AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Mindestlohn - Bundeszentrale für politische ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Mindestlohn - Bundeszentrale für politische ...
70. Jahrgang, 39–40/2020, 21. September 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
    Mindestlohn
   Arne Baumann ∙ Oliver Bruttel                  Wolfgang Schroeder
         FÜNF JAHRE                             MINDESTLOHN,
 GESETZLICHER MINDESTLOHN                      TARIFAUTONOMIE
                                             UND GEWERKSCHAFTEN
  Hagen Lesch ∙ Christoph Schröder
        ZUR HÖHE DES                           Christine Aumayr-Pintar
        MINDESTLOHNS                       MINDESTLOHN IN EUROPA
         Thorsten Schulten                            Philip Kovce
  DER NIEDRIGLOHNSEKTOR                        BEDINGUNGSLOSES
   IN DER CORONA-KRISE                         GRUNDEINKOMMEN
                                               ALS GRUNDRECHT?
         Claudia Weinkopf
     ZUR DURCHSETZUNG
     DES MINDESTLOHNS

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
Mindestlohn
                                     APuZ 39–40/2020
ARNE BAUMANN · OLIVER BRUTTEL                        WOLFGANG SCHROEDER
FÜNF JAHRE GESETZLICHER MINDESTLOHN                  MINDESTLOHN, TARIFAUTONOMIE
Kaum eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme            UND GEWERKSCHAFTEN
seit den Hartz-Reformen wurde in Deutschland         Lange befürchteten die Gewerkschaften, die
so kontrovers diskutiert wie die Einführung          Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
des gesetzlichen Mindestlohns 2015. Nach fünf        werde ihre Position im Niedriglohnsektor
Jahren lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Welche   schwächen. Mittlerweile haben sie ihren Frieden
Wirkungen hat der Mindestlohn entfaltet?             mit dem Mindestlohn gemacht und sind selbst
Seite 04–10                                          Protagonisten seiner weiteren Reform.
                                                     Seite 26–31
HAGEN LESCH · CHRISTOPH SCHRÖDER
ZUR HÖHE DES MINDESTLOHNS                            CHRISTINE AUMAYR-PINTAR
Viele behaupten, der Mindestlohn helfe Niedrig-      MINDESTLOHN IN EUROPA
lohnbeziehern, ohne Arbeitsplätze zu kosten. Tat-    Die EU-Kommission hat 2019 eine Initiative für
sächlich sind die Wirkungen auf das Armutsrisiko     gerechte Mindestlöhne angekündigt. Vor diesem
überschaubar und Beschäftigungsrisiken vorhan-       Hintergrund wird in dem Beitrag die Vielfalt der
den. Eine rasche Erhöhung des Mindestlohns auf       Mindestlohnsetzung in der EU beleuchtet und
12 Euro je Stunde ist nicht ratsam.                  Fairness und Angemessenheit der nationalen
Seite 11–15                                          Mindestlöhne diskutiert.
                                                     Seite 33–38
THORSTEN SCHULTEN
DER NIEDRIGLOHNSEKTOR                                PHILIP KOVCE
IN DER CORONA-KRISE                                  BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN
In der Corona-Krise sind Niedriglohnempfänger        ALS GRUNDRECHT?
im besonderen Maße von Einkommenseinbußen            Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine
betroffen, obwohl nicht wenige von Ihnen in          strittige Idee mit langer Tradition. Im Zuge
„systemrelevanten“ Berufen arbeiten. Um den          der Corona-Pandemie wird seine Einführung
Niedriglohnsektor zu begrenzen wäre eine Weiter-     immer wieder lautstark gefordert. Was
entwicklung des Mindestlohngesetzes notwendig.       spricht dafür, was dagegen? Und warum sind
Seite 16–21                                          Grundeinkommensexperimente so schwierig?
                                                     Seite 39–44
CLAUDIA WEINKOPF
ZUR DURCHSETZUNG
DES MINDESTLOHNS
Inwiefern wird der gesetzliche Mindestlohn in
Deutschland in der Praxis eingehalten? Welche
Ansatzpunkte und Maßnahmen könnten dazu
beitragen, die Einhaltung und Durchsetzung
von Mindestlohnansprüchen zu verbessern und
Verstöße wirksamer zu unterbinden?
Seite 22–25
EDITORIAL
Sie zählt zu den größten arbeitsmarktpolitischen Kontroversen der jüngeren
Zeit: die Debatte um die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohns. Verbanden einige mit einer allgemeinen Lohnuntergrenze Hoffnungen
auf bessere Verdienstmöglichkeiten und ein geringeres Armutsrisiko, prophezei-
ten andere einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen und eine Schwächung der
Wirtschaft. Auch das gewerkschaftliche Lager war in der Frage lange gespalten,
teilten doch viele trotz rückläufiger Tarifbindung die Sorge der Arbeitgeberseite
vor einem Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie.
   Zum 1. Januar 2015 wurde der Mindestlohn schließlich eingeführt, institu-
tionell gerahmt von der paritätisch aus Vertreter:innen von Arbeitgebern und
Gewerkschaften besetzten unabhängigen Mindestlohnkommission, die alle zwei
Jahre über eine Anpassung seiner Höhe entscheidet. Dies geschieht im Zuge einer
Gesamtabwägung und orientiert an der vorherigen Tarifentwicklung. Lag der
Mindestlohn zunächst bei 8,50 Euro brutto pro Stunde, stieg er in mehreren Stufen
auf derzeit 9,35 Euro; bis Juli 2022 wird er schrittweise auf 10,45 Euro angehoben.
   Die Bilanz der ersten fünf Jahre fällt vor dem Hintergrund eines gestiegenen
Lohnniveaus, rückläufiger Arbeitslosigkeit und anhaltenden Wirtschaftswachs-
tums in weiten Teilen positiv aus. Mit der Corona-Pandemie wird sich indes
zeigen, welche Effekte die Lohnuntergrenze in Zeiten eines Konjunkturein-
bruchs zeitigt. Zugleich erhalten Forderungen, den Mindestlohn auf 12 Euro zu
erhöhen, um allen Beschäftigten ein auch im Alter existenzsicherndes Einkom-
men zu ermöglichen, angesichts der offenbar gewordenen „Systemrelevanz“
vieler Berufsgruppen im Niedriglohnsektor neuen Nachdruck. So zeichnet sich
für die im Herbst 2020 anstehende Evaluierung des Mindestlohngesetzes eine
Neuauflage alter Auseinandersetzungen ab.

                                                    Anne-Sophie Friedel

                                                                                 03
APuZ 39–40/2020

                      FÜNF JAHRE
              GESETZLICHER MINDESTLOHN
                               Bilanz und Perspektiven
                              Arne Baumann · Oliver Bruttel

Kaum eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme seit      lernten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
den Hartz-Reformen wurde in Deutschland der-        bei befristet Beschäftigten sowie bei nicht tarif-
art kontrovers diskutiert wie die Einführung des    lich entlohnten Beschäftigungsverhältnissen vor.
gesetzlichen Mindestlohns zum Januar 2015. Die
im Vorfeld geäußerten Einschätzungen zu den                       STEIGENDE LÖHNE
Folgen des Mindestlohns gingen erheblich aus-
einander: Einerseits wurden teils massive negati-   Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns
ve Beschäftigungseffekte und steigende Arbeits-     hat zu deutlichen Steigerungen des Stundenlohns
losenzahlen prognostiziert. Andererseits wurden     am unteren Rand der Lohnverteilung geführt. Be-
durchweg positive Auswirkungen auf Verdienste       schäftigte im Mindestlohnbereich verzeichneten
von Geringverdienerinnen und -verdienern sowie      zwischen 2014 und 2018 laut der Verdienststruk-
die Armutsgefährdung erwartet.01                    turerhebung (VSE) des Statistischen Bundesamtes
    Nach fünf Jahren lässt sich eine erste Bilanz   einen Zuwachs beim Stundenlohn von insgesamt
des gesetzlichen Mindestlohns ziehen.02 Die hier    21,8 Prozent. Zum Vergleich: Der durchschnittli-
dargestellten Erkenntnisse beziehen sich auf den    che Anstieg für alle Beschäftigten lag in diesen Jah-
Zeitraum bis Ende 2019, also vor Beginn der         ren bei 11,4 Prozent. Der überdurchschnittliche
Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen der            Anstieg war in erster Linie nach der Mindestlohn-
gesetzliche Mindestlohn in dieser Ausnahme-         einführung 2015 und 2016 zu beobachten. Ab 2017
situation auf Verdienste, Beschäftigung und Wett-   lagen die Zuwächse etwa in der Größenordnung
bewerb hat, bleibt abzuwarten und wird Gegen-       der allgemeinen Lohnentwicklung (Abbildung 1).
stand künftiger Forschungsarbeiten sein.                Die Erhöhung von Stundenlöhnen im unte-
    Der gesetzliche Mindestlohn gilt, von weni-     ren Lohnbereich muss nicht automatisch zu einer
gen Ausnahmen abgesehen, für alle Arbeitneh-        proportionalen Erhöhung der Monatslöhne füh-
merinnen und Arbeitnehmer. Bei seiner Einfüh-       ren. Wenn die Arbeitszeit in gleichem Umfang zu-
rung lag seine Höhe bei 8,50 Euro brutto pro        rückgeht, wie der Stundenlohn steigt, bleibt der
Stunde und wurde seitdem schrittweise auf ak-       Monatslohn unverändert. Aus den Daten wird er-
tuell 9,35 Euro erhöht. Von der Einführung des      sichtlich, dass sich die Monatslöhne unterschiedlich
Mindestlohns waren in Deutschland rund 4 Mil-       entwickelt haben. Bei sozialversicherungspflichtig
lionen Beschäftigungsverhältnisse betroffen, die    Beschäftigten zeigt sich beim Monatslohn ein ähn-
bis dahin einen Stundenverdienst unterhalb von      licher Anstieg wie beim Stundenlohn. Bei gering-
8,50 Euro gehabt hatten. Dies entsprach einem       fügig Beschäftigten beträgt der Anstieg der Mo-
Anteil von 11,3 Prozent an allen Beschäftigungs-    natslöhne hingegen knapp die Hälfte des Anstiegs
verhältnissen. Dabei lag der Anteil mit 20,7 Pro-   bei den Stundenlöhnen. Zugleich weisen sie einen
zent in Ostdeutschland deutlich höher als in        deutlichen Rückgang ihrer durchschnittlichen Ar-
Westdeutschland mit 9,3 Prozent. Besonders          beitszeit nach der Einführung des gesetzlichen
groß war der Anteil bei geringfügigen Beschäf-      Mindestlohns auf. Das hat seine Ursache mutmaß-
tigungsverhältnissen, den sogenannten Minijobs.     lich darin, dass Beschäftigte und Betriebe vermei-
Überdurchschnittlich häufig kamen Stundenlöh-       den wollen, dass die Verdienstgrenze der Minijobs
ne von unter 8,50 Euro zudem bei Frauen, in klei-   von 450 Euro pro Monat überschritten wird. Eine
neren Unternehmen, bei ungelernten oder ange-       Erhöhung des Stundenlohns erfordert dann eine

04
Mindestlohn APuZ

Abbildung 1: Veränderung der Stundenlöhne zwischen 2014 und 2018 in Prozent
25
                                                                                           21,0
20

15        14,1
                                                   11,6
10                                   8,2                                     8,1                                      8,6
                 6,7                                      7,3                                                   6,7
                                                                                                  4,7
 5
                               2,9                                     2,3

 0
        Mindestlohn-      Insgesamt              Mindestlohn-    Insgesamt               Mindestlohn-     Insgesamt
          bereich                                  bereich                                 bereich
                 Deutschland                          Westdeutschland                          Ostdeutschland
                                                    2014–2016          2016–2018
Beschäftigungsverhältnisse im Mindestlohnbereich sind für 2014 solche mit einem Stundenverdienst von weniger
als 8,50 Euro. Für 2016 sind es Beschäftigungsverhältnisse mit einem Stundenverdienst von weniger als 8,55 Euro,
für 2018 mit weniger als 8,89 Euro. Berlin ist in den Auswertungen Ostdeutschland zugeordnet. Der Anstieg über den
Gesamtzeitraum entspricht nicht der Summe aus den beiden Teilzeiträumen, weil die Summe der Steigerungsraten aus zwei
Teilzeiträumen in der Regel nicht der Steigerungsrate aus dem Gesamtzeitraum entspricht.
Quelle: Verdienststrukturerhebungen 2014 und 2018; Verdiensterhebung 2016; eigene Berechnungen.

entsprechende Reduzierung der Arbeitszeit. Für                        Kausalstudien zeigen, dass die Einführung
Beschäftigte mit Minijobs, die die Verdienstgren-                 des Mindestlohns zu einem Rückgang der aus-
ze nicht überschreiten konnten oder wollten, um in                schließlich geringfügigen Beschäftigung geführt
eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu               hat, wohingegen die sozialversicherungspflich-
wechseln, hat der Mindestlohn damit in der Regel                  tige Beschäftigung weitgehend unbeeinflusst ge-
zu keiner Verbesserung des Monatslohns geführt.                   blieben ist.04 Die Minijobs sind von rund 4,9 Mil-
                                                                  lionen Beschäftigten 2014 auf rund 4,5 Millionen
       KAUM BESCHÄFTIGUNGSEFFEKTE                                 Beschäftigte 2019 zurückgegangen. Der Anteil
                                                                  dieses Rückgangs, der mit dem Mindestlohn zu-
Die bislang vorliegenden Studien, die sich mit den                sammenhängt, dürfte bei rund 150 000 bis 200 000
Effekten des Mindestlohns auf die Beschäftigung                   Beschäftigten liegen.05 Die Beschäftigten in Mini-
befassen, kommen zum Ergebnis, dass es zu keinen                  jobs haben jedoch nicht in jedem Fall ihren Job
größeren Beschäftigungsverlusten gekommen ist.03                  verloren. Zum Teil handelt es sich bei dem Rück-
                                                                  gang um Umwandlungen von geringfügiger in
                                                                  sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das
01 Vgl. Patrick Arni et al., Zeitgespräch: Das Mindestlohnge-
setz – Hoffnungen und Befürchtungen, in: Wirtschaftsdienst
6/2014, S. 387 ff.                                                04 Für eine ausführliche Übersicht der Studien zu den Beschäf-
02 Soweit nicht anders angegeben, basieren die folgenden          tigungseffekten des Mindestlohns vgl. Mindestlohnkommission
Ausführungen auf Mindestlohnkommission, Dritter Bericht zu den    (Anm. 2), S. 100 ff.
Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, Berlin 2020. Siehe    05 Vgl. Benjamin Börschlein/Mario Bossler, Eine Bilanz nach
auch www.mindestlohn-kommission.de.                               fünf Jahren gesetzlicher Mindestlohn, Institut für Arbeits-
03 Vgl. Oliver Bruttel/Arne Baumann/Matthias Dütsch,              markt- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 24/2019; Marco
Beschäftigungseffekte des gesetzlichen Mindestlohns: Prognosen    Caliendo/Carsten Schröder/Linda Wittbrodt, The Causal Effects
und empirische Befunde, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik   of the Minimum Wage Introduction in Germany: An Overview,
3/2019, S. 237–253.                                               in: German Economic Review 3/2019, S. 257–292.

                                                                                                                              05
APuZ 39–40/2020

lässt sich beispielhaft an Daten aus dem Janu-                        Jugendliche ohne Berufsausbildung und be-
ar 2015 illustrieren, also für einen Zeitpunkt un-               stimmte Praktika, die ausbildungsbegleitend
mittelbar nach Einführung des Mindestlohns: Im                   oder als Orientierung vor Beginn einer Ausbil-
Vergleich zum Vorjahresmonat fielen im Januar                    dung oder eines Studiums absolviert werden, sind
2015 rund 100 000 Minijobs zusätzlich weg. Von                   vom Mindestlohn ausgenommen. Damit wollte
den betroffenen Beschäftigten gingen jedoch mit                  der Gesetzgeber einerseits sicherstellen, dass Ju-
52 000 rund die Hälfte in einen sozialversiche-                  gendliche nicht zugunsten einer ungelernten Be-
rungspflichtigen Job über.06                                     schäftigung zum Mindestlohn auf eine Berufs-
     Hinsichtlich der sozialversicherungspflich-                 ausbildung verzichten. Zum anderen sollte der
tigen Beschäftigung weisen die Studien unein-                    Missbrauch von Praktika zulasten von regulären
heitliche Ergebnisse mit sowohl negativen als                    Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnissen
auch positiven Effekten aus, die gemessen an                     eingeschränkt werden. Noch liegen keine For-
der Gesamtzahl sozialversicherungspflichtiger                    schungsergebnisse dazu vor, ob Schulabgänge-
Beschäftigungsverhältnisse jedoch gering sind.                   rinnen und -abgänger infolge des Mindestlohns
Für die Gesamtbeschäftigung weist die Mehr-                      mehr oder weniger dazu neigen, eine Ausbildung
zahl der Studien auf einen leicht negativen Ef-                  aufzunehmen. Jedoch zeigen Forschungsergeb-
fekt aufgrund der Einführung des Mindestlohns                    nisse bereits, dass sich das Angebot von Ausbil-
hin, der sich vor allem aus der verringerten                     dungsplätzen seitens der Betriebe durch die Ein-
Anzahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnis-                   führung des Mindestlohns nicht verändert hat.10
se speist.                                                       Die Regelungen des Mindestlohngesetzes zu
     Spiegelbildlich zur Beschäftigungsentwick-                  Praktika haben zu hohem Beratungsbedarf bei
lung haben die bislang vorliegenden Studien kei-                 der Mindestlohn-Hotline des Bundesministeri-
nen statistisch signifikanten Effekt des gesetz-                 ums für Arbeit und Soziales geführt. Die weni-
lichen Mindestlohns auf die Entwicklung der                      gen vorliegenden Studien geben Hinweise darauf,
Arbeitslosigkeit gezeigt.07 Auch ein Effekt auf die              dass es durch den Mindestlohn zu einer Verschie-
Anzahl offener Stellen konnte bislang nicht iden-                bung hin zu kürzeren und Pflichtpraktika und zu
tifiziert werden.08                                              einem stärkeren Anstieg der Praktikumsvergü-
     Die geringen Auswirkungen des Mindest-                      tungen gekommen ist. Ein drastischer Rückgang
lohns auf die Beschäftigung in Deutschland hän-                  der Praktika nach Einführung des Mindestlohns
gen einerseits damit zusammen, dass die Betriebe                 ist im Zeitverlauf nicht erkennbar.11
auf den Kostenanstieg, der durch den Mindest-
lohn verursacht wurde, mit anderen Maßnahmen                                    „AUFSTOCKER“ UND
als mit Stellenabbau reagiert haben, zum Beispiel                              ARMUTSGEFÄHRDUNG
mit einer Erhöhung der Preise für ihre Produkte
und Dienstleistungen. Andererseits weisen Stu-                   Im Vorfeld der Mindestlohneinführung wurde
dienergebnisse darauf hin, dass der Mindestlohn                  die Hoffnung geäußert, dass der Mindestlohn
eine Reallokation von Beschäftigten zwischen                     zu einem Rückgang der Anzahl der Empfänge-
Betrieben in Gang gesetzt hat. Während kleine-                   rinnen und Empfänger von staatlichen Transfer-
re Betriebe mit niedrigem Lohnniveau schließen                   zahlungen führen könnte, insbesondere von Ar-
mussten, sind Beschäftigte zu größeren Betrieben                 beitslosengeld II. Im Fokus des Interesses steht
mit höherem Lohnniveau gewechselt.09 Hinter                      dabei besonders der Kreis der zuletzt rund ei-
dem weitgehend unveränderten Beschäftigungs-                     nen Million Beschäftigten, die trotz Erwerbstä-
niveau verbirgt sich demnach also eine zum Teil                  tigkeit Arbeitslosengeld II erhalten (sogenann-
veränderte Firmenstruktur.                                       te „Aufstockerinnen und Aufstocker“). Deren
                                                                 Zahl ist seit Einführung des gesetzlichen Min-
06 Vgl. Philipp vom Berge et al., Arbeitsmarktspiegel. Ent-
wicklungen nach Einführung des Mindestlohns, IAB-Forschungs­     10 Vgl. Mario Bossler et al., Auswirkungen des gesetzlichen
bericht 1/2016.                                                  Mindestlohns auf Betriebe und Unternehmen, IAB-Studie im Auf-
07 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 105 ff.               trag der Mindestlohnkommission, Nürnberg 2018; ders./Nicole
08 Vgl. ebd., S. 116 ff.                                         Gürtzgen/Benjamin Börschlein, Auswirkungen des gesetzlichen
09 Vgl. Christian Dustmann et al., Reallocation Effects of the   Mindestlohns auf Betriebe und Unternehmen, IAB-Studie im
Minimum Wage, Centre for Research and Analysis of Migration,     Auftrag der Mindestlohnkommission, Nürnberg 2020.
CReAM Discussion Paper 7/2020.                                   11 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 122 ff.

06
Mindestlohn APuZ

destlohns jahresdurchschnittlich um 4,3 Pro-                               MAKROÖKONOMISCHE
zent gesunken und damit etwas mehr als im                                       EFFEKTE
Zeitraum von 2011 bis 2014, in dem sie durch-
schnittlich um 1,5 Prozent fiel. Dass es zu kei-              Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene waren keine
ner deutlicheren Reduzierung dieser Personen-                 messbaren Effekte des Mindestlohns auf gängi-
gruppe gekommen ist, ist insbesondere darauf                  ge Wettbewerbsindikatoren wie Arbeitskosten,
zurückzuführen, dass der ergänzende Arbeits-                  Lohnstückkosten, Produktivität und Gewin-
losengeld-II-Bezug vor allem mit der häufig re-               ne zu beobachten. Dies mag auch damit zu tun
lativ geringen Wochenarbeitszeit sowie der Zahl               haben, dass die mindestlohnbedingten Lohn-
nicht erwerbstätiger Haushaltsmitglieder (zu-                 erhöhungen für die Gesamtwirtschaft von ver-
meist Kinder) zusammenhängt. Zudem können                     gleichsweise geringer Bedeutung gewesen sind.
hohe Wohnkosten insbesondere in Ballungsge-                   Für die Einführung des Mindestlohns ermittelte
bieten trotz Mindestlohns zu einer Bedürftig-                 das Statistische Bundesamt unter der Annahme
keit führen. Nur rund 3 Prozent aller erwerbs-                einer vollständigen Umsetzung des gesetzlichen
tätigen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und                 Mindestlohns und gleichbleibender Arbeitszeit
-Bezieher sind alleinstehende Vollzeitbeschäf-                einen mindestlohnbedingten Anstieg der jährli-
tigte, für die der Mindestlohn seiner Bemessung               chen Bruttolohnsumme um 5,2 Milliarden Euro,
nach dazu geeignet ist, nicht mehr auf das Ar-                was einer Zunahme von lediglich 0,43 Prozent
beitslosengeld II angewiesen zu sein. Dement-                 bezogen auf alle Bruttolöhne und -gehälter
sprechend fällt der Rückgang der erwerbstä-                   entspricht.
tigen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und
-Bezieher in Single- und in Paarhaushalten ohne                                 REAKTIONEN
Kinder nach Einführung des gesetzlichen Min-                                  AUF BETRIEBSEBENE
destlohns stärker aus als bei Alleinerziehenden
und Paarhaushalten mit Kindern.                               Zwar waren auf gesamtwirtschaftlicher Ebene
    Im Hinblick auf die Armutsgefährdung zeigt                keine spürbaren Effekte zu beobachten. Gleich-
sich ein ähnliches Muster. Auch hier ist der Min-             wohl hatte der Mindestlohn für einzelne Betrie-
destlohn nur begrenzt geeignet, dem Problem                   be, vor allem solche, die vor Einführung des Min-
entgegenzuwirken. Dies ist auf drei Gründe zu-                destlohns Beschäftigte hatten, die unter 8,50 Euro
rückzuführen.12 Erstens sind besonders armutsge-              pro Stunde verdienten, mitunter erhebliche Aus-
fährdete Personengruppen häufig nicht erwerbs-                wirkungen. Dies gilt besonders für Betriebe aus
tätig und können somit nicht vom Mindestlohn                  dem Gastgewerbe, dem Einzelhandel, dem Be-
profitieren. Von den Personen aus armutsgefähr-               reich Nahrungs- und Genussmittel sowie gene-
deten Haushalten ist nur rund ein Viertel über-               rell dem Dienstleistungssektor.
haupt erwerbstätig. Zweitens lebt lediglich ein                   Auf die Einführung des Mindestlohns haben
Teil der Mindestlohnbezieherinnen und -bezie-                 betroffene Betriebe mit einer Reihe von Maßnah-
her in armutsgefährdeten Haushalten. Von den                  men reagiert. So gaben 2015 im Betriebspanel des
Beschäftigten, die vor Einführung des Mindest-                Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
lohns unter 8,50 Euro pro Stunde verdienten, leb-             (IAB), einer jährlichen repräsentativen Befra-
ten rund 27 Prozent in armutsgefährdeten Haus-                gung von rund 16 000 Betrieben mit mindestens
halten. Drittens resultiert eine Armutsgefährdung             einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten,
von Erwerbstätigen häufig nicht aus einem gerin-              18 Prozent der betroffenen Betriebe an, ihre Prei-
gen Stundenverdienst, sondern aus einer geringen              se erhöht zu haben; weitere 8 Prozent planten,
Wochenarbeitszeit. Die Erfahrungen in Deutsch-                dies noch zu tun. Auch die Reduzierung der Ar-
land decken sich somit mit der internationalen                beitszeit beziehungsweise die Arbeitsverdichtung
Forschung, die ebenfalls ein eher skeptisch stim-             spielten eine wichtige Rolle (Abbildung 2).13 Zum
mendes Bild zeichnet.                                         Teil haben Betriebe auch weniger Gewinne erzielt
                                                              und zeitweise ihre Investitionen reduziert.
12 Vgl. Kerstin Bruckmeier/Oliver Bruttel, Minimum Wage
as a Social Policy Instrument: Evidence from Germany, in:     13 Vgl. Lutz Bellmann et al., Folgen des Mindestlohns in
Journal of Social Policy 2020, https://doi.org/10.1017/S00​   Deutschland, IAB-Kurzbericht 18/2016; Mindestlohnkommission
47279420000033.                                               (Anm. 2), S. 132 ff.

                                                                                                                       07
APuZ 39–40/2020

Abbildung 2: Anpassungsmaßnahmen in von der Mindestlohneinführung betroffenen Betrieben 2015 in Prozent

                                           Erhöhung der Absatzpreise                     18                  8
        Reduzierung der Arbeitszeit oder Verdichtung der Arbeit                          18             4
             Zurückhaltung bei Einstellungen/Wiederbesetzungen                    10           5
                Zurückstellung oder Reduzierung von Investitionen                6       5
                                          Entlassung von Beschäftigten           5 2
         (Vermehrter) Einsatz von flexiblen Beschäftigungsformen 3 2
               Auslagerung von Leistungen oder Geschäftsfeldern 2 2
Einsatz von Arbeitnehmern, für die Ausnahmeregelungen gelten 1 2
                  Substitution von Arbeitskräften durch Maschinen 11

                                                                             0       5    10       15   20       25   30   35   40
                                                   Ergriffen        Beabsichtigt
Die Angaben beziehen sich auf Betriebe, die vor Einführung des Mindestlohns mindestens einen Beschäftigten
mit einem Stundenverdienst von weniger als 8,50 Euro hatten.
Quelle: IAB-Betriebspanel 2015; Lutz Bellmann et al., Folgen des Mindestlohns in Deutschland, IAB-Kurzbericht 18/2016.

    Bei den Absatzpreisen waren in zahlreichen                     Branchen eine veränderte Unternehmensdyna-
Branchen, die vom gesetzlichen Mindestlohn be-                     mik und Wettbewerbsintensität zu beobachten.
sonders betroffen waren, unmittelbar nach Ein-                     Es ist weder ein Anstieg von Marktaustritten in
führung des Mindestlohns überdurchschnittlich                      Form von Gewerbeabmeldungen oder Insolven-
starke Preisanstiege für Waren und Dienstleis-                     zen noch eine Zunahme an Gewerbeanmeldun-
tungen zu beobachten. So stiegen zwischen 2014                     gen erkennbar.
und 2016 etwa die Preise für Taxifahrten um                            Bei den Investitionen zeigt sich ein Rückgang
15,2 Prozent, für Zeitungen und Zeitschriften um                   bei den betroffenen Betrieben im ersten Jahr nach
10 Prozent, in Restaurants, Cafés und im Stra-                     Einführung des Mindestlohns. Betroffene Be-
ßenverkauf und Ähnlichem um 5 Prozent, für                         triebe investierten pro Beschäftigtem 2015 etwa
Beherbergungsdienstleistungen um 3,8 Prozent.                      24 Prozent weniger als Betriebe, die von der Min-
Der Anstieg fällt insbesondere im Vergleich zur                    destlohneinführung nicht betroffen waren. Nach
geringen Inflation in der Gesamtwirtschaft deut-                   der ersten Anhebung des Mindestlohns 2017 gab
lich aus. Dort stiegen die Preise im selben Zeit-                  es ebenfalls einen Rückgang bei den Investitio-
raum um 0,8 Prozent. Anders als für die Einfüh-                    nen, der jedoch deutlich geringer ausfiel.
rung sind für die Anpassungen des Mindestlohns                         Betriebe könnten auch versuchen, die mindest-
in den Folgejahren keine derart deutlichen und                     lohnbedingt gestiegenen Lohnkosten durch eine
systematischen Preisanstiege erkennbar.                            Steigerung der Produktivität auszugleichen, etwa
    Eine weitere sichtbare Auswirkung in den Be-                   durch Prozessoptimierung oder Weiterbildung ih-
trieben war ein Gewinnrückgang von 12 Prozent                      rer Beschäftigten. Bislang deuten die Zahlen auf
im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2017 im Ver-                    Basis des IAB-Betriebspanels aber nicht darauf
gleich zu ähnlichen, nicht von der Einführung des                  hin. So ist kurz- und mittelfristig kein verstärkter
Mindestlohns betroffenen Betrieben.14 Allerdings                   Einsatz von technischen Innovationen abzusehen.
ist weder gesamtwirtschaftlich noch in den vom                     Dabei ist zu bedenken, dass Betriebe mit Beschäf-
gesetzlichen Mindestlohn besonders betroffenen                     tigten im Mindestlohnsegment generell ein gerin-
                                                                   geres Investitionsvolumen haben als der Durch-
14 Vgl. für diese und die nachfolgenden Ergebnisse auf Basis       schnitt der Betriebe. Vielfach lassen sich in den
des IAB-Betriebspanels Bossler/Gürtzgen/Börschlein (Anm. 10).      Dienstleistungsbereichen, in denen der Mindest-

08
Mindestlohn APuZ

lohn eine besonders hohe Relevanz hat, Abläu-                        Zollprüfungen und qualitativen Studien sind ver-
fe auch weniger gut durch Automatisierung ver-                       schiedene Vorgehensweisen zur Umgehung des
bessern als im Verarbeitenden Gewerbe. Bislang                       Mindestlohns bekannt. Dabei ist insbesondere
gibt es auch kaum Hinweise darauf, dass Betriebe                     die nicht korrekte Erfassung der Arbeitszeit re-
verstärkt in Weiterbildung investieren. Allerdings                   levant. Darunter fällt unter anderem die Nicht-
deuten einzelne Forschungsergebnisse darauf hin,                     dokumentation von geleisteten Arbeitsstunden,
dass sich Anforderungen der einstellenden Betrie-                    die Nichtvergütung von Rüstzeiten wie etwa das
be an die Qualifikation und Kenntnisse der Be-                       Umkleiden sowie von Vor- und Nacharbeiten
werberinnen und Bewerber bei Neueinstellungen                        oder fehlerhaft geführte Arbeitszeitkonten.
im Mindestlohnbereich erhöht haben.15                                    Nach wie vor ist vielen Beschäftigten und
    Auf die Arbeitszufriedenheit und das Be-                         Betrieben die Höhe des Mindestlohns nicht be-
triebsklima hatte die Einführung des Mindest-                        kannt. Lediglich rund 15 Prozent der Beschäf-
lohns einen zwiespältigen Effekt.16 Für dieje-                       tigten im Niedriglohnbereich kennen die genaue
nigen, die direkt vom Mindestlohn profitiert                         Höhe des Mindestlohns. Rund 40 Prozent ken-
haben, zeigen manche Studien eine Zunahme der                        nen die ungefähre Höhe innerhalb einer Band-
Arbeits- und Entlohnungszufriedenheit. Da die                        breite von 50 Cent um den tatsächlichen Wert.19
Löhne höherer Lohngruppen oftmals nicht im                           In einer qualitativen Studie wurde deutlich, dass
selben Ausmaß gestiegen sind wie die der Min-                        die behördliche Zuständigkeit des Zolls für die
destlohnbezieherinnen und -bezieher, kam es                          Kontrolle des Mindestlohns mehrheitlich nicht
durch die Einführung des Mindestlohns aller-                         bekannt ist. Zugleich haben die darin befragten
dings häufig zu einer Kompression der Lohn-                          Betriebe und Beschäftigten eine Ausweitung von
verteilung im Betrieb. Dadurch entstand teilwei-                     Kontrollen als wünschenswert erachtet.20
se Unzufriedenheit bei Beschäftigten in höheren                          Für die Abschätzung der Nichteinhaltung des
Lohngruppen. Einzelne Studien zeigen auch auf,                       Mindestlohns werden häufig Ergebnisse von re-
dass mit der höheren Entlohnung der Mindest-                         präsentativen Beschäftigten- beziehungsweise
lohnbeschäftigten zugleich die Anforderungen an                      Betriebsbefragungen genutzt. Dazu zählen vor
diese Personengruppe und deren Arbeitsbelas-                         allem die VSE, die sich auf Angaben von Betrie-
tung zugenommen haben. 17                                            ben stützt, und das Sozio-oekonomische Panel
                                                                     (SOEP), das auf Angaben von Beschäftigten be-
                    EINHALTUNG                                       ruht. Beide Erhebungen sind allerdings weder
                 DES MINDESTLOHNS                                    hinsichtlich ihrer Zielsetzung noch der abgefrag-
                                                                     ten Informationen darauf ausgerichtet, den Grad
Trotz erheblicher Lohnzuwächse gibt es weiter-                       der Nichteinhaltung des Mindestlohngesetzes zu
hin Defizite bei der Umsetzung des gesetzlichen                      ermitteln. Nach Einschätzung der Mindestlohn-
Mindestlohns.18 Dies verdeutlichen unter ande-                       kommission sind daher die häufig zitierten Zah-
rem die Kontrollen des Zolls, dessen Finanzkon-                      len beider Erhebungen für die Frage, wie viele
trolle Schwarzarbeit für die Überwachung des                         Beschäftigte auf Basis bezahlter oder vereinbarter
Mindestlohns zuständig ist. 2019 wurden rund                         Stunden noch immer unterhalb des Mindestlohns
55 000 Arbeitgeber geprüft; insgesamt wurden                         verdienen, begrenzt aussagekräftig.
6732 Ermittlungsverfahren wegen eines Versto-
ßes gegen das Mindestlohngesetz eingeleitet. Ex-                                             AUSBLICK
plizit vereinbarte Stundenlöhne unterhalb des
Mindestlohns sind nach Einschätzung des Zolls                        Im Vorfeld der Mindestlohneinführung wurde
inzwischen kaum noch anzutreffen. Aus den                            die akademische Diskussion teilweise sehr stark
                                                                     auf die möglichen negativen Beschäftigungseffek-
15 Vgl. Nicole Gürtzgen et al., Neueinstellungen auf Min-
destlohnniveau. Anforderungen und Besetzungsschwierigkeiten          19 Vgl. Oliver Bruttel/Matthias Dütsch, Bekanntheit des gesetz-
gestiegen, IAB-Kurzbericht 12/2016.                                  lichen Mindestlohns. Ergebnisse repräsentativer Befragungen
16 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 139 f.                    von Beschäftigten, in: Wirtschaftsdienst 9/2020, i. E.
17 Vgl. z. B. Toralf Pusch/Miriam Rehm, Mindestlohn, Arbeits-        20 Vgl. Andreas Koch et al., Verhaltensmuster von Betrieben
qualität und Arbeitszufriedenheit, in: Wirtschafts- und Sozialwis-   und Beschäftigten im Kontext des gesetzlichen Mindestlohns,
senschaftliches Institut, WSI-Mitteilungen 7/2017, S. 491–498.       Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Studie im Auftrag
18 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2)., S. 57 ff.                   der Mindestlohnkommission, Tübingen u. a. 2020.

                                                                                                                                 09
APuZ 39–40/2020

te verengt. Dabei ist die Anzahl der Beschäftig-                des Mindestlohns zielten dagegen auf die Stabi-
ten nur eine Möglichkeit, wie Betriebe auf die ge-              lisierung der Konjunktur und die Honorierung
stiegenen Stundenlohnkosten reagieren können.                   der Arbeit von Beschäftigten in sogenannten sys-
Vielmehr gibt es eine auch in der internationalen               temrelevanten Berufen. Die Mindestlohnkom-
Mindestlohnforschung zunehmend thematisierte                    mission hat sich bei der Anpassung des Min-
große Bandbreite nicht direkt beschäftigungsbe-                 destlohns für die Zeit ab Januar 2021 im Rahmen
zogener Anpassungskanäle wie Arbeitszeit, Prei-                 ihrer Gesamtabwägung für eine stufenweise Er-
se oder produktivitätssteigernde Maßnahmen,                     höhung entschieden, die einen geringeren Anstieg
mit denen Betriebe die gestiegenen Lohnkosten                   2021 und einen stärkeren Anstieg insbesonde-
ausgleichen können.21 Dieses Spektrum hat die                   re im zweiten Halbjahr 2022 auf einen Wert von
Mindestlohnkommission auch für Deutschland                      10,45 Euro vorsieht. Darin spiegeln sich zum ei-
festgestellt und in ihren bisherigen drei Berichten             nen die vorliegenden Prognosen zur wirtschaftli-
ausführlich dokumentiert.                                       chen Entwicklung, zum anderen die Erkenntnis-
    Seit Einführung des Mindestlohns ist die Min-               se zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation
destlohnkommission22 für die Anpassung der                      wider, die in diesem Beitrag vorgestellt wurden.23
Höhe des Mindestlohns zuständig. Sie tut dies                        Mit dem Amtsantritt der aktuellen Europäi-
entsprechend der Vorgaben aus dem Mindest-                      schen Kommission unter Leitung von Ursula von
lohngesetz im Abstand von zwei Jahren als Er-                   der Leyen hat das Thema Mindestlohn auch im eu-
gebnis einer Gesamtabwägung und unter nachlau-                  ropäischen Kontext an Bedeutung gewonnen.24 Bis
fender Orientierung an der Tarifentwicklung der                 September 2020 führt sie einen Sozialpartnerdia-
Vorjahre. Dadurch entsteht ein Anpassungspfad,                  log durch, um auf dessen Grundlage zu entschei-
der den Mindestlohn lediglich graduell anstei-                  den, welche Maßnahmen im Rahmen einer euro-
gen lässt und darauf zielt, dass die Beschäftigung              päischen Mindestlohnregelung am besten geeignet
durch die Höhe des Mindestlohns nicht gefähr-                   sind, um Lohnungleichheit und Erwerbsarmut zu
det wird. Die Parteien Die Linke, Bündnis 90/                   reduzieren. Zwar will die Kommission weder ei-
Die Grünen und SPD fordern, den Mindestlohn                     nen einheitlichen europäischen Mindestlohn noch
sehr viel rascher auf 12 Euro oder mehr pro Stun-               eine Angleichung der Systeme zur Festsetzung der
de anzuheben und hierfür gegebenenfalls auch                    Mindestlöhne erreichen. In der Diskussion ist aber
das Mindestlohngesetz anzupassen. Der Wert von                  beispielsweise eine einheitliche Untergrenze für die
12 Euro solle insbesondere dazu führen, dass der                nationalen Mindestlöhne, die relativ zum Durch-
Mindestlohn die Armutsgefährdungsschwelle von                   schnittslohn des jeweiligen Landes festgelegt wird.
60 Prozent des Medianlohns erreicht.                            Die Bundesregierung will während der deutschen
    Im Zuge der Corona-Pandemie wurde über                      EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälf-
den Mindestlohn auch als Antwort auf die wirt-                  te 2020 ebenfalls darauf hinwirken, dass mit einer
schaftlichen Folgen der Pandemie diskutiert.                    europäischen Mindestlohnregelung die sozialen
Forderungen nach Absenkung des Mindestlohns                     Mindeststandards in der EU gestärkt werden.
beziehungsweise Aussetzung der Erhöhung be-
zweckten eine Kostenentlastung der Betriebe.                    Der Beitrag gibt ausschließlich die Meinung der
Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung                      Autoren und nicht die der Mindestlohnkommission
                                                                wieder.
21 Vgl. z. B. Barry T. Hirsch/Bruce E. Kaufman/Tetyana
Zelenska, Minimum Wage Channels of Adjustment, in: Industrial   ARNE BAUMANN
Relations 2/2015, S. 199–239; John Schmitt, Explaining the      ist Wissenschaftler in der Geschäfts- und Informa-
Small Employment Effects of the Minimum Wage in the United
                                                                tionsstelle für den Mindestlohn in Berlin, die die
States, in: Industrial Relations 4/2015, S. 547–581.
22 Die Mindestlohnkommission setzt sich aus einem Vorsitzen-
                                                                Mindestlohnkommission bei der Durchführung ihrer
den sowie drei Mitgliedern der Gewerkschaften, drei Mitglie-    Aufgaben fachlich und organisatorisch unterstützt.
dern der Arbeitgeberschaft und zwei nicht stimmberechtigten,    arne.baumann@geschaeftsstelle-mindestlohn.de
beratenden wissenschaftlichen Mitgliedern zusammen.
23 Vgl. Beschluss der Mindestlohnkommission, 30. 6. 2020,
                                                                OLIVER BRUTTEL
www.mindestlohnkommission.de/DE/Bericht/pdf/Beschluss2020.
pdf?__blob=publicationFile&v=5.
                                                                ist Leiter der Geschäfts- und Informationsstelle
24 Vgl. Europäische Kommission, Ein starkes soziales Europa     für den Mindestlohn.
für einen gerechten Übergang, COM(2020)14 final, 14. 1. 2020.   oliver.bruttel@geschaeftsstelle-mindestlohn.de

10
Mindestlohn APuZ

           ZUR HÖHE DES MINDESTLOHNS
                 IN DEUTSCHLAND
                            Hagen Lesch · Christoph Schröder

Nach Paragraf 9 des Mindestlohngesetzes (Mi-       man nach Berechnungen des Deutschen Gewerk-
LoG) orientiert sich die Mindestlohnkommis-        schaftsbunds für 2020 beim Bruttostundenlohn
sion bei den Anpassungen der Höhe des Min-         auf einen Wert von 11,99 Euro.02 Die Partei Die
destlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.     Linke beziffert den Stundenlohn, der notwendig
Mit ihrem Beschluss vom 30. Juni 2020 ist sie      wäre, um einen Beschäftigten nach 45 Beitrags-
von dieser Regel abgewichen: Sie schlägt vor,      jahren unabhängig von Grundsicherung im Alter
den Mindestlohn in vier Stufen bis Juli 2022       zu machen, auf 12,63 Euro.03 Inzwischen beein-
auf 10,45 Euro je Stunde zu erhöhen. Bei einer     flusst die 12-Euro-Debatte auch die Tarifpolitik.
strikten Tarif­orientierung hätte sich ab Januar   So hat beispielsweise die Gewerkschaft Nahrung-​
2021 ein Mindestlohn von 9,82 Euro je Stunde       Genuss-Gaststätten in der Systemgastronomie
ergeben. Diese Höhe soll der Mindestlohn je-       eine Lohn­un­ter­gren­ze von 12 Euro gefordert, um
doch erst ein Jahr später erreichen, sodass die    Altersarmut zu vermeiden.04
Unternehmen in der Corona-Krise eine relative           Auch im europäischen Kontext hat das Thema
Kostenentlastung erhalten. Mit den beschlosse-     an Fahrt aufgenommen. Kommissionspräsiden-
nen Erhöhungsschritten ergibt sich im Durch-       tin Ursula von der Leyen hat in ihrer Bewerbung
schnitt der Jahre 2021 und 2022 also in etwa der   2019 angekündigt, ein Rechtsinstrument zu ins-
gleiche Wert, wie er sich bei der Orientierung     tallieren, mit dem sichergestellt werden soll, dass
an der Tarifentwicklung ergeben hätte. Gleich-     jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in
wohl wird der regelbasierte Wert in der zweiten    der Europäischen Union „einen gerechten Min-
Jahreshälfte 2022 um mehr als 6 Prozent über-      destlohn erhält“, der „am Ort ihrer Arbeit einen
schritten. Dies wäre langfristig relevant, wenn    angemessenen Lebensstandard“ ermöglicht.05
die nächste Erhöhung 2023 auf 10,45 Euro und            Bei diesen Debatten werden die Risiken des
nicht auf 9,82 Euro aufsetzen wird.                gesetzlichen Mindestlohns nicht weiter hinter-
    Auch nach diesem Beschluss bleibt die zu-      fragt. Inzwischen herrscht die Auffassung vor,
künftige Höhe des Mindestlohns Gegenstand der      „der Mindestlohn helfe Niedriglohnbeziehern
öffentlichen Diskussion. So erklärte Bundesar-     und koste keine Arbeitsplätze“.06 Im Folgenden
beitsminister Hubertus Heil, er werde Vorschlä-    wird dieses Narrativ kritisch hinterfragt und ge-
ge machen, wie die vor allem von den Gewerk-       zeigt, dass der Mindestlohn arbeitsmarktpoliti-
schaften und einigen politischen Parteien seit     sche Risiken birgt und verteilungspolitisch wenig
Jahren geforderte Marke von 12 Euro je Stun-       effizient ist.
de schneller erreicht werden könne. Geplant ist
offenbar, den Mindestlohn stärker an der Ent-                   MINDESTLOHN
wicklung des mittleren Einkommens (Median-                    UND BESCHÄFTIGUNG
einkommen) statt an der Tarifentwicklung zu
orientieren.01                                     Das Statistische Bundesamt teilte Ende Juni 2020
    Die Bestrebungen, den Mindestlohn Richtung     mit, dass knapp zwei Millionen Jobs von der
12 Euro zu erhöhen, werden vor allem damit be-     Mindestlohnerhöhung Anfang 2019 profitierten.
gründet, dass der Mindestlohn existenzsichernd     Während Kritiker des Mindestlohns befürch-
sein soll. Nimmt man analog zur Definition von     tet hatten, dass durch dessen Einführung meh-
Armutsgefährdung der Europäischen Kommis-          rere Hunderttausend Arbeitsplätze verloren ge-
sion 60 Prozent des mittleren Einkommens als       hen könnten,07 bot der Arbeitsmarkt auch nach
Schwellenwert zur Armutsvermeidung, käme           der Mindestlohneinführung Anfang 2015 Anlass

                                                                                                    11
APuZ 39–40/2020

für eine Erfolgsmeldung nach der anderen. Es                       wirkungen auf die sozialversicherungspflichti-
wäre voreilig, daraus abzuleiten, dass die Höhe                    ge Beschäftigung gemischt ausfallen. Mit Blick
des Mindestlohns für die Beschäftigungsentwick-                    auf die Auswirkungen auf den gesamten Ar-
lung irrelevant ist. Die bisherige Höhe könnte so                  beitsmarkt ermitteln fünf Studien negative, zwei
angemessen gewesen sein, dass sie für den Ar-                      positive und eine nach Altersgruppen gemisch-
beitsmarkt kein Problem darstellt. Das muss aber                   te Beschäftigungseffekte. In den verbleibenden
nicht für einen Mindestlohn von 12 Euro je Stun-                   zwei Studien können keine Einflüsse festgestellt
de gelten. Zudem wurde der Mindestlohn in ei-                      werden. In den sechs Studien, in denen die er-
nem konjunkturell günstigen Umfeld eingeführt.                     mittelten (gesamten) Beschäftigungswirkungen
Ob seine Höhe angemessen ist, wird sich erst im                    in Stellen umgerechnet wurden, reicht die Band-
Konjunkturabschwung zeigen.                                        breite von einem Zuwachs von 11 000 bis zu ei-
    Schon jetzt fällt die arbeitsmarktpolitische                   nem Verlust von 260 000 Arbeitsplätzen. Eine
Bilanz des Mindestlohns schlechter aus, als auf                    weitere vergleichende Auswertung bestätigt dies:
den ersten Blick erkennbar ist. Inzwischen zei-                    Hier reicht die Spanne von einem leichten Be-
gen verschiedene empirische Arbeiten, die den                      schäftigungsgewinn von 11 000 bis zu Verlusten
isolierten kausalen Effekt des Mindestlohns auf                    von 200 000 Arbeitsplätzen.09
die Beschäftigung berechnen, dass die geringfü-                        Die Mindestlohnkommission räumt in ih-
gige Beschäftigung (sogenannte Minijobs) ab-                       rem dritten Anpassungsbeschluss ein, dass es
genommen und die sozialversicherungspflichti-                      „geringe negative Auswirkungen des gesetz-
ge Beschäftigung zugenommen haben. Das mag                         lichen Mindestlohns auf die Beschäftigung
politisch erwünscht sein, ist aber mit einem Pro-                  gab“, 10 relativiert dies aber. Dabei fällt der ne-
blem verbunden: Rechnet man beide Effekte zu-                      gative Beschäftigungseffekt des Mindestlohns
sammen, stand dem Abbau von geringfügiger                          größer aus, wenn das Arbeitsvolumen anstelle
Beschäftigung kein entsprechender Zuwachs bei                      der Anzahl der Beschäftigten analysiert wird. 11
den sozialversicherungspflichtigen Stellen ge-                     Das Arbeitsvolumen multipliziert die Anzahl
genüber. Per Saldo ging die veränderte Beschäf-                    der Beschäftigten mit den von ihnen geleisteten
tigungsstruktur also mit einem Beschäftigungs-                     Arbeitsstunden. Verschiedene Studien zeigen,
rückgang einher.                                                   dass der Mindestlohn bei vielen Beschäftigten
    Fasst man zehn neuere ökonometrische Ana-                      zu einer Reduzierung ihrer Arbeitszeit geführt
lysen dazu zusammen, zeigt sich:08 Der Effekt                      hat: 12 So wurde die vertraglich vereinbarte Ar-
auf die geringfügige Beschäftigung ist in neun                     beitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
von zehn Analysen negativ, während die Aus-                        nehmer, die 2014 weniger als 8,50 Euro ver-
                                                                   dienten, nach der Mindestlohneinführung bei
                                                                   den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
01 Vgl. „Kaufkraft der Menschen“: Arbeitsminister Heil will den
Mindestlohn schnell auf 12 Euro anheben, 23. 7. 2020, www.
                                                                   um 5 und bei den Minijobbern um 11 Prozent
faz.net/-euro-16872810.html.                                       reduziert. Rechnerisch entspricht die ermittel-
02 Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, Mindestlohn: 12 Euro          te Arbeitszeitreduzierung allein bei den sozial-
müssen drin sein, Klartext 24/2019.                                versicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt
03 Vgl. Fraktion Die Linke, Bundesregierung muss Lohndum-
                                                                   79 000 Vollzeitstellen. 13 Addiert man diesen sich
ping-Politik beenden – zwölf Euro Mindestlohn jetzt!, Pressemit-
teilung, 13. 2. 2020.
04 Vgl. Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG               09 Vgl. Mario Bossler/Benjamin Börschlein, Mindestlohn in
fordert mindestens 12 Euro Stundenlohn bei McDonald’s & Co.,       Deutschland: Löhne, Beschäftigung und Armutsbekämpfung, in:
Pressemitteilung, 1. 10. 2019.                                     ifo Schnelldienst 4/2020, S. 10–13, hier S. 11.
05 Ursula von der Leyen, Eine Union, die mehr erreichen will.      10 Beschluss der Mindestlohnkommission, 30. 6. 2020,
Meine Agenda für Europa, Politische Leitlinien für die künftige    www.mindestlohn-kommission.de/DE/Bericht/pdf/Be-
Europäische Kommission 2019–2024, Luxemburg 2019, https://         schluss2020.pdf?__blob=publicationFile&v=5.
ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/political-      11 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 5.
guidelines-next-commission_de.pdf, S. 11.                          12 Vgl. Marco Caliendo et al., The Short-Term Distributional
06 Andreas Knabe/Ronnie Schöb/Marcel Thum, Alles im                Effects of the German Mininmum Wage Reform, Forschungsin-
grünen Bereich?, in: ifo Institut für Wirtschaftsforschung, ifo    stitut zur Zukunft der Arbeit, IZA Discussion Paper 11246/2017;
Schnelldienst 4/2020, S. 3–6, hier S. 3.                           Patrick Burauel et al., The Impact of the Minimum Wage
07 Vgl. dies., Der flächendeckende Mindestlohn, in: Perspekti-     on Working Hours, in: Journal of Economics and Statistics
ven der Wirtschaftspolitik 2/2014, S. 133–157.                     2–3/2020, S. 233–267.
08 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 4.                           13 Vgl. Burauel et al. (Anm. 12), S. 262.

12
Mindestlohn APuZ

über den Rückgang des Arbeitsvolumens erge-                       durch den Mindestlohn verdrängt und das Aus-
benden indirekten Beschäftigungseffekt und die                    maß der Tariflohnsteigerungen durch den Min-
direkt ermittelten Beschäftigungseffekte, hat                     destlohn mehr oder weniger vorherbestimmt.17
der Mindestlohn zwischen 129 000 und 594 000                          Diese Eingriffe in die Tarifautonomie haben
Arbeitsplätze gekostet, und das trotz der guten                   die Tarifparteien vor große Herausforderungen
Konjunktur. 14                                                    gestellt; letztlich hat der Mindestlohn die Ver-
    Allerdings deuten die Ergebnisse einer 2018                   handlungsbereitschaft der Tarifparteien aber
erfolgten Direktabfrage des Stundenlohns im                       nicht untergraben.18 Hierzu hat die im MiLoG
Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP)                       verankerte Übergangsregelung beigetragen, die
spürbare Unterschreitungen des Mindestlohns                       bis Ende 2017 Unterschreitungen des Mindest-
an.15 Möglicherweise wären die negativen Ar-                      lohns zuließ. Außerdem waren die bisherigen
beitsmarktwirkungen größer, wenn der Mindest-                     Mindestlohnanpassungen kalkulierbar, weil sich
lohn nicht umgangen worden wäre. Offen bleibt                     die Kommission weitgehend an dem im MiLoG
bei alldem, wie der Mindestlohn auch unter kon-                   vorgesehenen Anpassungsprozess gehalten hat,
junkturell ungünstigeren Bedingungen arbeits-                     wonach sich die Erhöhungen nachlaufend an
marktpolitisch zu bewerten ist. Bei einer Re-                     der Tarifentwicklung orientierten. Diese Anpas-
zession oder bei einer deutlichen Anhebung des                    sungsregel ist ein wichtiger Schutz der Tarifau-
Mindestlohns könnten durchaus stärkere nega-                      tonomie. Sie stellt sicher, dass die Tarifparteien
tive Beschäftigungseffekte eintreten.16 Die der-                  über ihre allgemeine Tarifpolitik automatisch
zeitige durch die Corona-Pandemie verursachte                     Einfluss auf die Mindestlohnentwicklung neh-
Wirtschaftskrise wird deshalb für den gesetzli-                   men. Und sie vermeidet, dass ein politisch be-
chen Mindestlohn zur Nagelprobe.                                  stimmter Mindestlohn so stark in das untere
                                                                  Tariflohngefüge eingreift, dass die Tarifpartei-
                 MINDESTLOHN                                      en auf ihren Regelungsauftrag verzichten. Im
              UND TARIFAUTONOMIE                                  nordrhein-westfälischen Frisörhandwerk etwa
                                                                  besteht bereits jetzt in den beiden untersten Ta-
Aus Paragraf 9 Absatz 3 des Grundgesetzes lei-                    riflohngruppen eine direkte Kopplung an den
tet sich die Tarifautonomie ab. Danach legen                      gesetzlichen Mindestlohn. Eine autonome Fest-
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die                        legung der Tariflöhne findet also gar nicht mehr
Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen frei                       statt.
von staatlicher Einflussnahme fest. Mit dem                           Eine vorschnelle Anpassung des Mindest-
Mindestlohn greift der Staat in die Tarifauto-                    lohns auf 12 Euro je Stunde hätte nicht nur ne-
nomie ein. Denn der Mindestlohn zwingt nicht                      gative Auswirkungen auf die Höhe der Beschäf-
nur Unternehmen, die keine Tarifverträge an-                      tigung; sie würde auch in unverhältnismäßiger
wenden wollen, die gesetzliche Lohnuntergren-                     Weise in die Tarifautonomie eingreifen. Der Vor-
ze zu zahlen. Er zwingt auch Gewerkschaften                       sitzende der Mindestlohnkommission, Jan Zilius,
und Arbeitgeberverbände, Tariflöhne nach dem                      stellte dazu in einem Interview fest: „Von heute
Mindestlohn auszurichten. In einigen arbeitsin-                   auf morgen den Mindestlohn auf zwölf Euro an-
tensiven Branchen mit geringen Tarifverdiens-                     zuheben, wäre höchst problematisch. Weil wir
ten, etwa dem Frisör- und dem Bäckerhand-                         dann eine Überholung von laufenden Tarifver-
werk, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der                      trägen in einem Umfang hätten, der mit unse-
Systemgastronomie, der Land- und Forstwirt-                       rer im Grundgesetz vereinbarten Tarifautonomie
schaft, Wäschereien im Objektkundengeschäft                       nicht mehr viel zu tun hätte. Anders ausgedrückt:
oder der Floristik, wurden Tariflöhne zeitweise
                                                                  17 Vgl. Hagen Lesch, Mindestlohn und Tarifgeschehen: Die
14 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 5.                          Sicht der Arbeitgeber in betroffenen Branchen, Institut für Wirt-
15 Vgl. Alexandra Fedorets et al., Lohnungleichheit in Deutsch-   schaftsforschung, IW-Report 13/2017; ders./Christoph Schröder,
land sinkt – Erste Anzeichen für schrumpfenden Niedriglohn-       Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, in: IW-Report
sektor, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW      18/2020, S. 17 f.
Wochenbericht 7/2020, S. 91–96, hier S. 96.                       18 Vgl. Reinhard Bispinck et al., Entwicklung des Tarifgesche-
16 Vgl. Monika Köppl-Turyna/Michael Christl/Dénes Kucsera,        hens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindest-
Beschäftigungseffekte von Mindestlohnbeziehern: Die Dosis         lohns, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit
macht das Gift, in: ifo Schnelldienst 2/2019, S. 40–46.           und Soziales, i. E.

                                                                                                                                13
APuZ 39–40/2020

Wir würden mit einer zu schnellen Erhöhung auf                  Diese Befunde weisen darauf hin, dass für die Ar-
zwölf Euro die Tarifverhandlungen für untere                    mutsgefährdung nicht nur der Stundenverdienst,
Lohngruppen obsolet machen.“19                                  sondern auch die geleistete Arbeitszeit eine wich-
                                                                tige Rolle spielt.
                   MINDESTLOHN                                      Trotz eines niedrigen Stundenlohns sind viele
                    UND ARMUT                                   Beschäftigte in Deutschland nicht einkommens-
                                                                arm. Das erklärt sich dadurch, dass auch andere
In der amtlichen Statistik lässt sich rein deskrip-             Haushaltsmitglieder zum Haushaltseinkommen
tiv durch die Einführung des Mindestlohns kein                  beitragen oder noch andere Einkommensbe-
spürbarer Einfluss auf die Armutsgefährdung                     standteile wie zum Beispiel Kapitaleinkünfte
von Beschäftigten ausmachen: Seit 2011 bewegt                   vorliegen. So trugen 2018 drei Viertel aller Be-
sich die Quote armutsgefährdeter Personen laut                  schäftigten mit einem vertraglich vereinbarten
den Mikrozensus-Erhebungen in einem engen                       Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro
Korridor von 7,5 bis 7,7 Prozent. Auch eine öko-                mit ihrem Nettoarbeitseinkommen weniger als
nometrische Studie des Instituts für Arbeits-                   50 Prozent zum direkt abgefragten verfügba-
markt- und Berufsforschung, bei der die Wir-                    ren Haushaltseinkommen bei. In der Hälfte der
kung des Mindestlohns im Zusammenspiel mit                      Fälle aus dieser Verdienstgruppe lag der Anteil
anderen relevanten Einflussgrößen auf die Ein-                  sogar bei weniger als 33 Prozent. Selbst bei den
kommensarmut untersucht wird, zeigt keinen                      recht wenigen Vollzeitbeschäftigten mit einem
stabilen Effekt. Zwar konnte der Mindestlohn                    Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro
die Wahrscheinlichkeit einer Armutsgefährdung                   lag der Anteil des individuellen Arbeitseinkom-
vermindern. Dieser Effekt fiel aber sehr gering                 mens am Haushaltseinkommen in der Mehrheit
aus und erwies sich als statistisch nicht signifi-              bei höchstens 50 Prozent.
kant, könnte also auch zufallsbedingt sein.20                       Diese Zusammenhänge würden auch die er-
    Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass auch                  hofften Anti-Armutswirkungen eines Mindest-
niedrig entlohnte Beschäftigte nur eine relativ ge-             lohns von 12 Euro je Stunde dämpfen. Das zeigt
ringe Armutsgefährdungsquote haben. Dies er-                    die Simulation einer hypothetischen Erhöhung
geben Auswertungen von Daten des SOEP für                       des Mindestlohns auf 12 Euro im Jahr 2021.22 Si-
2018. Danach war von den Beschäftigten, deren                   muliert wurden zwei Varianten: Variante 1 geht
vertraglich vereinbarter Stundenlohn unter dem                  von der Annahme aus, dass es 2021 so viele Per-
2018 gültigen Mindestlohn von 8,84 Euro je Stun-                sonen, die weniger als den Mindestlohn verdie-
de lag, ein Viertel armutsgefährdet.21 Unter den                nen („Unterschreiter“), gibt wie heute und deren
Vollzeitbeschäftigten war die Quote mit 21 Pro-                 Einkommensabstand zum Mindestlohn so hoch
zent deutlich niedriger als bei den Teilzeit- und               bleibt wie heute. In Variante 2 wird hingegen an-
geringfügig Beschäftigten (zusammen 26 Pro-                     genommen, dass es 2021 keine Unterschreiter
zent). Wer zwischen 8,84 Euro und 9,99 Euro                     mehr gibt. Es zeigt sich, dass die Armutsgefähr-
verdiente, war als Vollzeitbeschäftigter nur noch               dungsquote unter den Beschäftigten bei Varian-
zu knapp 13 Prozent und damit seltener als der                  te 1 um einen Prozentpunkt sinken würde. Be-
Durchschnitt der Bevölkerung armutsgefährdet                    trachtet man die Bevölkerung insgesamt, ginge
(16 Prozent). Bei den Teilzeitbeschäftigten war                 die Armutsgefährdungsquote lediglich um einen
die Quote mit knapp 26 Prozent doppelt so hoch.                 halben Prozentpunkt zurück. Wenn tatsächlich
                                                                alle den erhöhten Mindestlohn bekämen (Varian-
                                                                te 2), wäre der Rückgang mit 1,3 Prozentpunkten
19 Jan Zilius, Beim Mindestlohn ist mehr Druck im Kessel, in:
                                                                bei den Beschäftigten und einem Prozentpunkt
Rheinische Post, 28. 7. 2020, S. B1.
20 Vgl. Kerstin Bruckmeier/Sebastian Becker, Auswirkungen
                                                                bei der Gesamtbevölkerung stärker. Diese Ef-
des gesetzlichen Mindestlohns auf die Armutsgefährdung und      fekte relativieren sich allerdings, wenn man be-
die Lage von erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Bezieherinnen   rücksichtigt, dass schon beim jetzigen Mindest-
und -Beziehern, Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission,    lohnniveau die hundertprozentige Einhaltung zu
2018, www.mindestlohn-kommission.de/DE/Forschung/Projekte/
                                                                einem Rückgang der Armutsgefährdungsquote
pdf/Bericht-Mindestlohn-Armut-ALGII.pdf, S. 15.
21 Vgl. Christoph Schröder/Christian Kestermann, Mindestlohn
                                                                von jeweils einem halben Prozentpunkt führen
und Einkommensarmut, in: IW-Trends 2/2020, S. 107–127, hier
S. 117.                                                         22 Vgl. ebd., S. 121 ff.

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