Begleitmaterial Weiße Rose - Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) - Bühnen der Stadt Gera
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Begleitmaterial Weiße Rose Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) Libretto von Wolfgang Willaschek Musik von Udo Zimmermann Zum 75. Gedenkjahr an die Widerstandsbewegung Ab 13 Jahren
„Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben!“ (Ein Lieblings-Spruch von Sophie Scholl, eigentlich ein Zitat des französi- schen Philosophen Jacques Maritain)
! 1. Vorwort .................................................................................4 2. Der Komponist und der Librettist / Die Komposition und das Libretto ....5 2.1 Udo Zimmermann ......................................................................5 2.2 Wolfgang Willaschek ..................................................................6 3. Die Oper ................................................................................6 3.1 Die Form und der Inhalt ...............................................................6 3.2 Besetzung ..............................................................................10 3.3 Vorstellungstermine ..................................................................10 4. Die Weiße Rose ......................................................................11 4.1 Die Mitglieder der Weißen Rose ...................................................11 4.2 Hans Scholl ............................................................................11 4.3 Alexander Schmorell ................................................................12 4.4 Sophie Scholl .........................................................................12 4.5 Kurt Huber ............................................................................13 4.6 Christoph Probst .....................................................................13 4.7 Willi Graf ..............................................................................14 5. Widerstand (eine Begriffsklärung)...............................................15 6. Erinnerungskultur, was uns die Oper lehrt ....................................16 7. Was hätte ich getan? ..............................................................23 8. Wahrheit und Wirklichkeit ........................................................25 9. Original Material ....................................................................34 9.1 Tagebuch von Sophie Scholl .........................................................34 9.2 Flugblatt VI der weißen Rose .......................................................35 9.3 Gnadengesuch der Eltern der Geschwister Scholl ...............................36 9.4 Hinrichtungsprotokoll von Sophie Scholl .........................................38 10. Praxisteil (von Peter Przetak) ..................................................39 11. Theater macht Schule ............................................................40 12. Quellenverzeichnis ...............................................................41 13. Impressum ..........................................................................42 3
! 1. Vorwort Liebes Publikum, liebe LehrerInnen, liebe SchülerInnen, Ich freue mich, Ihnen das Begleitmaterial zu der besonderen Opernpremiere „Wei- ße Rose“ der Theater&Philharmonie Thüringen vorstellen zu dürfen. Es handelt sich bei der Oper, die verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen hat, um eine der meist gespielten zeitgenössischen Opern. Warum sie das ist, erschließt sich dabei nicht auf den ersten Blick. Denn, es gibt keine erkennbare Handlung, es findet keine Figurenentwicklung statt, die Situation ist zuständlich, die gesproche- nen, wie die gesungenen Texte folgen keiner erkennbaren Logik und in der Musik gibt es wenige Melodien, als auch wiederzuerkennende Phrasierungen. Doch genau deswegen, hat diese Produktion das Recht auf unserem Spielplan zu stehen. Denn wie geht man in einem Theater respektvoll mit Menschen um, die keine fiktiven Gestalten, sondern wirkliche Menschen waren? Wie erlebbar kann und darf die Tatsache dargestellt werden, dass die jungen Widerstandskämpfer der Weißen Rose, wobei Sophie Scholl mit 21 Jahren die jüngste war, für Flugblätter (sic!) vom NS-Regime zum Tode verurteilt wurden? Hans und Sophie Scholl wurden guillotiniert und das allein ist sinnstiftend sowohl für die Oper als auch für den Umgang des NS-Regimes mit dem Widerstand. Wenn Diktatoren Deutungshoheiten für sich beanspruchen denen eine Lüge zugrunde liegt, muss diese Lüge vor jeder Art von Entlarvung bewahrt werden- mit allen Mit- teln. In diesem Begleitmaterial also, versuchen wir Ihnen die Hintergründe der his- torischen Figuren, die Struktur der Oper aber vor allen Dingen, das nahe zu brin- gen, was Worte imstande sind zu bewegen, im Guten, wie im Bösen. Diese Zusam- menstellung kann sowohl für den Deutsch- als auch für den Geschichts- und Ethik- unterricht verwandt werden. Im zweiten Teil finden Sie Texte, die den Begriff „Erinnerungskultur“ in einen ge- schichtlichen Kontext stellen und im Folgenden haben wir uns dem Umstand genä- hert, auf welche rhetorischen Tricks sich die Propaganda von Populisten kapriziert, um emotionale Reaktionen zu provozieren. Um Ihnen fürderhin ein Bild über die Arbeit der Weißen Rose zu vermitteln und sie sozusagen näher rücken zu lassen, sind im Anhang Originaldokumente hinterlegt, incl. des Hinrichtungsprotokolls. Die letzen Worte der Geschwister-Scholl vor ihrer Hinrichtung waren: „ Es lebe die Freiheit.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Ihr Peter Przetak Leiter der TheaterFABRIK 4
! 2. Der Komponist und der Librettist / Die Komposition und das Li- bretto Der Begriff Libretto kommt ursprünglich aus dem Italienischen und heißt so viel wie „Büchlein“. So bezeichnet wird der Text einer Oper, einer Operette, eines Musicals oder auch einer Kantate und eines Oratoriums. Geschichte Der Begriff entstand bereits im 18. Jahrhundert und setzte sich im 19. Jahrhundert verstärkt durch, mit dem immer größeren Erfolg der Oper. Diese sollte, als Verbin- dung von Gesang und Text, die Antike Tragödie wiederbeleben. Das Opernlibretto als Text der Oper hatte dabei eine Schlüsselrolle und Librettisten waren geachtete und angesehene Künstler. Sie arbeiteten eng mit den Komponisten zusammen. In der Epoche der Romantik gewannen dagegen die Komponisten mehr an Bedeutung; viele Komponisten begannen auch, ihre Libretti selbst zu verfassen. Verhältnis Komposition zu Libretto Im Verhältnis zwischen Librettist und Komponist schwang immer die Frage mit, ob für eine Oper – und später eine Operette und das Musiktheater an sich – der Text oder die Vertonung wichtiger sei. Muss der Text der Musik gehorchen und sich der Komposition beugen oder muss die Musik dem Text folgen? In diesem Spannungsfeld entstehen auch heutige Libretti und Kompositionen. Ein Libretto gehorcht zudem anderen strukturellen Gesetzen als der gesprochene Text eines Dramas. Gesungener Text ist schwerer verständlich, die Komplexität muss daher reduziert werden, ein Libretto weist in der Regel viele Wiederholungen auf. Im Zusammenspiel mit der Musik definiert das Libretto so die Charaktere des Bühnenstücks, drückt Stimmun- gen und Emotionen aus. 2.1 Udo Zimmermann Geboren am 06.10.1943 in Dresden Ein deutscher Komponist und Professor. Er war Dirigent, Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste Berlin und Intendant des Europäischen Zentrums der Künste, Hellerau. Er war u.a. 1970 bis 1984 Dramaturg und Chefdramaturg an der Staatsoper Dresden, 1983 wurde er zum Ordentlichen Professor für experimentelles Musiktheater und Komposition an die Hochschule für Musik Dresden berufen, 1986 Direktor des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik, 1988 Leiter des "musica- viva-ensembles" Dresden, 1990 Intendant der Oper Leipzig (heute Ehrenmitglied), 1997 Künstlerischer Leiter der "musica viva" des Bayerischen Rundfunks, 2001 bis 2003 Generalintendant der Deutschen Oper Berlin. Opernwerke u.a.: "Weiße Rose", "Levins Mühle", "Die wundersame Schustersfrau", "Der Schuhu und die fliegende Prinzessin"; Orchester- und Kammermusikwerke. 5
! 2.2 Wolfgang Willaschek - geb. 1958 in Treuchtlingen / Mittelfranken. Er studierte Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg und war anschließend Dramaturg an der Hamburgischen Staatsoper und unter Rolf Liebermann Leiten- der Dramaturg (1986-1988). Daraufhin wurde er als Chefdramaturg an den Salz- burger Festspielen engagiert. Ab 1995 war er freiberuflicher Produktionsdrama- turg u.a. an Opernhäusern in Brüssel, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, Stuttgart, München, Zürich, St. Petersburg und San Francisco. Ab Sommer 1995 - Dezember 1996 wurde Wolfgang Willaschek Chefdramaturg des Schleswig-Holstein Musik Festivals, woraufhin er erneut als freischaffender Produktionsdramaturg arbeite- te. Er dehnte sein Tätigkeitsfeld aus und wurde Librettist und Autor. Bereits 1985 war er Lehrbeauftragter für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und dar- stellende Kunst in Hamburg. Seine Lehrtätigkeiten erweiterte Willaschek u. a. an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg und unterrichtet dort Medienbetriebs- technik an der Fachhochschule für Schiffbau in Hamburg und ist Lehrbeauftragter für Dramaturgie im Studiengang Schauspieltheaterregie, ebenfalls in Hamburg. 3. Die Oper Im Geburtsjahr von Udo Zimmermann wurden die Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose verurteilt. Udo Zimmermann rückt zwei von ihnen, Hans und Sophie Scholl, in den Mittelpunkt seiner Oper. Sie werden sterben, weil sie das Richtige getan und zum Widerstand gegen das Falsche aufgerufen haben. Die Komposition konzentriert sich auf die Stunde vor ihrer Hinrichtung: auf ihre Erinnerungen, Ge- danken, Träume, Gefühle und Forderungen an ihre Umwelt, nachzudenken und (es) ihnen nachzutun: „Sagt nicht, es ist fürs Vaterland!“ Wolfgang Willaschek verwob Briefstellen der historischen Personen mit Texten von Bonhoeffer, Fühmann und Ro- zewicz zu einem inneren Theater, das über das historisch Konkrete hinaus gegen die Gleichgültigkeit spricht und so direkt zu jedem von uns führt. Die Komposition macht das Orchester zum dritten stücktragenden Mitspieler und Kommentator. Von der anrührenden Lyrik, dem Schreien und dem brüllenden Marsch bis zu den viel- leicht stärksten Momenten in der Stille. 3.1 Die Form und der Inhalt Das Bühnengeschehen verzichtet vollständig auf eine äußere Handlung. Der zwar im Libretto nicht notierte aber gedankliche Hintergrund die letzte Stunde vor der Hin- richtung darzustellen, spiegelt sich im Bühnenbild wider, das mal Zelle, mal in sei- ner Offenheit, als ein Ort der Erinnerung sich zu verwandeln imstande ist. Den his- torischen Hintergrund bilden die Gefühle und Gedanken von Hans Scholl und seiner Schwester Sophie Scholl in der Stunde vor ihrer Hinrichtung am 22. Februar 1943. Die beiden Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose waren aufgrund ihrer Flugblattaktion gegen die faschistische Herrschaft vom Obersten Gerichtshof zum Tode verurteilt worden. Die Namen der anderen Gruppenmitglieder hatten sie nicht 6
! preisgegeben. Die Szenen der Oper bestehen aus Visionen, Selbstgesprächen und reflektierenden Monologen. Die beiden verarbeiten ihre Todesangst, bis sie ihr Schicksal letztlich annehmen. In den 16 epischen Szenen der Kammeroper „Weisse Rose“ wird auf die Lebenssi- tuation und die Schlüsselmomente der Protagonisten eingegangen. Das Libretto changiert dabei zwischen der Gewissheit von Hans und Sophie nicht umsonst ster- ben zu müssen, sondern für eine höhere Idee ihr Leben zu geben und der Reflexion auf den Erkenntnisprozess, den sie durchlebt haben. Der Blickwinkel von Hans und Sophie auf die Situation ist unterschiedlich. Hans er- scheint zuweilen nüchterner und gefasster, wobei er in manchem Ausbruch seiner Wut nachgibt, wohingegen sich Sophie an die Natur und den Glauben wendet, um der Angst vor dem Tode Herr zu werden. Auch das Ende der Oper ist dem Geiste der Geschwister Scholl verpflichtet. Im Hin- richtungsprotokoll wird vermerkt, dass sich beide gefasst und ohne Widerstand zu leisten, aufs Schafott führen liessen. Das Augenmerk der Oper richtet sich komplett auf das Innenleben der Geschwister Scholl und wird dabei durch die Musik unterstützt. Die Musik ist in ihrer Klarheit und Konzentriertheit zu großer Eindringlichkeit und Transzendenz fähig und konter- kariert das aufgewühlte Innenleben von Hans und Sophie. „Sie wussten, dass dieser Kampf gegen eines der unmenschlichsten Systeme mit ih- rem Tod enden konnte. Aber ihr Glaube an eine bessere, gerechtere Welt war so stark, dass der Gedanke an den Tod sie nicht zurückhielt“, so Udo Zimmermann über sein Werk. Szenenfolge der Weißen Rose 22. Februar 1943, zwischen 16 und 17 Uhr, Gefängnis München Stadelheim. I. „Gib Licht meinen Augen, oder ich entschlafe des Todes“ – Diese Textzeile stammt aus dem 13. Psalm. Sophie schrieb ihn am 12.12.1941 in ihr Tagebuch wäh- rend ihrer Arbeit im NSV-Kindergarten in Blumberg. Die erste Szene zeigt Hans und Sophie getrennt voneinander in ihren Zellen. Sie haben Angst vor dem was kommt, aber noch mehr davor schwach zu werden und ihre Ideale aufzugeben. Die Angst vor dem psychischen Tod ist viel größer als die vor dem physischen. II. „Mein Herz ist wach“ – Aus den Aufzeichnungen, die es von und über Sophie gibt, geht hervor, dass sie ein sehr feinfühliger, naturverbundener Mensch gewesen war. Dieser Charakterzug wird in der Szene aufgegriffen. Sie gleicht einer schönen Erinnerung, mit der Sophie sich aus der Zelle hinausträumt. III. „Schießt nicht“ – Die Erfahrungen als junger Arzt an der Front verfolgen Hans bis in seine Zelle. Hier handelt es sich um eine Erinnerung an eine Frau, die vor seinen Augen willkürlich erschossen wurde. Er konnte ihr nicht helfen. 7
! IV. „Dass es das gibt“ – ist eine Gegenüberstellung von scheinbar nicht vereinbaren Gegensätzen: Sophie beschreibt die Schönheit der Natur, während sich Hans’ Ge- danken mit dem Leid des Krieges beschäftigen. V. „Sie fahren in den Tod und singen“ – Als Kindergärtnerin sind Sophie die Depor- tationen von Kindern nicht verborgen geblieben. Die Szene ist geprägt von Hilflo- sigkeit und Ohnmacht. VI. „Wir haben eine Mauer aufgebaut“ – „Mein Pessimismus wird von Tag zu Tag größer. Die Skepsis vergiftet meine Seele, ich will fliehen, um sie zu retten; aber wohin? Verzweifelt errichte ich um mich eine Mauer, die da ist: Ironie, Satire.“ (Hans, 11.9.1942) – es zeigt die Fassungslosigkeit darüber, dass alle wuss- ten was passiert, aber nichts getan haben. Hans versucht mit Flugblättern an die Vernunft der Mitmenschen zu appellieren. VII. „Die Tür, die Tür schlägt zu“ – Sophie glaubt den Henker vor der Tür zu hören. VIII. „Sie haben ihr das Haar geschoren“ – Hans betrachtet die Konsequenzen sei- nes Handelns – war es die Sache Wert, die eigene Schwester mit in den Tod zu neh- men? IX. „Einmal noch möchte ich mit dir durch unsere Wälder laufen“ – Sophie erin- nert sich an die Zeit mit ihrem Freund Fritz zurück und ihr wird bewusst, dass diese nicht wieder kommen wird. X. „Ein Mann liegt regungslos erfroren“ – Die Bilder des Krieges holen Hans immer wieder ein. XI. Instrumentales Zwischenspiel XII. „Mein Gott ich kann nichts anderes als stammeln“ – Ein wichtiger Halt für die Geschwister ist ihr Glaube. XIII. „Nicht abseits stehn, weil es abseits kein Glück gibt.“ – „Ich kann nicht ab- seits stehn, weil es abseits kein Glück gibt, weil es ohne Wahrheit kein Glück gibt – und dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg um die Wahrheit.“ (Hans, 28.10.1941) Vor der Hinrichtung gab es ein letztes Treffen der Geschwister mit ihren Eltern. Die 13. Szene greift diese Begegnung auf und macht deutlich, dass die Geschwister ihre Kraft neben dem Glauben aus dem familiären Zusammenhalt geschöpft haben. XIV. „Die Vision vom Ende“ – Sophie hatte in der Nacht vor ihrem Tod einen Traum: Sie trägt ein Kind einen Berg hinauf, legt es ab und stürzt selbst in eine Gletscher- spalte – sie selbst interpretierte diesen Traum gegenüber einer Mitinhaftier- ten: das Kind ist die Idee der Weißen Rose, die auch bestehen bleibt, wenn sie selbst tot ist. Hans stellt sich die Frage, an welcher Stelle eigentlich Faschismus beginnt. 8
! XV. „Und mein Feind könnte sagen, über den ward ich Herr“ – Hierbei handelt es sich um die Fortsetzung des Psalms aus der 1. Szene. Hans und Sophie geben sich nicht geschlagen und bieten ihrem Feind die Stirn. XVI. „Nicht schweigen, nicht mehr schweigen“ – Über die Melodie eines deut- schen Volksliedes hinweg sind Appelle der „Weißen Rose“ zu hören. Zwischen den von Wolfgang Willaschek ausgewählten Texten im Libretto gibt es kaum kausale Zusammenhänge. So folgt das Werk anderen, assoziativen und mehr auf Emotionalität bedachte Gesetzmäßigkeiten. Zimmermann sagte selbst dazu: „Zwei Personen müssen eigentlich alle Gegenspie- ler, alle Aktionen in sich und fürs Publikum sichtbar spielen. Die beiden sollen in uns ständig Assoziationen vergegenwärtigen: die Unterdrückung, das totalitäre Sys- tem, Wahrheitssuche. Alles an ‚Umfeld‘ ist weggelassen, alle ‚Gegenspieler‘. Frei- lich kann man sagen, dass das ‚Umfeld‘ von den siebzehn Instrumentalisten reflek- tiert wird: Hier werden Schreie, Träume, Bosheit und Angst klangliche Gestalt.“ Zimmermanns Musik enthält Anklänge an die Tradition der protestantischen Kir- chenmusik von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach und das deutsche Lied Franz Schuberts oder Robert Schumanns. Die beiden Geschwister sind trotz aller Unterschiede durch eine „Leitmelodie“ mit- einander verbunden, was wiederum ihre Verwandtschaft und ihren gemeinsamen Geist klanglich veranschaulicht. Im Orchester gibt es gelegentlich Passagen die kei- ner Systematik folgen. „Martialische Secco-Akkordschläge“ stellen die Brutalität des Regimes dar. Demgegenüber sind die Vokalstimmen eher „lyrisch-melismatisch“ geführt. Darüber hinaus werden Texte von Sängern gesprochen, die je nach Insze- nierung mal melodramatisch, mal leise, mal anklagend interpretiert werden. Der erste Ton der Oper ist programmatisch, denn er ist als Fallbeil der herabfallen- den Guillotine zu identifizieren. Das Finale am Ende der Oper zitiert aus dem nationalsozialistischen Kampflied Wenn wir marschieren, ziehn wir zum deutschen Tor hinaus und verbindet die Aus- senwelt mit der Innenwelt der Geschwister Scholl, die sich dann auch direkt an das Publikum mit dem Appell wenden: „Es ist jetzt Zeit, Zeit zu bekennen! Die Stimme zu erheben! Aus sich heraus die Wahrheit schrein.“ 9
! Dies ist der letzte Brief von Sophie an Fritz Hartnagel, ihrem Verlobten, der in den Nachlasspapieren im Bundesarchiv überliefert ist. Sophie, inzwischen 21 Jahre alt, schreibt ihn 2 Tage vor Ihrer Verhaftung: Mein lieber Fritz! Gestern habe ich einen wunderbaren blühenden Stock gekauft, er steht vor mir auf dem Schreibtisch am hellen Fenster, seine graziösen Ranken, über und über mit zarten lila Blüten besetzt, schweben vor und über mir. Er ist meinen Augen und meinem Herzen eine rechte Freude, und ich wünschte mir nur, dass Du kommst, bevor er verblüht ist. Wann wirst Du nur kommen? Meine ersten Briefe werden Dich wohl kaum erreichen, sie waren falsch adressiert. Und ob diese dürftige Adresse genügt? Doch muß ich ja warten, bis Du zuerst mir schreibst... 3.2 Besetzung Hans Florian Neubauer Sophie Emma Moore Musikalische Leitung Takahiro Nagasaki Inszenierung Juliane Stephan Bühne, Kostüme Ronald Winter Dramaturgie Felix Eckerle 3.3 Vorstellungstermine Sa 10.02.2018 / 19:30 Uhr PREMIERE Bühne am Park Gera So 25.02.2018 / 18:00 Uhr Bühne am Park Gera Di 06.03.2018 / 18:00 Uhr Bühne am Park Gera Sa 17.03.2018 / 19:30 Uhr Bühne am Park Gera Sa 24.03.2018 / 19:30 Uhr Bühne am Park Gera 10
! 4. Die Weiße Rose 4.1 Die Mitglieder der Weißen Rose "Wenn die wilden Tiere ihr Gewahrsam gesprengt und unters Volk gelaufen sind, muß eben jeder, der einen starken Arm hat, nach der Waffe greifen, gleichgültig, welchen Standes und welcher inneren Berufung er ist", schrieb Hans Scholl im De- zember 1942 in einem Brief an seine Freundin Rose Nägele. Seine Waffen waren Worte und Papier. Gemeinsam mit seiner Schwester Sophie, Alexander Schmorell, Kurt Huber, Christoph Probst und Willi Graf bildete Hans Scholl den Kern der Weißen Rose. 4.2 Hans Scholl Hans Scholl wird am 22. September 1918 in Ingers- heim/Württemberg geboren. Als er 1933 der Hitlerju- gend (HJ) beitritt, geschieht das gegen den Willen sei- nes von Anfang an regimekritischen Vaters. 1935 unter- stehen Hans in der HJ als Fähnleinführer bis zu 150 Jungen. Doch seine Begeisterung für das dort organisierte Ge- meinschaftserlebnis lässt nach. Er fühlt sich doch mehr zu den freiheitlichen Idealen der bündischen Jugend hingezogen. Weil er Mitglied in einem der heimlich agierenden Bünde ist, wird Hans 1937 verhaftet und angeklagt. Während seines Medizinstudiums in München freundet er sich mit Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf an. Über einen Bekannten aus Ulm lernt er Carl Muth kennen, den Herausgeber der mittlerweile verbotenen katholischen Mo- natszeitschrift „Hochland“. Der ältere Herr beeinflusst Hans Scholl ebenso wie die Vorlesungen des regimekritischen Philosophieprofessors Kurt Huber. Vier Flugblätter haben Hans Scholl und Alexander Schmorell schon verfasst und ver- teilt, als sie zusammen mit Willi Graf im Sommer 1942 zur Frontfamulatur nach Russland abkommandiert werden. Anfang November kehren sie nach München zu- rück – bestärkt in dem Gefühl, etwas gegen dieses Regime und diesen Krieg unter- nehmen zu müssen. Bewegt durch die Katastrophe von Stalingrad verteilt Hans am 18. Februar 1943 gemeinsam mit seiner Schwester Sophie das sechste Flugblatt waghalsig am hell- lichten Tage in der Universität. Sie werden entdeckt, verhaftet, vier Tage später zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hans Scholl ist 24 Jahre alt. Seine letzten Worte: "Es lebe die Freiheit". 11
! 4.3 Alexander Schmorell Alexander Schmorell wird 1917 in Orenburg, Russ- land, geboren. Nach dem Tod seiner Mutter zieht sein deutschstämmiger Vater 1921 mit ihm nach München. Alexander aber wird sein Geburtsland immer als geistige Heimat betrachten, beschäftigt sich intensiv mit russischer Kunst und Literatur. Als er zum Wehrdienst eingezogen wird, bittet er vergeblich darum, wieder aus dem Militär entlassen zu werden. Er studiert zunächst in Hamburg, dann in München Medizin. Dort entdeckt er seine Begeis- terung für Bildhauerei und Zeichnen. An der Ost- front muss er in deutscher Uniform an einem Ver- nichtungskrieg gegen Russland teilnehmen. Als Hans und Sophie Scholl verhaftet werden, versucht Alex- ander Schmorell unterzutauchen. Doch er wird steckbrieflich gesucht und am 24. Februar während eines Bombenangriffs im Luftschutzkeller erkannt und verraten. Am 19. April 1943 wird er gemeinsam mit Willi Graf und Kurt Huber vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Er ist 25 Jahre alt, als er am 13. Juli durch das Fallbeil hingerichtet wird. 4.4 Sophie Scholl Sie war die einzige Frau im engsten Kreis der Weißen Rose und ist heute eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Widerstands überhaupt. Von den Filmen, die über die Wider- standsgruppe gedreht wurden, drehen sich mehrere in erster Linie um Sophie Scholl. Sophie Scholl wird am 9. Mai 1921 geboren. Wie ihr älterer Bruder begeistert sie sich zunächst für das Gemeinschafts- ideal, das der Nationalsozialismus verkündet. Anfang 1934 tritt sie in Ulm den Jungmädeln bei. Wie Hans ist sie dann aber auch in der verbotenen bündischen Jugend aktiv und wird deshalb 1937 von der Gestapo für kurze Zeit verhaftet. Immer deutlicher merkt sie schon als Schülerin, dass ihr eigenes libe- rales, christliches Denken sich mit der Steuerung durch die Partei nicht verträgt. Im Mai 1942 tritt Sophie Scholl ihr Philosophie- und Biologiestu- dium in München an und wird dort schnell in den Freun- deskreis ihres Bruders Hans aufgenommen. Im Januar 1943 hilft Sophie Scholl bei der Herstellung des fünften Flugblatts. Als sie von einem Besuch bei ihren El- tern zurückkehrt, ist das sechste bereits gedruckt, das sie mit Hans im Lichthof der Universität verteilt. Als nach ih- 12
! rer Verhaftung klar wird, dass die Beweislast gegen sie und ihren Bruder erdrü- ckend ist, versucht sie, sich als Hauptakteurin der Weißen Rose darzustellen, um die Freunde zu schützen. 4.5 Kurt Huber "Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt – die Wiederherstellung der Legalität." In seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof stellt Kurt Huber das national- sozialistische Russland als geistige Heimat, das bestehende NS-Herrschaftssystem an den Pran- ger: "Es gibt kein furchtbareres Urteil über eine Volksgemeinschaft als das Eingeständnis, das wir uns alle machen müssen, daß keiner sich vor sei- nem Nachbarn, der Vater nicht mehr vor seinen Söhnen, sicher fühlt." Kurt Huber wird am 24. Oktober 1893 in Chur in der Schweiz geboren. Er macht früh Karriere: Mit 24 ist er Doktor der Mu- sikwissenschaften, mit 27 Professor für Psycho- logie und Philosophie. Wie viele andere Intellek- tuelle sympathisiert er mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus. Zweifel kommen ihm, als er von Verbrechen des Regimes erfährt. Dass er politisch nicht ganz auf Linie der Nazis liegt, ist an der Münchner Universität nach 1940 ein offenes Geheimnis. In seinen Vorträgen würdigt er auch verbotene Werke jüdischer Denker. Die Mitglieder der Weißen Rose besuchen Hubers Vorlesung "Leibniz und seine Zeit", in der er die Ver- antwortung von Intellektuellen als Staatsbürger betont. Durch von der Front zu- rückgekehrte Studenten hört Kurt Huber von Massenmorden in Polen und der So- wjetunion. Ab Sommer 1942 trifft er sich auch privat mit dem Kern der Weißen Rose. Er beschließt, ihre Widerstandsarbeit aktiv zu unterstützen, verfasst das letz- te Flugblatt, mit dem Sophie und Hans Scholl erwischt werden. Bei seiner Hinrichtung am 13. Juli 1943 ist Kurt Huber 49 Jahre alt und hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. Am Schluss seiner Rede vor dem Volksgerichtshof zitiert er den Philosophen Johann Gottlieb Fichte: "Und handeln sollst du als hinge von dir und deinem Tun allein das Schicksal ab der deutschen Dinge, und die Verantwortung wär' dein." 4.6 Christoph Probst Anders als die Geschwister Scholl oder Professor Kurt Huber hat Christoph Probst nie Sympathien für den Nationalsozialismus gehegt. Geboren am 6. November 1919 im oberbayerischen Murnau, wächst er in einem durch religiöse und kulturelle Of- fenheit geprägten Elternhaus auf. Weil seine Stiefmutter Jüdin ist, erlebt Christoph Probsts Familie das Regime früh als bedrohlich. 13
! 1936 schließt er Freundschaft mit seinem Schulkameraden Alexander Schmorell, dem zuliebe er Russisch lernt. Mit 21 Jahren heiratet Christoph Probst Herta Dohrn, 1940 und 1941 werden ihre beiden Söhne geboren. Hertas Vater, der Privatlehrer Harald Dorn, ist ebenfalls regimekritisch eingestellt. Die Nazis werden ihn 1945 noch kurz vor Kriegsende erschießen. Durch Alexander Schmorell lernt Christoph Hans Scholl kennen, im Sommer 1942 trifft er Willi Graf. Er nimmt an den Lese- und Diskussionsabenden teil und wird in die Flugblattaktionen eingeweiht. Im Dezember wird er in Innsbruck stationiert. Seine Freunde wollen den Familienvater nun aus ihren gefährli- chen Aktivitäten heraushalten, aber Probst ist noch bei einigen Diskussionen über die Wider- standsarbeit dabei. Nach der Katastrophe von Stalingrad entwirft er ein Flugblatt, in dem er fordert: "Hitler und sein Regime müssen fallen, damit Deutschland lebt!" Zwei Tage nach der Verhaftung der Geschwister Scholl will der Freund sich den Urlaubsschein ab- holen, um seine neu geborene Tochter und seine an Kindbettfieber erkrankte Frau zu besuchen – und wird sofort festgenommen. Hans Scholl hatte den handschriftlichen Flug- blattentwurf bei sich getragen. Es ist das einzige Beweisstück, das die Gestapo gegen Christoph Probst hat. Mit 23 Jahren wird er am selben Tag hingerichtet wie Hans und Sophie Scholl. 4.7 Willi Graf Willi Graf wird am 2. Januar 1918 in Kuchenheim geboren und von seinen Eltern in Saarbrücken streng katholisch erzogen. Er wird Mitglied der katholischen Jungengruppe Neudeutschland, tritt später dem Jungenbund Grauer Orden bei. Auf Wanderfahrten und bei Zeltlagern diskutieren die Jungen über literarische und theologische Themen. Als die Mitgliedschaft in der Hitlerju- gend 1936 zur Pflicht wird, weigert Willi Graf sich dort einzutreten. Nach dem Arbeitsdienst beginnt er 1937 in Bonn sein Medizinstudium. Weil er weiterhin im Grauen Orden aktiv ist, kommt er 1938 ins Gefängnis. 1940 wird Willi Graf als Sanitäter in die Wehrmacht einberufen und wird in Jugoslawien, Polen und Russland Zeuge von Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Im April 1942 wird er in die Münchner Studen- tenkompanie von Hans Scholl und Alexander 14
! Schmorell versetzt. Er hilft dabei, das fünfte und sechste Flugblatt herzustellen und zu verteilen und zieht mit Hans und Alexander nachts los, um Parolen wie "Nie- der mit Hitler!" an Wände zu schreiben. Außerdem verfügt er über weit verstreute Kontakte, unternimmt Reisen, um ehemalige Kameraden aus der bündischen Ju- gend als Mitstreiter zu gewinnen. Wie Alexander Schmorell und Kurt Huber wird Willi Graf am 19. April 1943 zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung versucht die Gestapo sechs Monate lang, Namen anderer Oppositioneller aus ihm herauszupressen, aber er schweigt. Willi Graf wird 25 Jahre alt. 5. Widerstand (eine Begriffsklärung) Widerstand ist ein Relationsbegriff, der nicht aus sich selbst heraus verständlich ist. Erst im Verhältnis zu anderen Begriffen gewinnt er Bedeutung, wenn nämlich klar wird, gegen was oder wen sich der Widerstand richtet. Politischer Widerstand rich- tet sich gegen eine Herrschaftsordnung oder die in ihrem Rahmen ausgeübte Macht, der gegenüber Gehorsam verweigert wird. Damit wird "Herrschaft" zum entschei- denden Gegenbegriff zu "Widerstand". Herrschaft stiftet zwar Ordnung und setzt Recht; die Herrschenden sind aber zugleich an die Ordnung und das Recht gebun- den. Wo sie gegen Recht und Ordnung verstoßen, verlieren sie das Recht zu herr- schen und die Beherrschten die Pflicht zum Gehorsam. In der Konsequenz ist Wi- derstand zulässig, wenn nicht sogar geboten. Widerstand ist soziales Handeln gegen eine als illegitim wahrgenommene Herr- schaftsordnung. Entsprechend haben sich Praktiken und Rechtfertigungen politi- schen Widerstands analog zum Wandel der Herrschaftsformen verändert. Das Wi- derstandsdenken der Antike ist personalisiert und fokussiert auf den Tyrannen- mord. Im Mittelalter treten individueller Widerstand gegen einen Usurpator und kollektiver Widerstand gegen einen legitimen, aber tyrannischen Herrscher ausein- ander. In der Frühen Neuzeit wird der individuelle Widerstand im Sinne von Selbsthilfe depolitisiert, während der kollektive Widerstand zunehmend zivilisiert und institutionalisiert wird. In der parlamentarischen Opposition findet der kollek- tive Widerstand in der Moderne seinen formalen Platz als systemimmanenter und stabilisierender Widerstand, während individueller Widerstand kriminalisiert wird. In Autokratien, die keine Opposition zulassen, sind kollektiver und individueller Wi- derstand als politische Dissidenz kaum trennbar. Demgegenüber entwickeln sich in Demokratien Formen außerparlamentarischer Systemopposition und zivilen Ungehorsams, um Defizite demokratischer Herr- schaftssysteme auszugleichen. Im Zuge der Globalisierung und der Transnationali- sierung des Regierens wird auch internationale Politik zunehmend politisiert und aufgrund geringer Möglichkeiten zur formalen Opposition in Form transnationaler Proteste thematisiert. Transnationale Dissidenz ist deshalb ein Hinweis nicht nur für fehlende Foren institutionalisierter Opposition und insofern für ein wachsendes Le- gitimitätsdefizit internationaler Politik, sondern auch für die zunehmende Wahr- 15
! nehmung globaler Herrschaft jenseits des Nationalstaats.[29] Diese Herrschaft ist allerdings nicht hierarchisch, sondern heterarchisch und führt zu einer Diversifizi- rung des Widerstands in der postnationalen Konstellation. 6. Erinnerungskultur, was uns die Oper lehrt Die Oper „Weiße Rose“ ist nur ein Teil dessen was Erinnerungskultur in Deutschland gerade in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus bedeutet. Wir Menschen sind die einzige Spezies, die durch eine gemeinschaftlich erworbene Erkenntnis sich immer weiter zu entwickeln imstande ist. Durch Entdeckung, Kommunikation und Erinnerung sind wir in der Lage Erkenntnisse generationsübergreifend zu übermit- teln. Was aber bedeutet das in Bezug auf die Erinnerungskultur? Bloss erworbenes Wissen genügt nicht, um zu Erkenntnissen zu gelangen, dazu ist auch ein tief emp- fundene Unrechtsbewusstsein nötig, dass auf allgemein gültige moralisch-ethischen Werte basiert. Oder schlichter ausgedrückt, wir brauchen ein Gewissen, mit einem deutlichen Bekenntnis zur Menschlichkeit. Wie ist es um die Erinnerungskultur bestellt und wie wurde damit umgegangen im geteilten Deutschland nach 1945? Was können wir aus dem Vorbild der Geschwister- Scholl beispielhaft lernen? Dafür haben wir Ihnen die folgenden Kopiervorlagen zur Verfügung gestellt: 16
! Während in der Bundesrepublik die "Vergangenheitsbewältigung" ein ständi- ger Prozess war, erklärte die SED diese mit der "antifaschistisch-demokrati- schen Umwälzung" für beendet. Wie unterschied sich die Erinnerung in Ost und West und wo stehen wir heute? Edgar Wolfrum mit einem Überblick. Auferstanden aus Ruinen – Traditionssuche in West und Ost War die deutsche Geschichte nach der nationalsozialistischen Katastrophe 1945 an ihren Endpunkt gelangt? Welche historischen Haltepunkte ließen sich noch grei- fen, als Deutschland und Europa in Trümmern lagen? Die im Alltagschaos ste- ckenden gewöhnlichen Deutschen interessierte dies wenig, die Intellektuellen al- lerdings umso mehr. Beschwörung der guten deutschen Traditionen vor Hitler, kei- ne "Selbstverdunkelung" der deutschen Geschichte – so lautete das Rezept west- deutscher Historiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Osten triumphierte die These vom "Irrweg einer Nation" – mit der Pointe, dass nun, in der entstehenden DDR, dieser Irrweg endgültig verlassen worden sei: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt". Später, seit dem Ende der 1960er Jahre, sollten West-Historiker für die Bundesre- publik ebenfalls beanspruchen, dass diese den verhängnisvollen deutschen Son- derweg hinter sich gelassen habe und "Bonn" glücklicherweise nicht "Weimar" wurde. Bis zum Mauerbau 1961 konkurrierten die Deutungseliten beider deutschen Staaten erinnerungskulturell um das Verhältnis von Nation und Revolution – Kern war stets die Revolution von 1848/49. Im Osten sah man deren verpflichtendes Erbe in einer endlich zu schaffenden "einigen deutschen sozialen Republik" – im Westen hieß die Lehre "Einheit und Freiheit". Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde in der Bundesrepublik zum "Nationalfeiertag" erklärt, zum "Tag der deutschen Einheit". An ihn knüpften sich im Zeitverlauf unterschiedliche nationale Geschichtsbilder. Zuerst wurde er als Arbei- ter-, dann als Volksaufstand interpretiert. Anfangs sahen die meisten in ihm eine Erhebung für die Wiedervereinigung, dann, seit den 1960er Jahren, nur noch eine Freiheitsbewegung oder eine gescheiterte Revolution wie 1918/19 oder nur mehr einen sozialen Protest. Oftmals gab es einen Vergleich mit dem 20. Juli 1944 als einen Versuch, die totalitäre Diktatur zu stürzen. In der DDR wiederum kam es zum Versuch, einen sozialistischen Patriotismus zu generieren. Nach der nationalen Trennung bedeutete der Mauerbau die – wie es schien: endgültige – Teilung Deutschlands. Während die SED in den 1970er Jah- ren die "deutsche Nation" in der DDR-Verfassung eliminierte – was die meisten Ostdeutschen ablehnten –, beanspruchte die Bundesregierung mit der Neuen Ost- politik die Einheit der Nation zu wahren. Erinnerungskulturell fanden die beiden deutschen Gesellschaften Anfang der 1980er Jahre wieder zusammen. 17
! Zahlreiche Gedenkanlässe öffneten Schleusen der Erinnerung. Im Westen brach ein regelrechter Geschichtsboom aus, "von unten" befördert durch unzählige Ge- schichtswerkstätten. Und im Osten erwies sich das "Erbe und Tradition"-Programm der SED, das eine gefühlsmäßige Bindung an die "Nation DDR" bewirken sollte, als Bumerang: Die Vergangenheit – sei es Luther, Friedrich der Große oder gar Bismarck – stimulierte bei den Menschen gesamtdeutsche Gefühle und Solidarität und zwar nicht als vergangene Geschichtsnation, sondern in der Gegenwart. Moral und Pragmatismus – Das Erbe des Nationalsozialismus Angesichts des Kalten Krieges trat die Moral hinter dem Pragmatismus zurück. Was bedeutet dies? In der Bundesrepublik lautete 1949 die Frage: Demokratisie- rung und gesellschaftliche Integration der NS-Funktionseliten, also der mittleren Garnitur, oder vorbehaltlose Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen. In einer Art großen Koalition entschied man sich für den ersten Weg – ein allgemeiner Rechtfertigungsdrang und ein gemeinschaftlicher Wille, sich von Schuld und Ver- antwortung frei zu sprechen verband die meisten Deutschen miteinander. Vom Ho- locaust war bis zum Ende der 1950er Jahre kaum die Rede. In der Öffentlichkeit wurde das "Dritte Reich" weitgehend totgeschwiegen. Nur Min- derheiten, meist Opfergruppen, wagten die Schuld verdrängende Verharmlosung, die Vergangenheitsabwehr und die Schuldabwälzung zu stören. Im populären Ge- schichtsbild der Zeit erschien der Nationalsozialismus als unerklärlicher Einbruch, als Heimsuchung, ja Verhängnis und Hitler als Dämon. Außerdem wurden die NS- Diktatur und die SED-Diktatur über denselben Kamm geschoren und nach dem Mauerbau 1961 erschien die DDR nicht wenigen als ein KZ. Halbheiten bestimm- ten die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Israel erhielt zwar Entschädigungszahlungen, doch in der Wiedergutmachung steckte zu viel Kalkül und Außenpolitik, als dass sie moralisch voll überzeugte: Gezahlt wurde dort, wo es die internationale – und das bedeutete damals: westliche – Reputation der Bundesrepublik gebot, im Westen. Osteuropäische Opfer gingen leer aus. Das Klima und mit ihm die Erinnerung wandelte sich seit etwa 1958, als antisemiti- sche Skandale die Republik erschütterten. Weit reichende Folgen ergaben sich aus den Reaktionen: Die Kultusminister verabschiedeten neue Richtlinien für den Ge- schichtsunterricht, der Gesetzgeber schuf den Straftatbestand der "Volksverhet- zung" und auf Betreiben von Opfergruppen wurden endlich Gedenkstätten gebaut. Ferner richteten die Landesjustizminister die "Zentrale Stelle zur Aufarbeitung na- tionalsozialistischer Verbrechen" ein, womit sie die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern vorantrieben. 18
! Intellektuelle wie Rolf Hochhuth kritisierten den Umgang mir der NS-Vergangenheit offen und ein Generationenkonflikt radikalisierte den Umgang mit der Vergangen- heit. Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag seit 1965 – Mord verjährte nach 20 Jahren, durfte NS-Völkermord verjähren? – verzeichneten eine ebenso breite öffentliche Resonanz wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem oder der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Seit dem Machtwechsel von 1969 politisierte und polarisierte sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Willy Brandt (SPD), ehe- mals Widerstandskämpfer, verstand sich als "Kanzler eines befreiten Deutschland". Doch die CDU/CSU-Opposition klagte: Die Kapitulation von 1945 könne man nicht feiern. Viele Konservative lehnten die "linksliberale" Vergangenheitsbewältigung ab – eine solche "Dauerbüßeraufgabe" würde das deutsche Selbstwertgefühl auf ewig traumatisieren. 1979 dann – ein Medienereignis. Die amerikanische TV-Serie "Holocaust" ver- zeichnete in der Bundesrepublik eine sensationelle Sehbeteiligung. Sieben Jahre später wurde im "Historikerstreit" um die Identität der Bundesrepublik gestritten – und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung fiel deutlich aus: Konstitutiv für den bundesdeutschen Rechtsstaat und seine geistige Westbindung blieb der Erinne- rungsimperativ an den Nationalsozialismus. 19
! Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR Während in der Bundesrepublik die Vergangenheits- bewältigung ein ständiger und zwischen zahlreichen Gruppen umstrittener Prozess war, erklärte die SED, dass mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" 1945-1949 der Nationalsozialismus mit Stumpf und Stil "ausgerottet" worden sei. Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte jegliche Haftungspflichten für die Vergangenheit ab. Hitler, so konnte man meinen, sei ein Westdeutscher gewesen. Im Gründungsmythos der DDR hatten deutsche Antifaschisten an der Seite der Sowjetunion die Hitler-Diktatur besiegt und dann das neue Deutschland geschaf- fen. Die großen Nazis wurden abgeurteilt, die mittleren und kleineren "domestizier- te" die SED in der eigens dafür geschaffenen national- demokratischen Blockpartei. Der Antifaschismus war Staatsdoktrin und außenpoli- tisch die unangreifbare Existenzberechtigung der DDR – quasi ihr Alleinvertre- tungsanspruch. Da jedoch die allerwenigsten DDR-Bürger Widerstandskämpfer gewesen waren, musste über Rituale, Denkmäler, Schule und Künste dieser Antifaschismus in das kollektive Gedächtnis eingepflanzt werden. Daraus erklärt sich, dass die DDR flä- chendeckend mit Denkmälern und Erinnerungstafeln übersät war. Und das ehema- lige KZ Buchenwald machte die SED mit enormem Aufwand zum Gedächtnisort des heroischen kommunistischen Widerstands gegen das "Dritte Reich". Sie erkor es zum "roten Olymp". Es wäre freilich zu kurz gegriffen, den DDR-Antifaschismus nur als von oben "ver- ordnet" zu bezeichnen. Bei vielen DDR-Bürgern bildeten sich antifaschistische Ein- stellungen aus und hielten sich bis zum Untergang des zweiten deutschen Staates, teils darüber hinaus. Allerdings wurde der Nationalsozialismus über die Kategorie "Faschismus" gleichsam universalisiert – mit fatalen Folgen. Der Nationalsozialismus unterschied sich bekanntlich von allen anderen faschisti- schen Bewegungen dadurch, dass er den überall vorhandenen Antisemitismus mit der Konsequenz der absoluten Vernichtung betrieben hatte. Doch genau diesen Wesenskern verschwieg die ostdeutsche Erinnerung, da der Holocaust nicht in das Klassenschema passte. In der Auflösungsphase der DDR kam plötzlich ein prag- matischer Zug in die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Erich Honecker strebte danach, die internationale Anerkennung der DDR mit einem Besuch in Washington zu krönen und war – dies verlangten die USA dafür – 1988 bereit, jüdische Opfer zu entschädigen. Die DDR stieg somit am Vorabend ihres Untergangs vom hohen Ross des "Siegers der Geschichte" herab und wurde, was die Bundesrepublik immer war: ein Nachfolgestaat des "Dritten Reiches". 20
! Gesamtdeutsche und europäische Erinnerungskultur – Wo stehen wir heute? Die wichtigsten neuen Konstellationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts las- sen sich in elf Punkten skizzieren: 1 Alle Vergangenheitsdebatten werden mittlerweile von Normierungen beglei- tet. Dies gilt für die nationale Ebene – hier sichtbar im jüngst verabschiedeten bun- desdeutschen Gedenkstättenkonzept. Es trifft jedoch auch für die europäische Ebene zu, was die Stockholmer Holocaust- 2 Konferenz im Jahr 2000 verdeutlichte, die als Geburtsstunde eines offiziel- len europäischen Gedächtnisses gilt und den Beginn transnationaler Kooperation im Bereich der Holocaust-Erinnerung markiert. 3 Als eine Folge der doppelten Vergangenheitsbewältigung, also des Um- gangs mit der braunen wie mit der roten Diktatur, gelangt die Totalitarismustheorie zu neuen Ehren und zwar in Deutschland wie in ganz Europa, wobei ein Gefälle sichtbar wird: Während im Westen des Kontinents der Nationalsozialismus wie bis- her als größte Katastrophe betrachtet wird, erscheint dieser im Osten gegenüber dem Kommunismus als die (zum Teil) weitaus kleinere. 4 Welche Themen auf die erinnerungspolitische Agenda gelangen, hängt stark mit den Massenmedien zusammen. Man kann formulieren: Erinnert wird, was mas- senmedial präsentabel ist. 5 Die NS-Vergangenheit bleibt in Deutschland als negatives Bezugsereignis der Dreh- und Angelpunkt (siehe das Holocaust-Mahnmal in Berlin). Sie gerät in- dessen unter dem Druck der erinnerungspolitischen Globalisierung zu einem politi- schen Argument für Menschenrechtspolitik. Die Chiffre "Auschwitz" wird zu einem Passepartout für militärische Interventionen – man sah dies im Jugoslawienkrieg. Da es in den Kriegen auf dem Balkan offenbar um die Verhinderung eines Völker- mordes bzw. eines "zweiten Auschwitz" ging, konnte Außenminister Joschka Fi- scher selbst seine pazifistische grüne Partei mehrheitlich dazu bringen, deutschen Militäreinsätzen zuzustimmen. 6 War die deutsche Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte in Zei- ten des Ost-West-Konflikts eine "halbierte" Politik, weil sie den Osten aus- klammerte, so wurde infolge der Epochenwende diese halbierte Vergangen- heitspolitik mit der Zwangsarbeiterentschädigung 2000 endlich bereinigt. 7 Zum Teil dramatisch verschoben hat sich die Debatte um die Opfer: Dass Deutsche auch Opfer des von ihnen selbst entfesselten Zweiten Welt- kriegs waren, wird heute nicht mehr bestritten. Deutsches Schuldbewusstsein behindert nicht mehr die Vergegenwärtigung eigener traumatischer Erfahrung von Flucht und Vertreibung oder Bombenkrieg. Wichtiger aber noch scheint, dass die Opfer des Kommunismus die hegemoniale Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sprengen und auch auf den Feldern von Wiedergut- machung und Entschädigung in Konkurrenz zu diesen stehen. 21
! 8 Das vereinigte Deutschland stieg spätestens im Jahr 2005 zu einer Art retrospek- tiven Siegermacht des Zweiten Weltkrieges auf. Bei den Feiern anlässlich des 60. Jahrestages des "D-Days" und damit des Sieges über Hitlers "Drittes Reich" muss- ten sich der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und seine Delegation nicht mehr verstecken. Die geglückte deutsche Demokratie wurde durch die Regierungsprä- senz im Kreis der ehemaligen Alliierten geadelt. 9 In Deutschland selbst ist – nicht zuletzt als Folge des Generationenwechsels – der vormals bezweifelte Patriotismus oder gar der "negative Patriotismus" über- wunden, stattdessen macht sich Identitätssicherheit und ein "fröhlicher Patriotis- mus" der Deutschen breit, der andere Vater- und Mutterländer einschließt. Insofern war das "Sommermärchen" der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 kein Strohfeuer, sondern ein Symptom des Wandels. 10 Auch auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung, ihren Formen, Inhalten und Erfordernissen ist Deutschland zu einem Exportweltmeister geworden. An die- ser "DIN-Norm" reiben sich jedoch einige Länder, die eigene Wege gehen möchten und nicht einsehen wollen, warum die Deutschen immer die "Besten" sein müssen: Erst verüben sie die größten Verbrechen – was mit Blick auf den Holocaust und den NS-Vernichtungskrieg zutrifft; dann verarbeiten sie diese mit der besten Ver- gangenheitsbewältigung, - was man im Rückblick von 60 Jahren trotz Rückschlä- gen und Skandalen durchaus behaupten kann. 11 Anders als die NS-Herrschaft hat die SED-Herrschaft in der politischen Kul- tur des gegenwärtigen Deutschland noch keinen festen historischen Ort, keine kla- re gesamtgesellschaftliche Aneignung gefunden, sondern bleibt umkämpft und er- fahrungsgeschichtlich gespalten. Der Untergang der DDR hat nicht dieselbe konsti- tutive Bedeutung wie die Befreiung vom Nationalsozialismus – aber die Rückwir- kungen des Kollaps´ des Kommunismus auf die politische Kultur Europas und Deutschlands könnten sich in längerer Perspektive als wirkungsmächtiger erwei- sen, als wir dies heute glauben. Mit Blick auf Nationalsozialismus und Kommunis- mus bestehen Ungleichgewichte und Spaltungen zwischen West- und Ostdeutsch- land – somit kann man von einer geteilten deutschen Geschichtskultur sprechen. Diese Spaltungen sind ihrerseits wiederum der gesamteuropäischen Erinnerungs- landschaft geschuldet, auf die sie verweisen. 22
! 7. Was hätte ich getan? Das Bedeutsame bei Sophie und Hans Scholl ist der Umstand, dass sie sich bevor sie sich zum Widerstand entschlossen, bei dieser „Bewegung“ mitliefen, solange bis ihnen Zweifel kamen und ihnen bewusst wurde, dass sie einer Lüge aufgesessen sind. Die Frage die sich in diesem Kontext stellt, ist die des Gewissens. Wie bildet es sich? Worauf muss sich ein Unrechtsbewusstsein stützen? Im Folgenden lassen wir einige Philosophen und Intellektuelle zu Worte kommen. Dies kann als Gesprächs- grundlage für Ihren Unterricht dienen, um grundsätzlichen Fragen des Menschseins auf die Spur zu kommen. Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814): Das Gewissen ist »das unmittelbare Bewußt- sein unserer bestimmten Pflicht«, das »Bewußtsein unserer höheren Natur und ab- soluten Freiheit«. Die allgemeinste ethische Forderung lautet: »Erfülle jedesmal deine Bestimmung!« (Forderung des sittlichen Triebes). Oder: »Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht«, oder: »Handle nach deinem Gewissen«. Das ist das Prinzip der Moralität (Gesinnung), das formale Sittengesetz. Das Sitten- gesetz gebietet, »jedes Ding nach seinem Endzwecke zu behandeln«. Moralität al- ler vernünftigen Wesen ist Endzweck; wir sollen alle gleich handeln. Arthur Schopenhauer (1788 bis 1866): Die "Haupt- und Grundtriebfeder" im Men- schen wie auch im Tier macht der Egoismus aus. Der Egoismus ist der "Drang zum Daseyn und Wohlseyn" oder der Wille zum Leben, leben um jeden Preis. Er ver- mehrt das Leiden unabsehbar: "Der Mensch will unbedingt sein Daseyn erhalten, will es von Schmerzen, zu denen auch aller Mangel und Entbehrung gehört, unbe- dingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlseyn, und will jeden Genuß, zu dem er fähig ist, ja, sucht wo möglich noch neue Fähigkeiten zum Genusse in sich zu entwickeln. Alles, was sich dem Streben seines Egoismus entgegenstellt, erregt seinen Unwil- len, Zorn, Haß: er wird es als seinen Feind zu vernichten suchen.[...] Denn, wenn jedem Einzelnen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung; so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie, bei den Allermeisten, ausschlagen würde.“ Aristoteles (384 v. Chr.- 322 v. Chr.): „Das den Menschen spezifische Handeln, kommt zustande durch die Klugheit und durch die ethische Tugend. Und zwar be- wirkt die Tugend, dass das Ziel richtig ist, und die Klugheit, dass man die richtigen Mittel dazu wählt.“ Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossen- bürg): war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. „Es ist zwar nicht wahr, daß der Erfolg auch die böse Tat und die verwerflichen Mit- tel rechtfertigt, aber ebenso wenig ist es möglich den Erfolg als etwas ethisch völ- lig Neutrales zu betrachten.“ 23
! Immanuel Kant (* 22. April 1724 in Königsberg, Preußen; † 12. Februar 1804 eben- da) Das Gewissen ist "ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist". Ein keines Bewei- ses bedürftiger Grundsatz ist: "man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es un- recht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.)". "Das Bewußtsein also, daß eine Hand- lung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin notwendig, von allen möglichen Handlungen zu wis- sen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht un- recht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Proba- bilismus, d. i. der Grundsatz entgegengesetzt ist, daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen." Das Gewissen ist "die sich selbst richtende moralische Urteilskraft". Prof. Dr. Richard Schröder (geb. 1943): „Gewissen hat immer nur das Individuum, und zwar für sein eigenes tun, wie auch Verantwortung immer nur das Individuum wahrnehmen kann. „Die Gesellschaft” hat weder ein Gewissen, noch kann sie Ver- antwortung tragen. allein Individuen können Verantwortung übernehmen, für sich, für andere und auch für gesellschaftliche Belange. Sozialethik wird auch aus- schließlich von Individuen betrieben.“ Friedrich Wilhelm Nietzsche (geb. 15. Oktober 1844 in Röcken - 25. August 1900 in Weimar): „Sein Gewissen?... Es läßt sich vorauserraten, daß der Begriff »Gewis- sen«, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gut- sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht – wie lange mußte diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn – niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiß auch alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war! – »Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?“ 24
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