AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Mindestlohn - Bundeszentrale für politische ...
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70. Jahrgang, 39–40/2020, 21. September 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Mindestlohn Arne Baumann ∙ Oliver Bruttel Wolfgang Schroeder FÜNF JAHRE MINDESTLOHN, GESETZLICHER MINDESTLOHN TARIFAUTONOMIE UND GEWERKSCHAFTEN Hagen Lesch ∙ Christoph Schröder ZUR HÖHE DES Christine Aumayr-Pintar MINDESTLOHNS MINDESTLOHN IN EUROPA Thorsten Schulten Philip Kovce DER NIEDRIGLOHNSEKTOR BEDINGUNGSLOSES IN DER CORONA-KRISE GRUNDEINKOMMEN ALS GRUNDRECHT? Claudia Weinkopf ZUR DURCHSETZUNG DES MINDESTLOHNS ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Mindestlohn APuZ 39–40/2020 ARNE BAUMANN · OLIVER BRUTTEL WOLFGANG SCHROEDER FÜNF JAHRE GESETZLICHER MINDESTLOHN MINDESTLOHN, TARIFAUTONOMIE Kaum eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme UND GEWERKSCHAFTEN seit den Hartz-Reformen wurde in Deutschland Lange befürchteten die Gewerkschaften, die so kontrovers diskutiert wie die Einführung Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns des gesetzlichen Mindestlohns 2015. Nach fünf werde ihre Position im Niedriglohnsektor Jahren lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Welche schwächen. Mittlerweile haben sie ihren Frieden Wirkungen hat der Mindestlohn entfaltet? mit dem Mindestlohn gemacht und sind selbst Seite 04–10 Protagonisten seiner weiteren Reform. Seite 26–31 HAGEN LESCH · CHRISTOPH SCHRÖDER ZUR HÖHE DES MINDESTLOHNS CHRISTINE AUMAYR-PINTAR Viele behaupten, der Mindestlohn helfe Niedrig- MINDESTLOHN IN EUROPA lohnbeziehern, ohne Arbeitsplätze zu kosten. Tat- Die EU-Kommission hat 2019 eine Initiative für sächlich sind die Wirkungen auf das Armutsrisiko gerechte Mindestlöhne angekündigt. Vor diesem überschaubar und Beschäftigungsrisiken vorhan- Hintergrund wird in dem Beitrag die Vielfalt der den. Eine rasche Erhöhung des Mindestlohns auf Mindestlohnsetzung in der EU beleuchtet und 12 Euro je Stunde ist nicht ratsam. Fairness und Angemessenheit der nationalen Seite 11–15 Mindestlöhne diskutiert. Seite 33–38 THORSTEN SCHULTEN DER NIEDRIGLOHNSEKTOR PHILIP KOVCE IN DER CORONA-KRISE BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN In der Corona-Krise sind Niedriglohnempfänger ALS GRUNDRECHT? im besonderen Maße von Einkommenseinbußen Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine betroffen, obwohl nicht wenige von Ihnen in strittige Idee mit langer Tradition. Im Zuge „systemrelevanten“ Berufen arbeiten. Um den der Corona-Pandemie wird seine Einführung Niedriglohnsektor zu begrenzen wäre eine Weiter- immer wieder lautstark gefordert. Was entwicklung des Mindestlohngesetzes notwendig. spricht dafür, was dagegen? Und warum sind Seite 16–21 Grundeinkommensexperimente so schwierig? Seite 39–44 CLAUDIA WEINKOPF ZUR DURCHSETZUNG DES MINDESTLOHNS Inwiefern wird der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland in der Praxis eingehalten? Welche Ansatzpunkte und Maßnahmen könnten dazu beitragen, die Einhaltung und Durchsetzung von Mindestlohnansprüchen zu verbessern und Verstöße wirksamer zu unterbinden? Seite 22–25
EDITORIAL Sie zählt zu den größten arbeitsmarktpolitischen Kontroversen der jüngeren Zeit: die Debatte um die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Min- destlohns. Verbanden einige mit einer allgemeinen Lohnuntergrenze Hoffnungen auf bessere Verdienstmöglichkeiten und ein geringeres Armutsrisiko, prophezei- ten andere einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen und eine Schwächung der Wirtschaft. Auch das gewerkschaftliche Lager war in der Frage lange gespalten, teilten doch viele trotz rückläufiger Tarifbindung die Sorge der Arbeitgeberseite vor einem Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Zum 1. Januar 2015 wurde der Mindestlohn schließlich eingeführt, institu- tionell gerahmt von der paritätisch aus Vertreter:innen von Arbeitgebern und Gewerkschaften besetzten unabhängigen Mindestlohnkommission, die alle zwei Jahre über eine Anpassung seiner Höhe entscheidet. Dies geschieht im Zuge einer Gesamtabwägung und orientiert an der vorherigen Tarifentwicklung. Lag der Mindestlohn zunächst bei 8,50 Euro brutto pro Stunde, stieg er in mehreren Stufen auf derzeit 9,35 Euro; bis Juli 2022 wird er schrittweise auf 10,45 Euro angehoben. Die Bilanz der ersten fünf Jahre fällt vor dem Hintergrund eines gestiegenen Lohnniveaus, rückläufiger Arbeitslosigkeit und anhaltenden Wirtschaftswachs- tums in weiten Teilen positiv aus. Mit der Corona-Pandemie wird sich indes zeigen, welche Effekte die Lohnuntergrenze in Zeiten eines Konjunkturein- bruchs zeitigt. Zugleich erhalten Forderungen, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen, um allen Beschäftigten ein auch im Alter existenzsicherndes Einkom- men zu ermöglichen, angesichts der offenbar gewordenen „Systemrelevanz“ vieler Berufsgruppen im Niedriglohnsektor neuen Nachdruck. So zeichnet sich für die im Herbst 2020 anstehende Evaluierung des Mindestlohngesetzes eine Neuauflage alter Auseinandersetzungen ab. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 39–40/2020 FÜNF JAHRE GESETZLICHER MINDESTLOHN Bilanz und Perspektiven Arne Baumann · Oliver Bruttel Kaum eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme seit lernten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Hartz-Reformen wurde in Deutschland der- bei befristet Beschäftigten sowie bei nicht tarif- art kontrovers diskutiert wie die Einführung des lich entlohnten Beschäftigungsverhältnissen vor. gesetzlichen Mindestlohns zum Januar 2015. Die im Vorfeld geäußerten Einschätzungen zu den STEIGENDE LÖHNE Folgen des Mindestlohns gingen erheblich aus- einander: Einerseits wurden teils massive negati- Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ve Beschäftigungseffekte und steigende Arbeits- hat zu deutlichen Steigerungen des Stundenlohns losenzahlen prognostiziert. Andererseits wurden am unteren Rand der Lohnverteilung geführt. Be- durchweg positive Auswirkungen auf Verdienste schäftigte im Mindestlohnbereich verzeichneten von Geringverdienerinnen und -verdienern sowie zwischen 2014 und 2018 laut der Verdienststruk- die Armutsgefährdung erwartet.01 turerhebung (VSE) des Statistischen Bundesamtes Nach fünf Jahren lässt sich eine erste Bilanz einen Zuwachs beim Stundenlohn von insgesamt des gesetzlichen Mindestlohns ziehen.02 Die hier 21,8 Prozent. Zum Vergleich: Der durchschnittli- dargestellten Erkenntnisse beziehen sich auf den che Anstieg für alle Beschäftigten lag in diesen Jah- Zeitraum bis Ende 2019, also vor Beginn der ren bei 11,4 Prozent. Der überdurchschnittliche Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen der Anstieg war in erster Linie nach der Mindestlohn- gesetzliche Mindestlohn in dieser Ausnahme- einführung 2015 und 2016 zu beobachten. Ab 2017 situation auf Verdienste, Beschäftigung und Wett- lagen die Zuwächse etwa in der Größenordnung bewerb hat, bleibt abzuwarten und wird Gegen- der allgemeinen Lohnentwicklung (Abbildung 1). stand künftiger Forschungsarbeiten sein. Die Erhöhung von Stundenlöhnen im unte- Der gesetzliche Mindestlohn gilt, von weni- ren Lohnbereich muss nicht automatisch zu einer gen Ausnahmen abgesehen, für alle Arbeitneh- proportionalen Erhöhung der Monatslöhne füh- merinnen und Arbeitnehmer. Bei seiner Einfüh- ren. Wenn die Arbeitszeit in gleichem Umfang zu- rung lag seine Höhe bei 8,50 Euro brutto pro rückgeht, wie der Stundenlohn steigt, bleibt der Stunde und wurde seitdem schrittweise auf ak- Monatslohn unverändert. Aus den Daten wird er- tuell 9,35 Euro erhöht. Von der Einführung des sichtlich, dass sich die Monatslöhne unterschiedlich Mindestlohns waren in Deutschland rund 4 Mil- entwickelt haben. Bei sozialversicherungspflichtig lionen Beschäftigungsverhältnisse betroffen, die Beschäftigten zeigt sich beim Monatslohn ein ähn- bis dahin einen Stundenverdienst unterhalb von licher Anstieg wie beim Stundenlohn. Bei gering- 8,50 Euro gehabt hatten. Dies entsprach einem fügig Beschäftigten beträgt der Anstieg der Mo- Anteil von 11,3 Prozent an allen Beschäftigungs- natslöhne hingegen knapp die Hälfte des Anstiegs verhältnissen. Dabei lag der Anteil mit 20,7 Pro- bei den Stundenlöhnen. Zugleich weisen sie einen zent in Ostdeutschland deutlich höher als in deutlichen Rückgang ihrer durchschnittlichen Ar- Westdeutschland mit 9,3 Prozent. Besonders beitszeit nach der Einführung des gesetzlichen groß war der Anteil bei geringfügigen Beschäf- Mindestlohns auf. Das hat seine Ursache mutmaß- tigungsverhältnissen, den sogenannten Minijobs. lich darin, dass Beschäftigte und Betriebe vermei- Überdurchschnittlich häufig kamen Stundenlöh- den wollen, dass die Verdienstgrenze der Minijobs ne von unter 8,50 Euro zudem bei Frauen, in klei- von 450 Euro pro Monat überschritten wird. Eine neren Unternehmen, bei ungelernten oder ange- Erhöhung des Stundenlohns erfordert dann eine 04
Mindestlohn APuZ Abbildung 1: Veränderung der Stundenlöhne zwischen 2014 und 2018 in Prozent 25 21,0 20 15 14,1 11,6 10 8,2 8,1 8,6 6,7 7,3 6,7 4,7 5 2,9 2,3 0 Mindestlohn- Insgesamt Mindestlohn- Insgesamt Mindestlohn- Insgesamt bereich bereich bereich Deutschland Westdeutschland Ostdeutschland 2014–2016 2016–2018 Beschäftigungsverhältnisse im Mindestlohnbereich sind für 2014 solche mit einem Stundenverdienst von weniger als 8,50 Euro. Für 2016 sind es Beschäftigungsverhältnisse mit einem Stundenverdienst von weniger als 8,55 Euro, für 2018 mit weniger als 8,89 Euro. Berlin ist in den Auswertungen Ostdeutschland zugeordnet. Der Anstieg über den Gesamtzeitraum entspricht nicht der Summe aus den beiden Teilzeiträumen, weil die Summe der Steigerungsraten aus zwei Teilzeiträumen in der Regel nicht der Steigerungsrate aus dem Gesamtzeitraum entspricht. Quelle: Verdienststrukturerhebungen 2014 und 2018; Verdiensterhebung 2016; eigene Berechnungen. entsprechende Reduzierung der Arbeitszeit. Für Kausalstudien zeigen, dass die Einführung Beschäftigte mit Minijobs, die die Verdienstgren- des Mindestlohns zu einem Rückgang der aus- ze nicht überschreiten konnten oder wollten, um in schließlich geringfügigen Beschäftigung geführt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu hat, wohingegen die sozialversicherungspflich- wechseln, hat der Mindestlohn damit in der Regel tige Beschäftigung weitgehend unbeeinflusst ge- zu keiner Verbesserung des Monatslohns geführt. blieben ist.04 Die Minijobs sind von rund 4,9 Mil- lionen Beschäftigten 2014 auf rund 4,5 Millionen KAUM BESCHÄFTIGUNGSEFFEKTE Beschäftigte 2019 zurückgegangen. Der Anteil dieses Rückgangs, der mit dem Mindestlohn zu- Die bislang vorliegenden Studien, die sich mit den sammenhängt, dürfte bei rund 150 000 bis 200 000 Effekten des Mindestlohns auf die Beschäftigung Beschäftigten liegen.05 Die Beschäftigten in Mini- befassen, kommen zum Ergebnis, dass es zu keinen jobs haben jedoch nicht in jedem Fall ihren Job größeren Beschäftigungsverlusten gekommen ist.03 verloren. Zum Teil handelt es sich bei dem Rück- gang um Umwandlungen von geringfügiger in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das 01 Vgl. Patrick Arni et al., Zeitgespräch: Das Mindestlohnge- setz – Hoffnungen und Befürchtungen, in: Wirtschaftsdienst 6/2014, S. 387 ff. 04 Für eine ausführliche Übersicht der Studien zu den Beschäf- 02 Soweit nicht anders angegeben, basieren die folgenden tigungseffekten des Mindestlohns vgl. Mindestlohnkommission Ausführungen auf Mindestlohnkommission, Dritter Bericht zu den (Anm. 2), S. 100 ff. Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, Berlin 2020. Siehe 05 Vgl. Benjamin Börschlein/Mario Bossler, Eine Bilanz nach auch www.mindestlohn-kommission.de. fünf Jahren gesetzlicher Mindestlohn, Institut für Arbeits- 03 Vgl. Oliver Bruttel/Arne Baumann/Matthias Dütsch, markt- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 24/2019; Marco Beschäftigungseffekte des gesetzlichen Mindestlohns: Prognosen Caliendo/Carsten Schröder/Linda Wittbrodt, The Causal Effects und empirische Befunde, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik of the Minimum Wage Introduction in Germany: An Overview, 3/2019, S. 237–253. in: German Economic Review 3/2019, S. 257–292. 05
APuZ 39–40/2020 lässt sich beispielhaft an Daten aus dem Janu- Jugendliche ohne Berufsausbildung und be- ar 2015 illustrieren, also für einen Zeitpunkt un- stimmte Praktika, die ausbildungsbegleitend mittelbar nach Einführung des Mindestlohns: Im oder als Orientierung vor Beginn einer Ausbil- Vergleich zum Vorjahresmonat fielen im Januar dung oder eines Studiums absolviert werden, sind 2015 rund 100 000 Minijobs zusätzlich weg. Von vom Mindestlohn ausgenommen. Damit wollte den betroffenen Beschäftigten gingen jedoch mit der Gesetzgeber einerseits sicherstellen, dass Ju- 52 000 rund die Hälfte in einen sozialversiche- gendliche nicht zugunsten einer ungelernten Be- rungspflichtigen Job über.06 schäftigung zum Mindestlohn auf eine Berufs- Hinsichtlich der sozialversicherungspflich- ausbildung verzichten. Zum anderen sollte der tigen Beschäftigung weisen die Studien unein- Missbrauch von Praktika zulasten von regulären heitliche Ergebnisse mit sowohl negativen als Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnissen auch positiven Effekten aus, die gemessen an eingeschränkt werden. Noch liegen keine For- der Gesamtzahl sozialversicherungspflichtiger schungsergebnisse dazu vor, ob Schulabgänge- Beschäftigungsverhältnisse jedoch gering sind. rinnen und -abgänger infolge des Mindestlohns Für die Gesamtbeschäftigung weist die Mehr- mehr oder weniger dazu neigen, eine Ausbildung zahl der Studien auf einen leicht negativen Ef- aufzunehmen. Jedoch zeigen Forschungsergeb- fekt aufgrund der Einführung des Mindestlohns nisse bereits, dass sich das Angebot von Ausbil- hin, der sich vor allem aus der verringerten dungsplätzen seitens der Betriebe durch die Ein- Anzahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnis- führung des Mindestlohns nicht verändert hat.10 se speist. Die Regelungen des Mindestlohngesetzes zu Spiegelbildlich zur Beschäftigungsentwick- Praktika haben zu hohem Beratungsbedarf bei lung haben die bislang vorliegenden Studien kei- der Mindestlohn-Hotline des Bundesministeri- nen statistisch signifikanten Effekt des gesetz- ums für Arbeit und Soziales geführt. Die weni- lichen Mindestlohns auf die Entwicklung der gen vorliegenden Studien geben Hinweise darauf, Arbeitslosigkeit gezeigt.07 Auch ein Effekt auf die dass es durch den Mindestlohn zu einer Verschie- Anzahl offener Stellen konnte bislang nicht iden- bung hin zu kürzeren und Pflichtpraktika und zu tifiziert werden.08 einem stärkeren Anstieg der Praktikumsvergü- Die geringen Auswirkungen des Mindest- tungen gekommen ist. Ein drastischer Rückgang lohns auf die Beschäftigung in Deutschland hän- der Praktika nach Einführung des Mindestlohns gen einerseits damit zusammen, dass die Betriebe ist im Zeitverlauf nicht erkennbar.11 auf den Kostenanstieg, der durch den Mindest- lohn verursacht wurde, mit anderen Maßnahmen „AUFSTOCKER“ UND als mit Stellenabbau reagiert haben, zum Beispiel ARMUTSGEFÄHRDUNG mit einer Erhöhung der Preise für ihre Produkte und Dienstleistungen. Andererseits weisen Stu- Im Vorfeld der Mindestlohneinführung wurde dienergebnisse darauf hin, dass der Mindestlohn die Hoffnung geäußert, dass der Mindestlohn eine Reallokation von Beschäftigten zwischen zu einem Rückgang der Anzahl der Empfänge- Betrieben in Gang gesetzt hat. Während kleine- rinnen und Empfänger von staatlichen Transfer- re Betriebe mit niedrigem Lohnniveau schließen zahlungen führen könnte, insbesondere von Ar- mussten, sind Beschäftigte zu größeren Betrieben beitslosengeld II. Im Fokus des Interesses steht mit höherem Lohnniveau gewechselt.09 Hinter dabei besonders der Kreis der zuletzt rund ei- dem weitgehend unveränderten Beschäftigungs- nen Million Beschäftigten, die trotz Erwerbstä- niveau verbirgt sich demnach also eine zum Teil tigkeit Arbeitslosengeld II erhalten (sogenann- veränderte Firmenstruktur. te „Aufstockerinnen und Aufstocker“). Deren Zahl ist seit Einführung des gesetzlichen Min- 06 Vgl. Philipp vom Berge et al., Arbeitsmarktspiegel. Ent- wicklungen nach Einführung des Mindestlohns, IAB-Forschungs 10 Vgl. Mario Bossler et al., Auswirkungen des gesetzlichen bericht 1/2016. Mindestlohns auf Betriebe und Unternehmen, IAB-Studie im Auf- 07 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 105 ff. trag der Mindestlohnkommission, Nürnberg 2018; ders./Nicole 08 Vgl. ebd., S. 116 ff. Gürtzgen/Benjamin Börschlein, Auswirkungen des gesetzlichen 09 Vgl. Christian Dustmann et al., Reallocation Effects of the Mindestlohns auf Betriebe und Unternehmen, IAB-Studie im Minimum Wage, Centre for Research and Analysis of Migration, Auftrag der Mindestlohnkommission, Nürnberg 2020. CReAM Discussion Paper 7/2020. 11 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 122 ff. 06
Mindestlohn APuZ destlohns jahresdurchschnittlich um 4,3 Pro- MAKROÖKONOMISCHE zent gesunken und damit etwas mehr als im EFFEKTE Zeitraum von 2011 bis 2014, in dem sie durch- schnittlich um 1,5 Prozent fiel. Dass es zu kei- Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene waren keine ner deutlicheren Reduzierung dieser Personen- messbaren Effekte des Mindestlohns auf gängi- gruppe gekommen ist, ist insbesondere darauf ge Wettbewerbsindikatoren wie Arbeitskosten, zurückzuführen, dass der ergänzende Arbeits- Lohnstückkosten, Produktivität und Gewin- losengeld-II-Bezug vor allem mit der häufig re- ne zu beobachten. Dies mag auch damit zu tun lativ geringen Wochenarbeitszeit sowie der Zahl haben, dass die mindestlohnbedingten Lohn- nicht erwerbstätiger Haushaltsmitglieder (zu- erhöhungen für die Gesamtwirtschaft von ver- meist Kinder) zusammenhängt. Zudem können gleichsweise geringer Bedeutung gewesen sind. hohe Wohnkosten insbesondere in Ballungsge- Für die Einführung des Mindestlohns ermittelte bieten trotz Mindestlohns zu einer Bedürftig- das Statistische Bundesamt unter der Annahme keit führen. Nur rund 3 Prozent aller erwerbs- einer vollständigen Umsetzung des gesetzlichen tätigen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und Mindestlohns und gleichbleibender Arbeitszeit -Bezieher sind alleinstehende Vollzeitbeschäf- einen mindestlohnbedingten Anstieg der jährli- tigte, für die der Mindestlohn seiner Bemessung chen Bruttolohnsumme um 5,2 Milliarden Euro, nach dazu geeignet ist, nicht mehr auf das Ar- was einer Zunahme von lediglich 0,43 Prozent beitslosengeld II angewiesen zu sein. Dement- bezogen auf alle Bruttolöhne und -gehälter sprechend fällt der Rückgang der erwerbstä- entspricht. tigen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher in Single- und in Paarhaushalten ohne REAKTIONEN Kinder nach Einführung des gesetzlichen Min- AUF BETRIEBSEBENE destlohns stärker aus als bei Alleinerziehenden und Paarhaushalten mit Kindern. Zwar waren auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Im Hinblick auf die Armutsgefährdung zeigt keine spürbaren Effekte zu beobachten. Gleich- sich ein ähnliches Muster. Auch hier ist der Min- wohl hatte der Mindestlohn für einzelne Betrie- destlohn nur begrenzt geeignet, dem Problem be, vor allem solche, die vor Einführung des Min- entgegenzuwirken. Dies ist auf drei Gründe zu- destlohns Beschäftigte hatten, die unter 8,50 Euro rückzuführen.12 Erstens sind besonders armutsge- pro Stunde verdienten, mitunter erhebliche Aus- fährdete Personengruppen häufig nicht erwerbs- wirkungen. Dies gilt besonders für Betriebe aus tätig und können somit nicht vom Mindestlohn dem Gastgewerbe, dem Einzelhandel, dem Be- profitieren. Von den Personen aus armutsgefähr- reich Nahrungs- und Genussmittel sowie gene- deten Haushalten ist nur rund ein Viertel über- rell dem Dienstleistungssektor. haupt erwerbstätig. Zweitens lebt lediglich ein Auf die Einführung des Mindestlohns haben Teil der Mindestlohnbezieherinnen und -bezie- betroffene Betriebe mit einer Reihe von Maßnah- her in armutsgefährdeten Haushalten. Von den men reagiert. So gaben 2015 im Betriebspanel des Beschäftigten, die vor Einführung des Mindest- Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lohns unter 8,50 Euro pro Stunde verdienten, leb- (IAB), einer jährlichen repräsentativen Befra- ten rund 27 Prozent in armutsgefährdeten Haus- gung von rund 16 000 Betrieben mit mindestens halten. Drittens resultiert eine Armutsgefährdung einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, von Erwerbstätigen häufig nicht aus einem gerin- 18 Prozent der betroffenen Betriebe an, ihre Prei- gen Stundenverdienst, sondern aus einer geringen se erhöht zu haben; weitere 8 Prozent planten, Wochenarbeitszeit. Die Erfahrungen in Deutsch- dies noch zu tun. Auch die Reduzierung der Ar- land decken sich somit mit der internationalen beitszeit beziehungsweise die Arbeitsverdichtung Forschung, die ebenfalls ein eher skeptisch stim- spielten eine wichtige Rolle (Abbildung 2).13 Zum mendes Bild zeichnet. Teil haben Betriebe auch weniger Gewinne erzielt und zeitweise ihre Investitionen reduziert. 12 Vgl. Kerstin Bruckmeier/Oliver Bruttel, Minimum Wage as a Social Policy Instrument: Evidence from Germany, in: 13 Vgl. Lutz Bellmann et al., Folgen des Mindestlohns in Journal of Social Policy 2020, https://doi.org/10.1017/S00 Deutschland, IAB-Kurzbericht 18/2016; Mindestlohnkommission 47279420000033. (Anm. 2), S. 132 ff. 07
APuZ 39–40/2020 Abbildung 2: Anpassungsmaßnahmen in von der Mindestlohneinführung betroffenen Betrieben 2015 in Prozent Erhöhung der Absatzpreise 18 8 Reduzierung der Arbeitszeit oder Verdichtung der Arbeit 18 4 Zurückhaltung bei Einstellungen/Wiederbesetzungen 10 5 Zurückstellung oder Reduzierung von Investitionen 6 5 Entlassung von Beschäftigten 5 2 (Vermehrter) Einsatz von flexiblen Beschäftigungsformen 3 2 Auslagerung von Leistungen oder Geschäftsfeldern 2 2 Einsatz von Arbeitnehmern, für die Ausnahmeregelungen gelten 1 2 Substitution von Arbeitskräften durch Maschinen 11 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Ergriffen Beabsichtigt Die Angaben beziehen sich auf Betriebe, die vor Einführung des Mindestlohns mindestens einen Beschäftigten mit einem Stundenverdienst von weniger als 8,50 Euro hatten. Quelle: IAB-Betriebspanel 2015; Lutz Bellmann et al., Folgen des Mindestlohns in Deutschland, IAB-Kurzbericht 18/2016. Bei den Absatzpreisen waren in zahlreichen Branchen eine veränderte Unternehmensdyna- Branchen, die vom gesetzlichen Mindestlohn be- mik und Wettbewerbsintensität zu beobachten. sonders betroffen waren, unmittelbar nach Ein- Es ist weder ein Anstieg von Marktaustritten in führung des Mindestlohns überdurchschnittlich Form von Gewerbeabmeldungen oder Insolven- starke Preisanstiege für Waren und Dienstleis- zen noch eine Zunahme an Gewerbeanmeldun- tungen zu beobachten. So stiegen zwischen 2014 gen erkennbar. und 2016 etwa die Preise für Taxifahrten um Bei den Investitionen zeigt sich ein Rückgang 15,2 Prozent, für Zeitungen und Zeitschriften um bei den betroffenen Betrieben im ersten Jahr nach 10 Prozent, in Restaurants, Cafés und im Stra- Einführung des Mindestlohns. Betroffene Be- ßenverkauf und Ähnlichem um 5 Prozent, für triebe investierten pro Beschäftigtem 2015 etwa Beherbergungsdienstleistungen um 3,8 Prozent. 24 Prozent weniger als Betriebe, die von der Min- Der Anstieg fällt insbesondere im Vergleich zur destlohneinführung nicht betroffen waren. Nach geringen Inflation in der Gesamtwirtschaft deut- der ersten Anhebung des Mindestlohns 2017 gab lich aus. Dort stiegen die Preise im selben Zeit- es ebenfalls einen Rückgang bei den Investitio- raum um 0,8 Prozent. Anders als für die Einfüh- nen, der jedoch deutlich geringer ausfiel. rung sind für die Anpassungen des Mindestlohns Betriebe könnten auch versuchen, die mindest- in den Folgejahren keine derart deutlichen und lohnbedingt gestiegenen Lohnkosten durch eine systematischen Preisanstiege erkennbar. Steigerung der Produktivität auszugleichen, etwa Eine weitere sichtbare Auswirkung in den Be- durch Prozessoptimierung oder Weiterbildung ih- trieben war ein Gewinnrückgang von 12 Prozent rer Beschäftigten. Bislang deuten die Zahlen auf im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2017 im Ver- Basis des IAB-Betriebspanels aber nicht darauf gleich zu ähnlichen, nicht von der Einführung des hin. So ist kurz- und mittelfristig kein verstärkter Mindestlohns betroffenen Betrieben.14 Allerdings Einsatz von technischen Innovationen abzusehen. ist weder gesamtwirtschaftlich noch in den vom Dabei ist zu bedenken, dass Betriebe mit Beschäf- gesetzlichen Mindestlohn besonders betroffenen tigten im Mindestlohnsegment generell ein gerin- geres Investitionsvolumen haben als der Durch- 14 Vgl. für diese und die nachfolgenden Ergebnisse auf Basis schnitt der Betriebe. Vielfach lassen sich in den des IAB-Betriebspanels Bossler/Gürtzgen/Börschlein (Anm. 10). Dienstleistungsbereichen, in denen der Mindest- 08
Mindestlohn APuZ lohn eine besonders hohe Relevanz hat, Abläu- Zollprüfungen und qualitativen Studien sind ver- fe auch weniger gut durch Automatisierung ver- schiedene Vorgehensweisen zur Umgehung des bessern als im Verarbeitenden Gewerbe. Bislang Mindestlohns bekannt. Dabei ist insbesondere gibt es auch kaum Hinweise darauf, dass Betriebe die nicht korrekte Erfassung der Arbeitszeit re- verstärkt in Weiterbildung investieren. Allerdings levant. Darunter fällt unter anderem die Nicht- deuten einzelne Forschungsergebnisse darauf hin, dokumentation von geleisteten Arbeitsstunden, dass sich Anforderungen der einstellenden Betrie- die Nichtvergütung von Rüstzeiten wie etwa das be an die Qualifikation und Kenntnisse der Be- Umkleiden sowie von Vor- und Nacharbeiten werberinnen und Bewerber bei Neueinstellungen oder fehlerhaft geführte Arbeitszeitkonten. im Mindestlohnbereich erhöht haben.15 Nach wie vor ist vielen Beschäftigten und Auf die Arbeitszufriedenheit und das Be- Betrieben die Höhe des Mindestlohns nicht be- triebsklima hatte die Einführung des Mindest- kannt. Lediglich rund 15 Prozent der Beschäf- lohns einen zwiespältigen Effekt.16 Für dieje- tigten im Niedriglohnbereich kennen die genaue nigen, die direkt vom Mindestlohn profitiert Höhe des Mindestlohns. Rund 40 Prozent ken- haben, zeigen manche Studien eine Zunahme der nen die ungefähre Höhe innerhalb einer Band- Arbeits- und Entlohnungszufriedenheit. Da die breite von 50 Cent um den tatsächlichen Wert.19 Löhne höherer Lohngruppen oftmals nicht im In einer qualitativen Studie wurde deutlich, dass selben Ausmaß gestiegen sind wie die der Min- die behördliche Zuständigkeit des Zolls für die destlohnbezieherinnen und -bezieher, kam es Kontrolle des Mindestlohns mehrheitlich nicht durch die Einführung des Mindestlohns aller- bekannt ist. Zugleich haben die darin befragten dings häufig zu einer Kompression der Lohn- Betriebe und Beschäftigten eine Ausweitung von verteilung im Betrieb. Dadurch entstand teilwei- Kontrollen als wünschenswert erachtet.20 se Unzufriedenheit bei Beschäftigten in höheren Für die Abschätzung der Nichteinhaltung des Lohngruppen. Einzelne Studien zeigen auch auf, Mindestlohns werden häufig Ergebnisse von re- dass mit der höheren Entlohnung der Mindest- präsentativen Beschäftigten- beziehungsweise lohnbeschäftigten zugleich die Anforderungen an Betriebsbefragungen genutzt. Dazu zählen vor diese Personengruppe und deren Arbeitsbelas- allem die VSE, die sich auf Angaben von Betrie- tung zugenommen haben. 17 ben stützt, und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das auf Angaben von Beschäftigten be- EINHALTUNG ruht. Beide Erhebungen sind allerdings weder DES MINDESTLOHNS hinsichtlich ihrer Zielsetzung noch der abgefrag- ten Informationen darauf ausgerichtet, den Grad Trotz erheblicher Lohnzuwächse gibt es weiter- der Nichteinhaltung des Mindestlohngesetzes zu hin Defizite bei der Umsetzung des gesetzlichen ermitteln. Nach Einschätzung der Mindestlohn- Mindestlohns.18 Dies verdeutlichen unter ande- kommission sind daher die häufig zitierten Zah- rem die Kontrollen des Zolls, dessen Finanzkon- len beider Erhebungen für die Frage, wie viele trolle Schwarzarbeit für die Überwachung des Beschäftigte auf Basis bezahlter oder vereinbarter Mindestlohns zuständig ist. 2019 wurden rund Stunden noch immer unterhalb des Mindestlohns 55 000 Arbeitgeber geprüft; insgesamt wurden verdienen, begrenzt aussagekräftig. 6732 Ermittlungsverfahren wegen eines Versto- ßes gegen das Mindestlohngesetz eingeleitet. Ex- AUSBLICK plizit vereinbarte Stundenlöhne unterhalb des Mindestlohns sind nach Einschätzung des Zolls Im Vorfeld der Mindestlohneinführung wurde inzwischen kaum noch anzutreffen. Aus den die akademische Diskussion teilweise sehr stark auf die möglichen negativen Beschäftigungseffek- 15 Vgl. Nicole Gürtzgen et al., Neueinstellungen auf Min- destlohnniveau. Anforderungen und Besetzungsschwierigkeiten 19 Vgl. Oliver Bruttel/Matthias Dütsch, Bekanntheit des gesetz- gestiegen, IAB-Kurzbericht 12/2016. lichen Mindestlohns. Ergebnisse repräsentativer Befragungen 16 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2), S. 139 f. von Beschäftigten, in: Wirtschaftsdienst 9/2020, i. E. 17 Vgl. z. B. Toralf Pusch/Miriam Rehm, Mindestlohn, Arbeits- 20 Vgl. Andreas Koch et al., Verhaltensmuster von Betrieben qualität und Arbeitszufriedenheit, in: Wirtschafts- und Sozialwis- und Beschäftigten im Kontext des gesetzlichen Mindestlohns, senschaftliches Institut, WSI-Mitteilungen 7/2017, S. 491–498. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Studie im Auftrag 18 Vgl. Mindestlohnkommission (Anm. 2)., S. 57 ff. der Mindestlohnkommission, Tübingen u. a. 2020. 09
APuZ 39–40/2020 te verengt. Dabei ist die Anzahl der Beschäftig- des Mindestlohns zielten dagegen auf die Stabi- ten nur eine Möglichkeit, wie Betriebe auf die ge- lisierung der Konjunktur und die Honorierung stiegenen Stundenlohnkosten reagieren können. der Arbeit von Beschäftigten in sogenannten sys- Vielmehr gibt es eine auch in der internationalen temrelevanten Berufen. Die Mindestlohnkom- Mindestlohnforschung zunehmend thematisierte mission hat sich bei der Anpassung des Min- große Bandbreite nicht direkt beschäftigungsbe- destlohns für die Zeit ab Januar 2021 im Rahmen zogener Anpassungskanäle wie Arbeitszeit, Prei- ihrer Gesamtabwägung für eine stufenweise Er- se oder produktivitätssteigernde Maßnahmen, höhung entschieden, die einen geringeren Anstieg mit denen Betriebe die gestiegenen Lohnkosten 2021 und einen stärkeren Anstieg insbesonde- ausgleichen können.21 Dieses Spektrum hat die re im zweiten Halbjahr 2022 auf einen Wert von Mindestlohnkommission auch für Deutschland 10,45 Euro vorsieht. Darin spiegeln sich zum ei- festgestellt und in ihren bisherigen drei Berichten nen die vorliegenden Prognosen zur wirtschaftli- ausführlich dokumentiert. chen Entwicklung, zum anderen die Erkenntnis- Seit Einführung des Mindestlohns ist die Min- se zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation destlohnkommission22 für die Anpassung der wider, die in diesem Beitrag vorgestellt wurden.23 Höhe des Mindestlohns zuständig. Sie tut dies Mit dem Amtsantritt der aktuellen Europäi- entsprechend der Vorgaben aus dem Mindest- schen Kommission unter Leitung von Ursula von lohngesetz im Abstand von zwei Jahren als Er- der Leyen hat das Thema Mindestlohn auch im eu- gebnis einer Gesamtabwägung und unter nachlau- ropäischen Kontext an Bedeutung gewonnen.24 Bis fender Orientierung an der Tarifentwicklung der September 2020 führt sie einen Sozialpartnerdia- Vorjahre. Dadurch entsteht ein Anpassungspfad, log durch, um auf dessen Grundlage zu entschei- der den Mindestlohn lediglich graduell anstei- den, welche Maßnahmen im Rahmen einer euro- gen lässt und darauf zielt, dass die Beschäftigung päischen Mindestlohnregelung am besten geeignet durch die Höhe des Mindestlohns nicht gefähr- sind, um Lohnungleichheit und Erwerbsarmut zu det wird. Die Parteien Die Linke, Bündnis 90/ reduzieren. Zwar will die Kommission weder ei- Die Grünen und SPD fordern, den Mindestlohn nen einheitlichen europäischen Mindestlohn noch sehr viel rascher auf 12 Euro oder mehr pro Stun- eine Angleichung der Systeme zur Festsetzung der de anzuheben und hierfür gegebenenfalls auch Mindestlöhne erreichen. In der Diskussion ist aber das Mindestlohngesetz anzupassen. Der Wert von beispielsweise eine einheitliche Untergrenze für die 12 Euro solle insbesondere dazu führen, dass der nationalen Mindestlöhne, die relativ zum Durch- Mindestlohn die Armutsgefährdungsschwelle von schnittslohn des jeweiligen Landes festgelegt wird. 60 Prozent des Medianlohns erreicht. Die Bundesregierung will während der deutschen Im Zuge der Corona-Pandemie wurde über EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälf- den Mindestlohn auch als Antwort auf die wirt- te 2020 ebenfalls darauf hinwirken, dass mit einer schaftlichen Folgen der Pandemie diskutiert. europäischen Mindestlohnregelung die sozialen Forderungen nach Absenkung des Mindestlohns Mindeststandards in der EU gestärkt werden. beziehungsweise Aussetzung der Erhöhung be- zweckten eine Kostenentlastung der Betriebe. Der Beitrag gibt ausschließlich die Meinung der Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung Autoren und nicht die der Mindestlohnkommission wieder. 21 Vgl. z. B. Barry T. Hirsch/Bruce E. Kaufman/Tetyana Zelenska, Minimum Wage Channels of Adjustment, in: Industrial ARNE BAUMANN Relations 2/2015, S. 199–239; John Schmitt, Explaining the ist Wissenschaftler in der Geschäfts- und Informa- Small Employment Effects of the Minimum Wage in the United tionsstelle für den Mindestlohn in Berlin, die die States, in: Industrial Relations 4/2015, S. 547–581. 22 Die Mindestlohnkommission setzt sich aus einem Vorsitzen- Mindestlohnkommission bei der Durchführung ihrer den sowie drei Mitgliedern der Gewerkschaften, drei Mitglie- Aufgaben fachlich und organisatorisch unterstützt. dern der Arbeitgeberschaft und zwei nicht stimmberechtigten, arne.baumann@geschaeftsstelle-mindestlohn.de beratenden wissenschaftlichen Mitgliedern zusammen. 23 Vgl. Beschluss der Mindestlohnkommission, 30. 6. 2020, OLIVER BRUTTEL www.mindestlohnkommission.de/DE/Bericht/pdf/Beschluss2020. pdf?__blob=publicationFile&v=5. ist Leiter der Geschäfts- und Informationsstelle 24 Vgl. Europäische Kommission, Ein starkes soziales Europa für den Mindestlohn. für einen gerechten Übergang, COM(2020)14 final, 14. 1. 2020. oliver.bruttel@geschaeftsstelle-mindestlohn.de 10
Mindestlohn APuZ ZUR HÖHE DES MINDESTLOHNS IN DEUTSCHLAND Hagen Lesch · Christoph Schröder Nach Paragraf 9 des Mindestlohngesetzes (Mi- man nach Berechnungen des Deutschen Gewerk- LoG) orientiert sich die Mindestlohnkommis- schaftsbunds für 2020 beim Bruttostundenlohn sion bei den Anpassungen der Höhe des Min- auf einen Wert von 11,99 Euro.02 Die Partei Die destlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung. Linke beziffert den Stundenlohn, der notwendig Mit ihrem Beschluss vom 30. Juni 2020 ist sie wäre, um einen Beschäftigten nach 45 Beitrags- von dieser Regel abgewichen: Sie schlägt vor, jahren unabhängig von Grundsicherung im Alter den Mindestlohn in vier Stufen bis Juli 2022 zu machen, auf 12,63 Euro.03 Inzwischen beein- auf 10,45 Euro je Stunde zu erhöhen. Bei einer flusst die 12-Euro-Debatte auch die Tarifpolitik. strikten Tariforientierung hätte sich ab Januar So hat beispielsweise die Gewerkschaft Nahrung- 2021 ein Mindestlohn von 9,82 Euro je Stunde Genuss-Gaststätten in der Systemgastronomie ergeben. Diese Höhe soll der Mindestlohn je- eine Lohnuntergrenze von 12 Euro gefordert, um doch erst ein Jahr später erreichen, sodass die Altersarmut zu vermeiden.04 Unternehmen in der Corona-Krise eine relative Auch im europäischen Kontext hat das Thema Kostenentlastung erhalten. Mit den beschlosse- an Fahrt aufgenommen. Kommissionspräsiden- nen Erhöhungsschritten ergibt sich im Durch- tin Ursula von der Leyen hat in ihrer Bewerbung schnitt der Jahre 2021 und 2022 also in etwa der 2019 angekündigt, ein Rechtsinstrument zu ins- gleiche Wert, wie er sich bei der Orientierung tallieren, mit dem sichergestellt werden soll, dass an der Tarifentwicklung ergeben hätte. Gleich- jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in wohl wird der regelbasierte Wert in der zweiten der Europäischen Union „einen gerechten Min- Jahreshälfte 2022 um mehr als 6 Prozent über- destlohn erhält“, der „am Ort ihrer Arbeit einen schritten. Dies wäre langfristig relevant, wenn angemessenen Lebensstandard“ ermöglicht.05 die nächste Erhöhung 2023 auf 10,45 Euro und Bei diesen Debatten werden die Risiken des nicht auf 9,82 Euro aufsetzen wird. gesetzlichen Mindestlohns nicht weiter hinter- Auch nach diesem Beschluss bleibt die zu- fragt. Inzwischen herrscht die Auffassung vor, künftige Höhe des Mindestlohns Gegenstand der „der Mindestlohn helfe Niedriglohnbeziehern öffentlichen Diskussion. So erklärte Bundesar- und koste keine Arbeitsplätze“.06 Im Folgenden beitsminister Hubertus Heil, er werde Vorschlä- wird dieses Narrativ kritisch hinterfragt und ge- ge machen, wie die vor allem von den Gewerk- zeigt, dass der Mindestlohn arbeitsmarktpoliti- schaften und einigen politischen Parteien seit sche Risiken birgt und verteilungspolitisch wenig Jahren geforderte Marke von 12 Euro je Stun- effizient ist. de schneller erreicht werden könne. Geplant ist offenbar, den Mindestlohn stärker an der Ent- MINDESTLOHN wicklung des mittleren Einkommens (Median- UND BESCHÄFTIGUNG einkommen) statt an der Tarifentwicklung zu orientieren.01 Das Statistische Bundesamt teilte Ende Juni 2020 Die Bestrebungen, den Mindestlohn Richtung mit, dass knapp zwei Millionen Jobs von der 12 Euro zu erhöhen, werden vor allem damit be- Mindestlohnerhöhung Anfang 2019 profitierten. gründet, dass der Mindestlohn existenzsichernd Während Kritiker des Mindestlohns befürch- sein soll. Nimmt man analog zur Definition von tet hatten, dass durch dessen Einführung meh- Armutsgefährdung der Europäischen Kommis- rere Hunderttausend Arbeitsplätze verloren ge- sion 60 Prozent des mittleren Einkommens als hen könnten,07 bot der Arbeitsmarkt auch nach Schwellenwert zur Armutsvermeidung, käme der Mindestlohneinführung Anfang 2015 Anlass 11
APuZ 39–40/2020 für eine Erfolgsmeldung nach der anderen. Es wirkungen auf die sozialversicherungspflichti- wäre voreilig, daraus abzuleiten, dass die Höhe ge Beschäftigung gemischt ausfallen. Mit Blick des Mindestlohns für die Beschäftigungsentwick- auf die Auswirkungen auf den gesamten Ar- lung irrelevant ist. Die bisherige Höhe könnte so beitsmarkt ermitteln fünf Studien negative, zwei angemessen gewesen sein, dass sie für den Ar- positive und eine nach Altersgruppen gemisch- beitsmarkt kein Problem darstellt. Das muss aber te Beschäftigungseffekte. In den verbleibenden nicht für einen Mindestlohn von 12 Euro je Stun- zwei Studien können keine Einflüsse festgestellt de gelten. Zudem wurde der Mindestlohn in ei- werden. In den sechs Studien, in denen die er- nem konjunkturell günstigen Umfeld eingeführt. mittelten (gesamten) Beschäftigungswirkungen Ob seine Höhe angemessen ist, wird sich erst im in Stellen umgerechnet wurden, reicht die Band- Konjunkturabschwung zeigen. breite von einem Zuwachs von 11 000 bis zu ei- Schon jetzt fällt die arbeitsmarktpolitische nem Verlust von 260 000 Arbeitsplätzen. Eine Bilanz des Mindestlohns schlechter aus, als auf weitere vergleichende Auswertung bestätigt dies: den ersten Blick erkennbar ist. Inzwischen zei- Hier reicht die Spanne von einem leichten Be- gen verschiedene empirische Arbeiten, die den schäftigungsgewinn von 11 000 bis zu Verlusten isolierten kausalen Effekt des Mindestlohns auf von 200 000 Arbeitsplätzen.09 die Beschäftigung berechnen, dass die geringfü- Die Mindestlohnkommission räumt in ih- gige Beschäftigung (sogenannte Minijobs) ab- rem dritten Anpassungsbeschluss ein, dass es genommen und die sozialversicherungspflichti- „geringe negative Auswirkungen des gesetz- ge Beschäftigung zugenommen haben. Das mag lichen Mindestlohns auf die Beschäftigung politisch erwünscht sein, ist aber mit einem Pro- gab“, 10 relativiert dies aber. Dabei fällt der ne- blem verbunden: Rechnet man beide Effekte zu- gative Beschäftigungseffekt des Mindestlohns sammen, stand dem Abbau von geringfügiger größer aus, wenn das Arbeitsvolumen anstelle Beschäftigung kein entsprechender Zuwachs bei der Anzahl der Beschäftigten analysiert wird. 11 den sozialversicherungspflichtigen Stellen ge- Das Arbeitsvolumen multipliziert die Anzahl genüber. Per Saldo ging die veränderte Beschäf- der Beschäftigten mit den von ihnen geleisteten tigungsstruktur also mit einem Beschäftigungs- Arbeitsstunden. Verschiedene Studien zeigen, rückgang einher. dass der Mindestlohn bei vielen Beschäftigten Fasst man zehn neuere ökonometrische Ana- zu einer Reduzierung ihrer Arbeitszeit geführt lysen dazu zusammen, zeigt sich:08 Der Effekt hat: 12 So wurde die vertraglich vereinbarte Ar- auf die geringfügige Beschäftigung ist in neun beitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- von zehn Analysen negativ, während die Aus- nehmer, die 2014 weniger als 8,50 Euro ver- dienten, nach der Mindestlohneinführung bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 01 Vgl. „Kaufkraft der Menschen“: Arbeitsminister Heil will den Mindestlohn schnell auf 12 Euro anheben, 23. 7. 2020, www. um 5 und bei den Minijobbern um 11 Prozent faz.net/-euro-16872810.html. reduziert. Rechnerisch entspricht die ermittel- 02 Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, Mindestlohn: 12 Euro te Arbeitszeitreduzierung allein bei den sozial- müssen drin sein, Klartext 24/2019. versicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt 03 Vgl. Fraktion Die Linke, Bundesregierung muss Lohndum- 79 000 Vollzeitstellen. 13 Addiert man diesen sich ping-Politik beenden – zwölf Euro Mindestlohn jetzt!, Pressemit- teilung, 13. 2. 2020. 04 Vgl. Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG 09 Vgl. Mario Bossler/Benjamin Börschlein, Mindestlohn in fordert mindestens 12 Euro Stundenlohn bei McDonald’s & Co., Deutschland: Löhne, Beschäftigung und Armutsbekämpfung, in: Pressemitteilung, 1. 10. 2019. ifo Schnelldienst 4/2020, S. 10–13, hier S. 11. 05 Ursula von der Leyen, Eine Union, die mehr erreichen will. 10 Beschluss der Mindestlohnkommission, 30. 6. 2020, Meine Agenda für Europa, Politische Leitlinien für die künftige www.mindestlohn-kommission.de/DE/Bericht/pdf/Be- Europäische Kommission 2019–2024, Luxemburg 2019, https:// schluss2020.pdf?__blob=publicationFile&v=5. ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/political- 11 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 5. guidelines-next-commission_de.pdf, S. 11. 12 Vgl. Marco Caliendo et al., The Short-Term Distributional 06 Andreas Knabe/Ronnie Schöb/Marcel Thum, Alles im Effects of the German Mininmum Wage Reform, Forschungsin- grünen Bereich?, in: ifo Institut für Wirtschaftsforschung, ifo stitut zur Zukunft der Arbeit, IZA Discussion Paper 11246/2017; Schnelldienst 4/2020, S. 3–6, hier S. 3. Patrick Burauel et al., The Impact of the Minimum Wage 07 Vgl. dies., Der flächendeckende Mindestlohn, in: Perspekti- on Working Hours, in: Journal of Economics and Statistics ven der Wirtschaftspolitik 2/2014, S. 133–157. 2–3/2020, S. 233–267. 08 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 4. 13 Vgl. Burauel et al. (Anm. 12), S. 262. 12
Mindestlohn APuZ über den Rückgang des Arbeitsvolumens erge- durch den Mindestlohn verdrängt und das Aus- benden indirekten Beschäftigungseffekt und die maß der Tariflohnsteigerungen durch den Min- direkt ermittelten Beschäftigungseffekte, hat destlohn mehr oder weniger vorherbestimmt.17 der Mindestlohn zwischen 129 000 und 594 000 Diese Eingriffe in die Tarifautonomie haben Arbeitsplätze gekostet, und das trotz der guten die Tarifparteien vor große Herausforderungen Konjunktur. 14 gestellt; letztlich hat der Mindestlohn die Ver- Allerdings deuten die Ergebnisse einer 2018 handlungsbereitschaft der Tarifparteien aber erfolgten Direktabfrage des Stundenlohns im nicht untergraben.18 Hierzu hat die im MiLoG Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) verankerte Übergangsregelung beigetragen, die spürbare Unterschreitungen des Mindestlohns bis Ende 2017 Unterschreitungen des Mindest- an.15 Möglicherweise wären die negativen Ar- lohns zuließ. Außerdem waren die bisherigen beitsmarktwirkungen größer, wenn der Mindest- Mindestlohnanpassungen kalkulierbar, weil sich lohn nicht umgangen worden wäre. Offen bleibt die Kommission weitgehend an dem im MiLoG bei alldem, wie der Mindestlohn auch unter kon- vorgesehenen Anpassungsprozess gehalten hat, junkturell ungünstigeren Bedingungen arbeits- wonach sich die Erhöhungen nachlaufend an marktpolitisch zu bewerten ist. Bei einer Re- der Tarifentwicklung orientierten. Diese Anpas- zession oder bei einer deutlichen Anhebung des sungsregel ist ein wichtiger Schutz der Tarifau- Mindestlohns könnten durchaus stärkere nega- tonomie. Sie stellt sicher, dass die Tarifparteien tive Beschäftigungseffekte eintreten.16 Die der- über ihre allgemeine Tarifpolitik automatisch zeitige durch die Corona-Pandemie verursachte Einfluss auf die Mindestlohnentwicklung neh- Wirtschaftskrise wird deshalb für den gesetzli- men. Und sie vermeidet, dass ein politisch be- chen Mindestlohn zur Nagelprobe. stimmter Mindestlohn so stark in das untere Tariflohngefüge eingreift, dass die Tarifpartei- MINDESTLOHN en auf ihren Regelungsauftrag verzichten. Im UND TARIFAUTONOMIE nordrhein-westfälischen Frisörhandwerk etwa besteht bereits jetzt in den beiden untersten Ta- Aus Paragraf 9 Absatz 3 des Grundgesetzes lei- riflohngruppen eine direkte Kopplung an den tet sich die Tarifautonomie ab. Danach legen gesetzlichen Mindestlohn. Eine autonome Fest- Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die legung der Tariflöhne findet also gar nicht mehr Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen frei statt. von staatlicher Einflussnahme fest. Mit dem Eine vorschnelle Anpassung des Mindest- Mindestlohn greift der Staat in die Tarifauto- lohns auf 12 Euro je Stunde hätte nicht nur ne- nomie ein. Denn der Mindestlohn zwingt nicht gative Auswirkungen auf die Höhe der Beschäf- nur Unternehmen, die keine Tarifverträge an- tigung; sie würde auch in unverhältnismäßiger wenden wollen, die gesetzliche Lohnuntergren- Weise in die Tarifautonomie eingreifen. Der Vor- ze zu zahlen. Er zwingt auch Gewerkschaften sitzende der Mindestlohnkommission, Jan Zilius, und Arbeitgeberverbände, Tariflöhne nach dem stellte dazu in einem Interview fest: „Von heute Mindestlohn auszurichten. In einigen arbeitsin- auf morgen den Mindestlohn auf zwölf Euro an- tensiven Branchen mit geringen Tarifverdiens- zuheben, wäre höchst problematisch. Weil wir ten, etwa dem Frisör- und dem Bäckerhand- dann eine Überholung von laufenden Tarifver- werk, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der trägen in einem Umfang hätten, der mit unse- Systemgastronomie, der Land- und Forstwirt- rer im Grundgesetz vereinbarten Tarifautonomie schaft, Wäschereien im Objektkundengeschäft nicht mehr viel zu tun hätte. Anders ausgedrückt: oder der Floristik, wurden Tariflöhne zeitweise 17 Vgl. Hagen Lesch, Mindestlohn und Tarifgeschehen: Die 14 Vgl. Knabe/Schöb/Thum (Anm. 6), S. 5. Sicht der Arbeitgeber in betroffenen Branchen, Institut für Wirt- 15 Vgl. Alexandra Fedorets et al., Lohnungleichheit in Deutsch- schaftsforschung, IW-Report 13/2017; ders./Christoph Schröder, land sinkt – Erste Anzeichen für schrumpfenden Niedriglohn- Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, in: IW-Report sektor, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW 18/2020, S. 17 f. Wochenbericht 7/2020, S. 91–96, hier S. 96. 18 Vgl. Reinhard Bispinck et al., Entwicklung des Tarifgesche- 16 Vgl. Monika Köppl-Turyna/Michael Christl/Dénes Kucsera, hens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindest- Beschäftigungseffekte von Mindestlohnbeziehern: Die Dosis lohns, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit macht das Gift, in: ifo Schnelldienst 2/2019, S. 40–46. und Soziales, i. E. 13
APuZ 39–40/2020 Wir würden mit einer zu schnellen Erhöhung auf Diese Befunde weisen darauf hin, dass für die Ar- zwölf Euro die Tarifverhandlungen für untere mutsgefährdung nicht nur der Stundenverdienst, Lohngruppen obsolet machen.“19 sondern auch die geleistete Arbeitszeit eine wich- tige Rolle spielt. MINDESTLOHN Trotz eines niedrigen Stundenlohns sind viele UND ARMUT Beschäftigte in Deutschland nicht einkommens- arm. Das erklärt sich dadurch, dass auch andere In der amtlichen Statistik lässt sich rein deskrip- Haushaltsmitglieder zum Haushaltseinkommen tiv durch die Einführung des Mindestlohns kein beitragen oder noch andere Einkommensbe- spürbarer Einfluss auf die Armutsgefährdung standteile wie zum Beispiel Kapitaleinkünfte von Beschäftigten ausmachen: Seit 2011 bewegt vorliegen. So trugen 2018 drei Viertel aller Be- sich die Quote armutsgefährdeter Personen laut schäftigten mit einem vertraglich vereinbarten den Mikrozensus-Erhebungen in einem engen Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro Korridor von 7,5 bis 7,7 Prozent. Auch eine öko- mit ihrem Nettoarbeitseinkommen weniger als nometrische Studie des Instituts für Arbeits- 50 Prozent zum direkt abgefragten verfügba- markt- und Berufsforschung, bei der die Wir- ren Haushaltseinkommen bei. In der Hälfte der kung des Mindestlohns im Zusammenspiel mit Fälle aus dieser Verdienstgruppe lag der Anteil anderen relevanten Einflussgrößen auf die Ein- sogar bei weniger als 33 Prozent. Selbst bei den kommensarmut untersucht wird, zeigt keinen recht wenigen Vollzeitbeschäftigten mit einem stabilen Effekt. Zwar konnte der Mindestlohn Stundenverdienst zwischen 8,84 und 9,99 Euro die Wahrscheinlichkeit einer Armutsgefährdung lag der Anteil des individuellen Arbeitseinkom- vermindern. Dieser Effekt fiel aber sehr gering mens am Haushaltseinkommen in der Mehrheit aus und erwies sich als statistisch nicht signifi- bei höchstens 50 Prozent. kant, könnte also auch zufallsbedingt sein.20 Diese Zusammenhänge würden auch die er- Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass auch hofften Anti-Armutswirkungen eines Mindest- niedrig entlohnte Beschäftigte nur eine relativ ge- lohns von 12 Euro je Stunde dämpfen. Das zeigt ringe Armutsgefährdungsquote haben. Dies er- die Simulation einer hypothetischen Erhöhung geben Auswertungen von Daten des SOEP für des Mindestlohns auf 12 Euro im Jahr 2021.22 Si- 2018. Danach war von den Beschäftigten, deren muliert wurden zwei Varianten: Variante 1 geht vertraglich vereinbarter Stundenlohn unter dem von der Annahme aus, dass es 2021 so viele Per- 2018 gültigen Mindestlohn von 8,84 Euro je Stun- sonen, die weniger als den Mindestlohn verdie- de lag, ein Viertel armutsgefährdet.21 Unter den nen („Unterschreiter“), gibt wie heute und deren Vollzeitbeschäftigten war die Quote mit 21 Pro- Einkommensabstand zum Mindestlohn so hoch zent deutlich niedriger als bei den Teilzeit- und bleibt wie heute. In Variante 2 wird hingegen an- geringfügig Beschäftigten (zusammen 26 Pro- genommen, dass es 2021 keine Unterschreiter zent). Wer zwischen 8,84 Euro und 9,99 Euro mehr gibt. Es zeigt sich, dass die Armutsgefähr- verdiente, war als Vollzeitbeschäftigter nur noch dungsquote unter den Beschäftigten bei Varian- zu knapp 13 Prozent und damit seltener als der te 1 um einen Prozentpunkt sinken würde. Be- Durchschnitt der Bevölkerung armutsgefährdet trachtet man die Bevölkerung insgesamt, ginge (16 Prozent). Bei den Teilzeitbeschäftigten war die Armutsgefährdungsquote lediglich um einen die Quote mit knapp 26 Prozent doppelt so hoch. halben Prozentpunkt zurück. Wenn tatsächlich alle den erhöhten Mindestlohn bekämen (Varian- te 2), wäre der Rückgang mit 1,3 Prozentpunkten 19 Jan Zilius, Beim Mindestlohn ist mehr Druck im Kessel, in: bei den Beschäftigten und einem Prozentpunkt Rheinische Post, 28. 7. 2020, S. B1. 20 Vgl. Kerstin Bruckmeier/Sebastian Becker, Auswirkungen bei der Gesamtbevölkerung stärker. Diese Ef- des gesetzlichen Mindestlohns auf die Armutsgefährdung und fekte relativieren sich allerdings, wenn man be- die Lage von erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Bezieherinnen rücksichtigt, dass schon beim jetzigen Mindest- und -Beziehern, Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, lohnniveau die hundertprozentige Einhaltung zu 2018, www.mindestlohn-kommission.de/DE/Forschung/Projekte/ einem Rückgang der Armutsgefährdungsquote pdf/Bericht-Mindestlohn-Armut-ALGII.pdf, S. 15. 21 Vgl. Christoph Schröder/Christian Kestermann, Mindestlohn von jeweils einem halben Prozentpunkt führen und Einkommensarmut, in: IW-Trends 2/2020, S. 107–127, hier S. 117. 22 Vgl. ebd., S. 121 ff. 14
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