Akrützel DAS BISSCHEN HAUSHALT - Finanzen werden zum Sorgenkind im Stura - Akrützel
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akrützel Jenas führende Hochschulzeitung DAS BISSCHEN HAUSHALT Finanzen werden zum Sorgenkind im Stura Nummer 425 I 19. Januar 2023 I 34. Jahrgang I www.akruetzel.de
2 / Editorial LIEBE LESERINNEN, alles verändert sich: Das Akrützel erscheint jetzt mit Minuskel INHALT „Wir schützen keinen Urwald“ auf S. 14. Foto: Pauline Schiller -a und das Tanzbein wird ab März nicht mehr im Café in der Wagnergasse geschwungen, sondern in der ehemaligen Kin- derklinik. Für unser Kreuzworträtsel verlosen wir zwei Kino- karten und draußen im Jenaer Stadtforst sieht man den Wald vor lauter sterbenden Bäumen nicht. Wir gehen der Frage nach, wie der Klimawandel die Natur um Jena verändert und wie diese geschützt werden sollte. Drinnen zieht Vicente, ex- zentrisch im Redaktionssessel sitzend, an seiner Salzstange. Ben verfehlt die Chefredakteurin mit einem Dartpfeil nur um Haaresbreite. Für die Weltmeisterschaft muss er noch üben. Das könnte blutig werden – aber bewahren wir uns das doch lieber für das Uniklinikum Jena. „Fleischersatzprodukte verhindern eigentlich nur die Vere- lendung der Arbeiterklasse und damit auch die Revolution“, findet eine Redakteurin, die gerne von sich in der dritten Per- son spricht. Der Haushalt des Sturas verelendet hingegen schon seit einer Weile, während der Schuldenberg munter wächst. Deshalb haben wir uns die Sturafinanzen genauer angeguckt. Eure Print-Ausgabe ist dieses Mal nicht nur günstiges Heiz- material. Die wunderschöne Karte des Jenaer Verschenkeregal- netzes könnt ihr euch als Poster an die WG-Toilettenwand hän- TITEL gen, oder ihr schmückt damit euer Zimmer im Seniorenheim. Sonst gibt es im Januar nichts zu melden – im Osten nichts 03 FSU-STURA IM 09 WOHNEN MIT Neues. ZAHLUNGSVERZUG GELÄNDER Folgen von fehlenden Studierende im Wir hören uns dann wieder im neuen Monat. Gleiche Zeiten, Jahresabschlüssen. Seniorenheim. gleiche Seiten, herzlich auf Wiederhören. Die Schlussredaktion 04 WOFÜR GIBT 10 RAUS DAMIT DER STURA Poster mit Jenas Verschenkeregalen. EIGENTLICH UNSER GELD AUS? Kann man der Opfer rechtmäßig Immer mehr Geld fließt 12 DIE SPUREN DES in die Selbsterhaltung. gedenken, wenn ein paar Schritte NSU Audiotour zum NSU- weiter immer noch Neonazis ihre 05 STURA, DU BIST Komplex. Ideologie ausleben? POLITISCH. BENIMM DICH 14 WIR SCHÜTZEN AUCH SO! KEINEN URWALD Ein Appell. Klimawandel im Jenaer Wald. UNI & STADT 3 2-1 UNTERWEGS S. 1 06 DER PROTEST LEBT 17 VON A NACH B DIE SPUREN DES NSU - Ein Fazit zur Diesmal: Unialltag. Besetzung. MEHR 07 FREUDENTRÄNEN 19 ZU VINO SAG ICH ... Foto: Melina Blumenröther AN DER EAH Mit Dramaturgin Hannah Gremienwahlen beim Baumann. EAH-Stura. 19 KREUZWORT- 08 DIE KULTURKISTEN RÄTSEL GEPACKT Das große Akrützel- Café Wagner zieht um. Gewinnspiel.
Titel / 3 FSU-STURA IM ZAHLUNGSVERZUG Der Stura kommt nicht mehr hinterher. Seit 2018 fehlen Belege für Zahlungen, die jetzt nachgereicht werden müssen. Das hat Folgen für die gesamte Studierendenschaft. E inmal im Jahr, zwischen dere Projekte konnten Geld ausgeben, Satzungen durcharbeiten. Anschließend Weihnachten und April, viele Veranstaltungen mussten abge- könne sich das Team aber aufteilen: Ei- herrscht große Aufre- sagt werden. nige kümmern sich dann um die einge- gung im Stura. Der neue Erst Ende des letzten Sommersemes- henden Rechnungen, andere um die Ab- Haushalt muss aufge- ters bewarb sich Oliver Pischke auf arbeitung des Rückstandes, sagt Samuel. stellt werden. Die Ver- die Stelle und wurde gewählt, leider treterinnen der Studierendenschaft nur zum Stellvertreter. Er verkünde- Gekürzt wird an anderer dürfen entscheiden, wer wie viel Geld te, die Versäumnisse der letzten Jah- Stelle bekommt und wo gespart werden muss. re bis Herbst 2022 abzuarbeiten, um Grundlage dafür sind die Semesterbei- dann die Sperre auflösen zu können. Die Konsequenzen mangelhafter Buch- träge der Studierenden, die zu einem Der Herbst kam, das Ende der Haus- führung zeigen sich schon heute. Ein Teil an den Stura gehen. 400.000 Euro haltssperre auch, aber der Rückstand enormes Problem sind Steuernachzah- hat das Gremium jedes Jahr zur Ver- blieb. Bis heute fehlen die Jahresab- lungen. Frühere Haushaltsverantwort- fügung, um Veranstaltungen zu finan- schlüsse. Die Finanzer kommen nicht liche seien der Meinung gewesen, keine zieren, Fachschaftsräte (FSRe) zu unter- hinterher, den Rückstand und die all- Umsatzsteuer zahlen zu müssen, sagt Sa- stützen und Angestellte zu beschäftigen. täglichen Ausgaben der Studierenden- muel. Letztes Jahr machte das Finanz- Seit einiger Zeit jedoch ist der Haus- schaft gleichzeitig zu bearbeiten. amt diesem Verständnis einen Strich halt das Sorgenkind im Gremium, denn Seit Anfang Januar scheint endlich ein durch die Rechnung. Der Stura muss für etliche Ausgaben fehlen Belege. Seit Licht am Ende des Tunnels. Vier wei- diese jetzt rückwirkend für zehn Jahre 2018 wurde kein Jahresabschluss zur tere Personen wurden zur Stellvertre- nachzahlen. Seit 2020 plant der Stura Überprüfung mehr eingereicht, wozu jährlich knapp 200.000 Euro dafür ein. der Stura eigentlich verpflichtet ist. Die Das treibt die Ausgaben natürlich in die Abschlüsse müssen vom Finanzamt Höhe, weshalb versucht wird, an ande- und von der Innenrevision, einer in- dgej Der Herbst kam, das rer Stelle zu sparen. ternen Kontrollinstanz der Uni, über- Darunter leiden unter anderem die prüft werden. Ende der Haushaltssperre Campusmedien, deren finanzielle Zu- kunft für einige Wochen auf der Kippe 400.000 Euro wiegen schwer auch, aber der Rückstand stand. Auch die Budgets der Referate und Arbeitskreise wurden gekürzt. Das Für die Verwaltung des Haushaltes blieb. Bis heute fehlen die Lehramtsreferat wurde zum Beispiel von sind mehrere Stellen vorgesehen. In 4.700 Euro auf 2.100 Euro herabgesetzt. erster Linie sind das die Haushalts- Jahresabschlüsse Bezahlen muss die unsaubere Vorar- verantwortliche und die Kassenver- beit vor allem eine Studierendenschaft, antwortliche. Beide Stellen sind seit die mit der ganzen Sache nichts mehr zu einiger Zeit unbesetzt. Weil die Rech- tun hat, weil sie schlicht jetzt und nicht nungen aber weiter bezahlt werden tung von Kasse und Haushaltsverant- vor zehn Jahren studiert hat. Doch es müssen, geht die Verantwortung dann wortung gewählt, das Hauptamt bleibt nützt nichts, die Steuer muss nachge- an den Vorstand über, der bereits mit weiter unbesetzt. Zusammen mit der zahlt werden. seinen eigenen Aufgaben überfordert bisherigen Vertretung Oliver Pischke Fehlendes finanzielles Engagement ist ist: Vorbereiten der Sitzungen, Erstel- und Samuel Ritzkowski sind sie nun ein Faktor, warum die Studierenden- len von Protokollen, Streitereien im also zu sechst. schaft keine neuen Projekte hervorbringt. Mailpostfach. Ob ein Neuanfang in Sachen Haushalt Es ist aber nicht der einzige. Ehrenamt- Im letzten Jahr verhängte der dama- möglich ist, bleibt abzuwarten. Samu- liches Engagement fehlt in allen Facet- lige Vorstand Paul Staab deshalb eine el ist zuversichtlich: „Die Einarbeitung ten der Jenaer Studierendenschaft. Das Haushaltssperre – er kam mit der Bear- wird einige Zeit dauern, aber mehr Hän- führt dazu, dass sich viele Projekte im beitung der eingehenden Rechnungen de sind immer hilfreich.“ Natürlich Sand verlaufen. nicht hinterher und beendete kurzer- müssten die Neuen einige Hausaufga- hand den Großteil der studentischen ben nachholen – Finanzordnung studie- ► Fortsetzung auf S. 4 Tätigkeiten. Weder die FSRe noch an- ren, Thüringer Hochschulgesetz lesen,
4 / Titel WOFÜR GIBT DER STURA EIGENTLICH UNSER GELD AUS? D er Stura dreht sich im der Kategorie „Selbsterhalt“ zugeord- Euro eingeplant – ein Rückgang um fast Kreis. Das ist nicht nur net. Zu guter Letzt finden sich in die- siebzig Prozent. Währenddessen sind ein Gefühl, das man bei ser Kategorie Veranstaltungen wie die die Ausgaben für den Selbsterhalt von endlosen Debatten über Alternativen Orientierungstage (ALO- 145.000 Euro (2011) auf 300.000 Euro Satzungsparagraphen TA). Früher waren hier noch andere (2022) gestiegen. Diese Zahlen belegen, bekommt. Es lässt sich Veranstaltungen zu finden, an die sich was viele ohnehin schon vermuteten: auch mit Zahlen belegen – Zahlen, die die meisten aber kaum erinnern wer- Der Stura kümmert sich immer mehr der Stura selbst bereitstellt. Er muss sei- den, weil sie schon seit einigen Jahren um sich und immer weniger um sei- ne Ausgaben jährlich im Haushaltsab- nicht mehr stattfinden. Oder kennt je- ne Aufgaben. schluss sammeln und veröffentlichen. mand noch die Cinebeats? Daraus geht hervor, wofür Geld ausge- Der andere, um einiges größere Teil Was ist geschehen? geben wurde und wofür nicht. Seit 2018 der Ausgaben geht für den Selbsterhalt fehlen diese Abschlüsse zwar, aber auch drauf: rechtliche Hilfe, Beschaffung von Für diesen Trend gibt es drei Gründe: aus den Haushaltsplänen, die im Voraus Geräten, Geschäftsbedarf und Verwal- Erstens steigen die Personalkosten des Haushaltsjahres gemacht werden, seit 2018 immens. Seitdem werden alle lassen sich die Trends ablesen. Angestellten des Stura nach dem Tarif- Schaut man sich die Haushaltspläne vertrag der Länder (TV-L) bezahlt. Für seit 2011 an, wird ein Trend schnell sicht- bar: Ausgaben für FSRe, Referate, eige- Der Stura gibt immer mehr jede Stelle werden dadurch Sozialver- sicherungsbeiträge fällig, diese liegen ne Projekte und Veranstaltungen sin- ken, die für Bürobedarf und Personal für seinen Selbsterhalt und jährlich bei knapp 60.000 Euro. Außer- dem veränderte der Stura 2021 seine steigen. Der Stura gibt immer mehr für seinen Selbsterhalt und immer weniger immer weniger für Projekte internen Personalstrukturen. In den letzten Jahren wurden vier neue Stel- für Projekte und Veranstaltungen aus. len eingeführt. Vorher gab es in der und Veranstaltungen aus Technikberatung und Verwaltung je Aus Elf mach Zwei eine Stelle. Heute gibt es jeweils zwei, die besser bezahlt sind und auch So- Doch beginnen wir bei den Grundlagen. zialversicherungsbeiträge erfordern. Der Haushalt teilt sich mal in elf, mal in tung. Das sind Ausgaben, die keines- Beides entlastet die Angestellten und vierzehn Töpfe auf. Nachdem man sich wegs sinnlos sind. Von diesen Geldern ermöglicht eine faire Bezahlung, führt durch etliche Seiten Haushaltstabellen werden alle personellen und materiel- aber auch dazu, dass die Personalkos- wälzt, kann man diese aber in zwei Ka- len Grundlagen finanziert. Die Buchhal- ten in die Höhe schießen. Vor der Re- tegorien einteilen: in solche, die außer- tung, das Sekreteriat, die Chefredakti- form lagen diese unter 100.000 Euro, halb der eigenen Strukturen der Stu- onen der Campusmedien: Stellen, die heute über 150.000 Euro. dierendenschaft zugutekommen, und dafür sorgen, dass die Organisation der Zweitens hat der Stura seine Steuern solche, die den Selbsterhalt des Stura studentischen Selbstverwaltung beste- nicht richtig abgerechnet und muss da- ermöglichen. hen bleibt. Diese festen Stellen ermög- für rückwirkend ab 2013 nachzahlen. In die Kategorie Mehrwert für Studie- lichen, dass um sie herum ehrenamt- Die Mühlen des Staates mahlen viel- rende sortieren wir die Töpfe für FSRe, liches Engagement aufeinander abge- leicht langsam, aber sie mahlen. Und sie Referate, Projekte, Veranstaltungen und stimmt werden kann. Dafür fallen na- fordern ihr Geld auch noch nach zehn einige kleinere, die man hier vernach- türlich auch Materialkosten an. Dru- Jahren ein. 2020 plante der Stura dafür lässigen kann. Referate und FSRe sind cker, Stifte und Kaffemaschinen sind noch 35.000 Euro ein, im nächsten Jahr die Strukturen der Studierendenschaft, schließlich essentiell für ein gut funk- waren es schon über 100.000 Euro, die die die meisten Veranstaltungen pla- tionierendes Büro. jedes Jahr ins Land fließen sollen. Da- nen und durchführen (Einführungstage, Dass diese Kosten existieren, ist nicht mit werden nicht nur die Steuern zu- Fachschaftspartys, Vorträge). Unter Pro- problematisch. Sie werden aber schlei- rückgezahlt, sondern auch eine Steu- jekte fallen vor allem die Campusmedien chend größer, während andere Ausga- erberatung finanziert. (Radio und Zeitung), aber auch die Un- ben ins Bodenlose zurückfallen. Seit Drittens – und schlimmstens: Das En- terstützung des Prestigeprojekts Haus 2011 sind die Ausgaben mit Mehrwert gagement der Jenaer Studierenden- auf der Mauer. Für alle drei finanziert jährlich gesunken. Im Jahr 2012 lagen schaft schläft ein. FSRe geben ihr Bud- der Stura zwar noch eine Stelle, die ha- sie noch bei 470.000 Euro, für den neuen get nur noch selten vollständig aus, sie ben wir hier aber herausgerechnet und Haushalt 2023/24 sind nur noch 150.000 organisieren immer weniger Veranstal-
Titel / 5 Der Stura gibt immer mehr Geld für seine eigenen Strukturen aus und vergisst dabei STURA, DU BIST seine eigentliche Aufgabe: die Förderung POLITISCH. studentischen Engagements. BENIMM DICH AUCH SO! tungen. Das liegt oftmals am Personalmangel, der vor allem seit der Pandemie zu einem Problem geworden ist. Der FSR 400.000 Euro sind viel Geld. Man kann es Theologie gab zum Beispiel seit 2019 jährlich nur 200 bis 400 besser investieren als in Druckerschwärze Euro aus. Trotz eines Budgets von über 1.200 Euro. Der Stura und Tarifverträge. Ein Appell. finanziert auch selbst immer weniger Veranstaltungen. Au- ßer den ALOTA findet sich in diesem Topf nichts mehr. Das Verhältnis im Stura hat sich in den letzten Jahren ver- Also: Der Stura dreht sich im Kreis. Er finanziert vor allem ändert: Die Idee einer autonomen Selbstverwaltung gerät in sich selbst. Personalkosten und Steuerrückzahlungen stei- den Hintergrund. Stattdessen ähnelt er immer mehr einem gen in die Höhe. Währenddessen schläft die gesamte Studie- bürokratischen Koloss. Das liegt nicht an den Personen, die rendenschaft ein. Die Gründe dafür liegen vor allem im feh- sich engagieren, sondern vor allem an denen, die es nicht tun. lenden Engagement, das mit Personalkosten kompensiert Wenn sich keiner ehrenamtlich engagiert, müssen stattdes- wird. Die Festanstellung ersetzt das Ehrenamt. sen Stellen geschaffen und bezahlt werden. Zwar verbessern feste Stellen auch ehrenamtliches Engagement, denn sie kön- Johannes Vogt und Lukas Hillmann nen Struktur und Stabilität bieten, sie können ehrenamtliches Engagement aber nicht ersetzen. Eine Selbstverwaltung kann nicht funktionieren, wenn sich die Mehrheit nicht dafür inte- ressiert. Gerade das ist aber die bittere Realität und sie zeigt sich auch auf den Stura-Sitzungen. Es wird immer häufiger über Satzungsparagraphen diskutiert. Oftmals scheitern An- träge nicht, weil sie nicht umsetzbar wären, sondern aufgrund irgendwelcher formellen Fehler: Antrag zu spät eingereicht oder Fehler bei Abstimmungen. Sowohl die steigenden Personalkosten als auch die versteif- ten Satzungsjünger sind Symptome des selben Prozesses. Der Stura entfremdet sich laufend von seiner Studierendenschaft und entwickelt sich zu einer bürokratischen Schildkröte, die sich immer stärker in ihren eigenen Panzer zurückzieht. Wie sich das ändern lässt? Durch Engagement! Der Stura braucht frischen Wind, ein neues Selbstverständnis und eine Studierendenschaft, die sich dafür interessiert, was mit ih- rem Geld passiert. Sonst verwandelt sich die Idee einer stu- dentischen Selbstverwaltung zu einer Floskel. Es könnte auch anders sein. Mit dem Geld könnten nicht nur Personalstellen und Steuerrückzahlungen, sondern eine regionale Subkultur finanziert werden. Studentische Initiati- ven in Jena könnten von den Geldern der Studierendenschaft profitieren. Wieso gibt es keine finanzielle Zusammenarbeit zwischen Stura und Fridays For Future, der Unibesetzung oder kommunalen Wohnprojekten? Warum finanziert der Stura keine Studikneipe in Jena, wo man nicht vier, sondern einen Euro für ein Bier bezahlt? Der Stura ist der Kern der studentischen Selbstverwaltung, nicht einer bürokratischen Fremdverwaltung. Das müsste auch sein Selbstverständnis sein. Dafür braucht es aber eine engagierte Studierendenschaft, die es nicht cooler findet, ei- nen Marx-Lesekreis zu organisieren, als 400.000 Euro zu ver- walten. Ob das eine realistische Vision oder Utopie ist, wird sich zeigen. Wenn es denn jemand probiert. Johannes Vogt
6 / Uni & Stadt DER PROTEST LEBT Immer aktiv bei der Sache, Toni und Nico vom neuen Bündnis. Foto: Henriette Lahrmann Die Hörsaalbesetzung ist beendet – an ihrer Stelle steht jetzt ein neues Bündnis. Das will die Forderungen des Protests langfristig durchsetzen. Bei eisiger Kälte und mit eisernem Wil- Spätestens jetzt wird klar: Das wird keine Seminarraum 309 in der Carl-Zeiss-Straße len findet sich eine Gruppe von mehreren gewöhnliche Sitzung. Den Grundton der 3. Dort stellen sie sich in einer Pressekonfe- hundert Studierenden mit lauten Trommel- folgenden Diskussion setzt Anke John mit renz als neues Bündnis vor: „Mehr Bildung schlägen, Glocken und Pfeifen auf der klei- einem Antrag zur Beschlussfassung. Durch wagen – für die Ausfinanzierung der Geis- nen Fläche vor den Rosensälen zusammen. den Dekan, den Präsidenten und die Lei- teswissenschaften und sichere und gut be- Es ist der 13. Dezember 2022 und in weni- tung des Historischen Instituts sollen „be- zahlte Arbeit an der Universität.“ Ihr Ziel gen Minuten wird hier die philosophische lastbare Wege für den Erhalt der Professur“ steht bereits im selbst gegebenem Namen. Fakultätsratssitzung stattfinden. Wir erin- gefunden werden. Nachdem in verschie- Der Fokus soll insbesondere auf tarifver- nern uns: Der Lehrstuhl für Geschlechter- denen Wortbeiträgen überwiegend die traglichen Regelungen liegen. Mit dem Frei- geschichte soll gestrichen werden. Unterstützung für die Besetzenden zum raum wollen sie einen Ort für alle Studie- Knapp zwei Wochen wurde Hörsaal 1 Ausdruck kommt, wirft Dekan Christoph renden schaffen, in dem sie sich austau- von Studierenden deswegen besetzt. Ne- Demmerling ein, dass eine solidarische schen und frei entfalten könnten. ben einer wohnlichen Einrichtung inklusi- Lösung wahrscheinlich nicht möglich sein ve Zimmerpflanzen und Sofas folgten Vor- werde. Die Generierung zusätzlicher Gel- Kein Umzug an den Arsch der Welt träge, Diskussionen und Filmvorstellungen. der könne nur erfolgen, indem man frei- Alles thematisch abgestimmt auf vier For- werdende Professuren nicht nachbesetze Der von der Universität zugeteilte Frei- derungen: Erhalt des Lehrstuhls, Tarifver- und eine fakultätsinterne Stellensperre ein- raum ist dem Bündnis bis Ende Januar zu- träge für studentische Beschäftigte, Demo- führe. Die notwendigen Mitteleinsparun- gesichert. Danach ist alles offen, in einer kratisierung der Uni und ein Appell gegen gen, die den Lehrstuhlerhalt sicherstellten, Mail wurde aber bereits von der Uni ange- den Rechtsruck. müssten sich über einen Zeitraum von 20 deutet, dass man womöglich in einen der Unter den Besetzenden waren die Studie- bis 25 Jahren erstrecken. Dem setzt er ent- leerstehenden Räume im Bachstraßenare- renden Toni und Nico, die eigentlich anders gegen, dass sich die Institute bereits an der al umziehen müsse. Noch eine Stufe run- heißen. Sie nehmen auch an der Fakultäts- Leistungsgrenze befänden. terzugehen und sich zu verkleinern, erach- ratssitzung teil. Im Vorfeld seien sie sich da- Nach weiteren Ausführungen für den ten Toni und Nico aber als wenig sinnvoll. rüber bewusst gewesen, dass in mehreren Beschluss anderer Professor:innen und „Wir würden es ganz gut finden, nicht am Aspekten ihrer Forderungen Hürden exi- Vertreter:innen des FSR Geschichte und Arsch der Welt zu sein“, so Toni. Ende Ja- stieren. Als Beispiel nennen sie hier die ta- der bundesweiten Tarifintiative studen- nuar bis Anfang Februar sind wieder Ge- rifvertraglichen Regelungen, die man nur tischer Beschäftigter TVStud kommt es spräche mit der Unileitung angesetzt. Man mit der Uni als Akteur an der Seite über- schließlich zur Wahl über den Beschluss- könnte zu dem Schluss kommen, dass die winden könne. Den Worten sollen nun end- antrag. Alle acht Vertreter:innen der Stu- Uni diese vordergründig als informell be- lich greifbare Taten folgen. dierendenschaft stimmen dafür, ebenso trachtet. Das Bündnis hingegen spricht von zehn Professor:innen – nur drei der Leh- Verhandlungen, von diesen erhoffen sie Eine besondere Sitzung renden sind dagegen. Damit ist der Antrags- sich materielle Zugeständnisse und nicht vorschlag von John mit großer Mehrheit nur leere Worte. Immerhin seien es The- Noch vor Beginn der Sitzung offenbart sich beschlossen. Darüber hinaus seien die Stu- men, die alle Studierenden etwas angehen den Mitgliedern des Fakultätsrats ein ein- dierenden ihrem Anspruch gerecht gewor- würden. Man wolle sich alle Optionen of- drucksvolles Bild: Unter lauten Rufen des den, die Besetzung bis zur letzten Fakul- fenhalten – auch eine weitere Besetzung Kernslogans „Wir sind hier, wir sind laut, tätsratssitzung aufrechtzuerhalten, so Toni schließe man nicht aus. weil ihr uns den Lehrstuhl klaut“ strömen und Nico. Einen Tag später wird die Beset- die Demonstrierenden den Saal und stel- zung beendet – nicht aber der Protest. Es Ben Wolfermann len sich geschlossen hinter ihre Banner. erfolgt der Umzug des Bündnisses in den und Henriette Lahrmann
Uni & Stadt / 7 FREUDENTRÄNEN AN DER EAH Studierende der EAH wählen Studierendenrat und Fachschaften. Die erste Wahl nach der Pandemie trifft auf breite Resonanz und wartet mit zwei weiteren Besonderheiten auf. Die diesjährige Wahl hält einige Beson- werben. Zum Ende der Stimmauszählung nach kurzer Überredung aufstellen und derheiten bereit, erstmals gibt es mehr kommen Pascal Pastoor erste Freudenträ- wurde prompt gewählt. So weit ist der Ab- Kandidat:innen als Sitze für den Stura. Wei- nen, die Wahlbeteiligung ist im Vergleich lauf glatt, in drei Stunden stand der Vor- terhin kommt der Fachschaftsrat Betriebs- zum letzten Jahr mit 12,75% zweieinhalb stand und die Leiter:innen für die Refera- wirtschaften zum ersten Mal seit drei Jah- Mal so hoch. Der amtierende Stura-Vor- te fest, dann kommt das Sitzungsgeld zur ren wieder zustande. Allerdings kämpfen stand ist sichtlich erleichtert: „Die Leute Sprache. Ab einer Anwesenheit von 70% durch das rundenbasierte System der Platz- kommen aus dem Coronaschlaf.“ Dafür ist bei den Stura-Sitzungen erhalten die ge- vergabe nur die Angetretenen des Fachbe- die gestiegene Beteiligung jedoch nicht der wählten Repräsentant:innen ein Sitzungs- reichs Sozialwesen so richtig um den Einzug einzige Grund, auch die Kandidat:innen geld von bis zu 10 €. Allerdings behält sich in das höchste Gremium der EAH. Dabei sind diesmal besonders breit auf die Stu- der Vorstand vor, das Sitzungsgeld zu kür- treten die Kandidat:innen, anders als an diengänge verteilt. Diese Vielfalt lässt auf zen oder zu streichen, falls die Mitglieder der FSU, nicht in Listen zur Wahl an, son- ein breites Interesse an der aktiven Gestal- unvorbereitet zur Sitzung erscheinen. Ob dern als Einzelbewerber:innen. Ein Um- tung der Hochschulpolitik schließen. das mit der Freiheit des Mandats verein- stand, der diese aber nicht weniger poli- bar ist, verhandelt das Gremium hoffent- tisch und interessant macht. Sie wollen Ein neuer Vorstand lich noch in seinen kommenden Sitzungen. sich auf unterschiedliche Art im Gremium einbringen, etwa mit der Forcierung des Die konstituierende Sitzung hat schnell Vincent Kluger Nachteilsausgleichs, Förderung des öko- Fahrt aufgenommen, fünfzehn Stimmbe- Jetzt wird ausgezählt! logischen Gedankens oder der Organisa- rechtigte sind anwesend. Pascal wird von Fotos: Vincent Kluger tion von Veranstaltungen. Martin Schmidt für den Vorstandsvorsitz Zu einer der größeren Initiativen des EAH- vorgeschlagen und im ersten Durchgang Sturas zählt mit Sicherheit das Projekt Le- gewählt. Die Wahl für die Haushaltsver- bendige Hochschule (ehemals Ruhezonen- antwortung (HHV) und Kassenverantwor- projekt). In Kooperation mit der Bauhaus- tung (KV) folgen. Gewählt werden Martin Universität Weimar sind letztes Jahr Ent- als HHV und Jan Zurawski als KV. Katha- würfe zur Umgestaltung der Flure entstan- rina Seiffarth wird einstimmig zum vier- den, um ruhige und angenehme Aufent- ten Vorstand gewählt, der damit vollstän- haltsorte abseits von Seminaren und Vorle- dig besetzt ist. Eine kleine Überraschung sungen bereitzustellen. Die Umsetzung ha- stellt die Wahl zur Stellvertretung der HHV perte jedoch zuletzt und soll dieses Jahr mit dar, diese Position wird nach vielen Jahren neuem Elan in Angriff genommen werden, erstmals wieder besetzt. Sedrik Franz, ei- Engagierte können sich bald beim Stura be- ner der Neulinge im Gremium, ließ sich Anzeige
8 / Uni & Stadt DIE KULTURKISTEN GEPACKT Fotos: Line Urbanek Das Café Wagner muss sein Zuhause verlassen. Über einen Umzug und die Familie, die ihn bewerkstelligen muss. Als Bewohnerinnen einer kleinen Stadt zogen mit altem Laminatfußboden. Bis der gen, „dass es auch anders sein könnte und teilt man sich eine begrenzte Erfahrungs- Raum also für den Genuss von Kultur und was ein neuer Ort des Kulturschaffens mit welt und macht so gewisse kollektive Er- Essen bereit ist, werden noch einige Wo- einem Stadtteil macht“, so Michael, eben- fahrungen. Man erfährt: Auf dem Friedens- chen Arbeit und viel Geld in ihn hineinge- falls Mitglied im Vorstand. berg sonnt es sich gut, am Wehr der Saale steckt werden müssen. „Hier plant die Friedrich-Schiller-Universi- schwimmt es sich gut und im Café Wagner Die Umzugskosten werden vom Wagner tät einen neuen Campus für Sozialwissen- tanzt es sich eben gut. Und das nicht erst e. V. auf 125.000 Euro geschätzt. Diese hat schaften“, liest man seit einigen Jahren an seit gestern. In Gesprächen mit der mit- der Verein noch nicht in Gänze gesammelt, der Fassade der künftigen Spielstätte. Das telalten Jenaer Bevölkerung erahnt man, ein Teil fehlt noch. Finanzielle Unterstüt- wird frühestens 2025 passieren, bis dahin dass auch die Generationen vor uns nach zung leisteten Jenakultur, das Land Thürin- ist dem Wagner e. V. die Nutzung des Are- langen Nächten alkoholisiert die Wagner- gen und zu einem erheblichen Anteil die als gestattet. Vermutlich wird der Hörsaal gasse herunterpolterten. Jenaer Bevölkerung selbst. Mit einer Crow- nach den zwei Jahren musikalischer Be- Vor knapp 30 Jahren gründete sich das dfunding-Kampagne und weiteren Spen- schallung abgerissen. „Wenn man das wirt- Café Wagner und hat sich seither als In- denaktionen wandte man sich direkt an schaftlich betrachtet, ist das natürlich völ- stitution in der Kulturszene Jenas etabliert. die Besucherinnen des Wagners und „er- liger Unsinn“, erklärt Michael, „aber Kul- Ob das Projekt, seit 2001 in der Gestalt des hielt mit insgesamt 50.000 Euro enormen tur kann man eben nicht nur wirtschaft- Wagner e. V., über 2023 hinaus bestehen Rückenwind“, erzählt Max, Vorstandsmit- lich betrachten.“ Außerdem sollen Teile kann, war zeitweise nicht sicher. Denn das glied im Wagner e. V. der Baumaterialien nach der Zeit im Hör- Gebäude in der Wagnergasse muss kernsa- saal weitergenutzt werden. niert werden. Entsprechende Baumaßnah- Musikalische Versorgung Die kommenden Wochen werden für die men sollen ab März zwei Jahre dauern und gewährleistet ungefähr 30 aktiven Mitglieder vermutlich werden den Veranstaltungsbetrieb in die- sehr auslaugend. Doch Max und Michael sem Zeitraum unmöglich machen. So lan- Für den Umzugswagen scheint der Weg sind optimistisch: „Wenn wir alle an einem ge zu pausieren, wurde von den Vereins- also fast frei zu sein und es bahnt sich so Strang ziehen, dann ist sehr viel möglich. mitgliedern nicht in Betracht gezogen. Was etwas wie eine Erfolgsgeschichte an. Aber Das Wagner ist im Endeffekt eine große Fa- wäre schließlich aus den laufenden Arbeits- die Geschichte des Umzugs ist vor allem ge- milie, die jetzt einen großen, komplizierten verträgen und der funktionierenden Ver- prägt von Anstrengungen und Zurückwei- Umzug macht.“ einsstruktur geworden? Und wer kümmert sungen. Im Film Nichtstadt, der in Ausga- Ab Mai soll das Veranstaltungsprogramm sich um die Kultur in Jena? Die notwendige be 418 besprochen wurde, wird angedeutet, wieder anlaufen. Dann wird sich Jena wie- Konsequenz: Das Café Wagner muss über- dass Jena Schwierigkeiten damit hat, sozio- der an Konzerten, Lesungen, Theater- und gangsweise umziehen. kulturelle Räume zu ermöglichen und diese Filmvorstellungen des Wagners erfreuen sogar aus dem Stadtbild verdrängt. Damit dürfen. Mit dem vom Verein frisch getauf- Das Brachland wird kultiviert sich bei der Suche nach einem Ausweichob- ten „Musikalischen Versorgungszentrum“ jekt die Stadt dem Café Wagner unterstüt- wird die kulturelle Erfahrungswelt der Stadt Eine Interimslösung wurde lange gesucht zend zur Seite stellte, musste erst einmal um einen Ort erweitert werden. und in einem alten Hörsaal der ehema- öffentlicher Druck entstehen, ein Privi- Hinter ihm verbirgt sich ein klarer, selbst- ligen Kinderklinik in der Westbahnhof- leg, das kleinere kulturelle Einrichtungen gegebener Auftrag: Jena hat einen Bedarf straße gefunden. Dieser ist noch nicht an nicht genießen. Dementsprechend könnte nach Musik und Kultur und das Wagner Strom und Wasser angeschlossen, nicht der Umzug des Café Wagner auch als Mo- wird ihn decken. schallgedämpft und darüber hinaus über- dellbeispiel fungieren und der Stadt zei- Gustav Suliak
Uni & Stadt / 9 WOHNEN MIT Ein Seniorenheim in Winzerla bietet studentischen Wohnraum für GELÄNDER Mithilfe an. Über die Annäherung von zwei Lebenswelten. Für viele werdende Studierende ist es die in der Altenpflege. In der sozialen Betreu- das vielseitige Aufgabenspektrum kämen erste große Hürde: Die Suche nach einer ung steht die Schaffung eines schönen All- hingegen kaum zur Sprache. Diese Dar- Wohnung oder WG. Dass das aufgrund der tags für Bewohner:innen im Vordergrund. stellung der Pflege funktioniere dann wie angespannten Jenaer Wohnungslage nicht Das umfasst zum Beispiel logistische Hilfe- eine selbsterfüllende Prophezeiung, in der immer einfach ist, dürfte bekannt sein. stellungen und Einzelbetreuung am Bett. sich der Personalmangel weiter verschärfe, Insbesondere dann, wenn die Zusage der In der Pflege stehen Körperhygiene, Toilet- weil junge Menschen abgeschreckt würden. Wunschuniversität erst sehr spät vorliegt. tengänge oder Nahrungsaufnahme an der Bei passenden Grundvoraussetzungen Genauso erging es dem neunzehnjährigen Tagesordnung. Stolpersteine sind am An- kann im Seniorenheim eines von elf Zim- Tübinger Adrian Dietzsch mit seinem Me- fang natürlich vorhanden, die Studieren- mern bezogen werden. Hinzu kommen eine dizinstudium. Für Wohnheim-Wartelisten den werden aber stückweise an die Auf- gemeinsame Küche, ein Wasch- und ein war dann einfach keine Zeit mehr. Geret- gaben herangeführt. Vorerfahrungen wer- Aufenthaltsraum. Für die Ausstattung ist tet hat ihn das Projekt Wohnen und Helfen. den nicht erwartet. Allerdings sind Lern- Buske selbst verantwortlich. Für sie stand Die Idee dahinter: Studierende gegen Hilfe- bereitschaft und Freude am Kontakt mit fest: Studierende brauchen einen Ofen leistungen in Pflegeheimen unterbringen. den Senior:innen Grundvoraussetzung für für ihre Tiefkühlpizzen. Ein Kühlschrank Wie es dazu gekommen ist, erläutert eine Zusammenarbeit. wurde hingegen erst angeschafft, als die uns Adrians Chefin und Vermieterin Ca- Bewohner:innen ihre Milch auf dem Fen- rolina Buske. Sie ist Leiterin des Senioren- Ein verzerrtes Bild sterbrett abstellten. Im Aufenthaltsraum heims Am Kleinertal in Winzerla. Ihren Ur- trifft man bisher nur auf einen kleinen sprung hat die Idee in den Niederlanden. Die Arbeitszeiten können relativ frei ge- Tisch und zwei Stühle. Die Heimleiterin Dort wohnen Studierende allerdings mit wählt werden. Ermöglicht wird dies durch hofft, dass die Mieter:innen noch mehr den Senior:innen zusammen. Eine räum- die Einplanung der Studierenden als zu- aus dem Ort machen. Adrian nimmt kei- liche Überlappung, die Buske problema- sätzliche Hilfe. Situationen, in denen der ne Einschränkungen für sein WG-Leben tisch findet, kollidiere sie doch zu stark Pflegebetrieb auf ihre Arbeitskraft ange- wahr, wesentlich durch die strikte räum- mit der Realität des Studierendenlebens. wiesen wäre, sind laut Buske gefährlich liche Trennung von Freizeit und Pflegebe- In Jena hat man das Konzept entsprechend und verantwortungslos. Deshalb glaubt trieb bedingt. Studierende können das Pfle- abgeändert. Freiräume waren am Kleiner- sie nicht daran, dass solche Projekte sinn- geheim betreten und verlassen, ohne dabei tal vorhanden. Ein vom restlichen Senio- volle Teillösungen für den in Deutschland jemandem mit Rentenanspruch zu begeg- renheim separierter Wohnbereich muss- herrschenden Pflegefachkräftemangel sein nen. Psychologisch hängt das Gelingen der te wegen Personalmangel gesperrt werden können. Dieser hätte unter anderem mit ei- Work-Life-Balance wohl auch davon ab, ob – eine gute Gelegenheit für die Schaffung ner zu negativen Berichterstattung zu tun, man sich an das klinische Flair gewöhnen von studentischem Wohnraum, gleichzei- die den Pflegeberuf auf schwere Arbeit kann. Adrian ist das recht schnell gelungen. tig könnten Leute wie Adrian „etwas Le- und Personalmangel reduziere. Der sinn- ben in die Bude bringen“. stiftende Umgang mit den Menschen und Markus Manz und Ben Wolfermann Ähnlich, aber anders Adrian Dietzsch wohnt im Seniorenheim. Foto: DRK-Kreisverband Jena-Eisenberg- Stadtroda e.V. Beim Betreten des Bereichs will die Heim- atmosphäre nicht so recht verfliegen. Eine Art von Beklommenheit, die sich fairerwei- se auch in dem ein oder anderen Wohn- heim einstellt. Ein langer, steriler Gang führt an den unaufgeregten blaugrauen Zimmertüren vorbei. Dazwischen Gelän- der an den Wänden. Wie sich Adrian wohl beim Einzug gefühlt hat? Zumindest werden hier keine Wohnmarkt- preise fällig. 250 Euro kostet ein Zimmer, wobei der Betrag vollständig abgearbeitet werden soll. Dafür kann aus zwei Aufga- benfeldern gewählt werden. Entweder be- tätigt man sich für 25 Monatsstunden in der sozialen Betreuung oder wie Adrian für 20
Frit z-R eu te r-S tra ße2 Au g us t-Be be l-St ra ße3 3 Gr L ie ö bs sbrü te dt cke e rS / tra ß e Ca rl- Bor n- S tra ß e1 9 Sch lip pe n str aß W e4 Lö er 7 bs tst o t e dt ffh er of S ( t ra KSJ ße ) KLASSIKER IM VERSCHENKEREGAL 56
e5 ß ra St ölk- W il- Em RAUS DAMIT Du musst dringend mal wieder aussortieren oder ein paar ausgelesene Bücher loswerden? In Jenas Verschenkeregalen sind sie in guter Gesellschaft. Ein Gang durch die Straßen Jenas. An ei- mal Babyklamotten hineinpacken. Bei den doch nie. Dabei sollte die Stadt doch ein In- ner Ecke grüßt eine fleckige Matratze, an ei- meisten Regalen geht nicht hervor, wer sie teresse daran haben, den unangemeldeten ner anderen ein abmontiertes Spülbecken. aufgestellt hat und pflegt. Denn ohne gele- Sperrmüll – denn, machen wir uns nichts Über wie aus dem Nichts auftauchende Ge- gentliche Leerung liefen sie bei den Unmen- vor, das ist es meistens – von den Straßen zu genstände wundert sich in dieser Stadt wohl gen an abgeladenen Altlasten sonst wohl ir- bekommen. Denn der muss immer irgend- kaum einer mehr. Oft sind es nur einzel- gendwann über. wann vom Kommunalservice entfernt wer- ne Bücher, die in Pappkartons mit der Auf- Die Students+ for future regten 2021 in den – allein schon wegen der Stolpergefahr. schrift „Zu verschenken“ langsam vor sich einem Vorschlag an die Stadtverwaltung Offen bleibt, warum, so beobachte ich, in hin modern, manchmal aber auch eine ganze an, eine zentrale überdachte Sammelstel- Jena so viel mehr Straßenmöblierung zu se- Wohnungseinrichtung. Neben den üblichen le für zu verschenkende Gegenstände un- hen ist als anderswo. Haben die Menschen Kandidaten – siehe „Klassiker“ – finden sich ter dem Eisenbahntunnel an der Kathari- hier besonders viel Spaß am Aussortieren? darunter auch schon mal Kuriositäten wie nenstraße einzurichten, der bekannterma- Oder handelt es sich um einen Dominoeffekt ein Klostuhl. Wie und von wem all diese ßen die Adresse für Trödel jeglicher Art ist. à la: „Wieso soll ich extra eine Sperrmüllab- Dinge hingestellt werden, bleibt meist unbe- Das sollte eine Alternative zu den unzähli- holung bestellen, wenn alle anderen ihren kannt. Die Haufen sind auf einmal da und gen Verschenkekartons schaffen, die Wege Müll auch einfach auf die Straße stellen?“ verschwinden nach ein paar Tagen wie von versperren und bei Feuchtigkeit aufweichen. Zugegeben, bei der Einrichtung einer neu- Zauberhand auch wieder. Die Stadt lehnte den Vorschlag aus mäßig en Wohnung kann der Tand ganz schön nütz- Darüber hinaus gibt es in Jena eine beein- überzeugenden Gründen, unter anderem zu lich sein. Denn manchmal findet sich un- druckende Zahl Verschenkeregale. Manche hohen Instandhaltungskosten, ab. Eine Ar- ter all den dreibeinigen Stühlen und Was- sind ausschließlich zum Tausch von Büchern beitsgruppe sollte eine Lösung für die Pro- serhähnen doch noch ein ganz fesches Sofa. konzipiert, was die Beliefernden jedoch nicht blematik entwickeln und sich dann bei den immer so genau nehmen und munter auch Students+ for future melden. Das geschah je- Carolin Lehmann Illustrationen: Veronika Vonderlind, Fotos: Carolin Lehman, Henriette Lahrmann und Markus Manz
12 / Uni & Stadt DIE SPUREN DES NSU Foto: Melina Blumenröther Jena spielt eine besondere Rolle im NSU-Komplex. Doch was versäumt die Stadt bis heute? Eine Audioführung begibt sich auf die Spuren der Vergangenheit und der Zukunft. Blumen sind ein Symbol der Hoffnung. sichtbarespuren.de und kann jederzeit mit experimenten ein und überbrückt Warte- Wer an der Audiotour teilnimmt, kann sich eigenen Kopfhörern durchgeführt werden. zeiten an Ampeln und Haltestellen durch zu Beginn der Führung am Volksbad Blu- Neben Besuchen von geschichtsträchtigen Interviews. Eines davon wurde mit der mensamen mitnehmen, deren Hintergrund Orten im Hinblick auf den NSU-Komplex, Sozialpädagogin Inga Riedel geführt, die die Teilnehmenden im Laufe der Spuren- wie zum sogenannten „Braunen Haus“ in ihre Jugend in Winzerla und Lobeda ver- suche durch Jena entdecken werden. Die Alt-Lobeda, geben Interviews Einblicke in brachte. Angst ist hier das Stichwort. All- Unabgeschlossenheit des NSU-Komplexes das Jena der 1990er-Jahre. tägliche Wege, wie der von der Schule nach zeigte sich erst vor kurzem wieder, als die Hause, wurden von Rechtsradikalen mit NSU-Akten des hessischen Verfassungs- Lobeda Baseballschlägern versperrt. Deutlich wird schutzes, die eigentlich noch jahrzehnte- hierbei auch, dass die Polizei so gut wie lang unter Verschluss bleiben sollten, im Mit der Tram, die Schupp als „Angst-Ort“ gar nichts unternahm. Weder bewachte sie Rahmen der Satiresendung ZDF Magazin von Menschen mit Migrationshintergrund kritische Ecken, noch wurden trotz vorlie- Royale enthüllt wurden. Das Ergebnis die- beschreibt, geht es nach Lobeda. Dort wer- gender Hinweise Ermittlungen eingeleitet. ser Veröffentlichung ist im Prinzip das Ver- den die Zuhörenden in ein nettes Gässchen Immer wieder fällt der Satz „Der NSU war sagen der deutschen Behörden, die durch geführt. Mehrfamilienhäuser, ein Deko- kein Trio“ in der Audiotour. Es gab viele gründlichere Ermittlungen vielleicht ein laden und eine Pizzeria – hier ließe sich Mitwissende, doch kaum einer oder eine paar Leben hätten retten können. In Jena wohl kaum das ehemalige Braune Haus ver- von ihnen wurde zur Rechenschaft gezo- etablierte sich in den 1990ern der Nati- muten. Heute unauffällig, schmückte die- gen. Wahrscheinlich leben sie noch heu- onalsozialistische Untergrund um Beate sen Ort vor circa 20 Jahren noch ein Schild te in Winzerla und Lobeda – vielleicht so- Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhn- mit der Aufschrift „Persönlich erreichen Sie gar in deinem Nachbarhaus. hardt. Die rechtsradikale Szene versetzte uns in der Zeit von 1939 - 1945“. Teilneh- in dieser Zeit vor allem die Stadtteile Win- mende des Rundgangs können auf ihrem Winzerla zerla und Lobeda in Angst und Schrecken, Smartphone während der Tour Originalbil- betont die Sprecherin des Rundgangs, wes- der aus der Zeit sehen, in der das Braune Dem Stadtteil Winzerla kommt eine zent- wegen die Stadt Jena eine besondere Ver- Haus noch als Treffpunkt für lokale Neo- rale Rolle im NSU-Komplex zu. Im ehema- antwortung zur Aufarbeitung ihrer rech- nazis diente. Die rechte Szene wählte die ligen Jugendzentrum „Winzerklub“, der ten Vergangenheit trägt. Im Rahmen des Lage des Hauses bewusst – wenige Meter nächsten Station des Rundgangs, organi- Theaterprojektes Die mutige Mehrheit be- weiter befindet sich die B88. Die Zahl sym- sierte sich das NSU-Trio erstmals. Heute befindet sich dort ironischerweise eine Unterkunft für Menschen mit Migrations- Scheinbar sieht sich die Stadt nicht hinreichend in der hintergrund. Der kurze Weg von diesem Jugendzentrum zur Straßenbahnhaltestel- Verantwortung der Aufarbeitung le Winzerla galt früher als eine Tortur für viele. Nach Veranstaltungen im Jugendclub wurden Jugendliche dort von Neonazis er- gibt sich Antje Schupp, eine preisgekrönte bolisiert den ideologischen und rechtsra- wartet und oft verprügelt. Ein Interview mit Regisseurin, Performerin und Autorin, auf dikalen Ausruf „Heil Hitler“. Entlang die- einem Sozialpädagogen, der damals dort die Spuren des NSU durch Jena. Der ko- ser Straße befinden sich zahlreiche Dörfer, arbeitete, zeigt, dass die ideologischen Ge- stenlose, etwa dreistündige Audio-Walk in denen sich noch heute rechte Gruppie- danken bei jenen Rechtsradikalen zu die- (Un)Sichtbare Spuren führt durch Lobeda, rungen versammeln. ser Zeit schon so verfestigt waren, dass Winzerla und das Stadtzentrum. Die Tour Die Audiotour führt weiter durch Lobeda. eine pädagogische Handhabe nahezu un- ist mit dem Smartphone abrufbar unter un- Schupp lädt die Zuhörenden zu Gedanken- möglich war. Immer wieder stellt die Au-
Uni & Stadt / 13 stellt die Autorin und Sprecherin der Tour von Antje Schupp. Am Ende bleibt der Ge- Gegendarstellung zum die Frage: „Was würden Sie tun?“ Eine danke, dass eine würdevolle Gedenkstätte Artikel „Kein Platz für Räder“ schwierige Frage. Was würde man denn auf dem Johannisfriedhof das wäre, was die im Akrützel 424 vom 8. selbst machen, wenn Rechtsradikale neben- Mordopfer des NSU ehren könnte. Von der Dezember 2022 auf Seite 12/13 an einziehen oder man von Jugendlichen Stadt Jena wäre das eine große Geste, aber Naziparolen hört? In Winzerla kann man vielleicht auch das Mindeste. Traurig ist es Der Vorwurf der Grünen, dass Herr Schu- sich diese Frage leider noch zu oft stellen. So allemal, dass die Stadt die Errichtung eines bert seinen Vorsitz im Beirat für Men- geht es nach einem kurzen Abstecher zum Denkmals bisher versäumt hat. Lediglich schen mit Behinderungen dazu nutzt, ehemaligen Wohnhaus von Beate Zschäpe der Enver-Şimşek-Platz und die Gedenkta- um die Verkehrswende hin zu einer au- und ihrer Mutter in der Schomerusstraße fel in Winzerla bieten ein kleines Geden- tofreien Stadt zu sabotieren, ist sachlich weiter zum Enver-Şimşek-Platz. ken an eines der Opfer. nicht korrekt. Der Beirat sabotiert nicht Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman und es ist auch keinesfalls richtig, dass Taşköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Wo gehts hin? der Beirat den Ausbau des Fahrradver- Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, kehrs in Jena ablehnt. Der Beirat ist mit Mehmet Kubaşik, Halit Yozgat, Michele Die Spurensuche durch Jena möchte infor- allen Beteiligten im Gespräch, um eine für Kiesewetter und Enver Şimşek. mieren und illustrieren. Sicher wissen viele Alle akzeptable Lösung zu finden, damit Das sind die Namen der zehn Opfer des grob um die Entstehungsgeschichte des NSU. eine gleichberechtigte Teilhabe für Alle NSU. Enver Şimşek wurde am 11. Septem- Die Führung an Orte, die so alltäglich sind, möglich ist! Denn Menschen mit Behin- ber 2000 in Nürnberg als Erster von ihnen zeigt den Hörenden jedoch auf besondere derungen und ältere Bürger sind ein Teil ermordet. 2021 errichtete man ihm zu Eh- Art und Weise, wie sich die rechtsradikale unserer Gesellschaft und möchten auch ren in Winzerla eine Gedenktafel. Kurz da- Szene in Jena entwickeln konnte. Schupp teilhaben am Leben in der Gemeinschaft. rauf wurde die dortige Straßenbahnhal- stellt viele Fragen während der Tour, was Die Antwort auf die Frage von Frau Al- testelle von „Damaschkeweg“ in „Enver- die Teilnehmenden zum Nachdenken an- bretsen–Keck, warum behinderte Men- Şimşek-Platz“ umbenannt. Auf dem Platz regen soll. Mit fast dreißig Jahren Abstand schen mehr Angst vor dem Fahrrad als vor der Gedenktafel trifft man immer noch zu den „Baseballschlägerjahren“ kann je- vor dem Auto haben, ist mit wenigen Wor- auf frühere Mitglieder rechter Platzgrup- der von uns sagen, wir hätten anders ge- ten beantwortet: Das Problem sind die pen, was sich während der eigenen Durch- handelt und wären lauter gewesen. Aber überall herumstehenden und achtlos ab- führung des Audio-Walks zeigt, aber auch wissen wir wirklich, welchen Einfluss die gestellten Fahrräder und E-Roller – nicht von Schupp betont wird. Steigt man also Angst auf uns haben kann? Die Schweizer nur auf den Gehwegen. Diese behindern am Enver-Şimşek-Platz aus, begegnet man Regisseurin möchte neben einer kleinen Kinderwagen, Rollatoren, Rollstühle und nicht selten Menschen, die den Hitlergruß Zeitreise ins Jena der 1990er Jahre mehr blinde und sehbehinderte Menschen glei- zeigen oder rechtsradikale Parolen von sich Bewusstsein dafür schaffen, was die Stadt chermaßen. Setzen Sie sich mal eine Au- geben. Eine seltsame Koexistenz. Kann man bisher noch versäumt und wie wir als Pri- genbinde auf und laufen mit dem Lang- der Opfer rechtmäßig gedenken, wenn ein vatpersonen trotzdem etwas zum Geden- stock durch die Stadt, so, wie das blinde paar Schritte weiter immer noch Neonazis ken der Opfer beitragen können. Vor allen und sehbehinderte Menschen tun müs- ihre Ideologie ausleben? Winzerla weiß si- Dingen soll die Tour aber Hoffnung säen. sen. Der Stock bleibt in den Speichen der cher um seine Probleme. Lange galt dieser Räder hängen und kann zu Stürzen und Stadtteil als rechts, wie sich während der Constanze Winter mehr führen. Oder Sie müssen mit Rol- Audiotour in Erfahrung bringen lässt. Weg- lator oder Rollstuhl vom Gehweg runter, zug und Zuzug lassen diesen Stadtteil heu- weil dort ein Rad steht – schwierig bei te allerdings etwas weniger radikal wirken. den hohen Bordsteinkanten. Schupp, die unter anderem Preisträgerin Und noch etwas: Es ist nicht richtig, des Schweizer Theaterpreises 2021 ist, führt dass der Behindertenausweis Ausnah- die Teilnehmenden gegen Ende der Tour in merechte (die im Sozialrecht Nachteils- die Johannisstraße. Hier sitzt die Junge Ge- ausgleiche heißen) im Verkehr ermöglicht. meinde (JG), die sich für die Aufarbeitung Die Behindertenparkplätze darf nur die des NSU-Komplexes und allgemein für eine Personengruppe nutzen, die das Merk- bunte Gesellschaft einsetzt. Gegenüber der zeichen für eine außergewöhnliche Geh- JG steht ein Holz-Denkmal in Gedenken an behinderung (aG) im Ausweis hat sowie die Opfer des NSU – ein selbstgeschnitztes, Personen mit dem Merkzeichen „Bl“. Die wohlgemerkt. Die Audio-Führung zeigt, dass Hürden dafür sind nach den Versorgungs- Jena bis heute versäumt hat, eine würdevol- medizinischen Grundsätzen (VersMed) so le Gedenkstätte für die Opfer einzurichten. hoch, dass nur sehr Wenige diese Aus- Scheinbar sieht sich die Stadt nicht hinrei- nahme bekommen. chend in der Verantwortung, da die meis- Wir reden von Inklusion, aber sie wird ten Gedenkprojekte von Vereinen wie der nicht von Allen mitgetragen. JG organisiert sind. Die Verkehrswende darf nicht auf Kos- Die Führung endet am Johannisfriedhof. ten der Verkehrssicherheit stattfinden. Ein ruhiger und historischer Ort, an dem die Hier ist ein Umdenken erforderlich. Blumensamen, die man zu Beginn der Tour bekam, gesät werden können. „Wie kann ich Unterwegs auf unsichtbaren Spuren. E. Metzner Foto: Melina Blumenröther selber der Opfer gedenken?“, ist eine Frage A. Langguth
14 / Uni & Stadt WIR SCHÜTZEN KEINEN URWALD Diesen Wald aber schon. Foto: Pauline Schiller Wie realistisch ist Naturschutz in einem Wald, der seit Jahrhunderten von Menschen genutzt wurde und weiterhin genutzt werden soll? Antworten liefern Stadtförster Olaf Schubert und FSU-Professor Markus Bernhardt-Römermann. Mit sieben Naturschutzgebieten und wei- tura im Jenaer Forst sind zwei Mitarbeite- von Naturschutz gebe. Entscheidend sei das teren, teils europäischen Schutzgebieten, rinnen des Stadtforstes zu finden, die sich Bild, das wir von der Natur haben. So sei ist man in Jena quasi zum Naturliebha- dort für die Umweltbildung einsetzen. diese schon seit Jahrhunderten vom Men- ber-Sein verdonnert. Die Saalehorizonta- schen geprägt worden und nach Bernhardt- le ist als einer der schönsten Wanderwege Kulturlandschaft statt Römermann vielmehr als Kulturlandschaft Deutschlands nominiert und das Saaletal Käseglocke und weniger als ein unberührter Urwald zu soll in Zukunft weiter für Touristen als Er- verstehen. Für Jena sei zu bemerken, dass lebnisregion ausgebaut werden. Luft, Lie- Wenige Meter neben der Bildungseinrich- die Hänge rund um das Saaletal im Mittel- be und Panorama-Aufnahmen sind also tung, in der naturnahes Adventsbasteln alter für die Viehhaltung und den Holzab- garantiert. Umstritten bleibt, wie die Flä- und erdendes Waldbaden angeleitet wer- bau fast gänzlich entwaldet wurden. Dies chen entsprechend ihrem Schutzstatus ge- den, stapeln sich gefällte Kiefern, Eschen veränderte das Ökosystem tiefgreifend. Die pflegt werden sollen. und Fichten und zur Abholung bereite Prägung der Natur durch den Menschen sei Das Team des Stadtforstes ist mit zwölf Brennholzbündel. Der Kommunalservice zu berücksichtigen, wenn heute über Na- bis 15 Leuten für 2.600 Hektar Wald zu- Jena (KSJ) liefert die Stämme auf Anfra- turschutz diskutiert wird. Die Natur ein- ständig. Sei es vom Büro des Stadtforstes ge bis vor die Haustür. In der Forstwirt- fach unter die Käseglocke zu stellen und im Stadtzentrum oder seiner Außenstelle schaft herrscht das Primat des Waldes als nicht zu berühren, wie es „klassische Natur- beim Otto-Schott-Platz aus, Olaf Schubert Nutzfläche. Schubert ist es dennoch wich- schützer” oft fordern würden, hieße nicht bestimmt als Stadtförster maßgeblich die tig, dass das Holz, welches in Jena verkauft zwangsläufig, dass sich die Natur zu ihrem Pflege und Bewirtschaftung der braun-grü- wird, aus Jena kommt und auch hier bleibt. Urzustand zurückentwickelt. So seien die Magerrasen in Jena, beispiels- weise an den Hängen, beim Steinbruch und am Windknollen, durch die Beweidung Über die Flächen rollten einst Panzer, die das Gelände mit Ziegen und Schafen entstanden. Heu- aufbereiteten te sind sie ein wichtiger Bestandteil des Ökosystems, da sie vielen Arten als Tritt- steine zwischen Habitaten dienen und Rück- zugsort für gefährdete Pflanzenarten sind. nen Hektare. Das übrige Personal sitzt zum Die wenig ausgeprägte Holzwirtschaft in Wichtig sei es, so Bernhardt-Römermann, Teil im Büro und bearbeitet Anliegen zur Jena lässt Raum, sich mit dem Schutz des die Flächen weiterhin sanft zu bewirtschaf- Verkehrssicherheit und den Wanderwegen. Waldes auseinanderzusetzen. Dafür arbei- ten. Er kritisiert, dass dies rund um die re- Die Themenbereiche Jagd, Baumfällungen tet der Stadtförster eng mit dem Professor naturierten Teiche auf dem alten Truppen- und Landschaftspflege überlassen sie einem für Vegetationsökologie Markus Bernhardt- übungsplatz ausbleibt. Über die Flächen weiteren Förster und drei Waldarbeitern. Römermann zusammen. Der Ökologe er- rollten einst Panzer, die das Gelände ver- Auch im Naturerlebniszentrum forum na- klärt, dass es verschiedene Vorstellungen blüffenderweise bestens für Frösche und
Uni & Stadt / 15 sche und Rebhühner aufbereiteten. Auch dert“, folgert der Stadtförster. Das forum nehmen. Auf Verwaltungsebene gilt es laut die Orchideen, deren Schutz sich der NABU natura soll zeigen, dass es auch anders geht. Bernhardt-Römermann, bestehende Natur- in Jena verschrieben hat, wurden durch 2,5 Millionen Euro vom Land Thüringen sol- schutzprojekte wie die Renaturierung der den Menschen kultiviert. Die Fichte und len das Umweltbewusstsein von Groß und Seen auf dem alten Truppenübungsplatz die Kiefer wurden einst aus wirtschaftli- Klein schärfen. Hier wird Kitas, Schulklas- weiterzuführen. Es reiche nicht, nur ein- chen Gründen angepflanzt. All diese Ar- sen und Firmen durch Wanderungen und mal Geld zu investieren und sich dann nicht ten kommen ursprünglich aus anderen Workshops der Wald nahegebracht. Müll- weiter um die Naturschutzflächen zu küm- Regionen und zählen damit nicht zum Je- trennung, Ernährung, Reisen und nachhal- mern. Außerdem meint der Ökologe: „Wir naer Urwald. Die Wiederherstellung eines tiger Konsum stehen auf dem Programm. müssen von dem Gedanken wegkommen, Urwalds zu fordern, sei unrealistisch. Mo- Ganz nach der Philosophie, dass jede:r ei- dass ein Stück Natur ein anderes ersetzen mentan wird daher vordergründig zwi- nen Teil zum Umwelt- und Klimaschutz bei- kann.“ Die Renaturierung wurde als Aus- schen den Arten unterschieden, die gut an tragen kann, fanden in der Stadt auch Akti- gleich für den Bau der ehemals geplanten die klimatischen Bedingungen angepasst onen wie der Saaleputz und Baumpflanzak- Autobahn durch das Leutratal vorgenom- sind und denjenigen, denen die Trocken- tionen statt, die zeigten, dass das Bewusst- men. Sie sei ein guter Schritt gewesen, das heit bereits zusetzt. Ein Beispiel für eine Art, die unter dem Klimawandel leidet, ist die Fichte. Man- gelnde Wasserversorgung und Borkenkä- Fraglich bleibt, inwieweit die Leistungen der Natur ferbefall lösten in anderen Teilen Thürin- gens großflächiges Waldsterben aus. In angemessenen vergütet werden Jena beschränkt sich der Fichtenbestand glücklicherweise auf nur 2% des Waldes. Auch der Kiefer setzt der Klimawandel zu. sein dafür in Jena in einigen Kreisen be- zerstörte Ökosystem im Leutratal erhole Die Wärme schafft ideale Voraussetzungen reits vorhanden ist. sich jedoch nur langsam und werde nicht für die Verbreitung von Pilzen und Insek- Bernhardt-Römermanns Gedanken zum so schnell seine alte Komplexität zurücker- ten, die dem Baum schaden. Für Orchideen Klimawandel kreisen immer wieder um das langen, so Bernhardt-Römermann. und Magerrasen bietet das warme Klima globale Geschehen. Gegen Polschmelze und Die Vergütung der Leistungen des Öko- wiederum sehr gute Lebensbedingungen. brennende Regenwälder, die das globale systems wird bislang durch das bundes- Unter den heimischen Arten haben beson- Klima unwiederbringlich verändern, schei- weite Biotopwertverfahren realisiert. Wird ders die Eiche und die Eibe einen größeren nen Saaleputz und Aufforstung allein nur ein Bauprojekt angestoßen, müssen Öko- Toleranzbereich für Temperaturschwan- wenig ausrichten zu können. Umso wich- punkte gekauft werden, welche von Argra- kungen und sind dementsprechend auch tiger ist es, dass sich auch Verwaltung und runternehmen, Forstbetrieben und Natur- auf ein wärmeres Klima eingestellt. Politik des Natur- und Klimaschutzes an- schutzorganisationen bereitgestellt werden und geschützte und aufgeforstete Flächen Roden fürs Klima? symbolisieren. Schubert hat die Idee ange- stoßen, die Ausgleiche lokal vorzunehmen. Entsprechend der Förderung wärmelie- So werden KSJ-interne Bauprojekte wie der bender Arten schreibt sich der Fachdienst Brückenbau „Vor dem Neutor“ und zuletzt für Umweltschutz der Stadt „kleinflächige der Bau von Fußwegen mit Aufforstungen Rodungen, Entbuschung und Förderung wie der Pflanzung einer Obstbaumreihe von Offenlandgesellschaften“ im Sinne des am Napoleonweg oder im Münchenroda- Naturschutzes auf die Fahne. So wird bei- er Grund ausgeglichen. Fraglich bleibt, in- spielsweise das Fällen von Kiefern an den wieweit die Leistungen der Natur angemes- Hanglagen unterstützt. senen vergütet werden. Demgegenüber sprechen sich NABU und Es scheint, dass der Stadtforst in Jena den Grüne insbesondere gegen Baumfällungen Wald zu schätzen weiß. Unter der Schirm- im Stadtgebiet aus und setzen sich für eine herrschaft von Förster Schubert werden möglichst dichte Bewaldung ein, die wiede- sowohl die Erholung, die Holznutzung als rum das Stadtklima beeinflusst. Der Tempe- auch die Klimarelevanz des Waldes be- raturunterschied zwischen Wald und Stadt rücksichtigt. Natürlich müssen sich auch beträgt drei bis vier Grad, so Schubert. Die alle anderen Akteure in Jena die Leistung kühlende Funktion des Waldes wird mit zu- des Waldes vor Augen führen. Der Wald nehmend wärmeren Temperaturen wich- kann zwar für einen Temperaturausgleich tig für die Menschen sein. in der Stadt sorgen und mit seiner Diversi- Es stellt sich die Frage, wie die Natur ge- tät vor Katastrophen schützen. In ausrei- staltet oder belassen werden soll, damit sie chendem Maße kann dies jedoch nur dann gegen den Klimawandel gewappnet ist. „In erfolgen, wenn die Umweltschutzprojekte der Natur wird sich immer irgendwann ein nicht durch CO2-intensive Bauprojekte wie Gleichgewicht einstellen“, meint Schubert. die Osttangente untergraben werden. „Die Frage ist nur, wie lange der Mensch in der Natur überleben kann, wenn sich diese Foto: Pauline Schiller Totholz für einen lebendigen Wald. durch sein Eingreifen grundlegend verän- Johanna Heym und Stephan Lock
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