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Förderverein Schulbiologiezentrum Hamburg e. V. Druck 02 / 2017 Mobil in die Zukunft Mit freundlicher Unterstützung der Behörde für Umwelt und Energie
INHALT Vorwort 4 Wer Rad fährt, bleibt auch geistig in Bewegung! 5 Do Cities Matter? 9 Lebenswerte Städte und Mobilität – ein Dilemma? 11 Für eine bewegte Kindheit und Jugend – Mobilitätsbildung in der Schule 19 Schulische Aktivitäten und Angebote 23 Radtouren mit Geflüchteten – die Berufliche Schule BS 18 wird aktiv 23 Elterntaxi oder zu Fuß zur Schule? 26 Oben rum und unten durch … 29 Wir fahren mit dem HVV 30 Paint-Bus-Wettbewerb 31 MobilitätsKULTUR 32 Das verkehrspädagogische Engagement der HVV-Schulberatung im Elementarbereich 34 Freiwilliges ökologisches Jahr in der HVV-Schulberatung 36 Mobilitätstag an der Stadtteilschule Walddörfer 37 Der ADFC Hamburg – Aktivitäten und Angebote 40 Umweltverträglicher Verkehr – ein Schulprojekt 42 Literatur- und Linkhinweise, Buchvorstellungen 49 Ausgewählte Medien zum Thema „Umweltverträgliche Mobilität in Hamburg“ 49 Mobilität und Verkehr – Informationen im Netz 53 Buchvorstellung: Rund um Hamburg 58 App-Vorstellung: Kulturpunkte Hamburg 58 Aktuelles 59 Die GemüseAckerdemie – ackern statt pauken 59 Neu – im Schulgarten des ZSU 60 Neue Koordinatorin des Familienprogramms 62 Natur erleben mit Kindern – Familien- und Geburtstagsprogramm, Bienenprogramm des FSH 2. Halbjahr 2017 63 Freiwilliges Ökologisches Jahr im ZSU-Wasserlabor 2016/17: Der doppelte Erwin 65 Zwölf Särge und kein Toter 67 50 sagenhafte Naturdenkmale der Metropolregion Hamburg 68 Blitzlicht einmal anders 69 ZSU Lageplan 70 FSH-Aufnahmeantrag 71 Impressum 72 Lynx 02/2017 3
VORWORT Foto: Markus Scholz Regina Marek Liebe Leserinnen und Leser, wie viele Stunden haben Sie schon im Stau gestan- selbständigen Mobilität ist ein grundlegendes Lern- den? Jährlich verbringen deutsche Autofahrer ca. 38 ziel in den Bildungsplänen. Stunden im Stau. Vor den Schulen gibt es Staus, wenn Dieser Lynx versucht Alternativen zum Autoverkehr Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen. aufzuzeigen, einmal wieder mit der U- oder S-Bahn Gerade hier ist ein Umdenken möglich. Der Fußweg zu fahren, das Fahrrad zu benutzen oder zu Fuß zu zur Schule kann ein Erlebnisweg und eine Erholung gehen. Probieren Sie es auch mit Ihren Schülern oder nach dem Unterricht für Schüler sein. Wenn Eltern es mit der Familie aus! ihren Kindern nicht zutrauen, in Gruppen zur Schule zu gehen, könnten Eltern Begleitgemeinschaften bil- Ihre den und sich ablösen. Langfristig können die Schüler den Weg dann allein gehen. Mobilität ist heute ein selbstverständlicher Bestand- teil unseres Lebens und eine wichtige Basis unserer Wirtschaft. Der damit verbundene Verkehr, insbeson- dere der motorisierte Straßenverkehr, belastet jedoch Regina Marek Umwelt und Gesundheit in vielfältiger Weise. Ziel ei- 1. Vorsitzende des FSH ner Bildung zu einer nachhaltigen Mobilität ist es, die umweltfreundlichen Verkehrsmittel, wie das Rad, den Roller, die Füße oder Bus und Bahn, an der Schule ge- sellschaftsfähig zu machen. Schüler sollen entdecken, dass eine selbständige, umweltfreundliche Mobilität Spaß macht. Sie können ihre Verantwortung bei der Verkehrsmittelwahl erkennen und ihre Mitgestal- tungsmöglichkeiten für ein nachhaltiges Mobilitäts- system der Zukunft erfahren. Die Entwicklung einer Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weibli- cher Sprachformen meist verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für alle Ge- schlechtsformen. 4 Lynx 02/2017
WER RAD FÄHRT, BLEIBT AUCH GEISTIG IN BEWEGUNG! Jürgen Forkel-Schubert Wer Rad fährt, bleibt auch geistig in Bewegung! Abb. 1: Fahrräder. Foto: Wikimedia Commons, Silar, CC BY-SA 4.0 Das schöne Wetter lockt, und viele Menschen holen gungsrecht ein Grundrecht, aber wir müssen es mit ihr Rad wieder aus dem Keller. Schon beginnen die vielen anderen Menschen teilen. Probleme: Was mache ich, wenn ich einen Platten habe? Welche Fahrradstrecke nehme ich ohne gro- Hamburg auf dem Weg zur Fahrradstadt ße Hauptstraßen überqueren zu müssen? Wie und Ortswechsel: Ich besuche eine Veranstaltung der wo schließe ich mein Rad sicher an? Und dann: Ist es Hamburger Klimaschutzstiftung im Gut Karlshöhe. denn nicht zu gefährlich auf unseren Straßen? Wer- Sie heißt „Fahrradstadt Hamburg – Mobilität neu ge- den nicht immer wieder Radfahrer durch abbiegende stalten“ und stellt das Konzept einer Fahrradstadt in Lastwagen sogar getötet?! den Mittelpunkt der Debatte. Es stimmt schon: Der Verteilungskampf auf unseren Im Jahr 2008 wurden nur 12 % aller Wege in Ham- Straßen nimmt zu. Rund 4.000 km Straßen hat Ham- burg mit dem Fahrrad zurückgelegt. Seitdem steigt die burg und jedes Jahr werden mehr als 10.000 PKWs Zahl der Radfahrer stetig an. Damit Rad fahren noch neu zugelassen. Inzwischen gibt es insgesamt rund beliebter wird, hat Hamburgs Erster Bürgermeister 771.000 Autos in der Hansestadt – das heißt, fast jeder Olaf Scholz mit den Bezirksamtsleitern und den Be- zweite Mensch hat ein Auto! zirksversammlungen im letzten Jahr ein Bündnis für Doch alle Verkehrsexperten, Stadtplaner und Poli- den Radverkehr geschlossen. Ziel des Senats ist es, in tiker wissen inzwischen: Die autogerechte Stadt von den 2020er Jahren den Radverkehrsanteil an allen früher hat als Leitidee längst ausgedient. Heute gilt in Hamburg zurückgelegten Wegen auf 25 % des Ge- die Maxime, die Stadt muss von den privaten Pkws samtverkehrsaufkommens zu steigern. Erreicht wer- befreit werden! Es ist unverkennbar: Hamburg hat ein den soll dies u. a. mit mehr Radstreifen an Straßen, Autoproblem! neuen Velo-Routen, mehr Rad-Stellplätzen vor U- und Dabei ist kein anderes Verkehrsmittel in der Stadt S-Bahnhöfen sowie vielfältigen Service- und Infor- so schnell, so flexibel und so preiswert wie das Fahr- mationsangeboten. Klingt gut, doch die Umsetzung rad. Es erzeugt kaum Lärm und keine Abgase, braucht braucht viel Zeit und die Menschen müssen es wollen! keinen großen Parkplatz und schont das Klima. Es ist Das Publikum in Karlshöhe besteht fast ausschließ- einfach zu bedienen, hält körperlich und geistig fit lich aus raderprobten Herren in mittlerem bis höhe- und macht Spaß bis ins hohe Alter. rem Alter und wenigen Frauen. Jüngere sind nicht zu Doch mit dem Rad durch die Stadt zu fahren, will sehen. Das Podium ist bunt gemischt – von Martin gelernt sein. Unser Mobilitätsverhalten ist uns eben Bill, dem Verkehrsexperten der Grünen, über Kirsten nicht angeboren, es wird uns vielmehr anerzogen. Es Pfaue, der Radverkehrskoordinatorin der Stadt Ham- ist ein Ausdruck unserer Werte und Lebenseinstellung burg, bis zu Fachleuten vom Fahrradverein ADFC und – und unserer Bildung. Verkehrserziehung gehört in- dem Automobilclub ADAC. Letzterer bringt es immer- zwischen genauso zum gesetzlichen Bildungsauftrag hin auf rund eine Million (!) Mitglieder in der Metro- wie Schreiben und Lesen. Zwar ist unser freies Bewe- polregion Hamburg. Lynx 02/2017 5
WER RAD FÄHRT, BLEIBT AUCH GEISTIG IN BEWEGUNG! haltensweisen, nicht nur unser Mobilitätsverhalten, sind nicht zukunftsfähig und nicht nachhaltig. Beispiel Ernährung: Laut einer Untersuchung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit enthalten Bioprodukte deutlich weniger Pestizid- spuren als konventionelle Lebensmittel. Doch leider führen solche Informationen nur in den seltensten Fällen unmittelbar dazu, die Ernährung umzustel- len. Zu komplex ist unser Ernährungsverhalten und ein nebulöses, aber tief verankertes Vorurteil gegen Bioprodukte lässt viele Menschen argumentieren, dass Öko-Essen „auch nicht besser“ sei – ergo sind sie nicht bereit, umzusteigen. Beispiel Fair Trade: In fast allen Supermärkten gibt es heute faire Produkte zu kaufen. Hamburg ist seit vielen Jahren eine mehrfach ausgezeichnete „Fair- Trade-Stadt“. Viele Betriebe, Vereine und auch die Stadtverwaltung schenken ihren Gästen beispielswei- se nur noch fair gehandelten Kaffee ein. In Umfragen geben zwar viele Menschen an, dass sie beim Einkauf faire Produkte bevorzugen würden – dennoch liegt Abb. 2: T-Shirt aus Amsterdam. Foto: Jürgen Forkel-Schubert der reale Anteil von fairem Kaffee bei nur rund vier Prozent. Was können wir also tun, damit unsere Kinder (und Am Ende sind sich alle einig: Es geht nicht gegenein- wir Erwachsenen auch) nicht nur etwas über Nach- ander, sondern nur miteinander! haltigkeit lernen, sondern auch nachhaltig leben? Das klingt gut, aber ist vielen Anwesenden zu lang- Die freie Entscheidung des Einzelnen ist ein wichti- sam. Wir müssen noch mehr Menschen dazu brin- ges Grundrecht in unserer Gesellschaft. Es gilt nicht gen, das Auto stehen zu lassen und Bahn und Busse nur für das individuelle Handeln, sondern auch in zu nutzen. Und wieso eigentlich kaufen trotz „Diesel- der Bildung. Besonders junge Menschen sind anfäl- gate“ immer noch Menschen einen Diesel-PKW oder lig gegenüber radikalen Lösungen und wären leicht gar ein SUV und verschmutzen unsere bereits schon zu beeinflussen. Unsere Vergangenheit – insbesonde- viel zu dreckige Luft noch weiter? re die Nazizeit und die DDR – hat gezeigt, dass man Fehlt uns vielleicht einfach nur die Fantasie? Ein Schülern keine Meinung aufzwingen darf. Man darf gutes Beispiel ist Kopenhagen, wo die Verwaltung Schüler nicht indoktrinieren, sondern muss sie in die Dinge umsetzt, die kein Vermögen kosten – dies aber Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine ei- kontinuierlich tut! In der Hauptstadt Dänemark wur- gene Meinung bilden zu können. Dieses „Überwälti- den über einen Zeitraum von 20 Jahren jedes Jahr gungsverbot“ ist seit 1976 im sogenannten Beutelsba- zwei bis drei Prozent der Parkplätze gestrichen und cher Konsens festgeschrieben. daraus Cafés, Spielplätze sowie Platz für Fußgänger Wie soll man denn unser Bildungssystem umgestal- und Radfahrer geschaffen. Zeitgleich wurden die ten, damit aus unseren Kindern einmal verantwor- Parkplatzgebühren erhöht, damit mehr Menschen tungsbewusste, nachhaltig handelnde und mündige aufs Rad oder den ÖPNV umsteigen. Könnte man das Bürger werden? nicht auch bei uns ... Eine Erkenntnis ist, dass das Thema Nachhaltigkeit insgesamt noch nicht in den Bildungseinrichtungen Warum unser Verhalten ein wichtiges Thema für und bei den Menschen angekommen ist. Nachhaltig- die Bildung ist keit wird als Begriff inflationär und häufig falsch im Wir alle wissen, dass unser Verhalten nicht immer Sinne von „lang nachwirkend“ verwendet. Nachhal- von logischen Überlegungen gesteuert wird. Dafür tigkeitsansätze sind jedoch sehr komplex und bein- gibt es viele Gründe, beispielsweise spontane Kauf- halten meist zu viele Abwägungsprozesse, um daraus entscheidungen, fehlende Angebote, Beeinflussung unmittelbar Grundsätze für unser Verhalten ableiten durch die Peergroup, liebgewonnene Gewohnheiten zu können. Fachleute diskutieren bereits Strategien oder mangelhafte Informationen. Viele unserer Ver- zur Lösung wichtiger Zukunftsprobleme: „Effizienz“ 6 Lynx 02/2017
WER RAD FÄHRT, BLEIBT AUCH GEISTIG IN BEWEGUNG! zur Lösung des Ressourcenproblems, „Suffizienz“ für unser Konsumverhalten, „Konsistenz“ für die Natur- verträglichkeit und „Permanenz“ für die Nutzungs- dauer – doch damit können nur die wenigsten Men- schen etwas anfangen, geschweige denn, dies auf ihr Individualverhalten übertragen. Unser derzeitiges Bildungssystem muss also weiter- entwickelt werden, um uns Antworten auf unsere Zu- kunftsfragen geben zu können – oder anders gesagt: wir brauchen andere Schwerpunkte in der Bildung. Wir brauchen mehr Bildung für nachhaltige Entwick- lung – abgekürzt BNE – und das in allen Bildungsbe- reichen. BNE kann den Schülern die Kompetenzen vermitteln, die sie brauchen, damit sie die Zukunft meistern können. BNE soll die Menschen befähigen zu erkennen, dass ihr Handeln Konsequenzen hat – nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihr Umfeld und für andere. Jeder kann dazu beitragen, die Welt ein Stück zu verbessern. Dabei geht es nicht darum, neue Projekte zu starten, die nach einer gewissen Zeit beendet und vergessen sind. Nein, wir brauchen neue Strukturen, die BNE fest verankert – in Kindergärten, Schulen, Betrieben und Berufsschulen, Hochschulen, der Weiterbildung und in der außerschulischen Bildung. Hamburg lernt Nachhaltigkeit 2015 fiel der Startschuss für das UNESCO-Weltakti- onsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung (WAP BNE). Das fünfjährige Programm (2015–2019) zielt darauf ab, langfristig eine systemische Verän- derung des Bildungssystems zu bewirken und Bil- dung für nachhaltige Entwicklung vom Projekt in die Struktur zu bringen. In einer „Roadmap“ werden fünf Aktionsfelder benannt, denen besondere Priori- tät eingeräumt wird: der Integration von BNE in die Bildungs- und Nachhaltigkeitspolititk, der ganzheit- lichen Transformation von Lern- und Lehrumgebun- gen, der Kompetenzentwicklung bei Lehrenden und Multiplikatoren, der Stärkung und Mobilisierung der Jugend und der Förderung nachhaltiger Entwicklung auf lokaler Ebene durch Bildung. Die Bundesregierung hat zur Umsetzung des Welt- aktionsprogramms eine Nationale Plattform gegrün- det und als begleitende Gremien sechs Fachforen zu den unterschiedlichen Bildungsbereichen sowie mehrere Partnernetzwerke eingerichtet. Gemeinsam wurden Handlungsfelder und Ziele für einen „Nati- onalen Aktionsplan BNE“ erarbeitet, der im Sommer dieses Jahres veröffentlicht werden soll. Der Hamburger Senat hat das Programm der UNESCO ebenfalls aufgegriffen und im September Abb. 3: Hans Gabanyi, WAP-Konferenz in Hamburg. 2016 in einer Drucksache an die Bürgerschaft be- Foto: Jürgen Forkel-Schubert Lynx 02/2017 7
WER RAD FÄHRT, BLEIBT AUCH GEISTIG IN BEWEGUNG! schlossen, einen „Masterplan“ für die Implementie- aufzeigen. BNE kann gute Beispiele propagieren und rung dieses neuen Bildungsansatzes in der Hansestadt – wo möglich – auch einüben, damit wir aus dem Teu- zu entwickeln. Als Ziele werden darin genannt: die felskreis der nicht-nachhaltigen Verhaltensweisen he- Stärkung der nachhaltigen Entwicklung Hamburgs rauskommen. Gemeinwohlorientierung und globale durch BNE, die Umsetzung des WAP in Hamburg, Mit- Gerechtigkeit müssen dabei Hand in Hand gehen. wirkung in nationalen und internationalen Gremi- Zurück zur Diskussion im Gut Karlshöhe. Auf die en zum WAP und in entsprechenden Bildungsforen, Frage, was jeder von uns denn konkret tun könne, Entwicklung eines Aktionsplans BNE für Hamburg damit Hamburg wirklich zu einer Fahrradstadt wird, und Stärkung der Beteiligung interessierter Akteure antwortete die Fahrradbeauftragte Kirsten Pfaue: (Drucksache 21/5468 „Hamburgs Beitrag zum Welt- 1. Aktiv sein und Spaß daran haben aktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwick- 2. Vorbild sein und Regeln einhalten lung“, 02.08.2016, Bezug: www.buergerschaft-hh.de/ 3. Sich mit anderen austauschen und offen für neue ParlDok/vorgang/49207). Ideen sein Die Initiative „Hamburg lernt Nachhaltigkeit“ Es ist also gar nicht so schwer mit dem richtigen Ver- (HLN) wurde mit der Umsetzung beauftragt. Dar- halten – man muss nur damit anfangen! in arbeiten unter der Federführung der Behörde für Umwelt und Energie alle für Bildung relevanten Be- hörden zusammen. Sie sollen in einem partizipa- tiven Ansatz mit allen gesellschaftlichen Akteuren den Aktionsplan BNE für Hamburg gemeinsam ent- wickeln. In einem ersten Schritt hat die Geschäfts- stelle der Initiative HLN fünf Arbeitsguppen zu den Bereichen Kita, Schule, Berufsbildung, Hochschu- le, Außerschulische Bildung und Bezirke gegrün- det. Auf Grundlage der Texte des Nationalen Akti- onsplans sollen spezielle auf Hamburg angepasste Handlungsfelder und Ziele entwickelt werden. Alle Abb. 4: Jürgen Forkel-Schubert. Foto: Jürgen Forkel-Schubert Interessierten sind eingeladen mitzuarbeiten. Termi- ne und Kontakte der AGs können bei der Geschäfts- stelle HLN erfragt werden (Kontakt: Elke Rödig, BUE, elke.roedig@bue.hamburg.de). Global denken – lokal handeln Als fachliche Grundlage für die Arbeit gelten die im September 2015 von den Vereinten Nationen verab- schiedeten 17 Ziele der Agenda 2030, die sogenann- ten „Sustainable Development Goals“ – kurz SDGs. Dieser Ansatz soll bis zum Jahr 2030 weltweit Armut und Hunger reduzieren, Gesundheit verbessern, Gleichberechtigung ermöglichen, die Umwelt schüt- zen und vieles mehr. Auch der Hamburger Senat hat einen Prozess zur Umsetzung der SDGs gestartet, bei dem Bildung eine große Rolle spielt. Wiederum hat die Behörde für Um- welt und Energie hier die Federführung übernommen und dabei auch die Initiative „Hamburg lernt Nach- haltigkeit“ mit einbezogen. Zweifelsohne kann Bildung bei den Menschen das Bewusstsein dafür steigern, dass die Agenda 2030 ein wichtiges und richtiges Konzept ist. Zugleich kann BNE verdeutlichen, dass wir alle zugleich Täter, Opfer und Retter sind. BNE muss den Bezug zwischen den globalen Problemen und dem Handeln des Einzelnen 8 Lynx 02/2017
DO CITIES MATTER? Prof. Dr. Stephan Rammler Do Cities Matter? Gedanken zur Gestaltbarkeit urbaner Mobilität Abb.: Frau auf Fahrrad in Berlin. Foto: Wikimedia Commons, Sascha Kohlmann, CC BY-SA 2.0 Heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städ- vor ist die Luftqualität in deutschen Großstädten mi- ten, mit weiter steigender Tendenz. Mit Blick auf die serabel und den Fähigkeiten eines in aller Welt bewun- Zukunft der Mobilität sind sie allein deswegen schon derten Hochtechnologielandes in keiner Weise ange- der Hauptschauplatz vielfältiger und einflussrei- messen. Die Emissionen steigen sogar, einige Städte cher Entwicklungen, die sich in ihnen bündeln und stehen kurz davor, vor dem europäischen Gerichtshof überschneiden wie in einem großen urbanen Labor: verklagt zu werden. Gesundheitswissenschaftler er- Bevölkerungswachstum, urbane Verdichtung und warten, dass die durchschnittliche Lebenserwartung Raumknappheit, Engpässe für den fließenden und ru- in Europa wegen der Emissionsbelastungen in den henden Verkehr, mangelnde Verkehrssicherheit und Städten zunächst einmal stagnieren wird. Prominen- die riesigen Emissionsprobleme in den Ballungsräu- testes Beispiel ist Stuttgart, wo sowohl die Feinstaub- men erzwingen vor allem auf den Wachstumsmärk- belastung als auch die Stickoxidwerte an vielen Tagen ten der Mobilität in Asien, Afrika und Lateinamerika des Jahres weit über den von den Gesundheitsbehör- neue Mobilitätskonzepte. den als akzeptabel angesehenen Grenzwerten liegen. Aber auch in Deutschland sind die mit dem Verkehr Hinzu kommt das Klimathema: Wenn Deutschland verbundenen Probleme keinesfalls gelöst: Nach wie an dem in Paris beschlossenen Stabilisierungs-Ziel des Lynx 02/2017 9
DO CITIES MATTER? Weltklimas auf 1,5 Grad Celsius ernsthaft mitarbeiten „Seamless mobility“, einem System, in dem die ein- will, braucht es dazu den sofortigen Start in eine kon- zelnen Komponenten nahtlos ineinandergreifen. In sequente Decarbonisierung unserer Gesellschaft. Vor diesem Szenario spielen allerdings auch ganz traditio- allem der Verkehrssektor ist jedoch bislang gegenüber nelle Nutzungskonzepte weiterhin eine sehr wichtige allen Eingrenzungsversuchen resistent gewesen und Rolle, wie zum Beispiel das Zweirad im Privatbesitz. heute eine der Hauptquellen des klimaschädlichen Meiner Meinung nach könnten gut vernetzte öffent- Treibhausgases CO2. Dieses sogar mit ansteigender liche Verkehrssysteme zusammen mit einer moder- Tendenz. nen, wo nötig elektrisch unterstützten, Zweiradkultur Um vor diesem Hintergrund die Antwort auf die ti- schon heute eine zentrale Rolle dabei spielen, urbane telgebende Frage zu geben: Ja, Städte können in dieser Verkehrsmärkte nachhaltiger zu gestalten. Wird die Situation einen Unterschied machen. Mit den Worten Infrastruktur – also Radwege, Stellwege, Ladestatio- des UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon: „Our struggle nen oder Carsharing-Parkplätze – deutlich verbessert, for Global Sustainability will be won or lost in cities“. steigert das die Qualität des Angebots und somit die Städte sind die Bühne, auf der der Abgesang von der Nachfrage. Das ist die eine Seite der Medaille, der Automobilität inszeniert wird. Ob dieser am Ende als Pull-Faktor. Die andere Seite ist der Push-Faktor: Die Drama oder als Lustspiel aufgeführt wird, ist eine offe- traditionelle Automobilität verursacht enorme exter- ne Frage. Sicher ist jedoch, dass nach einhundert Jah- ne Kosten und muss deshalb ordnungs- und fiskal- ren Automobilisierungsgeschichte, während der sich politisch reguliert werden. Wenn Autofahren nicht das „Volk in den Wagen“ gesetzt hat, heute der Ein- eingeschränkt und gleichzeitig teurer wird, kann die stieg in den Ausstieg aus der Automobilität zu beob- urbane Verkehrswende nicht gelingen. achten ist. Das „Volk ohne Wagen“ wird dabei nicht Um noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzu- gänzlich auf Automobile verzichten, nur werden die- kommen: Ja, Städte können einen gewaltigen Unter- se Fahrzeuge in Zukunft nicht mehr im altbekannten schied machen bei der Umsetzung nachhaltiger urba- Modus des massenhaften Privatbesitzes betrieben, ner Mobilitätsstrategien. Dafür brauchen sie mutige sondern als automobile Dienstleistungen. Das Motto Politiker mit klaren Zielvorstellungen, die die Bürger heißt „pay per use“ statt „pay and use“. Grob gesagt und Konsumenten von vorneherein in die Umset- treten dabei gerade drei zentrale Zukunftsstrategien zung politischer Strategien einbeziehen. Das können gegeneinander an. wir in Deutschland von Städten wie Kopenhagen, Erstens eine High-Tech-Strategie des automatisier- Amsterdam oder Wien lernen. ten Fahrens. Dieser Ansatz wird vor allem von den kapitalstarken IT-Firmen aus dem Silicon-Valley vo- Stephan Rammler ist Professor für Transportation rangetrieben. Dabei werden Besitz und Fahrbetrieb Design & Social Sciences an der Hochschule für Bil- entkoppelt, automatisiert und elektrifiziert. Die Visi- dende Künste in Braunschweig und Gründer des Ins- onen der digitalen Branche gehen dabei so weit, mit tituts für Transportation Design. Seine Arbeitsschwer- automatisierten und hochvernetzten Fahrzeugflotten punkte sind die Mobilitäts- und Zukunftsforschung. auch weite Bereiche des heutigen öffentlichen Trans- 2016 erhielt er den Zeit-Wissen-Preis „Mut zur Nach- portangebots des Bus- und Schienenverkehrs in urba- haltigkeit“. Sein Buch „Schubumkehr – Die Zukunft nen, suburbanen und ländlichen Regionen zu über- der Mobilität“ ist im Fischer Verlag 2014 erschienen, nehmen. dies ist auch als E-Book erhältlich. Auch Strategie Nummer zwei setzt auf High-Tech, indem sie alle Verkehrsträger digital verknüpft. Die urbane Verkehrsnachfrage der Zukunft richtet sich hier also auf den Verbund aller Verkehrsmittel. Das Auto ist in diesem Verbund nicht mehr als ein „Bau- stein“ intelligenter Verkehrsmittelkombinationen, der durchaus in einigen Regionen als automatisierter Transport angeboten werden könnte. Eine Low-Tech-Variante ist hingegen jene Strate- gie, die gut ausgebaute öffentliche Verkehrssysteme mit Individualverkehrsmitteln wie Zweirad, Seg- way, Scooter oder Dreirädern kombiniert. Auch hier ermöglichen digitale Verknüpfungstechnologien das Teilen und Vernetzen dieser Verkehrsmittel zur 10 Lynx 02/2017
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? Christine Stecker Lebenswerte Städte und Mobilität – ein Dilemma? Die Zukunft liegt in den Städten: Im Jahr 2008 lebten Wo stehen deutsche Städte derzeit? erstmals mehr Menschen weltweit in Städten als auf Viele deutsche Städte sind heute noch dem autoge- dem Land. Bis zum Jahr 2050 sollen es laut UN welt- rechten Leitbild vergangener Jahrzehnte verhaftet. weit zwei Drittel sein. Bereits jetzt leben 82 Prozent Die „autogerechte Stadt“, wie sie seit den 50er Jahren der Nordamerikaner in Städten, in Lateinamerika von Architekten propagiert wird, orientiert sich sind es 80, in Europa 73 Prozent. Insbesondere Asien zuvorderst an den Bedürfnissen des motorisierten und Afrika werden in den nächsten Jahren enorm auf- Individualverkehrs (MIV) und sollte dazu dienen, holen. Weltweit gab es 2016 31 Megacities mit mehr Verkehrsströme zu entmischen und Straßenräume großzügig dem MIV zur Verfügung zu stellen. Dass als 10 Millionen Einwohnern, bis zum Jahr 2030 sol- dieses Konzept heute nicht mehr tragfähig ist, zeigt len es 41 sein (UN, 2016). sich an verschiedenen Facetten. Entsprechend sind es die Städte, in denen immense Chancen und Herausforderungen gleichermaßen lie- gen. Städte setzen weltweit einen Großteil der Treib- Herausforderung Klimaschutz hausgasemissionen frei. Ein Viertel davon wird dem Städte als Treiber des Klimawandels stehen in der Ver- Verkehrssektor zugerechnet. Damit werden die Zu- pflichtung, einen eklatanten Beitrag zur Reduzierung kunft der Mobilität und die Lebensqualität für den der Treibhausgase zu leisten. Im Jahr 2016 wurden in Großteil der Menschheit ebenfalls in den Städten ent- Deutschland fast 906 Millionen Tonnen Treibhaus- schieden werden müssen. Das Umdenken hat bereits gase freigesetzt – etwa 4 Mio. Tonnen mehr als 2015. begonnen. Der nachfolgende Beitrag wirft einen ers- Den stärksten Anstieg verzeichnet dabei der Verkehrs- ten Blick auf den urbanen Umbruch. sektor mit einem Plus von 3,4 Prozent, so die ernüch- Abb. 1: Kuala-Lumpur. Foto: Pixabay, Cassandra Duval, CC0 Lynx 02/2017 11
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? ternde Bilanz des Umweltbundesamtes. Moment mal Bestand in Hamburg kontinuierlich an: Zum 1. Januar – hatte sich Deutschland nicht vorgenommen, Vor- 2017 gab es 771.573 PKW – gut zehn Prozent mehr als reiter in Sachen Umweltschutz und Energiewende zu 2005 (Statistisches Bundesamt, 04/2017). sein? Das Umweltbundesamt formulierte 2016 eher seicht: „Um die Treibhausgasemissionen bis 2050 um Herausforderung Gesundheit 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Vergleichsjahr 1990 Die Europäische Umweltagentur warnt, dass jedes zu senken, muss der Verkehrssektor einen angemes- Jahr 35.000 Menschen in Deutschland an Feinstaub, senen Beitrag leisten.“ Im Grunde genommen heißt auch bedingt durch den Verkehr sterben. „Allein die das nichts anderes, als dass der Verkehrssektor es bis überhöhten Stickoxid-Abgase aus den Auspufftöp- zum Jahr 2050 geschafft haben muss, weitestgehend fen führen hierzulande zu 11.000 zusätzlichen To- emissionsfrei zu sein! desfällen pro Jahr.“ In Kombination mit den aktuel- len Dieselskandalen und den Überschreitungen der Herausforderung Sicherheit Schadstoffgrenzwerte innerorts bleibt ein dumpfes Sicherheit auf den Straßen ergibt ein gutes Gefühl. Unbehagen, wie lebenswert die Stadt in den Quartie- Die positive Nachricht: In Deutschland sinkt die Zahl ren außerhalb der Grüngürtel tatsächlich ist. der bei Verkehrsunfällen innerorts getöteten Men- schen seit dem Jahr 2000. Die schlechte: Es sind im- Herausforderung Hamburg mer noch gut 1.000 Menschen zu viel (BAST, 2016). Hamburg ist eine lebenswerte Metropole – jedenfalls In Hamburg ist der Trend darüber hinaus gegenläufig: dann, wenn man sich weit entfernt von Straßen auf- Vom März 2016 bis Februar 2017 starben 63 Prozent hält, was jedoch schwerfällt. Es gibt nur eine über- mehr Menschen auf Hamburgs Straßen als im Vor- schaubare Anzahl an Fußgängerzonen in der City jahreszeitraum (Statistisches Amt für Hamburg und oder in Quartierszentren, der Autoverkehr dominiert Schleswig-Holstein, 2017). Gleichzeitig steigt der KFZ- fahrend und ruhend allerorts das Stadtbild. Abb. 2: Jähes Ende für den Radverkehr. Foto: Pixabay, 50975, Folker Schnaebele, CC0 12 Lynx 02/2017
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? Während sich internationale Metropolen auf den ökologische und ökonomische sowie teilweise auch Weg machen, ihre Innenstädte komplett autofrei soziale Fragen. Besonders gehäuft treten diese Folgen umzugestalten, scheint Hamburg davon weiterhin in Städten und Ballungsräumen auf. Infolge der Ver- weit entfernt. Auf der Verkehrsministerkonferenz, dichtungsprozesse sind die Auswirkungen hier mehr die sich im April 2017 in Hamburg traf, betonte Wirt- als die Summe der oben genannten Belastungen, da schafts- und Verkehrssenator Horch seine Ablehnung sie die Lebensqualität der Anwohner bestimmter Ver- gegenüber Dieselverboten in der Innenstadt. Es blieb kehrswege determinieren können.“ Zu diesem Fazit lediglich bei einem Appell an die Industrie. In der kam das Bundesumweltministerium bereits im Jahr Pressemitteilung zum nun vorgelegten neuen Luft- 2008 (BMU, 2008). reinhalteplan für Hamburg heißt es: „Auch künftig wird mit jedem Fahrzeug jedes Ziel in der Stadt er- Was macht eine Stadt lebenswert? reichbar sein.“ (BUE, 2. Mai 2017). Das Dilemma für „Eine Innenstadt ohne lautes Hupen, ohne stinkende Ab- Hamburg liegt auf der Hand: Das Ziel der „verkehrli- gase und ohne hektischen Streit um die Vorfahrt? Eine In- chen Erreichbarkeit in der Stadt“ wird abgewogen mit nenstadt mit viel Platz für spielende Kinder, flanierende dem hohen Schutzniveau für die menschliche Ge- Spaziergänger und duftende Blumenbeete? Wäre das keine sundheit. Dabei wird Verkehr weiterhin autogerecht attraktive, lebenswertere Stadt?“ (taz 2012) gedacht – Verkehrsteilnehmer sind jedoch wesentlich Der Mensch ist zuvorderst soziales interagieren- mehr als Fahrzeugführer. des Wesen. Die Stadt als Lebensraum ist weit mehr Vor dem Hintergrund, dass der Bedarf an Mobili- als nur ein Durchfahrgebiet zu halten. Lebensstile tät in den sich verdichtenden Städten weiter steigt, ändern sich, junge Generationen sehen im Verzicht braucht es ein anderes Denken. „Die positiven und auf das eigene Auto in der Stadt den Zugewinn an Le- negativen Auswirkungen des Verkehrs tangieren wie bensqualität und Zeit. in kaum einem anderen Politikbereich gleichzeitig Abb. 3: „Und wo spielen Ihre Kinder?“. Foto: Christine Stecker Lynx 02/2017 13
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? Abb. 4: Menschen. Foto: Pixabay, 890962, Antranias, CC0 Wie kein anderer steht Architekt und Stadtplaner Jan 7. Sehenswürdiges (u. a. freie Sichtachsen, interes- Gehl für die Umgestaltung von Städten nach mensch- sante Ausblicke) lichem Maßstab. Sein wichtigster Grundsatz: „Der 8. Orte für Kommunikation Stadtraum muss – statt aus einem fahrenden Auto heraus 9. Orte für Spiel und Sport oder von oben herab – mit der Geschwindigkeit eines Fuß- 10. Größenverhältnisse nach menschlichem Maß gängers erlebt werden.“ Die lebenswerte Stadt ordnet die (Bauten und Räume) Prioritäten neu: Die Achtung der Menschen, Würde, 11. Angenehme klimatische Verhältnisse Lebensfreude und die Stadt als Ort der Begegnung ste- 12. Positive Sinneseindrücke (z. B. gutes Design, hen im Vordergrund. schöne Aussichten, Grünanlagen, Wasser) Die Stadt auf Augenhöhe Mobilitätswende macht Städte attraktiv Öffentliche Stadträume, die auf Basis von beobach- „Die Mobilitätswende hat in den Städten bereits begon- tenden Analysen als die schönsten und meistgenutz- nen“, so lautet eine von 12 Thesen der Agora Verkehrs- ten Räume weltweit gelten, weisen nach Gehl zwölf wende, einem Think Tank, auf Initiative der Stiftung Qualitätskriterien auf (Gehl 2015): Mercator und der European Climate Foundation. Ziel von Agora ist es, den Umbau zu einem klimafreund- 1. Schutz vor Verkehr und Unfällen – Sicherheits- lichen und nachhaltigen Verkehrssystem zu fördern. gefühl Die These wird wie folgt konkretisiert: 2. Schutz vor Verbrechen – Sicherheitsgefühl 3. Schutz vor unangenehmen Sinneswahrnehmun- • Attraktive Städte sind nicht autogerecht. gen (z. B. Staub, Lärm, Wind) • Mit dem Auto wird der Umweltverbund zum Mo- 4. Angebote für Fußgänger bilitätsverbund. (Auto meint dabei eCarsharing, 5. Aufenthaltsgelegenheiten Anm. d. Autorin) 6. Sitzgelegenheiten 14 Lynx 02/2017
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? Abb. 5: Hand in Hand. Foto: Pixabay, 255223, Sh1ra, CC0 • Fuß- und Radverkehr sind ein Gewinn für die pole klimaneutral sein. Das Konzept dazu lautet „Wal- Städte. kable City Stockholm“. Im Fokus steht ein holistischer • Weniger private Autos schaffen wertvollen öffent- Ansatz, der auf Vernetzung städtischer Randgebiete, lichen Raum. aktive Mobilität und öffentlichen Nahverkehr ausge- • Der Wirtschaftsverkehr funktioniert auch kli- richtet ist. Klimaschutz und Resilienz werden ebenso maneutral. wie die Gesunderhaltung der Stockholmer ernst ge- • Städte brauchen mehr Unterstützung. nommen: Investitionen von 122 Millionen US-Dollar fließen bis zum Jahr 2018 in die Förderung der Fahr- Städte machen sich weltweit auf den Weg – radnutzung, um Gesundheitskosten durch mehr Be- zukunftsweisende urbane Mobilitätskonzepte wegung zu reduzieren. Beispielstädte, die sich als Zukunftslaboratorien für die Stadt von morgen verstehen, gibt es ebenso wie Oslo hat sich vorgenommen, ab 2019 keine Privatau- Projekte und Start-ups, die Mut machen. Wie kann tos mehr in der Innenstadt zu erlauben. Stattdessen es gelingen, in den wachsenden Metropolen Lebens- ist der Umweltverbund zu nutzen. qualität zu erhöhen und gleichzeitig die urbane Mo- bilität der Menschen sicherzustellen? Bekannt sind Malmö: In der fahrradfreundlichsten Metropole Amsterdam und Kopenhagen für die gelungene Um- Schwedens entsteht mit dem zentral gelegenen Cy- gestaltung. Doch es gibt weitere, nachfolgend nur ein kelhuset Ohboy Schwedens erstes siebengeschossi- kleiner Ausschnitt: ges Gebäude, das sich an einem fahrradorientierten Lebensstil ausrichtet. Für die 55 Wohnungen und 33 Stockholm gehört zu den am schnellsten wachsenden Motelzimmer gibt es nur einen Behindertenstellplatz. Metropolen in Europa. In der Stadtplanungspolitik Mit einem umfassenden Mobilitätskonzept konnte steht die nachhaltige Entwicklung im Vordergrund: der Stellplatzschlüssel für PKW aufgehoben werden. Bis zum Jahr 2030 will die 300.000-Einwohner-Metro- Dazu gehört u. a., dass Bewohner mit einem Lasten- Lynx 02/2017 15
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? rad bis zu ihrer Wohnung per Aufzug fahren können, • Berücksichtigung der Personenbeförderungs- um Einkäufe bequem in der Wohnung auszuladen. kapazität Mieter sind Mitglieder im Carsharing-System und er- • Mehr Koexistenz statt Verkehrstrennung halten Monatskarten des ÖPNV. Fahrradabstellanla- • Konsequente Abstimmung von Siedlungs- gen inkl. Fahrradhalterungen im Appartement, eine und Mobilitätsentwicklung Fahrradwerkstatt und viele weitere Annehmlichkei- • Schaffen und Nutzen einer Stadt der kurzen ten machen den Verzicht auf das eigene Auto einfach. Wege (http://www.ingenieur.de/Themen/Architektur/In-Mal- • Mobilitätsmanagement als Ergänzung zur Infra- moe-entstehen-Wohnungen-fuer-Fahrradfahrer) strukturplanung • Optimierung der Gesamtverkehrsabwicklung Wien hat als Zielorientierung der Mobilitätspolitik „80 • Förderung der verkehrsmittel- und stadtübergrei- zu 20“ definiert. Bis zum Jahr 2025 sollen die Wienerin- fenden Vernetzung nen und Wiener 80 Prozent der Wege mit dem öffent- lichen Verkehr auf dem Rad oder zu Fuß zurücklegen. Vision Zero Action Plan: New Yorks regierender Bür- germeister Bill de Blasio verkündet zwei Wochen nach Zürich gilt als internationales Vorbild für seine lang- seinem Amtsantritt den „Vision Zero Action Plan“ jährigen Anstrengungen in der Verkehrspolitik. Autos nach schwedischem Vorbild. Schrittweise soll die werden konsequent aus dem Stadtbild verbannt, Park- Zahl schwerwiegender Verkehrsunfälle auf Null ge- plätze unterirdisch verlegt. Zu den Zielsetzungen in senkt werden. Verkehrssicherheit ordnet er als öffent- Zürich gehören: liches Gesundheitsproblem ein und weitet damit die Verantwortlichkeiten aus. Damit soll New York City • Angebots- statt nachfrageorientierter Verkehrs- zur sichersten Stadt weltweit werden. Und die Statis- planung tik gibt ihm Recht. Die Vision Zero haben zahlreiche Abb. 6: Opernplatz in Zürich. Foto: Pixabay, 221373, 4997826, CC0 16 Lynx 02/2017
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? weitere US-amerikanische Städte aufgegriffen, u. a. Se- Gesetzgebung, die meist noch aus den goldenen Au- attle. Die Liste ließe sich problemlos fortführen ... tozeiten stammt, ist dringend anzupassen. Geschwin- digkeitsreduzierungen, wie sie durch die novellierte Die Zeit ist reif Straßenverkehrsordnung (StVO) zumindest an Schu- Eine aktuelle Umfrage zum Umweltbewusstsein der len und Kindergärten leichter umgesetzt werden kön- Deutschen ergibt: 91 Prozent der Deutschen stim- nen, sind nur ein allererster Anfang. Ein Weiter so men zu, dass „weniger Autos in Städten und Gemein- wie bisher bringt die Städte über den Rand des Ver- den“ einen Beitrag zum guten Leben leistet. Knapp kehrskollapses hinaus – auf Kosten der Lebensquali- 80 Prozent wünschen sich weniger Autos in der ei- tät ihrer Bewohner. genen Gemeinde. In Städten mit über 100.000 Ein- Für Hamburg bleiben die Fragen, die sich lebens- wohnern ist die Bereitschaft besonders groß, vom werte Städte bei der Umgestaltung stellen, weitestge- eigenen Auto auf andere Verkehrsmittel inklusive Zu- hend offen: Wie kann an den Menschen zuallererst fußgehen zu wechseln (BMU/UBA 2016). Autofahren gedacht werden? Wem gehört der öffentliche Stadt- macht in der Stadt nicht nur keinen Spaß mehr, son- raum und wie kann dieser zukünftig gerechter und dern auch keinen Sinn. Dazu bedarf es der Stadt der lebensfreundlicher aufgeteilt werden? Wie wird die kurzen Wege. Stadt für die Menschen, die in ihr leben, sicher, ge- Die Bürgerinnen und Bürger selbst sind es, denen sund, umweltfreundlich und einladend? es nicht nur „stinkt“, sondern die sich aktiv für ei- nen lebenswerteren Wohnort in der Stadt einsetzen. Stadtplanung ist Zukunftsgestaltung In Berlin ist ein Radgesetz aus der Initiative „Volks- Stadtplanern und kommunalen Entscheidern kommt entscheid Fahrrad“ auf den Weg gebracht und soll eine aktive Gestaltungsverantwortung zu. Eine ver- bis Herbst 2017 umgesetzt sein. Damit wäre Berlin stopfte Straße weiter auszubauen, führt über kurz das erste Bundesland mit eigenem Radgesetz zur oder lang zu einer ausgebauten verstopften Straße. Förderung des Radverkehrs. Gleichfalls Novum: Das Wenn der Verkehr nicht fließt, liegt dies nicht an zu Gesetz wurde im Dialogprozess zwischen den Initia- wenigen oder zu kleinen Straßen – es ist vielmehr Zei- toren des Volksentscheids, Senatsverwaltung, Koaliti- chen fehlgeleiteter Verkehrspolitik, der Mangel an at- onsfraktionen, ADFC-Berlin und BUND erarbeitet. traktiven Alternativen. Darüber hinaus finden in zahlreichen deutschen Das „Sustainable Development Goal“ Nr. 11 der Städten jährlich Fahrrad-Sternfahrten statt. Die Vereinten Nationen fordert Städte auf, inklusiv, si- weltweiten Critical Mass Aktionen, die 1992 in San cher, resilient und nachhaltig zu werden. Städte Francisco ihren Auftakt nahmen, rufen monatlich können aufgrund ihrer Siedlungsdichte und Größe zu spontanen gemeinsamen Fahrradfahrten durch Infrastrukturen besser und kostengünstiger zur Verfü- Innenstädte auf. Mehr als 15 Radfahrer dürfen nach gung stellen. Dabei hinterlässt keine andere Art der § 27 StVO einen geschlossenen Verband bilden, der Fortbewegung so wenig Spuren in der Umwelt wie der allerdings als solcher für andere Verkehrsteilnehmer Fuß- und Fahrradverkehr, die sogenannte „aktive Mo- deutlich erkennbar sein muss. Im April 2017 radel- bilität“. Viele Städte weltweit zeigen, dass es anders ten ca. 5.000 Hamburgerinnen und Hamburger mit. gehen kann und die Städte um ein Vielfaches gewin- Beide Aktionsformate setzen sich für die Rechte von nen. In Deutschland sind die Ansätze noch verhalten. unmotorisierten Verkehrsteilnehmern und die Ver- Fahrradverkehr ordnet sich häufig noch dem Autover- kehrswende ein. kehr unter. Die fußgängergerechte Stadt der kurzen Wege wird bei den Zielen, Fahrradstadt zu werden, oft Von der Energie- zur Mobilitätswende vergessen. Neue Formen urbaner Mobilität und die Die Energiewende hängt unmittelbar mit der Ver- Lebensqualität in den Städten können Hand in Hand kehrswende zusammen. Für die Stadt von morgen ist gehen. Die Chancen liegen in den Städten – man nichts gewonnen, wenn der Status quo auf Elektro- muss sie nur nutzen. mobilität umgestellt wird. Ein Weniger an Fahrzeugen ist zwingend nötig, um unsere Städte lebenswert(er) Literaturquellen: zu machen. Der Stadtraum ist begrenzt. Umso wichti- Agora Verkehrswende, 12 Thesen: https://www.agora- ger, Freiräume für Menschen zurückzugewinnen und verkehrswende.de/12-thesen/die-mobilitaetswende-hat-in- Klimaschutz ernst zu nehmen. Dafür ist nicht nur po- den-staedten-bereits-begonnen/ litischer Wille nötig; auch die verhindernde deutsche Lynx 02/2017 17
LEBENSWERTE STÄDTE UND MOBILITÄT – EIN DILEMMA? BAST, Bundesamt für Straßenwesen, 2016: Ver- Weiterführende Links kehrs- und Unfalldaten – Kurzzusammenstellung BMBF, 2017: Agendaprozess nachhaltige urbane Mo- der Entwicklung in Deutschland: http://www.bast.de/ bilität: http://www.fona.de/de/agendaprozess-nachhaltige- DE/Publikationen/Medien/VU-Daten/VU-Daten.pdf?__ urbane-mobilitaet-21913.html blob=publicationFile&v=3 Bundesweiter Umwelt- und Verkehrskongress, Berlin, Radgesetz: https://volksentscheid-fahrrad.de März 2017, Wuppertal (BUVKO), Ergebnisse: http:// www.buvko.de/ergebnisse-2017.html BMU, 2008: http://www.bmub.bund.de/themen/luft- laerm-verkehr/verkehr/nachhaltige-mobilitaet/ Europäische Mobilitätswoche: https://www.umwelt- bundesamt.de/europaeische-mobilitaetswoche BMU/UBA, 2016: Umweltbewusstsein in Deutsch- land 2016 – Ergebnisse einer repräsentativen Bevöl- FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland: kerungsumfrage: https://www.umweltbundesamt.de/ http://www.fuss-ev.de/ sites/default/files/medien/1968/publikationen/umweltbe- wusstsein_in_deutschland_2016_barrierefrei.pdf Globalrichtlinie „Notwendige Stellplätze und not- wendige Fahrradplätze“, Hamburg (2002): http:// BUE, 2. Mai 2017: „Senat legt neuen Luftreinhal- www.hamburg.de/contentblob/85612/050d8d0d185bf57c teplan vor“: http://www.hamburg.de/pressearchiv- e24a84e3f7190de6/data/stellplaetze.pdf fhh/8675696/2017-04-26-bue-luftreinhalteplan/ Greenpeace 2016 in Zusammenarbeit mit Gehl Gehl, Jan, 2015: Städte für Menschen, jovis Verlag Urban Quality Consultants: Rollenwechsel – Kon- zept für eine neue Mobilität in Städten: http://www. Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Hol- greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/ stein, 02/2017: Straßenverkehrsunfälle in Hamburg screen_s01851_ds_studie_de_mobi_22_06_16.pdf Februar 2017 – Vorläufige Ergebnisse – https://www. statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/Statistische_Be- Hamburger Petition „KURS FAHHRADSTADT“ von richte/verkehr_umwelt_und_energie/H_I_1_m_H/H_I_1- Kai Ammer: https://kursfahrradstadt.wordpress.com/ m1702_HH.pdf Hamburger Petition „Anwohnerparken kosten- Statistisches Bundesamt, 04/2017: Verkehr, Fachse- pflichtig – weniger Autos – mehr Lebensqualität“ rie 8 Reihe 1.1: https://www.destatis.de/DE/Publikatio- von Fabian Hanneforth: https://www.change.org/p/ nen/Thematisch/TransportVerkehr/Querschnitt/Verkehr- machen-sie-alle-%C3%B6ffentlichen-parkpl%C3%A4tze- AktuellPDF_2080110.pdf?__blob=publicationFile kostenpflichtig-weniger-autos-mehr-lebensqualit%C3%A4t Taz, 2012: http://www.taz.de/Streit-der-Wo- Nationaler Radverkehrsplan: https://nationaler-rad- che/!5097997/ verkehrsplan.de/ UN, 2016: The World’s Cities in 2016: Data Booklet: Sustainable Development Goals (SDG), Ziel 11: http://www.un.org/en/development/desa/population/pu- https://sustainabledevelopment.un.org/sdg11 blications/pdf/urbanization/the_worlds_cities_in_2016_ data_booklet.pdf Videotipps Vision Zero: http://www.visionzeroview.nyc Jan Gehl Talk: https://vimeo.com/179779809 Zürich: Zukunft Mobilität: http://www.zukunft-mobi- Exploring the streets of Stockholm: https://vimeo. litaet.net/88783/urbane-mobilitaet/vorbild-verkehrspoli- com/122483608 tik-zuerich-oeffentlicher-verkehr/ Zurich: Where People are Welcome and Cars are Not: https://vimeo.com/108884155 18 Lynx 02/2017
FÜR EINE BEWEGTE KINDHEIT UND JUGEND – MOBILITÄTSBILDUNG IN DER SCHULE Anika Meenken Verkehrsclub Deutschland, VCD Für eine bewegte Kindheit und Jugend – Mobilitätsbildung in der Schule Abb. 1: Radrennen. Foto: Wikimedia Commons, Man vyi, gemeinfrei Bedeutung der Mobilität von Kindern und Ju- vor Verkehrsunfällen plus die »Verinselung« der kind- gendlichen und ihre IST-Situation lichen Aufenthaltsorte sorgen dafür, dass Kinder auf Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist einer Vielzahl ihrer Wege von Erwachsenen begleitet heute stark von Prozessen der »Verhäuslichung« und werden4. Besonders deutlich wird diese Veränderung, »Verinselung« geprägt1. Spiel, Austausch mit Freun- schaut man sich die Schulwege an: Die Altersgruppe den und Bewegung finden nicht mehr hauptsächlich der Fünf- bis Neunjährigen wird deutlich weniger al- im Straßenraum, sondern vermehrt in institutiona- leine auf die Straße gelassen, als dies früher der Fall lisierten Strukturen wie Kindertagesstätten, Schulen, war5. So gingen 1970 noch 91 Prozent der Erstklässler Sportvereinen oder auch zu Hause statt2. Für die sozia- ohne Begleitung zur Schule, im Jahr 2000 hingegen le, kognitive und physische Entwicklung von Kindern nur noch 17 Prozent6. Selbst 17-Jährige legen noch kommt dem Spiel auf der Straße und dem selbststän- fast ein Viertel ihrer Wege in Begleitung eines Eltern- digen Entdecken des Straßenraumes jedoch eine gro- teils zurück7. ße Bedeutung zu3. Straßenspiele fördern, im Gegen- Begleitet heißt dabei oft, auf dem Rücksitz des Au- satz zum Spielen auf dem Spielplatz, die Kreativität, tos hin- und hergefahren werden, statt zu Fuß oder weil sie keine Themen vorgeben. Darüber hinaus kön- mit dem Rad unterwegs zu sein. Bei Kindern unter nen sich Kinder, die lernen selbstständig unterwegs neun Jahren geschieht dies auf dem Schulweg zu 60 zu sein, besser orientieren, identifizieren sich stärker Prozent. Bei den 10- bis 13-Jährigen werden sogar 80 mit ihrem Wohnumfeld und bauen andere soziale Prozent der begleiteten Schulwege mit dem Auto zu- Bindungen zu Nachbarn auf als Kinder, die von den rückgelegt8. Eltern oder Großeltern auf den Spielplatz begleitet Die Folgen: Durch die Verhäuslichung und den stei- werden. Soweit die wissenschaftlichen Fakten. genden Anteil an Autofahrten bewegen sich Kinder Schaut man auf die Welt von Kindern und Jugend- zunehmend weniger. Laut der Weltgesundheitsorga- lichen heute wird deutlich, die Freizeit ist viel stär- nisation sollten sich Kinder und Jugendliche aber täg- ker als früher organisiert: Sportverein, Musikschule, lich mindestens 60 Minuten lang moderat bis intensiv Nachhilfe. Die Orte, an denen sich Kinder und Ju- bewegen9. Außerdem werden Kinder und Jugendliche gendliche aufhalten sind stark über den Raum verteilt. unsicherer im Straßenverkehr. Ihnen fehlt die Übung. Die Wege dorthin können oder dürfen die Kinder oft Verkehrserziehung im klassischen Sinn, z. B. die Fahr- nicht selbstständig bewältigen. Die Angst der Eltern radprüfung in Klasse 3 und 4 mit Übungsblatt und Lynx 02/2017 19
FÜR EINE BEWEGTE KINDHEIT UND JUGEND – MOBILITÄTSBILDUNG IN DER SCHULE Proberunde auf dem Übungsplatz, kann die mangeln- dern auch eines, das einen besonders guten Zugang de Erfahrung auf Alltagswegen nicht ausgleichen. Die zum komplexen Ansatz der Bildung für Nachhaltig- selbstständige Mobilität ist für die gesunde Entwick- keit (BNE) bietet. Denn Mobilitätsbildung ist praxis- lung von Kindern und Jugendlichen entscheidend. nah, sie bietet die Möglichkeit zum individuellen Sie steht somit in engem Zusammenhang mit der Handeln, sie ermöglicht komplexe Zusammenhänge Verkehrssicherheit. an konkreten Alltagssituationen zu begreifen, sie lässt Es muss also heißen: wieder raus aus den Autos und Erfahrungen auf verschiedenen Sinnesebenen zu und gemeinsam bewegen, Erfahrungen sammeln und ver- arbeitet mit vielfältigen Methoden. tiefen. Das vermeintlich sichere Auto ist längst nicht Der VCD engagiert sich deshalb seit Jahren für eine so sicher, wie es vielen scheint: 40 Prozent der Kinder nachhaltige Mobilitätsbildung vom Kindergarten bis im Alter unter 15 Jahren verunglückten als Autoinsas- zur beruflichen Aus- und Weiterbildung. Im Sinne se, bei den Kindern unter 6 Jahren sind es sogar weit eines lebenslangen Lernens bieten wir gestufte Bil- über die Hälfte10. Zudem sorgen die sogenannten dungsangebote mit unterschiedlichen Lerninhalten Elterntaxis vor vielen Schulen für große Sicherheits- und Lernzielen für alle Altersgruppen. Mit dem VCD- probleme. Denn die Kinder werden zwischen den Bildungsservice (https://bildungsservice.vcd.org) bieten parkenden Autos und in der morgendlichen Hektik wir Erzieherinnen, Lehrern und Ausbilderinnen ge- schlichtweg übersehen. bündelt Unterstützung und Ideen. Des Weiteren bie- tet der VCD verschiedene Mitmach-Angebote für alle Vorteile eigenständiger Mobilität Schulformen an: Der ökologische Verkehrsclub VCD empfiehlt für den Schulweg, das Elterntaxi stehen zu lassen und statt- Für Grundschulen dessen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu kommen. • Der Laufbus Denn für Kinder ist es ungemein wichtig, sich zu be- Ziel ist, dass Kinder gemeinsam ihren Schulweg zu wegen, soziale Kontakte zu knüpfen, ihr Wohnumfeld Fuß zurücklegen. Durch die Bildung des Laufbusses kennen zu lernen und eigenständig mobil zu sein. können sich Eltern abwechseln und müssen ihre Kin- All das können sie im Auto nicht lernen. Wer zu Fuß der nicht jeden Tag bringen und holen. Die Strecke oder mit dem Fahrrad zur Schule kommt, ist außer- muss natürlich sicher und für alle gut erreichbar sein. dem wach und kann sich besser konzentrieren11. Mit Wenn die Route steht, werden zentrale „Haltestellen“ Freunden zusammen zu laufen oder Rad zu fahren, vereinbart, an denen Kinder dazukommen oder sich vermittelt gerade Grundschulkindern ein Gefühl von verabschieden können. So gelangen die Kids zu Fuß Freiheit und unterstützt dabei, in der Klasse Freunde sicher zur Schule. Um die Organisation eines Lauf- zu finden. busses so einfach wie möglich zu machen, haben Der VCD macht sich deshalb auch dafür stark, wir eine Vielzahl von Informationen, Vorlagen und Kindern die Möglichkeit zu geben, selbstständig Downloads zusammengestellt: www.vcd.org/organisati- und sicher unterwegs zu sein. Sei es über politische on-laufbus.html. Lobbyarbeit oder die Entwicklung von Spiel- und Unterrichtsideen, die Spaß machen. Darüber hin- • Aktionstage „Zu Fuß zur Schule und zum Kinder- aus möchten wir, dass Kinder und Jugendliche ihre garten“ Verantwortung bei der Verkehrsmittelwahl und ihre Gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk regt Mitgestaltungsmöglichkeiten erkennen. Nachhalti- der VCD jährlich Grundschulen an, Aktionen zur ei- ge Mobilität ist auf den ersten Blick ein Begriff, der genständigen Mobilität durchzuführen – und zwar schwer zu fassen ist. Der Verkehr verursacht nicht rund um den internationalen „Zu-Fuß-zur-Schule- nur knapp 20 Prozent der deutschen CO2-Gesam- Tag“. Wer besonders gute Ideen hat und darüber temissionen12. Er ist auch der Sektor, in dem die rechtzeitig berichtet, kann Sachpreise gewinnen. Emissionen bisher am langsamsten gesunken sind. Jährlich ab März sind Anmeldungen unter www.zu- Seit 1990 gerade einmal um 2 Prozent, während der fuss-zur-schule.de möglich. CO2-Austoß insgesamt im gleichen Zeitraum um fast 20 Prozent zurückging13. Dazu kommen Lärm, Flä- Für weiterführende Schulen chenzerschneidung, Ressourcenverbrauch und Ver- • FahrRad!Fürs Klima auf Tour siegelung, um nur die wichtigsten Umweltbelange Schulklassen mit Jugendlichen im Alter von 10 bis zu nennen. 18 Jahren sind fortlaufend von März bis Ende August Bei genauerer Betrachtung ist nachhaltige Mobilität aufgerufen, in die Pedale zu treten und so Kilometer aber nicht nur ein spannendes Bildungsthema, son- zu sammeln. Die erradelten Kilometer werden auf 20 Lynx 02/2017
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