Ach, du liebes Kind! - Magazin vom Martinsclub - Jeder Mensch hat das Recht auf Familie - Martinsclub Bremen
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Ausgabe 1 – 2021 Magazin vom Martinsclub Ach, du liebes Kind! Jeder Mensch hat das Recht auf Familie
m unterwegs Foto: Amon Moghib So fern und doch so nah! Amon Moghib ist wegen Corona im Homeoffice in Köln. Von dort arbeitet er für den Martinsclub und für das m. Damit er nicht reisen muss, reist das m zu ihm. Per Videokonferenz dank Internet ist er hautnah hier bei uns in Bremen. Und das m ist bei ihm – dank der guten alten Post. Titelfoto: Frank Pusch
moin! Liebe Leserinnen, liebe Leser, eigentlich ist es doch ganz einfach. 2 Menschen lieben sich, wollen zu- sammenbleiben und eine Familie gründen. Das Recht auf Familie ist schließlich ein Menschenrecht. Es gilt für alle – auch für Menschen mit Beeinträchtigung. Dennoch hört man immer wieder mal Vorbehalte. Be- sonders bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung wird der Kin- derwunsch kritisch gesehen. Wird das Kind auch beeinträchtigt sein? Können die Eltern gut für den Nachwuchs sorgen? Müttern und Vätern mit Beeinträchtigung steht die nötige Hilfe zu. Wie das im Alltag aussieht, darum geht es im Titelthema dieser m-Ausgabe. Wir haben die Eltern der heute 6 Monate alten Chara getroffen. Sie erzäh- len, wie das Familienleben funktioniert und wer sie unterstützt. Die Ehe- leute Michèle und Matthias Kosmalla wollen ein Kind adoptieren. Dafür müssen sie sich gut informieren und viele Fragen klären. Ihre Betreuer vom Martinsclub unterstützen sie dabei. Was passiert, wenn eine Schwangerschaft lebensgefährlich für die Mutter werden könnte? Das berichtet die Mutter von Katharina. Ihre 34-jährige Tochter hat das Downsyndrom. Sie will keine Kinder. Mit ihrem festen Freund möchte sie aber unbeschwert Sex haben. Natürlich beschäftigen wir uns im ersten m des Jahres weiter mit Corona. Welche Orte haben uns trotz der Pandemie besonders gutgetan? Das haben wir Menschen in Bremen und umzu gefragt. Sogar Bremens Bürgermeister hat verraten, wo er Kraft schöpft. Impfen gegen Corona – das ist mit allerlei Fragen und auch Ängsten verbunden. Was steckt hinter dem Piks? Trotz Corona haben wir wieder viele spannende Geschichten zu erzählen. Die durchblicker haben sich im Unverpackladen Füllkorn umgeschaut. Wir berichten über die neue Werbekampagne des Martinsclub. Sie soll Men- schen zum Nachdenken und Mitmachen bewegen. Und dann stellen wir in einer neuen Serie jeweils einen Herzensmenschen vor. Das ist jemand, der uns geprägt oder weitergeholfen hat. Dem sagen wir hiermit Danke. Jetzt aber viel Spaß beim Lesen und Entdecken! Ihre m-Redaktion 1
In dieser Ausgabe 4 23 Ach, du liebes Kind! Kreativ und laut in Alle haben das Recht auf Grün und Weiß eine Familie. Auch Menschen Ostkurven-Kunst von mit Beeinträchtigung Infamous Youth 14 26 Einmal abfüllen bitte! Es kommt auf das Loslegen an die durchblicker zu Die selbstverständlich Besuch im Unverpacktladen Agentur ist jetzt inklusiver Füllkorn Arbeitgeber 18 30 Ein großer Schritt Teilhabe mit Tablet Hartwig Braun zieht in seine Interview mit Expertin erste eigene Wohnung Lea Schulz über digitales Lernen für alle 22 32 Herzensmensch Zu 100 Prozent richtig Manche Menschen tun Gutes Die Ausbildung in der und prägen andere. Heilerziehungspflege Zeit, ihnen Danke zu sagen. bietet mehr als nur gute Jobchancen 2
35 44 Kleiner Piks mit großer Für Vielfalt. Wirkung Gegen Barrieren. Warum sich alle impfen Mit uns. lassen sollten Mitmachen im Martinsclub lohnt sich! 36 47 So läuft die Corona-Impfung ab Familie für alle! 2 Pflegekräfte berichten Ein Kommentar von im Interview Lars Vogelsang 38 48 Kraft-Tankstellen Autoren der Ausgabe Lieblingsorte gegen den Warum wäre ich heute Corona-Frust gerne wieder ein Kind? 42 Wissensdurst löschen Fortbildungen und Tagungen vom m|colleg 3
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Foto: Frank Pusch Michelle Heike und Lennart Meibohm sind Eltern geworden. Sie gehen gern mit ihrem Baby in den Straßen von Findorff spazieren. Derzeit suchen sie eine gemeinsame Wohnung. 4
Ach, du liebes Kind! Alle haben das Recht auf Familie. Auch Menschen mit Beeinträchtigung Möchte ein Paar ein Kind bekommen, freuen Kennengelernt hatten die Eltern sich bei der Ar- sich die meisten mit. Bei Paaren mit geistiger beit. Das war im November vor etwa eineinhalb Beeinträchtigung oder Lernschwierigkeiten ist Jahren. Damals hat sie ihn gefragt, ob er sich das manchmal anders. Schaffen die das über- eine Beziehung vorstellen könnte. Schon im Ja- haupt? Wird es dem Kind auch gutgehen? Wer nuar darauf war sie schwanger. „Ich wollte kümmert sich? Das setzt künftige Eltern unter schon immer eine Familie haben“, sagt Michelle Druck. Dabei gilt das Recht auf Familie für alle Heike. Ihre Tante, zu der sie einen engen Kon- Menschen. Wer Kinder will und geistig beein- takt pflegt, hatte sofort Bedenken. Ihr Großvater trächtigt ist, bekommt in Bremen Hilfe und Un- hingegen nicht. „Mein Opa stand mir nie im Weg. terstützung. 3 Familien erzählen, wie sie mit ,Du bist groß. Du kannst das selbst entscheiden‘, der Kinderfrage umgehen. hat er gesagt.“ Als er erfahren hat, dass er Vater wird, war er Michelle Heike möchte so eigenständig wie mög- sehr aufgeregt. „Es war Panik. Einerseits habe ich lich sein. Was sie auf keinen Fall will: in ein Mut- mich gefreut. Anderseits habe ich mich gefragt, ter-Kind-Heim ziehen. „Ich als einzige Mutter mit was aus uns wird. Wir waren doch erst am Anfang Schwerbehinderung? Das konnte ich mir nicht unserer Beziehung.“ Lennart Meibohm ist 26 Jah- vorstellen“, erzählt sie. Sie möchte keine über- re alt. Er hat eine Lernschwäche, seine Motorik forderte Mutter sein. Eine, die mit den Nerven to- ist beeinträchtigt. Seine Freundin, Michelle Heike, tal fertig ist. Lieber will sie für die Geburt und ist 27 Jahre alt. Sie hat ein defektes Gen. Und danach gut vorbereitet sein. Also sucht sie sich dieser Defekt kann zu 50 Prozent an Kinder ver- schon früh Hilfe. Wo können sie und ihr Freund erbt werden. Die beiden haben eine gemeinsame sich gemeinsam um das Kind kümmern? Über Tochter. Chara ist am 25. September 2020 im das Internet findet sie eine Hebamme. Und sie Sankt-Joseph-Stift zur Welt gekommen. nimmt Kontakt zur Lebenshilfe Bremen auf. ¢ 5
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: Frank Pusch ¢ Der Verein bietet die „Unterstützte Elternschaft“ Auch das Team der Lebenshilfe ist für die Fami- an. Das ist ein besonderes Angebot für geistig lie da. Im ersten Lebensjahr des Kindes kommt beeinträchtigte Mütter, Väter und Paare. das Team bis zu zweimal täglich. Auch am Wo- chenende. Es gibt eine nächtliche Rufbereit- Die junge Frau wechselt von ihrem ehemaligen schaft. Der Bedarf bei Michelle Heike ist derzeit Träger zum Martinsclub. Da ist sie bereits im nicht so groß. „Wir sehen uns dreimal pro Woche fünften Monat schwanger. In Findorff bezieht sie und telefonieren zwischendurch“, erzählt Nadja eine Wohnung und wird dort ambulant betreut. Szymanski. Die ambulante Hilfe ist vielfältig. Vor Ihr Freund Lennart wohnt noch in einer WG des der Geburt ging es um Erstausstattung, Anträge Martinsclub in Schwachhausen. Nun wollen die und den passenden Kinderarzt. Jetzt geht es viel beiden eine gemeinsame Wohnung finden. Der um den Umgang mit dem Baby. In ein paar Jah- Martinsclub unterstützt sie bei der Suche. Be- ren werden Entwicklungsgespräche in der Kita treuerin Sabrina Seeger ist beeindruckt von der und Schulelternabende hinzukommen. Die Be- jungen Mutter. „Michelle hatte schon ganz viel gleitung ist möglich, bis das Kind 18 Jahre alt selbst organisiert. Sie ist sehr selbstbewusst ist. Das Amt für Soziale Dienste bezahlt die „Un- und klar in dem, was sie möchte.“ terstützte Elternschaft“. Hilfe für die jungen Eltern Ein halbes Jahr nach Charas Geburt, hat sich vieles eingespielt. Regelmäßig schaut die Fami- lienhebamme vom Gesundheitsamt bei den El- tern vorbei. Die Betreuerinnen von Michelle und Lennart vom Martinsclub kümmern sich zwei- mal wöchentlich. Am Anfang war der Vater sehr nervös. Heute wirkt er viel entspannter. Das mag an seiner Freundin liegen. Michelle Heike ist mit einer Größe von 1,94 Metern eine Erscheinung. Sie strahlt Ruhe aus. Wer sie trifft, denkt: So leicht wirft die nichts um. Das Gefühl der Sicher- heit färbt auf Vater und Kind ab. 6
„Wir sind dafür da, den Familien Sicherheit zu nach hat es sich gut sortiert bei mir. Ich konnte geben“, sagt Szymanski. Es wird immer ge- mit dem Hilfesystem in Bremen leben.“ Wäh- schaut, wie es dem Kind geht und was die Eltern rend des ersten Lockdown wohnten ihr Sohn gerade brauchen. „Beeinträchtigte Eltern ste- und seine Freundin bei ihr. „Michelle und ich hen unter Druck. Sie haben oft Angst, dass das lernten uns kennen. Das hat uns geholfen, Ver- Jugendamt ihnen das Kind wegnehmen könnte.“ trauen aufzubauen.“ Sie findet Michelle sehr Es gibt immer noch viele Vorbehalte, sagt die verantwortungsvoll und sorgfältig. Auch ihr Familienpädagogin. Sohn bringt sich jetzt mehr ein. „Ich bin stolz auf die Kinder. Die machen das toll.“ ¢ „Ich bin stolz auf die Kinder“ Vorbehalte hatte auch Lennarts Mutter. „Ich war geschockt, als ich von der Schwangerschaft er- fahren habe.“ Lisa Kottwitz (65) ist Ärztin und lebt in Lilienthal. Dass ihr Sohn Vater wird, da- mit hatte sie nicht mehr gerechnet. Nun be- Chara ist erst ein paar Monate kommt das Kind ein Kind. Muss die Oma nun die alt. Sie übt das Greifen – Verantwortung übernehmen? Sie riet zu einem am liebsten mit der Brille ihres Schwangerschaftsabbruch. Michelle war strikt Vaters. Aber auch das Holz- dagegen. Dann führten sie viele Gespräche mit- spielzeug erfüllt den Zweck. einander und mit allen Beteiligten. „Nach und Die jungen Eltern sind oft im Bürgerpark unterwegs. Zu Hause im Alltag bekommen sie Hilfe. So ist Chara immer gut versorgt. 7
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: Frank Pusch, Frank Scheffka ¢ ¢ Die Kosmallas kämpfen für ihr Glück fest bei der Arbeit gewesen. „Da hatte sie noch Auch Michèle und Matthias Kosmalla wünschen kein Interesse an mir“, sagt Matthias Kosmalla sich ein Kind. Weil sie kein eigenes bekommen und lacht. Das hat sich geändert, obwohl es am können, möchten sie eines adoptieren. An den Anfang nicht leicht war. Seine Frau Michèle hatte Wänden in ihrer Wohnung hängen viele Fotogra- vorher bereits einige Enttäuschungen erlebt. fien. Auf einem Bild trägt Michèle Kosmalla ein Und die Familien hatten damals Einwände ge- weißes, langes Kleid. In der Hand hält sie einen gen die Beziehung. Das Paar setzte sich durch. Blumenstrauß. Ihr Mann hat einen schicken An- Nur ein paar Monate nach dem Sommerfest ver- zug an. Die beiden küssen sich. Es ist ihr Hoch- lobten die beiden sich. Seit fast 8 Jahren wohnen zeitstag. Vor 10 Jahren haben sie sich kennen- sie nun schon zusammen. gelernt und im Sommer 2014 geheiratet. Jetzt wollen sie ein Kind adoptieren. Das ist aber nicht Nur eines fehlt ihnen noch zum Glück: ein eige- so einfach. Michèle Kosmalla hat das Down-Syn- nes Kind. „Ich bin ein Familienmensch. Ich woll- drom, Matthias Kosmalla eine Lernbehinderung. te schon immer gern Kinder haben“, erzählt Michèle Kosmalla. Das erste Gespräch bei der Die Kosmallas sitzen auf dem Sofa in ihrem Beratungsstelle Pro Familia verläuft gut. Aber Wohnzimmer. Sie erinnern sich an den Tag, als er die Ärzte raten ab, wegen Michèle Kosmallas sie angesprochen hat. Es ist auf dem Sommer- Vorerkrankungen. Eine Schwangerschaft kann 8
für sie und auch für das Baby gefährlich sein. „Als das klar war, hat meine Frau geweint“, erin- nert sich Matthias Kosmalla. Also nimmt der 43-Jährige Kontakt zum Ju- gendamt auf. Wenn sie schon kein eigenes Kind bekommen können, möchten sie eines adoptie- ren. Nur, viele Menschen haben Vorurteile. „Kin- der und behinderte Eltern – da geht bei vielen eine Klappe herunter“, sagt Michèle Kosmalla. Dabei ist es ein Menschenrecht, eine Familie zu gründen. Und das schließt Eltern mit Beein- trächtigung ein. Die beiden lassen sich nicht entmutigen. Sie in- formieren sich über Adoption und besuchen ein Seminar. Sie nehmen die Anträge vom Jugendamt mit nach Hause. Ein dicker Batzen Papier ist durchzuarbeiten. Das Kindeswohl steht bei einer Adoption immer im Vordergrund. Künftige Adop- tiveltern müssen deshalb viele Fragen beant- worten. Sie dürfen nicht zu jung oder zu alt sein. Sie müssen genug Geld verdienen und Platz für ein Kind haben. Gesundheitszeugnisse sind vor- zulegen. Damit sicher ist, dass die Eltern gut für das Kind sorgen können. Die Kosmallas arbeiten und erhalten zudem Zu- schüsse vom Amt. Sie kochen möglichst gesund und bekommen Unterstützung von einer Rechts- betreuerin. Im Alltag wird das Ehepaar vom Mar- tinsclub unterstützt. Auch die Familien stehen mittlerweile hinter ihnen. „Meine Mutter würde sich für mich freuen“, ist Michèle Kosmalla über- zeugt. „Wir können für ein Kind sorgen. Genau wie Eltern, die voll berufstätig sind“, sagt ihr Mann. Wenn die Anträge ausgefüllt sind, wird alles vom Amt geprüft. Dann wird entschieden, ob die Kosmallas alle nötigen Anforderungen erfüllen. „Wir trauen uns das zu und werden das Jugendamt überzeugen“, hofft Matthias Kosmalla. ¢ Michèle und Matthias Kosmalla sind seit fast 7 Jahren verheiratet. Sie würden gern ein Kind adoptieren. Dafür müssen sie einen Antrag mit vielen Fragen ausfüllen. 9
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: privat ¢ Ein langer Weg Es gibt auch andere Schicksale, so wie das von Kirchenmusiker den Jugendchor der Gemeinde. Katharina Kirschnereit. Mit 29 Jahren wäre sie Der Weg von ihrer Wohngruppe zum Gemeinde- fast gestorben. Denn sie verträgt die Pille nicht. haus ist nur 200 Meter lang. Trotzdem machte Ein Baby auszutragen, wäre für sie lebensge- sie einen Umweg an ihrem Elternhaus vorbei. fährlich. Katharina hat das Downsyndrom. Ihre Diese Gewohnheit rettete Katharina wahr- Mutter wollte sie mit einer Operation unfrucht- scheinlich das Leben. bar machen lassen. Dafür musste sie beim Be- treuungsgericht einen Antrag auf Sterilisation Katharina hatte eine Lungenembolie, die tödlich ihres Kindes stellen. sein kann. Das bedeutet, dass ein Blutgerinnsel eine Ader in ihrer Lunge verstopft hat. Verursacht An den 14. Februar erinnert sich Ulrike Conrad- hat das die Pille, mit der man Schwangerschaften Kirschnereit genau. An diesem Tag vor 5 Jahren verhindert. Mit Blaulicht kam sie ins Kranken- ist ihre Tochter Katharina zusammengebrochen. haus und lag dann auf der Intensivstation. Für die Direkt vor ihrer Haustür. Die damals 29-Jährige Ärzte stand fest: Die Pille ist für Katharina nicht war auf dem Weg zu ihrem Vater. Der leitete als geeignet. 10
Die Tochter von Ulrike Conrad-Kirschnereit darf Zwangssterilisation: Dunkles Kapitel deutscher nicht schwanger werden. Eine Schwangerschaft Geschichte wäre ein zu großes Risiko für Mutter und Kind. 1933 kamen in Deutschland die Nationalsozia- Das haben mehrere Ärzte bestätigt. „Meine Toch- listen an die Macht. Das erste Gesetz der Nazis ter hat auch keinen Kinderwunsch. Sie kann mit war das Sterilisationsgesetz. Es trat am 1. Janu- Kindern nichts anfangen“, erzählt ihre Mutter. ar 1934 in Kraft. Genau hieß es: Gesetz zur Ver- hütung erbkranken Nachwuchses. Menschen, „Ich liebe meinen Kevin“ die Erbkrankheiten übertragen könnten, sollten Aber Katharina hat einen festen Freund, mit dem unfruchtbar gemacht werden. Das Gesetz legte sie auch kuschelt. Sie liebt ihren Kevin, sagt sie. eine Liste von Krankheiten fest. Dazu gehörten Der Mutter ist wichtig, dass ihre Tochter über Fallsucht, Depression, angeborener Schwach- ihre Sexualität selbst bestimmen kann. Sie soll sinn, Blindheit oder Taubheit. Unter den betrof- keine Angst davor haben, ungewollt schwanger fenen Menschen sind auch Homosexuelle, zu werden. Deshalb stellt sie beim Betreuungs- Straftäter und Alkoholiker gewesen. gericht in Remscheid einen Antrag auf Sterilisa- tion. Ein solches Verfahren ist notwendig und ge- „Damals wurden bis zu 400.000 Menschen unter setzlich vorgeschrieben. „Katharina kann wegen Zwang sterilisiert. Diese Zahl schätzen die Fach- ihrer geistigen Behinderung nicht selbst ent- leute“, sagt Achim Tischer. Bei mehr als der scheiden.“ Die Mutter denkt, dass das Verfahren Hälfte ist „Schwachsinn“ der Grund gewesen. schnell zum Ende kommen würde. Tischer leitet das Krankenhausmuseum auf dem Gelände des Klinikums Bremen Ost. Es Was folgt, sind 3 Jahre Gerichtsverfahren – ohne zeigt die Geschichte der Psychiatrie der vergan- Anwalt, der die Familie vertritt. „Ich habe keinen genen 130 Jahre. Vor allem geht es darum, wie gefunden. Die Antwort war immer: Es ist aus- seelisch Erkrankte behandelt wurden. sichtslos. Den Fall übernehmen wir nicht“, er- zählt Ulrike Conrad-Kirschnereit. Die Mutter er- Bereits vor 1933 wurden in Deutschland Men- klärt der Tochter in einfachen Worten, um was es schen zwangssterilisiert. „Da wurde nicht ge- geht. Katharina selbst sagt nichts zu der Sterili- fragt, es wurde einfach gemacht“, sagt Tischer. sation, aber Fachleute sagen ihre Meinung. Ins- Zu Hause lebten beeinträchtigte Menschen oft gesamt 7 Gutachter kommen zu Wort. 2 junge ausgegrenzt. Ihre Familien versteckten sie oder Richterinnen fühlen sich dem Fall nicht gewach- sperrten sie weg. „Früher sind viele Menschen sen und geben ihn ab. Sterilisation, das ist ein entmündigt gewesen.“ Das heißt, sie hatten schwieriges Thema. Und das hat einen Grund. überhaupt keine Rechte. In den damaligen Ein- richtungen wurden Männer und Frauen vonein- ander getrennt, vermutet man. ¢ Foto links: Ulrike Conrad-Kirschnereit lebte in Bremen. Viele Jahre verbrachte sie dort mit ihren 3 Kindern und ihrem Mann. Heute wohnt die Familie in Remscheid. Auf dem Bild ist auch Katharinas große Schwester Rebekka zu sehen. Foto rechts: Katharinas Mutter betrachtet die Entscheidung mit der zehnseitigen Begründung. 3 Jahre lang dauerte das Verfahren. Dann entschied ein Richter, dass ihre Tochter sterilisiert werden darf. 11
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: Frank Pusch t Das Recht auf Familie 193 Länder unserer Erde haben sich ¢ Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es gemeinsam in einer Organisation weiter mit Zwangssterilisationen. Das änderte zusammengetan. Dieser Verbund sich in Westdeutschland erst vor etwa 30 Jah- heißt Vereinte Nationen. Auf Englisch: ren. Seit 1992 gibt es das Betreuungsgesetz. Es United Nations oder kurz UN. Sie erlaubt die Sterilisation von erwachsenen Be- haben für behinderte Menschen treuten nur, wenn besondere Gründe vorliegen. weltweit geltende Rechte ausgearbei- Zum Beispiel, wenn die Betroffenen damit ein- tet. Diese Rechte stehen in der verstanden sind. Oder, wenn eine Schwanger- UN-Behindertenrechtskonvention. schaft zu gefährlich für das eigene Leben wäre. So wie im Fall von Katharina Kirschnereit. Darin steht, dass behinderte Men- schen dieselben Rechte wie alle „Den Einzelfall betrachten“ anderen haben müssen. Ob sie eine Alle schauen heute ganz genau hin. Niemand darf Beziehung führen, heiraten oder von der Familie oder von Betreuern zur Sterilisa- Kinder bekommen wollen. Sie haben tion gedrängt werden. „Aber man muss immer ein Recht auf Familie. Behinderte den Einzelfall betrachten“, meint Ulrike Conrad- Menschen müssen stets gleichbehan- Kirschnereit. Im Gerichtsverfahren muss sie sich delt werden. Also so, wie alle anderen vielen Fragen stellen. Ist Katharina noch Jung- Menschen auch. Dazu gehört, dass frau? Kann nicht ihr Freund verhüten? Ist sie als sie sich informieren können und die Mutter übertrieben ängstlich? Im Falle einer nötige Unterstützung bekommen. Schwangerschaft könne Katharina ja abtreiben, sagt jemand. „Es war zum Teil übergriffig, ent- Wer das genau nachlesen möchte, blößend, einfach schrecklich“, findet Ulrike kann dies tun. Die Rechte stehen Conrad-Kirschnereit. „Ich fühlte mich selbst hier: Artikel 23 der UN-Behinderten- entmündigt.“ rechtskonvention. Schließlich folgt der Beschluss des Richters. Mehr zum Thema: „Es sind alle Voraussetzungen für eine Sterilisa- tion erfüllt“, sagt er. Am Ende fragt er Katharina, Die Lebenshilfe Bremen bietet die ob sie einen Freund hat. „Ja, ich habe Kevin, und Unterstützte Elternschaft für Mütter und Väter mit Beeinträchtigung an. Mehr dazu im Internet unter: www.lebenshilfe-bremen.de Weitere Informationen unter: www.familienratgeber.de www.einfach-teilhaben.de www.familienportal.de 12
u ich liebe ihn.“ Katharina ist jetzt 34 Jahre alt. Sie ist immer noch mit Kevin zusammen. „Sie kann ihre Liebe ausleben, wie sie möchte. Natürlich bin ich beruhigt“, sagt ihre Mutter. Chara ist in guten Händen Beruhigt ist auch Michelle Heike. Die Mutter von Chara findet es gut, dass sie Hilfe bekommt. Was im Moment fehlt, ist der Kontakt zu anderen Müttern mit Babys. Das liegt an der Corona-Pan- demie. Daher ist die Familie derzeit viel draußen unterwegs. Zum Beispiel im Bürgerpark oder in den Findorffer Straßen. Momentan läuft vieles über Telefon und E-Mail. In Michelle Heikes Wohnung liegt ein Buch. Alle, die zur Unterstüt- zung vorbeikommen, tragen dort ein, was los war. So wissen immer alle Bescheid. Die kleine Familie ist nach Charas Geburt zu- sammengewachsen. Im Moment gibt es keine Auffälligkeiten, das Baby entwickelt sich nor- mal. „Sollte Chara Beeinträchtigungen zeigen, bin ich in guten Händen. Ich weiß genau, wie ich mein Kind fördern kann“, sagt die Mutter. „Ich finde es schön, Chara lächeln zu sehen und sie zu knuddeln. Es ist wirklich schön, sich um je- manden zu kümmern“, sagt der Vater. J Die kleine Familie ist zusammen- gewachsen. Auch Lennarts Mutter ist mittlerweile eine stolze Oma. Als sie von der Schwangerschaft erfahren hat, hatte sie zunächst viele Bedenken. 13
Zu Besuch bei nver- In h a b e r eines U en - hr 3 Jahr Osterholz k i ist s eit ungefä 9-Jährige ist in m s nach Ulf Sawa tz m e n . D er 3 e n d e s Studiu e g ens in Br 20 ist er we logie. packtlad g e b o ren. Mit U mweltbio a r m b e c k r t h a t e r Sch . Studie gezogen Bremen 14
Text: die durchblicker, Nina Marquardt | Fotos: Frank Scheffka Zu Besuch bei Einmal abfüllen, bitte! die durchblicker zu Besuch im Unverpacktladen Füllkorn Herr Sawatzki, was ist ein Unverpacktladen? zeugen, dass dieses Projekt gut ist. Sie haben versucht, Das ist ein Laden, in dem man die Dinge des täglichen mich zu unterstützen. Ich hatte ja keine Ahnung wie es Bedarfs bekommt. Aber diese sind nicht verpackt. Es ist, in einer Finanzwelt zurechtzukommen. Das Job gibt nicht nur Nahrung, sondern auch Hygieneartikel Center hat mir ein Training mit einem Unternehmens- und Reinigungsmittel sowie Kosmetik. Das ist nicht bei berater bezahlt. Ich brauchte Geld. Also habe ich mit allen Produkten möglich, aber bei sehr vielen. Es wird verschiedenen Banken gesprochen. Die wollten mir auch darauf geachtet, möglichst Waren anzubieten, die kein Geld leihen. Sie hatten Zweifel, dass der Unver- aus der Region kommen. Sie sollten wenn möglich bio- packtladen gut funktionieren wird. Dann habe ich ver- logisch hergestellt werden. schiedenen Leute gefragt. Die sind als stille Teilhaber eingetreten. Das heißt, sie geben Geld dazu, halten sich Wie ist die Idee bei Ihnen entstanden, einen solchen aber sonst raus. Laden aufzumachen? Hauptgrund war das Biologie-Studium. Die Umwelt Wie geht das hier genau mit dem Abfüllen von Waren? liegt mir am Herzen! Zuallererst musst du schauen, in welchem Gefäß du die Ware haben möchtest. Das bringst du am besten von zu Was ist für Sie das Wichtigste am Umweltschutz – Hause mit. Für den spontanen Einkauf gibt es hier aber neben Plastikvermeidung? auch Gefäße. Schraubgläser, zum Beispiel, die andere Dass man die natürlichen Stoff-Kreisläufe möglichst Kunden hier lassen. Nicht jedes Gefäß eignet sich für nicht stört. In der Umwelt besteht ja ein perfektes Sys- jede Ware. Je nachdem, wie du es zu Hause aufbewah- tem, in dem ist alles erst einmal in der Balance. Wir ren oder anordnen möchtest. Du bringst das Gefäß zur Menschen bringen die Instabilität rein mit dem, was Kasse, und dort wird das Gewicht ermittelt. Das wird wir tun. dann später vom Gesamtgewicht abgezogen, wenn du die Ware einfüllst. Von der Idee bis zur Ladeneröffnung – beschreiben Sie bitte kurz den Weg. Wie viele Leute arbeiten hier und was müssen die Der Weg war sehr steinig. Ich habe zuerst mit der Bre- können? mer Existenzgründer-Initiative B.E.G.I.N. versucht, das Insgesamt habe ich 6 Angestellte, mit mir sind wir 7. Projekt umzusetzen. Die musste ich als erstes über- Wir sind immer zu zweit im Laden. ¢ 15
Zu Besuch bei Text: die durchblicker, Nina Marquardt | Fotos: Frank Scheffka ¢ Was kann man hier alles kaufen? Welche Kundentypen kommen hier einkaufen? Die Frage ist eher, was man hier nicht kaufen kann. Eis Es gibt 3 große Gruppen. Zum einen sind das junge El- und andere Tiefkühlware kann man nicht bei mir kau- tern aus der Neustadt. Ältere Menschen sind die nächs- fen. Auch kein Fleisch. Kühlware aber schon. Es gibt te Gruppe. Die bringen Zeit mit und suchen in Ruhe aus, Milchprodukte, Aufstriche und frische Ware wie Gemü- was sie brauchen. Die wiegen für ihre Rezepte genau se und Obst. Auch Trockenware wie Reis und Nudeln, die Menge ab, die sie brauchen. Die dritte sind Studie- Nüsse und Körner. Wir haben Kosmetik und Reini- rende. Die setzen sich damit auseinander, wie Konsum gungsmittel. Ich versuche auch, viele vegane Produkte sich auf die Natur auswirkt. anzubieten. Es gibt jeden Donnerstag Tofu, der in Bre- men hergestellt wird. Welches Produkt, das Sie verkaufen, müssen Sie am meisten erklären? Was ist der „Renner“? Mittlerweile wissen die Leute schon gut Bescheid. Neue Ich würde sagen, Nüsse im allgemeinen gehen sehr gut. Produkte muss ich manchmal noch erklären, zum Bei- spiel die Po-Dusche für die Hand. Dann braucht man we- Was wird hier nicht angeboten? Etwa, weil es zu niger Klopapier. Eine häufige Frage ist auch, wie Nuss- kompliziert ist oder nicht umweltfreundlich beschafft milch oder Pflanzenmilch hergestellt werden. Und wie werden kann? man Hülsenfrüchte zubereitet – muss ich die vorher ein- Ich versuche, wenig Artikel zu haben, die außerhalb der weichen? Wie lange muss ich sie kochen und so weiter. EU hergestellt wurden. Der lange Transportweg belas- tet die Umwelt. Viele Produkte hatten früher einen wei- Lassen Sie sich die Sachen umweltfreundlich liefern? ten Transportweg. Glücklicherweise werden heute eini- Ist die Logistik für die Produkte hier anders als bei ge davon in Deutschland hergestellt. Ich habe zum normalen Supermärkten? Beispiel Beluga-Linsen und Quinoa aus Deutschland. Ich bekomme die Waren von 2 Großhändlern über Nacht Sonnenblumenkerne und Kürbiskerne gibt es auch geliefert. Sie verkaufen Bioprodukte und auch fair ge- schon von hier. Es gibt auch Reis aus Österreich, der handelte Produkte. Dann bekomme ich noch etwas aus heißt dann Österreis. Hamburg und ich hole viel vom Markt. Ich habe eine n von t d a s Abfülle est e üher l N ic k olaus t G e f ü h l wie fr Danie einem ein Frank- as gibt . e ln . D n a ls Kind Mand a d e n - Spiele aufl beim K 16
Das Konz ept des U Matthias nverpack Meyer (M tladens is itte) und ts Frank-Da pannend. Das fin niel Nick den olaus (re chts). Kooperation mit verschiedenen Höfen. Von einem Erzeu- Denken Sie, dass Verpackungen umweltfreundlicher ger, der auf dem Delme-Markt verkauft, übernehme ich werden in Zukunft? die Überschuss-Produktion. Das sind zum Beispiel Eier. Ja, hoffentlich. Die Umverpackung sollte ihren Weg Die sind ganz besonders, heißen „Doppel-Gockel“. Nor- wieder einwandfrei in die Natur finden. Sie sollte die malerweise werden Hühner getötet, wenn sie in die Natur nicht belasten. Recycling ist nicht die Alternative. Mauser kommen. Dann leben sie nur um die 8 Monate. Das Wiederverwerten frisst zu viele Ressourcen wie Unsere Eier kommen aber von Zweitnutzungshühnern. Energie oder Geld. J Sie sind sowohl fürs Eierlegen als auch für die Fleisch- produktion geeignet. Dadurch verlängert sich ihr Leben. Hand aufs Herz: Wo fällt es Ihnen privat selbst schwer, auf Plastik zu verzichten? die durchblicker … Ich esse gern Eis, das ist schon mal in Plastik verpackt. In manchen meiner Kleidungsstücke ist zum Beispiel … sind ein bunter Haufen Redakteure Elasthan verarbeitet. Und natürlich bei Elektronik wie mit Beeinträchtigung. Wir schreiben zu Laptop und Handy. Themen, die uns interessieren und die auch für andere spannend sein können. Weil Sie Lebensmittel verkaufen, darf Ihr Laden In der inklusiven m-Redaktion tauschen während des Corona-Lockdowns offenbleiben. Was wir uns regelmäßig aus. hat sich für Sie trotzdem verändert? Haben Sie Ideen für Geschichten oder Beim ersten Lockdown war es nervig, dass die Leute kennen Sie interessante Personen, die sehr verunsichert waren. Das hat zu starken Umsatz- wir mal besuchen sollen? schwankungen geführt. Die Leute wussten nicht mehr, Dann nehmen Sie Kontakt auf: was sie anfassen durften. Es gab die Hamsterkäufe. Bei Mehl, Nudeln und Hefe gab es Engpässe. m@martinsclub.de 17
Grün wie der SV Werder: Die neue Wohnung bekommt einen frischen Anstrich. 18
Text: Ludwig Lagershausen| Fotos: Frank Scheffka Ein großer Schritt Hartwig Braun zieht in seine erste eigene Wohnung Sachen packen, Kisten schleppen, Wände Freiheit und Verantwortung streichen und Möbel aufbauen. Ein Umzug Bislang war Braun stets von vielen Menschen macht viel Arbeit – und ist ein großes Ereig- umgeben. Er hatte immer Gesellschaft, war nis. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Auf praktisch nie allein. Aber er war auch an feste Hartwig Braun trifft das ganz besonders zu. Strukturen gebunden. Braun musste sich da- Denn er wechselt nicht nur den Wohnort. Mit her an Abläufe halten. In seinem neuen Zu- 52 Jahren hat er einen Neustart gewagt. Er hause hat er deutlich mehr Freiheiten. Nun ist in eine eigene Wohnung gezogen. Zum kann er sich besser zurückziehen, um seine ersten Mal in seinem Leben. Ruhe zu haben. „Wir waren 19 Leute, jetzt nur noch 2. Das ist ein großer Unterschied, ein Ab in die eigenen 4 Wände ganz anderes Lebensumfeld. Den Trubel wer- Vor über 20 Jahren kam Hartwig Braun ins de ich bestimmt auch mal vermissen. Aber Haus am Werdersee. In dieser besonderen ich freue mich, jetzt mein eigener Herr zu Wohnform in Huckelriede leben 19 Menschen sein. Ich muss weniger Rücksicht nehmen. Es mit Beeinträchtigung. Im täglichen Leben be- gibt weniger Regeln, keine festen Zeiten. Es- kam er viel Unterstützung. Hier hat er eine sen kann ich, wenn es mir passt. Ich gehe ins Menge erlebt. „Das war wirklich eine lange Bett, wann ich will. Und es gibt keinen Streit und schöne Zeit. Ich habe viele Freunde ge- mehr ums Fernsehprogramm. All das ist mir funden und sehr gerne hier gewohnt. Aber überlassen“, berichtet er. jetzt brauchte ich eine Veränderung. Für mich ist das ein sehr großer, bedeutender Schritt“, Das bringt aber auch Verantwortung mit sich. erklärt Braun stolz. In der 2er-Wohngemein- Künftig ist er selbst dafür zuständig, einzu- schaft erwartet ihn nun ein völlig neues Le- kaufen und den Kühlschrank zu füllen. Pflege ben. Diese Wohnsituation kannte er bislang und Betreuung bekommt er zwar weiterhin. nicht. Im Alltag dürfte sich einiges ändern. Der Ablauf wird aber anders sein. ¢ In 20 Jahren sammelt sich eine Menge an. Bücher, Bilder, Erinnerungsstücke – all das muss in den Kartons verstaut werden. Ein Umzug macht eben viel Arbeit. 19
Text: Ludwig Lagershausen| Fotos: Frank Scheffka ¢ Neue Wohnformen im Martinsclub Dahinter steckt ein bestimmtes Konzept, das Martinsclub Quartier|Wohnen. Jared Bendig, Hausleiter im Haus am Werdersee, klärt auf. „Der Martinsclub wird die stationären Wohn- angebote nach und nach auflösen. Die Men- schen sollen künftig ambulant wohnen. Also in ihrer eigenen Wohnung. Das ermöglicht ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Le- ben. Dabei unterstützen wir sie natürlich in allen Belangen. Pflege und Hilfe im Alltag sind sichergestellt. Zudem werden sie ins soziale Umfeld und in die Nachbarschaft eingebun- den. So setzen wir Inklusion im Wohnen um.“ Hartwig Braun muss sich nun also mehr um sich selbst kümmern. „Er wird sich umge- wöhnen müssen. Das ist eine große Verände- rung. Er ist im Alltag mehr auf sich gestellt. Aber er wird das packen. Wir schauen zusam- men, wie viel Hilfe er möchte und braucht. Das muss sich entwickeln“, erklärt sein Be- treuer Simon Blohm. Zum Glück ist Hartwig Braun in seiner neuen Bleibe nicht alleine. Mit Willy, seinem Mitbe- wohner, hat er sich schon angefreundet. Und auch sonst mag er sein neues Zuhause. „Alles ist schön groß und geräumig. Vor allem der Balkon ist klasse. Da freue ich mich doch auf den Sommer.“ Es gab viel zu tun Doch vor dem Umzug gab es allerhand zu erle- digen. Ein neues Bett, ein neuer Schrank und weitere Möbel mussten her. Und damit alles schön aussieht, wurde das Zimmer frisch ge- 20
Was kommt wohin? Was ist in welcher Kiste? In der neuen Wohnung geht die Arbeit erst richtig los. strichen. Doch allein mit Möbeln und Farbe ist es nicht getan. Hinter dem Umzug steckt näm- lich viel organisatorischer Aufwand. „Es gab einige rechtliche Dinge zu klären. Das war nicht einfach, aber es hat alles geklappt“, freut sich Jared Bendig. Daran war auch Vanessa Lütjen, Leiterin vom Quartier|Wohnen in Hu- Gelungene ckelriede, beteiligt. Mit ihrem Fachwissen hat Inklusion sie den Umzug ebenfalls eng begleitet. Die Geschichte von Hartwig Braun Unterwegs im Stadtteil ist eine von unzähligen. Seit vielen Für Hartwig Braun war es wichtig, in der Nähe Jahren begleitet der Martinsclub zu bleiben. Die neue Wohnung ist nur 5 Minu- Menschen mit Beeinträchtigungen. ten entfernt. Seine alten Freunde möchte er Das Ziel: ein selbstbestimmtes weiterhin treffen. „Einige habe ich schon auf Leben. einen Fernsehabend eingeladen“, berichtet er. Spenden und helfen Sie! Doch auch ihm macht Corona zu schaffen. Er kennt die Gesundheitsgefahr. Außerdem kann Spendenkonto: er seine Hobbys nicht ausüben. Schwimmen, Martinsclub Bremen e. V. tanzen, Schlagzeug spielen – all dies findet Sparkasse Bremen nicht statt. Auch seine Stammkneipe Connec- IBAN: tion hat er länger nicht besucht. „Der Wirt ist DE72 290 501 01 00 1068 4553 ein Freund von mir. Wegen Corona habe ich BIC: SBREDE22XXX ihn ewig nicht mehr gesehen. All das fehlt Verwendungszweck: mir“, so Braun. „Spenden und Helfen“ In Corona-Zeiten spielt sich das Leben größ- Werden Sie Mitglied! tenteils zu Hause ab. Die neue Wohnung ist Mit einer Mitgliedschaft im für Braun also ein echter Glücksfall. Die In- Martinsclub unterstützen Sie fektionsgefahr ist deutlich geringer. Auch die uns regelmäßig. Mit einem behördlichen Auflagen betreffen ihn hier kleinen Jahresbeitrag machen nicht so wie im Wohnheim. Für die Zukunft ist Sie Inklusion möglich. er optimistisch. „Erst mal muss ich mich ein- leben. Ich freue mich auf diese neue Erfah- Interessiert? Wenden Sie sich an: rung. Und wenn Corona vorbei ist, mache ich j.renke@martinsclub.de eine große Einweihungsfeier.“ J 0421 – 53 747 799 21
Text: Catrin Frerichs | Foto: Emma Janssen Mein Herzensmensch Es gibt Menschen, die Gutes tun. Einfach so. Sie helfen, hören zu oder prägen uns mit ih- rer positiven Einstellung. Höchste Zeit, mal Danke zu sagen. Kleiner Schubs mit großer Wirkung Manchmal läuft das Leben nicht in die rich- tige Richtung. Oder man hängt fest. Dann ist ein kleiner Schubs nötig. Mich stupste vor 20 Jahren Daniela Tausch an. Damals hatte sie gerade einen Vortrag in Bremen gehalten. Dabei stellte sie ihr neues Buch „Sterbenden nahe sein“ vor. Daniela Tausch ist Psycholo- gin und begleitet Sterbende. Darüber hat sie viele Bücher geschrieben. Mein Traum war es, Journalistin zu werden. Ich war Anfang 30 und arbeitete als Sekretä- rin in einem Büro. In meiner Freizeit und am Wochenende schrieb ich Artikel für die Zei- tung. Das machte mir Spaß. Aber sollte ich dafür meinen sicheren Job aufgeben und Journalistin werden? Über die Zeitung lernte ich Daniela Tausch kennen. Wir sprachen lange miteinander über den Tod. Warum das Sterben manchen Men- schen leichter fällt als anderen. Wir redeten darüber, dass man im Leben nichts aufschie- ben sollte. „Das Leben ist wie ein Büffet“, sagte sie. Je mehr man davon probiert, desto besser kann man am Ende loslassen. Das Gespräch hat mich sehr aufgerüttelt. Es hat mir Mut gemacht. Schiebe nichts auf. Am Tag nach dem Interview kündigte ich bei mei- nem damaligen Arbeitgeber. Dann bin ich zur Zeitung gegangen. Bereut habe ich das nicht Daniela Tausch ist 1961 geboren und lebt in Würzburg. Dort arbeitet sie in einem einen einzigen Tag. Heute arbeite ich in der Krankenhaus. Sie betreut Menschen, die m-Redaktion des Bremer Martinsclub. Danke, an Krebs erkrankt sind. Daniela Tausch. J 22
Text: Ludwig Lagershausen | Fotos: Infamous Youth Kunstwerk! Kreativ und laut in Grün und Weiß Die Ostkurven-Kunst von Infamous Youth Weserstadion, kurz vor halb 4 am Samstagnachmittag. reißen. Das ist ein Ausdruck unserer Werder-Leiden- Der Anpfiff eines Werderspiels steht kurz bevor. Die schaft“, erklärt Infamous Youth. Mannschaften betreten das Spielfeld. Doch alle Blicke richten sich auf die Ostkurve. Fahnen, Transparente, In solchen Aktionen stecken viel Arbeit und Kreativität. Plakate, Spruchbänder, Konfetti – ein grün-weißes Von der ersten Idee bis zur Umsetzung vergehen oft Spektakel nimmt seinen Lauf. Die Fans begrüßen ih- Monate. Dabei wird übrigens alles in Handarbeit ge- ren SV Werder mit einer großen Show. Laute Gesänge macht. Infamous Youth gestaltet das Material selber. verstärken diese Choreografie. Die Stimmung ist auf Vorzeichnen, ausmalen, nähen, kleben – die Aufgaben dem Höhepunkt. Egal, wie es um Werder steht, die sind vielfältig und anspruchsvoll. „Es ist eine Ehrensa- Anhänger geben alles. che, das alles selber zu machen. Das schweißt uns zu- sammen und treibt uns an.“ Inhaltlich darf es dabei Leidenschaft und Liebe für Werder Bremen auch gerne mal kritisch und provokant zugehen. Doch wer sorgt eigentlich dafür, dass Werder so toll empfangen wird? Dahinter stecken mehrere aktive Neben Herzblut ist auch Geld nötig, um eine Choreo- Fangruppen. Eine von ihnen ist Infamous Youth. Bei je- grafie zu verwirklichen. Materialien wie Farbe, Pinsel, dem Spiel, egal wo, ist die Gruppe dabei. Mit lauter Fahnen und Folien sind nicht billig. Dennoch nimmt Stimme, vollem Herzen und viel Leidenschaft unter- Infamous Youth kein Geld von Werder oder sonstigen stützt sie Werder Bremen. Dabei kommen oft große Sponsoren an. „Wir wollen unabhängig bleiben. Nie- Fahnen und Plakate zum Einsatz. „Damit wollen wir mand soll uns vorschreiben, wie unsere Choreos aus- Werder bestmöglich unterstützen. So können wir die sehen sollen.“ Finanziert werden die Aktionen deshalb Mannschaft motivieren und auch die anderen Fans mit- vor allem über Spenden von anderen Werderfans. ¢ 23
Kunstwerk! Fotos: Patrick Schulze Fotos: Infamous Youth ¢ Keine Choreo-Kunst während Corona Zwar rollt der Ball auch in der Corona-Pandemie. Fans dürfen aber nicht dabei sein, die Gesundheitsgefahr wäre zu groß. Die Stadien sind also leer. Kein Spektakel, keine Stimmung, keine Fahnen – ein trostloser Anblick. „Es ist schwierig zu ertragen. Doch irgendwann wird das hoffentlich alles vorbei sein. Dann stehen wir wieder alle zusammen im Stadion“, hofft Infamous Youth. Wie wichtig aktive Fans sind, wird derzeit besonders deutlich. Jetzt, wo sie nicht da sind. J 24
Choreografien werden auch „Choreo“ abgekürzt. Das sind Fan-Aktionen, um den Verein zu unterstützen. Dabei kommen Fahnen, Plakate, Transpa rente oder ähnliches zum Einsatz. Mehr Infos unter: www.infamousyouth.org 25
Text und Interview: Jörn Neitzel, Benedikt Heche | Fotos: Frank Scheffka Es kommt auf das Loslegen an Die selbstverständlich Agentur ist jetzt inklusiver Arbeitgeber Von der Werkstatt Bremen in die Ausbildung zum Behinderte war für mich eigentlich nie eine Option. redaktionellen Mitarbeiter. Jörn Neitzel hat das ge- Der Schritt war jedoch goldrichtig. Denn die Werkstatt schafft. Wie das gelingen konnte, erzählen wir aus Bremen ermöglicht mir jetzt die Beschäftigung in der 3 Blickwinkeln. Eine Erfolgsgeschichte von der ers- selbstverständlich Agentur. ten Idee, den Zielen, Herausforderungen und dem Arbeitsalltag. Ich kenne das Agentur-Team schon länger. Nach einem Praktikum blieben wir in Kontakt. Es musste geklärt werden, wie wir weiter zusammenarbeiten können. Das Problem: Eine passende Ausbildung habe ich nicht. Hierbei unterstützt mich die Werkstatt. Offiziell bin ich immer noch dort angestellt. Die selbstverständlich Agentur ist mein Außenarbeitsplatz. So kann ich eine Ausbildung zum redaktionellen Mitarbeiter machen. Ich sammele täglich neue Erfahrung. Zum Beispiel lerne ich das Schreiben und Übersetzen in einfache Sprache. Zudem übernehme ich Aufgaben im Marke- „Ein wichtiger Baustein ist ting und der Pressearbeit. Besonders interessant ist die berufliche Integration.“ die Arbeit am m-Magazin. Die gemeinsamen Sitzungen Jörn Neitzel, Auszubildender zum sind immer spannend. Hier werden die Themen heiß redaktionellen Mitarbeiter diskutiert. Für das Magazin schreibe ich auch eigene Texte. „Mein Name ist Jörn Neitzel. Seit Dezember 2020 arbeite Ich fühle mich in das Team der selbstverständlich ich in der Agentur selbstverständlich. Das ist allerdings Agentur voll integriert. Meine Behinderung tritt in den gar nicht so selbstverständlich. Hintergrund. Das Gefühl, berufstätig zu sein, stärkt mein Selbstbewusstsein. Dazu lerne ich, meine freie Durch eine Spastik bin ich auf einen Rollstuhl angewie- Zeit wieder mehr zu schätzen. Das Arbeitsklima ist im- sen. Ich habe das Fachabitur gemacht und eine Ausbil- mer freundlich. Probleme werden direkt angesprochen dung zum Bürokaufmann abgeschlossen. Trotzdem habe und eine Lösung gemeinsam im Team gesucht. Des- ich 20 Jahre lang keine Arbeit gefunden. Das hat mich halb gehe ich gerne zur Arbeit.“ ¢ natürlich sehr unzufrieden gemacht. Die Werkstatt für 26
Jörn Neitzel hat lange keinen Beruf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden. 20 Jahre dauerte die Suche. Eine Ausbildung in der selbstverständlich GmbH bringt ihn seinem Ziel sehr nah. Ermöglicht wird diese durch die KwerWege der Werkstatt Bremen. 27
Viel Freude bereitet Jörn Neitzel die Mitarbeit am m-Magazin. Besonders beim dritten Punkt hatten wir großes Glück. Unser Vermieter hat alle baulichen Verände- rungen befürwortet. Er übernahm sogar einen Groß- teil der Kosten. So wurde eine Rampe gebaut und eine Wand entfernt. Auch die Toilette ist rollstuhlgerecht eingerichtet. Natürlich läuft nicht immer alles glatt. Der Arbeitsalltag stellt uns oft vor neue Herausforde- rungen und Fragen. Welche Kopfhörer sind barriere- frei? Wie schaffen wir einen barrierefreien Zugang zum Innenhof? Dabei lernen wir immer weiter dazu. „Wir wollen inklusiv arbeiten!“ Die Werkstatt Bremen unterstützt uns dabei. Wir ar- Benedikt Heche, Geschäftsführer beiten gemeinsam daran, ein selbstständiges und der selbstverständlich GmbH selbstbestimmtes Arbeiten zu ermöglichen.“ ¢ „Die selbstverständlich GmbH ist eine Agentur für barrierefreie Kommunikation. Wir machen Inhalte für alle verständlich. So tragen wir ein Stück zu einer in- klusiven Gesellschaft bei. Schon bevor wir die Agentur eröffnet haben, war uns eins besonders wichtig. Wir wollen uns nicht nur für Inklusion einsetzen. Wir wollen selber inklusiv sein. Wir wollen in einem bunt gemisch- ten Team arbeiten. Vor allem Menschen mit Behinde- rung sollen bei uns eine Chance haben. Seit Dezember sind wir ein Außenarbeitsplatz der Werkstatt Bremen. Der Schritt zum inklusiven Arbeit- geber war überraschend einfach. Es brauchte nur 3 Dinge: 1. Den festen Willen, diesen Weg zu gehen. 2. Ein Konzept, damit ein Kollege mit Beeinträchtigung möglichst selbstständig arbeiten kann. Einiges musste umgebaut werden, um ein 3. Einen tollen Vermieter, der die Idee unterstützt. selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen. 28
Text und Interview: Jörn Neitzel, Benedikt Heche | Fotos: Frank Scheffka Aufgabe ist es normalerweise, die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz zu organisieren. Das haben Herr Neitzel und die Agentur selber in die Hand genommen. Jetzt „Das Ziel ist die Festanstellung.“ müssen wir schauen, welche Herausforderungen sich Im Gespräch mit Nadja Caspari, Jobcoach bei KwerWege neu ergeben. Momentan versuchen wir, das Öffnen Bremen der Bürotür für Herrn Neitzel zu vereinfachen. Coron- abedingt beschäftigen wir uns auch mit dem Thema Frau Caspari, was genau ist ein ausgelagerter Homeoffice. Einzelarbeitsplatz? Das sind Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchti- Wie sieht der berufliche Weg von Herrn Neitzel gungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Begleitet idealerweise aus? werden sie von Jobcoaches der KwerWege Bremen. Das Ziel ist die Festanstellung. Nach seiner Ausbildung Das ist ein eigener Bereich der Werkstatt Bremen. Au- erhält Herr Neitzel einen festen Arbeitsvertrag in der ßenarbeitsplätze gibt es in ganz unterschiedlichen Agentur. Das würde über das Budget für Arbeit laufen. Bereichen. Zum Beispiel arbeiten Beschäftige der Die Begleitung wechselt dann von KwerWege zum Inte- Werkstatt in Speditionsbetrieben oder in KiTas. Aktu- grationsfachdienst. Eine Rückkehr zur Werkstatt Bre- ell arbeiten ungefähr 80 Beschäftigte auf einem aus- men wäre für Herrn Neitzel aber jederzeit möglich. J gelagerten Arbeitsplatz. Was sind die Aufgaben der Jobcoaches? Sie sind das Bindeglied zwischen den Beschäftigten und den Betrieben. Wir begleiten sie auf ihren ausgela- gerten Arbeitsplätzen. Bei Problemen oder Fragen sind meine Kolleginnen und ich immer ansprechbar. Auch den Betrieben stehen wir beratend zur Seite. Mehr erfahren: Wie können Beschäftigte der Werkstatt Bremen einen Für Infos zur selbstverständlich Außenarbeitsplatz bekommen? Agentur besuchen Sie die Viele Beschäftigte haben konkrete Vorstellungen da- Homepage: von, was sie beruflich machen wollen. Ich suche dann www.selbstverstaendlich-agentur.de den passenden Betrieb und stelle die Verbindung her. Manchmal kann es etwas dauern, bis das richtige Ar- beitsumfeld gefunden ist. Dafür gibt es dann die Mög- lichkeit, zunächst ein Praktikum zu machen. Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit Sie möchten mehr über die der selbstverständlich GmbH? Werkstatt Bremen erfahren? Bisher ist es noch nicht vorgekommen, dass ein Be- Dann schauen Sie hier: schäftigter uns mitteilt: „In diesem Betrieb möchte ich www.werkstatt-bremen.de arbeiten. Die wissen Bescheid, dass ich komme. Der Arbeitsplatz wird bereits vorbereitet.“ Eine wichtige 29
Teilhabe mit Tablet Welche Vorteile haben Computer in Kitas und Schulen? Lea Schulz ist Erfinderin der Diklusion Frau Schulz, Sie haben das Wort „Diklusion“ erfunden. Absprachen zu treffen, sollten Kinder möglichst früh Was bedeutet es? üben. Es ist zu spät, wenn sie schon in der Pubertät „Diklusion“ setzt sich zusammen aus den Wörtern digi- sind. tale Medien und Inklusion. Das müssen wir zusammen denken überall dort, wo Menschen etwas lernen. Die Kinder müssen wissen, wie sie digitale Medien Schulleitungen und Kitaleitungen müssen überlegen, bedienen. Und sie sollen lernen, sich an Regeln zu wie sie digitale Medien einsetzen können. Dabei dürfen halten? sie niemanden ausschließen. Medien werden in unse- Ja, das ist ein Teil der Diklusion. Dass wir lernen, mit rer Gesellschaft überall genutzt. Das ist schon für Vor- digitalen Medien im Alltag umzugehen. Aber wir müs- schulkinder interessant. Sie können einen fantasievol- sen auch verstehen, wie sie funktionieren. Zum Bei- len Umgang mit Medien lernen. Und etwas über spiel, wenn ich bei Google einen Suchbegriff eingebe. Verhaltensregeln erfahren. Wenn ein Kind ein anderes Dann wird mir hinterher Werbung zu diesem Thema Kind fotografieren möchte, muss es vorher fragen. angezeigt. 30
Text: Catrin Frerichs | Fotos: Emma Janssen, privat Müssen digitale Medien in der Ausbildung mehr Welche weiteren Vorteile gibt es? Gewicht bekommen? Wir können digitale Medien auch für die Gruppenarbeit Unbedingt. Digitale Medien sind Teil unserer Gesell- nutzen. Etwa, wenn eine Schülergruppe einen kurzen schaft. Jeder muss darin fit sein, so auch Erzieher, Leh- Film aufnimmt. In der Gruppe ist ein Kind, das noch rerinnen und Assistenzkräfte. Es darf keine pädagogi- nicht so gut schreiben kann. Seinen Teil der Geschichte sche Ausbildung mehr ohne Medienbildung geben. Es könnte dieses Kind ins Tablet diktieren. Die Medien ha- ist ähnlich wie beim Erlernen der Sprache. Sprachbil- ben in der Gruppenarbeit nicht nur eine unterstützende dung beginnt in der Kita. Sie zieht sich durch die ge- Funktion. Kinder können mit ihnen auch neue Ideen samte Schullaufbahn. umsetzen. Wie kann guter Unterricht mit Computern aussehen? Macht Bremen aus Ihrer Sicht etwas besonders gut? Digitale Medien haben viele Vorteile. Manche Kinder Bremen ist in einigen Entscheidungen weiter als ande- haben keine Lautsprache. Sie können bereits früh mit re Bundesländer. Alle Schülerinnen und Schüler haben einem Sprachcomputer ausgestattet werden. Das Kind Tablets bekommen. Diese sind sehr leicht zu bedienen. wählt Bilder und Symbole aus. Der Computer spricht Daher können die Tablets inklusiv eingesetzt werden. Wörter und ganze Sätze aus. Damit können sie sich den Zudem gibt es eine gemeinsame Internetplattform. Sie anderen Kindern mitteilen. Andere Kinder können nicht heißt Itslearning. Lehrkräfte können dort Arbeitsblät- gut vorlesen. Sie können aber einen Text fotografieren. ter und Aufgaben für ihre Klassen einstellen. Mit dieser Smartphones oder Tablets können den fotografierten Lernplattform habe ich einen Ort, an dem alle erreich- Text vorlesen. Digitale Medien ermöglichen Selbststän- bar sind. Wo alles zusammenläuft und alle in Kontakt digkeit. Das ist wichtig für ein gutes Selbstwertgefühl. bleiben. Irgendwann könnten auch Eltern und Assis- Zu erfahren: Ich bin nicht abhängig von der Lehrerin tenzkräfte diese Plattform nutzen. J oder dem Lehrer. Ich kann mir mit diesen technischen Geräten Dinge selbst erarbeiten. Zur Person Dr. Lea Schulz ist 1984 geboren. Sie ist ausgebildete Sonderschullehre- rin und lebt in Schleswig-Holstein. Fit für die digitale Sie ist verheiratet und hat 4 Kinder. Nach ihrem Studium unterstützte Zukunft sie Firmen bei der Entwicklung digitaler Lernplattformen. Sie hat Schon vor Corona hat sich der zum Beispiel Apps entwickelt. Martinsclub für Teilhabe mit Dabei sind ihre Ideen für inklusiven digitalen Medien stark gemacht. Unterricht mit eingeflossen. Er bietet viele Fortbildungen an. „Alle Schüler haben ein Recht auf Bildung“, sagt Lea Schulz. Digitale Zum Beispiel zum Einsatz von Medien gehören für sie zum Kita- Tablets im Unterricht und zu und Schulalltag dazu. Itslearning. Mehr Infos auf: Mehr dazu unter: www.leaschulz.com www.mcolleg.de 31
Zu 100 Prozent richtig Die Ausbildung in der Heilerziehungspflege bietet mehr als nur gute Jobchancen Im vergangenen Frühling erreichte die Corona- „Durch Corona ist der Fachkräftemangel plötzlich ein Pandemie Deutschland. Vieles hat sich seitdem ver- großes Thema. Das Problem ist aber nicht neu. Damit ändert. Maskenpflicht, Hygieneregeln und Abstand- haben wir schon seit vielen Jahren zu kämpfen“, sagt halten sind zur Gewohnheit geworden. Soziale Berufe Thomas Partsch. Er leitet beim Martinsclub die Ausbil- waren auf einmal im öffentlichen Blickfeld. Pflege- dung in der Heilerziehungspflege, abgekürzt HEP. So- kräfte haben viel Applaus und Lob bekommen. mit kümmert er sich um den beruflichen Nachwuchs in diesem Bereich. Und der wird dringend benötigt. Wo führt der Beruf ihn hin? Die HEP-Ausbildung bietet ihm viele Möglichkeiten. Das war Sören Petzold sehr wichtig. 32
Text: Ludwig Lagershausen | Fotos: Frank Scheffka Mit der HEP-Ausbildung ist Lena Rosekeit sehr zufrieden. „Ich habe meine Berufung gefunden“, sagt sie. „Es fühlt sich richtig an“ lerziehungspflege zu arbeiten. Es ist ihre innere 12 Auszubildende haben im Sommer 2020 ihre Einstellung. „Viele Menschen haben gar keine Berüh- HEP-Ausbildung beim Martinsclub begonnen. Auch rungspunkte mit Themen wie Behinderung oder Inklu- Lena Rosekeit ist mit Begeisterung dabei. In ihrem ers- sion. Das will ich ändern. Ich möchte meine Mitmen- ten Lehrjahr ist sie im BlauHaus in der Überseestadt schen darüber aufklären. Ich finde, wir brauchen dafür tätig. Dort arbeitet sie in der Demenz-Wohngemein- ein viel stärkeres Bewusstsein.“ Zwar geht es in ihrem schaft des Martinsclub. Die 21-Jährige erleichtert den Job auch mal stressig zu. Aber Rosekeit sieht einen tie- Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner. Ob beim Es- feren Sinn in dem, was sie täglich tut. „Es fühlt sich zu sen, beim Anziehen, im Badezimmer oder unterwegs. 100 Prozent richtig an“, sagt sie überzeugt. Sie hilft und ist zur Stelle, wenn sie gebraucht wird. „Meine Aufgabe ist es, den Menschen ein selbstständi- Eine abwechslungsreiche Herausforderung ges Leben zu ermöglichen. Dabei begleite und unter- Auch Sören Petzold, 27 Jahre, steht noch am Anfang sei- stütze ich sie“, beschreibt Rosekeit ihren Job. ner HEP-Ausbildung. Doch er ist schon mittendrin im neuen Job. „Es ist interessant, aber auch herausfor- Doch sie organisiert nicht nur den Alltag anderer Men- dernd. Kein Tag ist wie der andere. Die Arbeit ist wirklich schen. Für Lena Rosekeit steckt noch viel mehr dahin- sehr abwechslungsreich“, findet er. Das liegt auch am ter. Denn sie hat einen bestimmten Antrieb, in der Hei- guten Verhältnis zu den Menschen, die er begleitet. ¢ 33
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