape von 2013 hat die Künstlerin R’n’B mit           Beatverschiebungen. Mit „Washed away“ und „Far away
      Techno und Grime verbunden. Umso überraschender ist           (Washed away reprised)“ wird das Album gar von zwei
      es, wenn Kelela heute angibt, sich als schwarze Femme in      Tracks gerahmt, die auf einem Ambient-Album nicht fehl
                                                                                                                                 Foto: Justin French

      der Szene immer als Außenseiterin gefühlt zu haben. Ihr       am Platz wären. So klingt nur eine Künstlerin, für die die
      zweites Album „Raven“ ist eine Auseinandersetzung mit         Tanzfläche so alltäglich ist, dass sie sie manchmal gar
      diesem Thema – Feier, Freiheitskampf und Selbstbe-            nicht mehr sieht. mj

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       Foto: Ben Jakon                                                                                                                                                                                                      Szene

                                                                                                                                                                            „Unendlich viele Gender/
                                    Im Bentley übern Deich                                                                                                                   viele Wege führen ins Ich/

                                                                                                                                                   Foto: Chantal Pahlsson
                               Sie sind der Entsafter unserer Wohlstandsgesellschaft: Seit über 20 Jahren
                                                                                                                                                                             Diversity is Reality und
                               pressen Deichkind ein feistes Konzentrat aus unseren saturierten
                               Alltagsphrasen. Auf ihrem neuen Album „Neues vom Dauerzustand“
                                                                                                                                                                             Selbstbestimmung der Weg“
                                                                                                                                                                              aus: „Das Universum ist nicht binär“
                               trifft grüngewaschener Hyperkapitalismus auf naturalistische Idiotie
                               und deutsche Strickjackenmentalität auf Optimierungsfantasien. Und
                               zwischendrin wird natürlich ordentlich gesoffen, gefeiert und ab-                                                                            Sängerin* Saskia Lavaux weiß, dass eine selbstbestimmte,
                               gestürzt. Doch das jetzt als brillantes Abbild gegenwärtiger                                                                                 postbinäre Zukunft nicht nur bestehende patriarchale Struk-
                               Ambivalenzen zu feiern, würden Kryptik Joe, Porky und La Perla mit                                                                           turen bekämpfen muss, sondern sich auch Bürokratie sowie
                               Sicherheit als bürgerliche Selbstvergewisserung zurückweisen. fe                                                                             Kapital- und Eigentumsverhältnisse grundlegend verändern
                                                                                                                                                                            müssen. Mit „Das Universum ist nicht binär“ komplettiert
                                                                                                                                                                            die niedersächsische Punkband Schrottgrenze ihre queere
                                                                                                                                                                            Albumtrilogie – und wird dabei deutlicher als je zuvor.
                                                                                                            Foto: Matthias Reinhardt
          Foto: Zachary Gray

                               Verdammt gute Gründe                                                                                            Hast du mal Feuer?
                               Nach sechs langen Jahren erscheint am 10. 2. endlich ein                                                Bereits ihr Debütalbum „Blüte“ war ein Fest des doppelbödigen
                               neues Album von Paramore. Das jahrelange Zus-                                                           Songwritings – nun schießt die Hamburger Indierockband Fluppe
                               ammenspiel der Band um Sängerin Hayley Williams macht                                                   gleich das nächste assoziative Sprachfeuerwerk hinterher. Sänger
                               sich auf „This is why“ in punktgenauen musikalischen                                                    Josef Endicott zoomt mit seinen Texten mal bis ins All hinaus und
                               Akzenten bemerkbar: Besonders viel Freude bereitet das                                                  begutachtet den alltäglichen, irdischen Wahnsinn, um dann wieder
                               US-amerikanische Trio aus Franklin, Tennessee mit                                                       ganz intim zu werden: „Bin fortgerannt/ein Leben lang/und das
                               „Running out of Time“ und „This is why“. Verletzliche                                                   davor/mein letzter Schuss bleibt das Eigentor“ („Zerstreut“). Vor-
                               Songs wie das sehnsüchtig-lebenslustige „Crave“ oder das                                                wiegend hüllt sich die Band jedoch im Nebel der Uneindeutigkeit
                               nachdenkliche „Thick Skull“ runden die Platte ab. Fehlt                                                 und malt düstere Bilder von stürmischen Schiffsfahrten („Nacht“),
                               eigentlich nur noch, dass endlich auch Shows angekündigt                                                Kanalisationskreaturen („Monster“) und der Hölle („Paradies“).
                               werden. Während Paramore in anderen Teilen der Welt ein                                                 Passenderweise wird hierzu Wolfgang Petrys „Wahnsinn“ zitiert –
                               Konzert nach dem anderen planen, stehen Termine bei uns                                                 da bleibt einem nicht mehr viel übrig, außer am Inferno erst eine
                               in Deutschland noch aus. jm                                                                             Fluppe und dann die Welt anzuzünden. fe

                                                                                                                                                                                                                         kulturnews | 5
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
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      Musik

     Die Drei vom
     Tempelhof                                                                           Während andere Festivals ein Riesenrad,
                                                                                         100 Artists und Wellness-Camping brauchen,
                                                                                         reicht dem Tempelhof Sounds ein
                                                                                         ausgewähltes Dreierteam.

                                                                                         ›     Wenn in Berlin die seismologischen Stationen einen überdurch-
                                                                                               schnittlichen Ausschlag melden, bedeutet das entweder, dass
                                                                                         ein riesiges Aquarium in Berlin-Mitte geplatzt ist oder dass auf dem
                                                                                         Tempelhofer Feld gerade knapp 35 000 Indierockfans völlig durch-
                                                                                         drehen. Tatsächlich soll das Tempelhof Sounds letztes Jahr kurzzeitig
                                                                                         ein leichtes Erdbeben im Süden von Berlin ausgelöst haben, dass
                                                                                         nahegelegene Häuser ins Schwanken gebracht hat. Ob dieses Jahr
                                                                                         erneut ein Beben durch Berlin gehen wird, bleibt abzuwarten, doch
                                                                                         eines steht bereits fest: Der Herd der Erschütterung wird ganz sicher
                                                                                         nicht das Tempelhofer Feld sein …

                                                                                         Vom Feld auf die Waldbühne
                                                                                         Obwohl die Premiere des Tempelhof Sounds 2022 als voller Erfolg
                                                                                         gefeiert wurde und als Gegenentwurf zum durchgestylten
                                                                                         Lollapalooza fantastisch funktioniert hat, muss das Festival dieses
                                                                                         Jahr einen Schritt kürzertreten: Vom 300 Hektar riesigen Flugfeld
                                                                                         geht’s in die nicht minder eindrucksvolle Berliner Waldbühne.
                                                                                         Das Programm wird ein wenig komprimiert, aus 48 werden
                                                                                         drei Acts, und aus einem ganzen Wochenende wird ein ganz beson-
                                                                                         derer Abend.

                                                                                         Der Grund dafür ist dringend wie ehrbar: Seit Kriegsbeginn in der
                                                                                         Ukraine sind auf dem Tempelhofer Feld Notunterkünfte für
            Fever Ray                                                                    Geflüchtete entstanden, die nun aufgrund der anhaltenden
                                                                                         Kriegssituation ausgebaut werden sollen. Somit kann das Festival
                                                                                         keine Lärmschutzverordnungen mehr einhalten. In einem Statement
                                                                                         heißt es dazu: „Davon abgesehen halten wir es auch menschlich für
                                                                                         geboten, in dieser besonderen Ausnahmesituation Rücksicht walten
                                                                                         zu lassen, um sicherzustellen, dass Menschen, die Zuflucht brau-
                                                                                         chen, unter keinen Umständen beeinträchtigt werden.“

                                                                                         Dreigangmenü statt All you can eat
                                                                                         Während das Tempelhof Sounds letztes Jahr mit den drei Headlinern
                                                                                         Muse, The Strokes und Florence + The Machine noch auf Nummer
                                                                  Foto: Nina Andersson

                                                                                         sicher gegangen ist, überraschen die drei diesjährigen Acts. Mit Bon
                                                                                         Iver, Fever Ray und Holly Humberstone fährt das Festival einen
                                                                                         frischen Soundmix auf, der zum Abfeiern, aber eben auch zum
                                                                                         Wegträumen einlädt.

      6 | kulturnews
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 7

                                                                                                                                                 Musik

                           Justin Vernon, das Mastermind hinter Bon Iver, hat mit den
                           letzten beiden Alben „22, a Million“ und „i,i“ seinen Indiefolk
                           auf ein neues Level gehoben: zerstückelte Akkorde, mehrdeuti-
                           ge Klänge, übersteuertes Falsetto-Autotune, und das alles                                                Bon Iver
                           gepaart mit herrlicher Poesie. Äußerlich würde man den verzot-
                           telt-grummeligen Vernon wohl eher im Biomarkt als auf den
                           großen Festivalbühnen vermuten. Doch wer schon mal eine der
                           intensiven Bon-Iver-Shows gesehen hat, weiß: Da gehört der
                           sympathische Soundästhet definitiv hin.
                           Ganz anders hingegen Fever Ray: Extravagant wäre als Be-
                           zeichnung für die schwedische Artpopkünstlerin noch weit
                           untertrieben. Ihre Shows sind avantgardistische Live-
                           performances, bei denen sich die 47-jährige Karin Dreijer als
                           mystisches Wesen inszeniert. Mal mit kreischender Stimme
                           und düsteren Wave-Bässen, dann wieder mit gradlinigen 80er-
                           Popnummern. Entstanden ist Fever Ray als eine künstlerische
                           Auseinandersetzung mit ihrer Mutterschaft: feministisch, ehr-
                           lich, abgründig. Mit „Radical Romantics“ erscheint dieses Jahr
                           das erste neue Album seit fünf Jahren – das Timing könnte
                           kaum besser sein.
                           Als Gegengewicht könnte Holly Humberstone verstanden
                           werden – zumindest ihr Sound. Die britische Singer/Song-
                           writerin ist während der Pandemie zum absoluten Shootingstar
                           avanciert: Ihre Debüt-EP „Falling asleep at the Wheel“ schreibt
                           sie in ihrem Elternhaus, einer heruntergekommenen Dienstboten-
                           villa. Der morbide, gruselige Ort wird zur perfekten
                           Inspirationsquelle für ihre entwaffnenden Coming-of-Age-
                                                                                              Foto: Graham Tolbert & Eric Carlson

                           Erzählungen, die auf ihrem aktuellen Album „Can you afford to
                           lose me?“ in wunderschönem Pop aufgehen.
                                                                           Felix Eisenreich

                           TEMPELHOF SOUNDS PRESENTS 2. Juni 2023
                           Berliner Waldbühne | Tickets ab 75 Euro zzgl. Gebühren

                                                                     Holly
                                                               Humberstone
       Foto: FKP Scorpio

                                                                                                                                               kulturnews | 7
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
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      Musik

     Süchtig nach Neuem

                                                                                                                                                              Foto: Stephen Roe
                                  Das schottische Trio Young Fathers will immer überraschen.
                                                   Wird das nicht irgendwann langweilig?

      Alloysious, Graham, Kayus, euer neues Album heißt „Heavy heavy“,           Jemand anderes hat geantwortet, dass ihr in Wahrheit eine „Man-
      aber gerade die ersten paar Songs sind ziemlich euphorisch. Oder band“ seid. Was haltet ihr heute von dem Label „Boyband“, das ihr
      habe ich mich da verhört?x                                                 anfangs selbst genutzt habt?
      Graham Hastings: Ich glaube, es ging uns vor allem um die Dichte. Beim Hastings: Wenn du dir die klassischen Boybands anschaust, die Monkees
      Aufnehmen hatten wir den Ansatz, nichts wegzunehmen oder zu ver-           oder so, war immer einer dabei, der „richtige“ Musik machen wollte. So
      schlanken, im Gegenteil. Stattdessen wollten wir immer noch mehr über-     ähnlich war das am Anfang bei uns, nur, dass wir nicht berühmt waren.
      einanderhäufen, eine Umgebung schaffen, in der alles möglich ist. Das      Wir machen ja gemeinsam Musik, seit wir 14 sind. Anfangs hätten wir
      hat geklappt, und trotzdem ist die Platte durchgängig intensiv.            leicht zu einer Boyband werden können, die einen Hit hat und dann wieder
      Alloysious Massaquoi: Der Titel ist auch verspielt gemeint. Wenn du nur    in der Versenkung verschwindet. Zum Glück ist es nie dazu gekommen.
      einmal „heavy“ sagst, klingt das ganz anders. In der Doppelung des         Bankole: Das Wort hat gewisse Konnotationen, aber die Beatles waren ja
      Titels steckt der Prozess drin, die Freiheit, die wir uns                                      auch eine Boyband. Für uns hat es vor allem damit
      gegönnt haben.                                                                                 zu tun, dass wir Popmusik mögen. (lacht) Wir haben
      Ihr habt mal gesagt, dass jedes Album besser sein                                              weder bei den Rappern reingepasst, noch waren wir
      muss als der Vorgänger. Ist „Heavy heavy“ also noch                                            die klassische Band mit Gitarren. Deshalb hat der
      besser als „Cocoa Sugar“?                                                                      Begriff gut gepasst, aber wie alle Genrebezeichnungen
      Hastings: Besser bedeutet für uns, dass wir uns selbst                                         ist er auch irgendwie bedeutungslos.
      überraschen konnten. Ich hoffe immer, dass die ande-                                           Mittlerweile wissen die Leute aber, woran sie bei
      ren etwas beisteuern, das ich selbst mir nicht einmal                                          euch sind, oder?
      vorstellen konnte. Das verhindert auch, dass unsere                                            Massaquoi: Klar. Hätten Arctic Monkeys einen Song
      Egos zu groß werden. Der Song steht über allem.                                                wie „I saw“ veröffentlicht, würde er in der Presse als
      Kayus Bankole: Ich habe erkannt, dass ich absolut                                              Klassiker gefeiert werden. Aber weil er von uns ist,
      süchtig nach Neuem bin. Nach dem Gefühl: Hier ist                                              war keiner überrascht. Die Leute erwarten mittlerweile
      etwas, das ich noch die gehört habe.                                                           das Unerwartete von uns.
      In einem YouTube-Kommentar hat euch jemand                         Heavy heavy
      kürzlich als „beste Boyband der Welt“ bezeichnet.             erscheint am 3. Februar                                      Interview: Matthias Jordan

      8 | kulturnews
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
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         Ey Mann,
         wo is’ dein Auto?
         Auch Gorillaz-Chef Damon Albarn kann
         seinen Horizont mit Mitte 50 noch erweitern –
         natürlich in L.A.

                                                                                                                                                                      Foto: Warner Music
         ›    Traditionell hat der musikalische Kopf der virtuellen Hipsterband
              Gorillaz dem kalifornischen Metropolenmoloch Los Angeles nie
         etwas abgewinnen können. Klar, aus beruflichen Gründen musste
         Damon Albarn immer mal wieder hin, der Widerwille war jedoch stets             Boheme-Viertel Silverlake. „Dort gibt es coole Restaurants, coole Läden
         beträchtlich. „Ich habe die Stadt immer sehr herzlich gehasst, aber da         und Leute. Es ist eine vollkommen neue Welt für mich gewesen.“
         war ich zuvorderst selbst dran schuld“, sagt er. Albarn, der im März auch
         schon 55 wird und seit drei Jahrzehnten seine kreativen Säfte in alle          Die beiden Profis haben effektiv und flott gearbeitet. Albarn ist mit einer
         möglichen Bands und Projekte wie natürlich Blur, The Good, The Bad &           großen Palette an für Gorillaz-Verhältnisse vorwiegend verträumten,
         The Queen und immer wieder auch Soloalben strömen lässt, hat sich              melodischen und ein bisschen wehmütigen Liedern ins Studio – offenbar
         nämlich immer rund um den Sunset Boulevard in West Hollywood ein-              wirkt sein minimalistisches Soloalbum „The nearer the Fountain more
         quartiert – einer Touristengegend, die ihre beste, weil zügelloseste Zeit in   pure the Stream flows“ hier noch nach. Und eine handvoll Knallergäste
         den 70ern und 80ern gehabt hat. „Autofahren konnte ich nicht, also             wie Bassist Thundercat, Beck, Fleetwood-Mac-Ikone Stevie Nicks und
         habe ich da rumgehockt und alles sterbenslangweilig gefunden.“                 Latin-Topstar Bad Bunny waren auch schnell am Start. So markiert das
                                                                                        melodische und stimmungsvolle Werk einen starken Auftakt zu einem
         Nun jedoch ist die Liebe des Engländers, der seit 2020 ebenfalls die           echten Albarn-Festspieljahr, in dessen Verlauf er mit Blur im Londoner
         Staatsbürgerschaft seiner Herzensheimat Island besitzt, zu L.A .so heftig      Wembley-Stadion und mit den Gorillaz beim Coachella-Festival auf-
         und unerwartbar erblüht wie eine Teenagerromanze. Ende 2021 war er             trumpfen wird. „Und ich habe es sogar geschafft, in Los Angeles endlich
         gleich für mehrere Monate dort, um an einem Animationsprojekt rund             meinen Führerschein zu machen“, sagt Damon lächelnd. Schließlich gibt
         um die Gorillaz für Netflix zu arbeiten, das nach Lage der Dinge momentan      es nicht nur in L.A. noch so einige Ecken zu entdecken.
         allerdings zu versanden droht. Doch um die Zeit optimal zu nutzen, hat                                                                      Steffen Rüth
         er sich zwei Wochen lang fast täglich mit dem Superproduzenten Greg
         Kurstin (Adele, Foo Fighters) getroffen – in dessen Studio im lässigen         Cracker Island erscheint am 24. Februar.

                                                                                                                                                    kulturnews | 9

      27.04.23 Kiel
     WUNDERINO Arena

     28.04.23 Rostock
        stadthalle

    29.04.23 Nürnberg
    arena nürnberger
       versicherung

    05.05.23 Mannheim
        sap arena                                                                                                    TICKETS AN ALLEN BEKANNTEN
                                                                                                                             VORVERKAUFSSTELLEN,
   06.05.23 Baden-Baden
       Festspielhaus                                                                                                  LIMITIERT AB €49 ERHÄLTLICH.
AB 26. JANUAR IM KINO - bunkverlag
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 10

      Musik

          Dialoge im
          Dunkeln

                                                                                                                                                                   Foto: Jesse Morrow
      Brian Fennell alias SYML zieht Bilanz – doch vor allem ist es ein Check
      für seine Hörer:innen: Wer bei den Songs von „The Day my Father died“
      nicht ergriffen ist, hat kein funktionierendes Herz.

     ›      Sein verstorbener Vater, so erzählt Brian Fennell, sei ein guter Vater
            gewesen – selbst wenn er immer ausgesprochen hohe Erwartungen
      an seinen Sohn gehabt habe. „Er hat als Manager bei Boeing gearbeitet,
                                                                                     gewesen sind, als er schon krank war und wusste, dass er nicht mehr
                                                                                     lange leben würde. Er hat mir damals gesagt, wie lebendig er sich fühle
                                                                                     und wie wunderbar dieses Leben doch sei. Das hat mich tief bewegt.“
      und es ist ihm schwergefallen, dieses Führungskraftbenehmen bei uns
      zu Hause abzulegen. Er hat gern die Ansagen gemacht. Richtige Freunde          Brian Fennell ist jetzt gerade 40 geworden. Ungefähr Halbzeit, in jedem
      sind wir erst geworden, als ich erwachsen gewesen                                                 Fall ein guter Moment für eine Bestandsaufnahme.
      und selbst Vater geworden bin.“ Brian hat mittlerweile                                            Der Mann, dessen biologische Eltern aus Wales stam-
      drei Kinder im Alter von acht, sechs und einem Jahr,                                              men – SYML ist walisisch für „simpel“ – und der bei sei-
      und sein Vater ist vor einigen Jahren an Krebs gestor-                                            nen Adoptiveltern in Seattle aufgewachsen ist, hat eine
      ben. Das neue Album „The Day my Father died“ ist                                                  herrliche Falsettstimme. Man hört ihm beim Singen
      ihm gewidmet, wie zuvor auch schon die EP „DIM“                                                   wirklich sehr gerne zu, und seine behutsam elektrifi-
      aus dem Jahr 2021. „Während die Songs damals ein-                                                 zierten, hier und da aber auch akustisch im Stil von
      fach nur meine Trauer zum Ausdruck gebracht haben,                                                Simon & Garfunkel gehaltenen Songs sind ausnahms-
      entdecke ich auf dem neuen Album neben dem                                                        los geschmackvoll. SYML hat ein tolles Händchen für
      Vermissen auch mehr und mehr dieses schöne Gefühl                                                 gefühlvolle, dem Leben und Feinheiten wie der Liebe
      der Dankbarkeit und der Freude darüber, meinen                                                    zugeneigte Songs: „Howling“ und „Marion“ sind etwa
      Vater gekannt zu haben.“ Zumal er sich mit zuneh-                                                 unverstellte Huldigungen an den Zauber von Frau
      mendem Alter emotional immer stärker geöffnet habe.              The Day my Father died           Fennell. Pop für Stadien ist das alles eher nicht, laut
      „Ich erinnere mich, wie wir einmal am Strand laufen               ist gerade erschienen           und lärmend schon gar nicht. „Grunge habe ich nie

      10 | kulturnews
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                                                                                                  Musik      Z | A R T AG E N C Y I N A S S O C I A
                                                                                                                                                  AT
                                                                                                                                                   T I O N W I T H M OT H E R A R T I S T S PR ES E N T S

         TOUR
         10.3. Köln | 15.3. München | 19.3. Berlin | 20.3. Hamburg

                                                                                                             02 .0 3. 23         MUFFA
                                                                                                                                     AT
                                                                                                                                      T HALLE                                     MÜ
                                                                                                                                                                                   ÜNC HE N
                                                                                                             0 3.0 3. 23         E -WE RK                                         KÖ LN
                                                                                                             0 4 .0 3. 23        VE RTI M USIC HALL                               BE RLI N

                        „Touch me like a lover
                         Speak to me like a friend
                         Teach me how my father
                         taught me how to live again
                         Hold me like no other
                         Embrace my brokenness                                                                    14.03.23
                                                                                                                  15.03.23
                                                                                                                                            Leipzig
                                                                                                                                            Hamburg
                                                                                                                                                                      Täubchenthaal
                                                                                                                                                                      Tä
                                                                                                                                                                      Uebel & Gefäährlich
                                                                                                                  16.03.23                  Köln                      Die Kantine
                         Don’t preach to me,                                                                      05.04.23
                                                                                                                  06.04.23
                                                                                                                                            München
                                                                                                                                            Berlin
                                                                                                                                                                      Teechnikum
                                                                                                                                                                      T
                                                                                                                                                                      Huxley's Neue
                                                                                                                                                                                  u We
                                                                                                                                                                                    Welt

                         a believer in a choir
                         You’re that hallelujah
                         sweetness on my lips“                                  aus: „Believer“

                                                                                                                                                                           18 .0 4.2
                                                                                                                                                                                   2 02 3
                                                                                                                                                                     Sil e nt Gre en Kup p ehalle

                                                                                                                                                                       B erliin
                                                                                                                      
                                                                                                                            BERLIN
                                                                                                                                                                           19.0 4.2
                                                                                                                                                                                  2 02 3
                                                                                                                                                                             Kulturk irche
         gemocht, auch wenn ich der Stimme von Kurt Cobain durchaus verfallen bin“, grenzt er sich von
                                                                                                                                                                              Cologne
         den musikalischen Helden seiner Heimatstadt ab. Doch wer – am besten mit Kopfhörern und im
         Dunkeln – ein traurig-wonniges Kindheitserinnerungslied wie „Corduroy“ hört und nicht ergriffen
         ist, der hat kein vernünftig funktionierendes Herz. „Ich war ein sanfter Junge, der am liebsten
         Cordhosen getragen hat“, sagt Fennell und lächelt.

         SYML, der schon früh Klavier gespielt, mit 18 das Songschreiben begonnen und als Sänger der
                                                                                                                  14.04.23                18.04.23
         Indieband Barcelona über viele Jahre immer kurz vorm Durchbruch gestanden hat, ist vor allem            SÄÄLCHEN                  YUCA
                                                                                                                   BERLIN                   KÖLN
         über die Kirche zur Musik gekommen. Als Teenager ist er dem Glauben sehr verbunden gewesen,
         hat regelmäßig in Gottesdiensten gespielt und die Geborgenheit in seiner Gemeinde geschätzt.
         „Irgendwann habe ich aber die manipulativen Elemente in dieser märchenerzählenden, latent
         radikalen Vereinigung namens Christentum durchblickt“, erklärt er seine spätere Abkehr. Der Song
         „Tragic Magic“ greift nun noch einmal die innere Zerrissenheit als verzweifelter Gläubiger auf.
         Ob er die hohen Erwartungen seines Vaters erfüllt hat? Brian Fennell überlegt kurz, dann lächelt
         er und bejaht. „Er hat noch miterleben können, wie ich ein paar großartige Dinge in meiner
         Karriere erreicht habe, in die Charts gekommen bin und Songs in Filmen und TV-Serien platzie-
         ren konnte. Aber viel mehr noch hat ihm es bedeutet, als er gesehen hat, wie glücklich unsere
         Kinder, meine Frau Marion und ich zusammen sind.“
                                                                                             Steffen Rüth
                                                                                                                             Tickets, Termine und Informationen: zart-agency.com

                                                                                           kulturnews | 11
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 12

      Musik

                                                                                                                                   CHECK-BRIEF RHODES

                                                                                                                                        Name David Rhodes
                                                                                                                                                     Alter 35
                                                                                                                        Geburtsort Baldock, Hertfordshire
                                                                                                                                            Wohnort London
                                                                                                                                     Debüt „Wishes“ (2015)
                                                                                                                                  Kollaborationen Der Song
                                                                                                                           „Let it all go“ mit Birdy ist seine
                                                                                                                                bisher erfolgreichste Single.

           Wer
                                                                                                                          Außerdem hat er mit Felix Jaehn
                                                                                                                                  („Your Soul (Holding on)“,
                                                                                                                                     Kygo („Not alone“) und
                                                                                                                        Alle Farben („H.O.L.Y.“) gearbeitet.
                                                                                                                                       Tour 19. 2. Hamburg

           solche                                                                                                                 20. 2. Berlin, 22. 2. Köln
                                                                                                                                            23. 2. München

           Freunde
           hat …

                                                                                                                                                                   Foto: Charlie Moore
      Der britische Singer/Songwriter Rhodes hat jahrelang auf die falschen Ratgeber gehört.
      Jetzt folgt er lieber dem Herzen eines Golfers.

      David, seit deinem sehr erfolgreichen Debütalbum sind mehr als                gelungen, deinen eigenen Entscheidungen zu vertrauen und einen
      sieben Jahre vergangen. Betrachtest du „Friends like these“ als einen Neuanfang mit einem Indielabel zu wagen?
      Neuanfang?                                                                    Rhodes: Ich habe viel zu lang an toxischen Arbeitsbeziehungen fest-
      David Rhodes: Das neue Album dokumentiert meinen Kampf, mir das zu            gehalten und mich dabei immer einsamer gefühlt. Auch das alte Label
      erhalten, warum ich ursprünglich mit dem Musikmachen begonnen hat ja gar nicht meine Songs angezweifelt. Es ging immer nur um die Art
      habe. Wenn du bei einem Majorlabel unter Vertrag bist, passiert es sehr der Präsentation – und trotzdem sind dabei meine Selbstzweifel immer
      schnell, dass du auf deine Anfänge zurückblickst und feststellen musst,       größer geworden. Letztlich ist es der Zuspruch von Musiker-Kolleg:innen
      dass sich einiges verändert hat und du dabei sehr viel verloren hast.         und meinen alten Freund:innen gewesen, der mich gerettet hat.
      Du hast bei deiner alten Plattenfirma zwei potenzielle Nachfolger für Deswegen auch der Albumtitel …
      das Debüt „Wishes“ abgeliefert – und sie wurden beide aus kommer-             Rhodes: Es ist eine positive Umkehrung von diesem Spruch: Wer solche
      ziellen Gründen abgelehnt.                                                    Freunde hat, braucht keine Feinde. Der Titelsong ist in New York entstanden,
      Rhodes: Mein A&R-Manager war vor allem in der Dancemusik verwurzelt, nachdem mich ein betrunkener Freund aus London mitten in der Nacht
      und er wollte, dass ich immer weiter in eine elektronische Richtung gehe.     angerufen und stundenlang zugequatscht hat. Ich war noch völlig erledigt
      Ich experimentiere gern und werde auch weiterhin                                                vom Flug und natürlich schwer genervt – doch als ich
      Kollaborationen machen, aber was meine eigenen                                                  mich am nächsten Morgen ans Klavier gesetzt habe,
      Songs angeht, definiere ich mich als Singer/Songwriter,                                         waren da diese Wärme und die Erkenntnis, wie wichtig
      der vor allem Balladen schreibt. Ich will meine Musik                                           solche Beziehungen sind.
      roh, mit meinem Gesang im Zentrum.                                                              Hast du Ratgeber, die rein gar nichts mit Musik zu
      Auf „Friends like these“ sind jetzt aber auch einige                                            tun haben?
      dieser älteren Stücke, die sehr aufwändig produziert                                            Rhodes: Mein bester Freund ist zwar total musikbegei-
      sind.                                                                                           stert, aber er lebt in Norwegen und arbeitet dort für
      Rhodes: Das sind Songs, die mir sehr am Herzen liegen                                           mehrere Golfclubs. Warum mir seine Meinung so
      und die ich auch unbedingt veröffentlichen wollte.                                              wichtig ist? Ich analysiere jeden Song, und ich würde
      Insofern steht dieses Album für das Ende einer Ära –                                            alles dafür geben, wenn ich Musik so wie er nur mit
      und zugleich ist es auch eine Wiedergeburt.                                                     dem Herzen hören könnte.
      In den Texten thematisierst du auch Depression und                 Friends like these
      Alkoholmissbrauch. Wodurch ist es dir schließlich                ist gerade erschienen                                       Interview: Carsten Schrader

      12 | kulturnews

                                                                                                                                                                                         fck2
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      Musik

                                                                                                               CHECK-BRIEF THE GOLDEN DREGS

                                                                                                                             Wer? Benjamin Woods
                                                                                                                            Woher? Truro, Cornwall
                                                                                                                                Wie viele Alben? 3
                                                                                                                 Wer noch? 5 weitere Bandmitglieder
                                                                                                                    Was hören? „American Airlines“,
                                                                                                                                       „Josephine“

         Das Leben ist eine Baustelle

                                                                                                                                                            Foto: Charlie Fairbain
                  Wie Benjamin Woods alias The Golden Dregs auf seine realistischen Texte kommt

      Benjamin, „On Grace and Dignity“ bietet ein Panorama deiner Heimat extrem beliebtes Ziel für Tourist:innen, viele haben dort einen Zweitwohn-
      Cornwall. War es für dich auch eine persönliche Rückkehr an den Ort sitz. Aber die Leute, die dort geboren sind, können sich kein Haus leisten,
      deiner Kindheit?                                                           können nicht mal mieten, weil alle Wohnungen Airbnbs sind. Deshalb
      Benjamin Woods: Ich habe schon vor meiner Rückkehr nach Cornwall           werden mehr Sozialwohnungen gebaut – aber die Qualität ist scheiße.
      an mehreren Songs gearbeitet, obwohl es vor allem instrumentelle Stücke Hast du Erfahrungen auf dem Bau?
      ohne Konzept waren. Texte hatte ich schon länger kaum mehr geschrieben,    Woods: (lacht) Ich habe es schon oft gemacht, aber ich bin eine
      ich hatte eine Blockade. Dann bin ich zurück zu meinen Eltern gezogen, Katastrophe. Obwohl mir diese Art von Arbeit eigentlich Spaß macht, bin
      weil ich wegen Covid meinen Job in London verloren hatte und alles ich nicht dafür gemacht. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es mit The
      irgendwie gerade traurig fand. Während ich wieder in Cornwall war, habe    Golden Dregs gerade gut läuft. Trotzdem habe ich auch furchtbare Angst
      ich auf einer Baustelle gearbeitet. Das hat mir die Motivation gegeben,    davor zu schreiben, weil ich schreiben muss. Es gibt viele großartige
      zu schreiben, hat aber auch das beeinflusst, was ich geschrieben habe:     Bands, die mit interessanten Alben anfangen, aber plötzlich nichts mehr
      Plötzlich waren Texte da.                                                                    zu sagen haben. Daran merkst du, dass ihre Karriere
      Eine Baustelle ist ja eigentlich kein klassischer                                            anzieht. Die schreiben dann einen Song darüber, wie
      Arbeitsplatz für einen Singer/Songwriter.                                                    es ist, im Tourbus zu sitzen. Wer soll sich denn davon
      Woods: Musik ist eine Echokammer, du hängst vor                                              angesprochen fühlen?
      allem mit anderen Musiker:innen rum – was toll ist,                                          Du bist kein Fan vom Tourbus?
      aber es ist gut, auch andere Erfahrungen zu machen.                                          Woods: Doch, ich bin gerade das erste Mal im Tourbus
      In London habe ich mehr im Service gearbeitet, in Bars                                       unterwegs, und ich liebe es. Du kannst direkt nach der
      und so, da gibt es weniger zu erleben. Ich schätze,                                          Show ins Bett gehen und bist nach dem Aufwachen
      wenn du in der richtigen Bar arbeitest, kannst du über                                       bereit für den Tag.
      die interessanten Leute dort schreiben. Aber ich war                                         Wie viele Tage seid ihr denn schon unterwegs?
      nie in so einer Bar angestellt. (lacht)                                                      Woods: Heute ist erst der dritte. Kann also sein, dass
      Was hat dich an der Baustelle so inspiriert?                                                 ich es am Ende der Tour hassen werde. (lacht)
      Woods: Sie hat mir eine verstörende Seite an Groß-             On Grace and Dignity
      britannien gezeigt. Insbesondere Cornwall: Es ist ein        erscheint am 10. Februar                                    Interview: Matthias Jordan

      14 | kulturnews
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 15

                                                                                               Musik

                                                                                                                                         DERMOT KENNEDY
                                                                                                                   DERMOT KENNEDY
                               Foto: Assunta Opahle

                                               Die Zeit rieselt
           Der Progressive Rock von Franz Mang alias Robespierre hat
            traditionell mehr Fans im Ausland als zu Hause – doch ein
                         schlagkräftiges Team könnte das ändern.

         Franz, Florian, viele Tracks auf „Sandclocks    musikalisch nieder: Man kann sich dann auch
         of Eternity“ beruhen auf deutschen und eng-     mehr trauen, was Taktarten oder Akkorde
         lischen Sagen. Was fasziniert euch an diesen    angeht. Franz hat die Demos aufgenommen,
         alten Geschichten?                              aber er ist so frei, dass er auch eine zweite
         Franz Mang: Früher haben wir Alben gemacht,     oder dritte Meinung zulässt. Das ist großartig.
         wie es uns zugeflogen ist. Dieses Mal wollten   Robespierre ist in Großbritannien schon
         wir alles durchdachter machen. Dabei sind wir   lange besonders erfolgreich, und die Texte
         auf ein Thema gekommen, das im Prinzip          sind allesamt auf Englisch. Woher kommt
         unendlich ist: Es gibt sehr viele Sagen, sehr   die beidseitige Affinität?
         viele mystische Plätze. Manche sind interna-    Mang: Während meiner Studienzeit habe ich
         tional bekannt, andere national oder auch nur   viel Volksmusik aus Irland und Schottland
         lokal. Dazu kommen noch zwei, drei philoso-     gehört. Dann kamen Sachen wie Gentle Giant,
         phische Songs, die sich Gedanken über die       die plötzlich auch Rock mit eingebaut haben.
         Sache machen.                                   Das sind die Einflüsse, die in meinem Kopf
         Was für Gedanken sind das?                      umeinander kreisen – und das sticht dann
         Mang: Schon der Albumtitel ist ja eine philo-   klangfarbenmäßig natürlich heraus.
         sophische Aussage, und die ist auch eingebet-   Opahle: Ich fühle mich in vielen Genres zu
         tet in den Titelsong am Ende. Da geht es um     Hause, aber durch die 15 Jahre, in denen ich
         die Sanduhren, die permanent laufen und die     Gitarrist bei Jethro Tull sein durfte, fällt es mir
         Gegenwart vor unseren Augen zerfließen las-     bei Celtic Rock besonders leicht, mich da rein-
         sen: Von oben kommt die Zukunft runter,         zufinden. Auch in Deutschland ist Folkrock
         unten bleibt die Vergangenheit im Glas drin.    oder Mittelalterrock ja ein riesiges Genre – da
         Florian, du hast die von Franz geschriebenen    muss man nur an unseren Schlagzeuger
         Songs produziert. Wie habt ihr musikalisch      Simon Michael denken, der auch für Subway
         zueinander gefunden?                            To Sally spielt.
         Florian Opahle: Franz hat sich ja schon immer                        Interview: Matthias Jordan
         mit Dingen auseinandergesetzt, die ver-
         schachtelt sind und mindestens eine Meta-
         ebene haben. Das schlägt sich dann auch         Sandclocks of Eternity ist gerade erschienen.

                                                                                           kulturnews | 15

                                                                                                       01_Kulturnews_1-3s_02_23.indd 1           16.01.23 15:15
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                            Musik
    Foto: Katie Silvester

                                                Endlich zu beneiden

                                                                                                                                                                                                         Foto: Edgar Berg
                            Auf „A common Turn“ hat Anna B Savage sehr offen über Seelenqualen gesungen.
                            Gut für schwärmerische Kritiken, weniger gut für die englische Musikerin selbst.
                            Umso schöner, dass Savage auf dem Nachfolger „in|FLUX“ zwar noch genauso ver-
                            wundbar ist – aber auch besser gelaunt. Denn sie hat gelernt, ihre inneren
                            Widersprüche nicht länger als Schwächen zu begreifen. Die sind auch in der Musik                          „Wenn ich sie trag’, sind wir zusammen, fehlen
                            hörbar, hinter deren Sanftheit Abgründe zu erahnen sind – aber eben nur noch                              nur einundzwanzig Gramm. Früher war da deine
                            zu erahnen. „If this is all that there is/I think I’m gonna be fine“, singt Savage mit ihrer              Hand in der Bomberjacke“, singt Elif in
                            unverkennbaren Stimme im Schlusstrack „The Orange“. Beneidenswert. mj                                     „Bomberjacke“. 21 Gramm, so heißt es, sind das
                                                                                                                                      Gewicht der Seele, die nach dem Tod den Körper
                                                                                                                                      verlässt. Auch wenn nicht klar ist, für wen die
                                                                                                                                      Sängerin diese Zeilen geschrieben hat –
                                                                                                                                      Vermissen und Schmerz sind für sie stets
                                                                                                                                      Inspiration. In diesem Sinne auch der Titel des
                                                                                                                                      neuen Albums: „Endlich tut es wieder weh“. jm
                                                                               Foto: Anne Moldenhauer

                                                                                                                                                           „Sorry to be
                                                                                                                                                             right/sorry
                                   Die Ruhe im Sturm                                                                                                          when I’m
                            An Nordsee und Atlantik haben Amber And The Moon ihr                                                                                 wrong“
                            Debütalbum aufgenommen – und danach klingt „Things
                            we’ve got in common“ auch: Die melancholische Stimme                                                                                    aus: „Sorrysorrysorry“
                            von Ronja Pöhlmann legt sich auf raue, tiefe Akustik-
                                                                                                                                                                                        Foto: Haliblue

                            melodien. Gemeinsam mit ihren Bandkollegen erzeugt sie
                            eine Atmosphäre von Ruhe und Schutz, während draußen
                            ein Sturm tobt und das Meer aufpeitscht. Jazzelemente
                            mischen sich mit Folk und sehr persönlichen Textzeilen:
                            „There’s a place I go to when it’s quiet./The walls are way                 Ganz so oft wie in diesem Song müsste sich Yvan Murenzi eigentlich nicht ent-
                            too thin not to hear you crying“. So liefert die Hamburger                  schuldigen, der nach dem Ausstieg seines Bruders allein als YellowStraps auftritt:
                            Band eine wind- und wetterfeste Jacke für regnerische                       Der in Ruanda aufgewachsene Belgier hat mit seinem Solodebüt „Tentacle“ eine
                            Spaziergänge; ihre Musik ist ein Zufluchtsort. jm                           spannende Mischung aus R’n’B und Elektropop vorgelegt.

                            16 | kulturnews
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 17

                                                                                         Musik                                     reservix
                                                                                                                                          x.de                           Bundes
                                                                                                                                                                               weit
                                                                                                                                                                                 0
                                                                                                                                   dein ticke
                                                                                                                                           ketportal                      90.0n0
                                                                                                                                                                               ts!
                                                                                                                                                                             Eve

                                                                                                                                                               Schlosspark Bonffeld
                                                                                                                                                                 B dR
                                                                                                                                                                 Bad  Rappenau

                                                                                                                               22.09.23 Hamburg
                                                                                                                               23.09.23 Leipzig              03.03.23 Süßen
                                                                                                                               29.09.23 Dortmund             29.04.23 Stuttgart
                                                                                                                               30.09.23 München              11.05.23 Rheinfelde  en
                                                                                                                               ... und weitere Ter
                                                                                                                                                e min
                                                                                                                                                    ne       ... und weitere Ter
                                                                                                                                                                              e miine
        Foto: Annika Weertz

                              Aller Anfang ist
                              Schwert
                              „Kulturelle Neubesetzung wird nicht aus Komfort geboren, und meines                                  01.04.23 Ravensburg       22.09.23 Köln
                              Wissens nach gibt es ein rein weiblich produziertes Album auf dem                                    02.04.23 Fulda            23.09.23 Hannover
                              deutschen Markt noch nicht“, sagt Charlotte Brandi. Bis jetzt, denn die                              20.04.23 Aachen           0 7.10 . 23 Stuttgart
                              als Teil des Duos Me And My Drummer bekannt gewordene Musikerin                                      21.04.23 Weimar           19.10.23 München
                              hat ihr zweites Soloalbum „An den Alptraum“ ausschließlich mit
                              FLINTA*-Personen eingespielt. Dass sich der Albumtitel nicht nur auf
                                                                                                                                   ... und weitere Ter
                                                                                                                                                    e min
                                                                                                                                                        ne   ... und weitere Ter
                                                                                                                                                                              e miine
                              Entstehungsorte am Alpenrand, sondern auch auf den von Fatma
                              Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebenen Sammel-
                              band „Eure Heimat ist unser Albtraum“ bezieht, bürgt für die Qualität                                Ticke
                                                                                                                                      kets unte
                                                                                                                                              er rre
                                                                                                                                                   eservix.de
                              ihrer Texte. Doch auch musikalisch wagt sich Brandis Artpop an spek-
                                                                                                                                   Hotline 0761 888499 99
                              takuläre Orte zwischen A-Capella-Chor und Jodeleinlagen. Und wenn
                                                                                                        Alle Angaben ohne Gewähr

                              sie für „Vom Verlieren“ die Kollegin Stella Sommer an ihre Seite holt,
                              ist das nicht weniger als ein Gipfeltreffen der derzeit aufregendsten
                              Stimmen dieses Landes. cs

                                                                                     kulturnews | 17
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 18

      Jazz + Klassik

                                                                                                                  Ebbe …
                                                                der
                        Nach

                                                                                                                                                                                         Foto: Gregor Hohenberg
                                                                                                                                                                   Michael Wollny Trio

      … kommt der Jazz. Elbjazz 2023 besticht auch dieses Jahr mit einem außergewöhnlichen Line-up.

     ›      Ein Festival auf einem Werftgelände, über die Elbe ist die Reeperbahn
            bloß einen Katzensprung entfernt, und sechs exklusive Konzerte in
      der Elbphilharmonie, dem Tempel der norddeutschen Hochkultur – mehr
                                                                                                            puristen dürfte der wilde Genremix hier und da zu crazy sein – doch uns
                                                                                                            gefällt’s! Neben dem achtmaligen Echo-Gewinner Michael Wollny, der
                                                                                                            mit seinem virtuosen Trio leichthändig Improvisation mit Komposition
      Hamburg geht eigentlich nicht. Fehlt nur noch Aale-Dieter, der mit einem                              verschmelzen lässt, gehören ebenso die Techno-Marchingband Meute
      Akkordeon bewaffnet die besten                                                                                                        und die Psypopband Dope Lemon zur
      Shantys der 80er, 90er und 2000er                                                                                                     illustren Headliner-Runde. Die junge
      zum Besten gibt. Und mal ganz ehrlich:                                                                                                Neosoul-Sängerin Cherise wandelt auf
      Zuzutrauen wäre es dem Elbjazz.                                                                                                       den Spuren einer Erykah Badu und
      Schließlich interpretiert das renommierte                                                                                             wurde bereits mit dem Parliamentary
      Jazzfestival das Genre im besten Sinne                                                                                                Jazz Award ausgezeichnet, Sarah
      sehr frei …                                                                                                                           McCoy bringt mit düsterem Klavierspiel
                                                                                                                                            und brachialem Soul die patriarchale
                                                                                                                                          Foto: Anoush

      Seit 2010 entert das Elbjazz das                                                                                                      Welt zum Einstürzen, und Lambert,
      Gelände von Blohm+Voss in der                                                                                    Sarah McCoy          gehörnt maskierter Star der europäi-
      Hamburger Hafencity. Dort, wo sonst                                                                                                   schen Neoklassikszene, vermischt mal
      nur frisch zusammengeklöppelte Schiffe                                                                                                eben Jazz und Klassik mit elektroni-
      auslaufen, docken für ein Wochenende                                                                                                  schen Elementen. Sowohl McCoy als
      große nationale wie internationale                                                                                                    auch Lambert gehören zu den ausge-
      Künstler:innen an und verwandeln vom                                                                                                  wählten Künstler:innen, die je eines der
      9. bis zum 10. Juni den tristen Ort                                                                                                   sechs exklusiven Konzerte in der
      zwischen Containerschiffen und Möwen                                                                                                  Elbphilharmonie spielen werden. Wer
                                                                                                                                         Foto: Karolina Wielocha

      zu einem maritimen Hotspot moderner
                                                                                    Foto: Andreas Hornoff

                                                                                                                                            aber lieber von einer Bierbank aus
      Jazzmusik. Auch dieses Jahr wird das                                                                                                  Konzerte genießen will, ist beim Elbjazz
      Elbjazz seinem Ruf gerecht, eines der                                                                                                 genauso richtig.
      spannendsten und diversesten Jazzfesti-                      Lambert                                                   Cherise                                Felix Eisenreich
      vals Europas zu sein. Dem steifen Jazz-

      18 | kulturnews
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 19

                                                                                  Jazz + Klassik

                                            Brad Mehldau
                                   Brad Mehldau plays The Beatles
                                                             Nonesuch

         MODERN JAZZ Brad Mehldau gilt der Kritik als der erste,
         der den Pop des Post-Beatles-Zeitalters in das Repertoire des
         Jazz überführt hat – ohne dabei Songs zu banalisieren.
         In der Tat: Wer einmal die brillanten Radiohead-Cover des
         US-Pianisten gehört hat oder sich in voller Länge dem

                                                                                                                                         SYML
         16-minütigen Klanggewitter aussetzt, das in seiner Version
         von „And I love her“ entfacht wird, der weiß, was gemeint
         ist. „Easy Beatles Piano“ auf YouTube könnte kaum weiter weg sein. Für sein neues, im September               THE DAY MY FA
                                                                                                                                   ATHER DIED
                                                                                                                                              ab 03.02.23
         2020 live in Paris aufgenommenes Fab-Four-Programm hat Mehldau sich zehn Songs aus-
                                                                                                                                              Produziert von Phil Ek (Band of Horses,
         gesucht, die er nie zuvor hat mitschneiden lassen. Manches („She said, she said“, „If I needed                                       Fleet Foxes, Father John Misty) mit den
         someone“) ist dabei sehr nah am Original, doch es scheint nur so, als sei dem Pianisten mit                                          Gästen Lucius, Guy Garvey (Elbow),
         50 plötzlich die Lust am Experiment vergangen. „Golden Slumbers“ ist eine achtminütige                                               Charlotte Lawrence and Sara Watkins

         Meditation, „I saw her standing there“ ein lustiger Boogie-Woogie und „Baby’s in Black“ ein                                          SYML auf Tour:
                                                                                                                                              10.03. Bürgerhaus Stollwerck - Köln,
         Gospel, wie ihn Keith Jarrett nicht deeper hinbekommen hätte. Furios! jp                                                             15.03. Ampere - München,
                                                                                                                                              17.03. Porgy & Bess - Wien (AT),
                                                                                                                                              19.03. Heimathafen Neukölln - Berlin,
                                                                                                                                              20.03. Übel & Gefährlich - Hamburg

                                      Johanna Summer
                                      Resonanzen
                                      Act

                                        KLAVIERMUSIK Ein bemerkenswerter kreativer Prozess, der belegt,
                                        dass verbissene Konzentration auf das Werk nicht alles ist: Die
                                        Pianistin Johanna Summer wollte auf Biegen und Brechen an ihren
         vor gut zwei Jahren veröffentlichten Debüterfolg mit Robert Schumanns „Kinderszenen“ anknüpfen.
         Also ging sie erneut ins Studio, arbeitete sich an Bach, Ligeti, Ravel, Skrjabin, Tschaikowski und
         Beethoven ab – und war unzufrieden: zu steril, zu professionell, zu wenig Emotion, zu viel Kopf-
         arbeit. Freie Bearbeitungen der ausgewählten Werke sollten es werden, und die brauchen Luft
         zum Atmen, brauchen Ohren, die zuhören. Also eine zweite Session, dieses Mal in der Berliner
         Ölberg-Kirche mit kleinem Publikum. Und siehe da: Die Improvisationen rund um die Original-
         werke liefen Summer aus den Fingern wie warmer Wachs. Sinnfällig im doppelten Sinn ist also
         der Albumtitel: Resonanzen der Studiosession sind zu hören, aber eben auch sehr persönliche, aus-
         drucksstarke Resonanzen der klassischen Werke, die den Aufnahmen zugrunde liegen. ron

                                  Eldbjørg Hemsing
                                                               Arctic
                                                         Sony Classical

         NEOKLASSIK Mit „Arctic“ will die norwegische Violinistin
         Eldbjørg Hemsing genau das bieten, was der Titel ver-
         spricht: eine klangliche Reise durch die Arktis. Dazu hat
         sie sich mit einem Orchester, Klavier und einer ganzen
                                                                                                              Rhoddes
         Reihe von Komponisten zusammengetan, Grieg kommt
         ebenso vor wie neue Stücke. Dominiert wird das Album                                                 Frien
                                                                                                               r ds
         von einer sechsteiligen Suite des US-Amerikaners Jacob                                               Like
         Shea, der schon mit Hans Zimmer gearbeitet hat. Apropos Zimmer: Hemsing sieht das Album
         als „Filmmusik für den Konzertsaal“, und daran erinnert „Arctic“ tatsächlich – mit allen Stärken     Thesee
                                                                                                              ab 27.0
                                                                                                                   . 1.23
         und Schwächen, die das mit sich bringt. Einen so großen Themenkomplex wie die Arktis samt
         Schmelzen und Klimakrise ohne Bild und Text einzufangen, ist immerhin kein leichtes Unter -
                                                                                                              Sein Durchbruch feierte der englische
         fangen. Am spannendsten sind daher Stücke, in denen das Konzept konkreter wird, darunter             Songwriter mit dem Debütalbum „Wishes“,
         „The Return of the Sun“, bei dem der Sami-Komponist Frode Fjellheim einen traditionellen Joik        welches den Hit „Let It All Go“ (ein Duett
         singt. An anderen Stellen, wenn es wieder besonders intensiv vor sich hin zimmert, fehlen die        mit der Sängerin Birdy) enthielt. Ein halbes
                                                                                                              Jahrzehnt später erscheint jetzt endlich der
         Bilder, die Hemsing beim Spielen sicherlich vor Augen hatte. mj                                      Nachfolger!

                                                                                                              Rhodes auf Tour:
                                                                                                              19.02. Hamburg – Knust,
                                                                                           kulturnews | 19    20.02. Berlin – Lido,
                                                                                                              22.02. Köln – Luxor,
                                                                                                              23.02. München - Strom
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 20

                                                Jazz + Klassik

                                                                                            Dobrawa Czocher
                                                                                           Dreamscapes
                                                                                           Modern Recordings

                                                                                            NEOKLASSIK Mit „Dreamscapes“ legt Dobrawa
                                                                                            Czocher ihr erstes Soloalbum vor, aber wer deshalb
                                                                                            Minimalismus erwartet, wird überrascht sein. Zwar
                                                                                            bewegen sich die zehn Eigenkompositionen der
                                                                                            Cellistin durchaus durch bekannte Neoklassik-
                                                                                            Sphären, doch Czocher vermehrfacht ihr Instrument,
                                                                                            verdichtet und verfremdet den Klang, bis ihr Solowerk
                                                                                            paradoxerweise nach viel mehr Mitwirkenden klingt
                                                als etwa ihre Kollaborationen mit Pianistin Hania Rani. Apropos Sphäre: Czocher bevorzugt äthe-
                                                rische Flächen, hinterlegt ihr Cello gern mit subtilem elektronischem Hall. Der Titel des Albums
                                                ist dabei Programm: „Was ich an Träumen so liebe, ist, dass alles passieren kann“, sagt sie. „Ich
                                                wollte mit diesem Album eine Klanglandschaft schaffen, die nicht von dieser Welt ist“.
                                                Manchmal, wie im Fall von „Lullaby“ klingt das vor allem melodisch und gemütlich – andere
                                                Stücke, wie das unbestimmt bedrohliche „Doppelgänger“ oder „Forgive“ mit seinem grollenden
                                                Bass, erinnern uns daran, dass auch Albträume Träume sind. Und trotzdem: Wenn Czocher in
                                                „Epilogue“ ausschließlich pizzicato spielt, wünscht man sich noch mehr solcher Experimente. mj

                                                              Duologisch
                                                Zwei Wörter werden wohl für immer untrennbar
                                                mit Bill Laurance und Michael League verbun-
                                                den sein: Snarky Puppy. Als League die über-
                                                aus erfolgreiche Jazzband 2004 gegründet hat,
                                                waren er und Laurance schon befreundet, und
                                                bis heute leiht Pianist Laurance dem Kollektiv
                                                seine Hände. Mit „Where you wish you were“
                                                haben sie nun ihr erstes Album als Duo ver-
                                                öffentlicht – würden dies allerdings ungern als
                                                bloßen Nebenschauplatz verstanden wissen:
                                                „Wir sind so viel mehr als ein Teil dieser Band“,
                                                sagt League.

                                                Für beide Musiker ist es ein ungewöhnlich
                                                minimalistisches Projekt, denn selbst auf ihren
                                                Soloalben stapeln sie gern alle möglichen
                                                Instrumente übereinander. Hier beschränkt
                                                sich Laurance auf den Flügel, während League,
                                                bei Snarky Puppy eigentlich E-Bassist, Lauten-
                                                instrumente wie die arabische Oud oder die
                                                westafrikanische Ngoni auspackt. Seine Ten-
                                                                                                                                                    Foto: Txus Garcia

                                                denzen als Bandleader kommen trotzdem
                                                durch: Von den Stücken, die sie nicht gemein-
                                                sam geschrieben haben, stammen fünf von
                                                League, nur zwei von Laurance.

                                                Trotz des beschränkten Instrumentariums deckt das Duo ein breites Spektrum ab. Während
                                                „Tricks“, auf dem League im Bassregister spielt, mit seinen Grooves doch wieder stark an Snarky
                                                Puppy erinnert, klingt der Closer „Duo“ mit seinen absteigenden Akkorden fast schon nach Chopin.
                                                Subtile Effekte polstern den Klangteppich, und auf „Bricks“ wird sogar ein wenig gesungen. Mit
                                                World Music hat „Where you wish you were“ trotz Titel und Oud dabei nichts am Hut – immerhin
                                                hat League, wie er selbst zugibt, keine Ahnung, wie man die Laute „richtig“ spielt. Gut so: Umso
                                                freier können er und Laurance schalten und walten. mj

                                                20 | kulturnews
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 21

                                                        Jazz + Klassik

                                                    Eyolf Dale
                                                    The Wayfarers
                                                    Edition

                                                     MODERN JAZZ Eyolf Dale
                                                     hat einen Vornamen, der
                                                     übersetzt „Wolf“ bedeutet,
                                                     doch zum Glück erspart uns
                                                     der norwegische Pianist
                                                     weitere Kreationen à la
                                                     „Wolfmother“ oder „Wolf
                                                     Alice“. Für die fantastische
         Band, die Dale seit einigen Jahren leitet, muss sein Taufname reichen –
         und der hat sich herumgesprochen. Viele Pianisten würden ihre rechte
         Hand für nur einen Hauch des Einfallsreichtums geben, den Dale auf
         seinem zweiten Trioalbum zelebriert. Dale schreibt nicht nur folk-
         loristische Balladen und raffinierte Blues-Nummern, er instrumentiert
         sie auch innovativ. Für „The Wayfarers“ verwendet der Norweger eine
         Instrumentenrarität aus Dänemark: das wie eine Kombination aus
         Spinett und Flügel anmutende Hammerspinett. Der metallisch helle
         Klang erzeugt auf „The Sky at Sunset“ eine Art Minimal Music in dop-
         pelter Geschwindigkeit: Steve Reich on Speed. „The Wayfarers“ könnte
         ein Soundtrack für einen surrealen Coming-of-Age-Film sein, emotio-
         nal und doch ungreifbar, kraftvoll und doch in andere Sphären ent-
         schwebend. jp

         +++ Gipfeltreffen: Posaunist Phil Ranelin und Saxofonist Wendell
         Harrison haben Anfang der 70er in Detroit das legendäre Label Tribe
         Records gegründet. Auf „JID016“ (Jazz Is Dead) sind sie nun an der
         Seite von Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad zu hören. +++

         WOHLIG MIT WOLLE

                     Wolfgang
                      Haffner
                          Silent World                                                   5434210/.3-1,+*1
                                    Act                                                  )(2'4&-%*$1#&(*"11
                                                                                         )(*!1"32(--4*1
         JAZZROCK Wolfgang Haffner                                                       -%'1$4-1/(*! &%
         hätte keinen Corona-Lockdown                                                    !4*14'&+13//1
         gebraucht, um zu wissen, wie                                                    )%'!/%4$1#/+&%(*1
         sich aus dem stillen Kämmer-                                                    (/41
         lein heraus arbeiten lässt. Das                                                 &+!+1'&%1
         nämlich hatte der Drummer von seinem früheren, selbstgewählten
                                                                                         /(22%1+13*$1
         Exil Ibiza aus seit Jahr und Tag praktiziert und Hunderten von CD-
                                                                                         4/'%1#+/1-%'1
         Produktionen seinen Stempel aufgedrückt. So macht man sich
         Freunde, auf die man zählen kann. Freunde wie Bill Evans, Till
                                                                                         +3/4*'4*1
         Brönner, Nils Landgren oder Sting-Gitarrist Dominic Miller, die sich            0&&(*!4-4*'21
         nicht lange bitten lassen und für „Silent World“ zur Verfügung stehen.          2(**3*!2,+//1
         Wer Haffner aus dem CD-Regal zieht, sehnt sich in einer lärmenden               $3&1$%414/'1$4&1
         Welt nach intelligent gemixtem Balsam für die Ohren. Da mischen                 (/'4*1$43'24*1
         sich kontemplative, solistische Instrumentalmomente mit dem ver-                3*$14*!/%24*1
         lässlichen Groove des Bandleaders und der betörenden Stimme Alma                 (!4*
         Naidus. Licht aus, Beine hoch, mit diesem Soundtrack kommen wir
         alle entspannt durch den Winter! ron                                            4/4(24 1    

                                                                                    -14&'&%4.1,+*
                                                                 kulturnews | 21
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:38 Seite 22

      Platten

      Die beste Musik
      # 2/2023

                                                                                                                                                           Symba
                                                                                                                                                        Symba Supermann
                                                                                                                                                         Columbia/Sony Music

                                                                                                                                             HIPHOP Symba ist der Archetyp einer
                                                                                                                                             neuen Generation, die vor etwa drei
                                                                                                                                             Jahren endlich Vibe in den deutschen
                                                                                                                                             Beamten-HipHop gebracht hat: Song-
                                                                                                                                             struktur egal, Reime egal, Posen … nicht

                                                                                                                 Foto: Rough Trade Records
                                                                                                                                             ganz so egal. Auf seinem Debütalbum
                                                                                                                                             „Symba Supermann“ kulminiert der naiv
                                                                                                                                             wirkende Style des Berliner Rappers in
             HI
                  GHLI
                         G
                               Lisa O’Neill                                                                                                  einer Sammlung von Coming-of-Age-
         R                                                                                                                                   Fragmenten zwischen Designerklamotten,
    HÖ

                          HT

                                                                                                                                             Köfte-Imbiss und Drogen. Mit einfachen
                               All of this is a Chance                                                                                       Assoziationen fängt Symba unverkrampft
         #2                    Rough Trade Records                                                                                           die Gegenwart urbaner Jungerwachsener
                  /2023
                                                                                                                                             ein: Die Liebe gibt’s auf Instagram, die
                   FOLK Seien wir ehrlich: Irish Folk,                                                                                       Einkäufe kommen per Gorillas, und der
      das sind Fiddle und Tin Whistle in trunkener                                                                                           Friseur wird mit Paypal gezahlt. Der hedo-
      Pub-Atmosphäre. Oder auch nicht. Lisa O’Neill                                                                                          nistische Dauerkonsum wird dabei bis zur
      beweist seit einigen Jahren, dass der traditio-        brett und Säge. O’Neills sperrigen Koboldgesang                                 totalen Entfremdung überdreht – oder mit
      nelle Sound der grünen Insel auch im 21. Jahr-         muss man mögen, genauso wie die Arrange-                                        Symbas Worten: „Kapitalismus hat Play-
      hundert funktioniert – ohne St. Patricks-Rausch,       ments, die kompromisslos den Höhen und                                          boys gefickt“. Diese traurige Erkenntnis
      aber als altertümliche Volksweise, offen für Neu-      Tiefen der Singstimme folgen. Aber es gibt auch                                 wird von einer diffusen Melancholie
      interpretationen. Dabei bedient sich die Musikerin     unangestrengte Momente, ein paar Folktronica-                                   gejagt, die sich trotz des Rapstarlebens
      durchaus der Tradition, zitiert blassgesichtig         Sprengsel und vor allem ganz viel Entschleu-                                    auf der Überholspur nicht abschütteln
      Mythen und Geschichten, greift auf das lyrische        nigung. Nicht als Wellnessgefühl, sondern wie                                   lässt: „Wir sind traurig/warum, weiß ich
      Repertoire des Volksdichters Patrick Kavanagh          nach einem windumtosten Spaziergang durch                                       auch nicht“. Dass der 24-Jährige auf dem
      zurück und scheut sich auch nicht, ihren durch-        nasskaltes Landwetter. Übrigens ist O’Neill alles                               Hit „Late Time“ dann unweigerlich an
      dringenden Gesang als Erbe des klassischen             andere als ein Geheimtipp: Sie tourte mit David                                 Kid Cudi erinnert und auf „Tamagotchi“
      Sean-nós-Gesang zu inszenieren. Musikalisch            Gray, kooperierte mit James Yorkston, und so-                                   humorig die CDU abblitzen lässt, macht
      begleiten sie Gitarre, Bass, Klavier und Schlag-       wohl die BBC als auch der Guardian prämierten                                   das Album schon jetzt zu einem der span-
      zeug, aber auch Harmonium, Tenor-Banjo, Hack-          sie mehrfach im Folkgenre. vr                                                   nendsten Rapprojekte des Jahres. fe

                                                         King Tuff
                                                                                                               US-Amerikaner nicht zu sehr auf seinem spirituell-
                                                         Smalltown Stardust                                    psychedelischen Trip verliert, liegt auch an Co-
                                                         Sub Pop                                               Autorin und Produzentin Sasami, mit der Thomas
                                                                                                               in Los Angeles zusammenwohnt. Gemeinsam rücken
                                                         PSYCHEDELIC POP Wie Räuber Hotzenplotz auf            sie vom Psychrock der 70er ab und wenden sich
                                                         Magic Mushrooms präsentiert sich Kyle Thomas          Grunge und Alternative Rock der 90er zu, sodass
                                                         alias King Tuff. Der Titel seines fünften Albums      einige Songs auch mit rockigen Slackermomenten
                                                         bestätigt diesen Eindruck ebenso wie die psyche-      überraschen. Ein Schelm, der hier auf Sub Pop als
                                                         delischen Arrangements mit Schmusedrums und           veröffentlichendes Label schielt. „Smalltown Star-
                                                         sich räkelnden Gitarrenakkorden – Fleetwood Mac       dust“ funktioniert überraschend gut als lässiger
                                                         und Matthew E. White lassen grüßen. Dazu gibt         Stimmungsmacher für Ex-Kiffer, die ihre Dinosaur-
                                                         es Songtitel wie „Loveletters to Plants“, „Portrait   Jr.-Platten noch im Kinderzimmer des elterlichen
                                                         of God“ und eine einmütige, von einer Kinder-         Einfamilienhauses horten. Was durchaus als
                                                         stimme angeleitete Meditation. Dass sich der          Kompliment gemeint ist. vr

      22 | kulturnews
03-27_musik_kn_02_2023_vs2.qxp_03-27_musik_kn_02_2023 18.01.23 13:39 Seite 23

                                                                                                                                             Platten

                        H.C. McEntire                                            RELATIV UTOPISCH
                                        Every Acre
                                       Merge Records                                                       Orbital
         AMERICANA Wer in den vergangenen                                                              Optical Delusion
         Jahren ein Konzert von Angel Olsen                                                              London Recordings
         besucht hat, dem wird sie aufgefallen
         sein: H.C. McEntire. Die US-Musikerin hat                               ACID HOUSE Die Endzeitparabeln der
         sich ihre musikalischen Sporen aber nicht nur in Olsens Band ver-       Pandemie dürften allmählich erschöpft
         dient: Als Frontfrau von Mount Moriah ist sie Schwester-im-Geiste       sein – denkst du! Die Gebrüder Paul
         einer gewissen Adrianne Lenker. Dass McEntire mit ihren ersten beiden   und Phil Hartnoll haben da ein dysto-
         Alben hierzulande trotzdem unter dem Radar gelaufen ist, lässt sich     pisches Märchen in petto, das sich
         kaum nachvollziehen: Wie nun auch auf dem dritten Soloalbum prä-        dank Albert Einstein in eine utopische
         sentiert sie einen so uramerikanischen wie zeitgemäßen Americana-       Denkfigur verwandelt: Der weltbekannteste Zungenrausstrecker hat für
         Sound. Im Mittelpunkt steht stets die Auseinandersetzung mit einem      das zehnte Album von Orbital Pate gestanden und dem Acid-House-Duo
         Alltag zwischen Einsamkeit und Schwermut, zwischen künstlerischer       die Idee einer vertonten Relativitätstheorie menschlicher Erfahrung ein-
         Interaktion und einem Leben mitten in der Natur North Carolinas. Gilt   gehaucht. Alles beginnt mit einem zirkulierendem Groove, der Folksong
         der lonesome Herumtreiber als eines der Hauptmotive der Country-        „Ring a Ring o’ Roses“ aus dem 19. Jahrhundert wird zitiert: Die Pest
         Musik, setzt sich McEntire damit in der inneren Isolation ihres häus-   verwandelt sich in Beatmungsgeräte und Aerosole, und Acid-Klatschen
         lichen Alltags auseinander. „Every Acre“ ist demnach nicht nur die      („Day One“), ruhige Housewellen („Are you Alive“) und hypnotischer
         Vermessung der äußeren Welt, sondern ein Versuch, die innere Land-      Jungle („Requiem for the Pre Apocalypse“) ziehen uns tief in die Welt der
         karte zu erschließen. Lyrisch wechselt McEntire zwischen Zuversicht     Gedanken und Gefühle. Doch kurz bevor es zwischen all dem Abnormalen
         („New View“) und Behaglichkeit („Turpentine“), Verzweiflung („Soft      und den Apokalypsen esoterisch zu werden droht, grätscht zum Glück
         Crook“) und Kontemplation („Gospel of a certain Kind“). Und stets       „Dirty Rat“ dazwischen. Dank der Postpunk-Boys Sleaford Mods wird es
         findet sie einen unaufdringlichen und virtuosen Sound, der vom 70er-    ziemlich weltlich: Jason Williamson schießt gegen das Kleinkarierte,
         Folkrock der Westküste über den Bluestwang der Südstaaten bis hin       weist das ewige Besserwissen in seine Schranken und fordert mehr
         zum Appalachenfolk reicht. Grandios! vr                                 Verantwortung für eine bessere Zukunft. fe

                                                                                                              MEUTE
                                                                                                        DOPE LEMON
                                                                                                             L
                                                                                             CÉCILE MCLORIN SALV
                                                                                                             ALV
                                                                                                               VAANT
                                                                                               MICHAEL WOLLN NY TRIO
                                                                                                  HANIA RANI · TIN
                                                                                                                 NGVVA
                                                                                                                     ALL TRIO
                                                                                EVE TUR
                                                                                    TURRE
                                                                                       RRE SEXTET · SARAH MCCOY · LAMBERT
                                                                                & GRUPP IMEK + SPECIAL GUEST D DUYGU AAL
                                                                    ALOGTE OHO & HIS SO
                                                                                      OUNDS OF JOY · TOMEKA REID QUARTET
                                                       NORWEGIAN
                                                               N WIND ENSEMBLE WITH MA ARIUS NESET AND ERLEND S   SKOMSVOLL
                                                                      MARY HAL
                                                                             LV
                                                                              VORSON/  /TOMAS FUJIW WA
                                                                                                     ARA DUO · JAAKOB MANZ
                                                                                        CHERISE · SALOMEA · WEND  DY MCNEILL
                                                                                                                                                      U.V.M.
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