Begleitmaterial Weiße Rose - Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) - Bühnen der Stadt Gera

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Begleitmaterial Weiße Rose - Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) - Bühnen der Stadt Gera
Begleitmaterial

          Weiße Rose

  Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten
                (Neufassung 1985)
        Libretto von Wolfgang Willaschek
          Musik von Udo Zimmermann
Zum 75. Gedenkjahr an die Widerstandsbewegung
                   Ab 13 Jahren
Begleitmaterial Weiße Rose - Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) - Bühnen der Stadt Gera
„Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben!“

(Ein Lieblings-Spruch von Sophie Scholl, eigentlich ein Zitat des französi-
                    schen Philosophen Jacques Maritain)
Begleitmaterial Weiße Rose - Szenen für 2 Sänger und 15 Instrumentalisten (Neufassung 1985) - Bühnen der Stadt Gera
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1. Vorwort .................................................................................4
2. Der Komponist und der Librettist / Die Komposition und das Libretto ....5
      2.1 Udo Zimmermann ......................................................................5
      2.2 Wolfgang Willaschek ..................................................................6
3. Die Oper ................................................................................6
      3.1 Die Form und der Inhalt ...............................................................6
      3.2 Besetzung ..............................................................................10
      3.3 Vorstellungstermine ..................................................................10
4. Die Weiße Rose ......................................................................11
      4.1 Die Mitglieder der Weißen Rose ...................................................11
      4.2 Hans Scholl ............................................................................11
      4.3 Alexander Schmorell ................................................................12
      4.4 Sophie Scholl .........................................................................12
      4.5 Kurt Huber ............................................................................13
      4.6 Christoph Probst .....................................................................13
      4.7 Willi Graf ..............................................................................14
5. Widerstand (eine Begriffsklärung)...............................................15
6. Erinnerungskultur, was uns die Oper lehrt ....................................16
7. Was hätte ich getan? ..............................................................23
8. Wahrheit und Wirklichkeit ........................................................25
9. Original Material ....................................................................34
      9.1 Tagebuch von Sophie Scholl .........................................................34
      9.2 Flugblatt VI der weißen Rose .......................................................35
      9.3 Gnadengesuch der Eltern der Geschwister Scholl ...............................36
      9.4 Hinrichtungsprotokoll von Sophie Scholl .........................................38
10. Praxisteil (von Peter Przetak) ..................................................39
11. Theater macht Schule ............................................................40
12. Quellenverzeichnis ...............................................................41
13. Impressum ..........................................................................42

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1. Vorwort
Liebes Publikum, liebe LehrerInnen, liebe SchülerInnen,

Ich freue mich, Ihnen das Begleitmaterial zu der besonderen Opernpremiere „Wei-
ße Rose“ der Theater&Philharmonie Thüringen vorstellen zu dürfen.
Es handelt sich bei der Oper, die verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen hat,
um eine der meist gespielten zeitgenössischen Opern. Warum sie das ist, erschließt
sich dabei nicht auf den ersten Blick. Denn, es gibt keine erkennbare Handlung, es
findet keine Figurenentwicklung statt, die Situation ist zuständlich, die gesproche-
nen, wie die gesungenen Texte folgen keiner erkennbaren Logik und in der Musik
gibt es wenige Melodien, als auch wiederzuerkennende Phrasierungen.

Doch genau deswegen, hat diese Produktion das Recht auf unserem Spielplan zu
stehen. Denn wie geht man in einem Theater respektvoll mit Menschen um, die
keine fiktiven Gestalten, sondern wirkliche Menschen waren? Wie erlebbar kann
und darf die Tatsache dargestellt werden, dass die jungen Widerstandskämpfer der
Weißen Rose, wobei Sophie Scholl mit 21 Jahren die jüngste war, für Flugblätter
(sic!) vom NS-Regime zum Tode verurteilt wurden?

Hans und Sophie Scholl wurden guillotiniert und das allein ist sinnstiftend sowohl
für die Oper als auch für den Umgang des NS-Regimes mit dem Widerstand. Wenn
Diktatoren Deutungshoheiten für sich beanspruchen denen eine Lüge zugrunde
liegt, muss diese Lüge vor jeder Art von Entlarvung bewahrt werden- mit allen Mit-
teln. In diesem Begleitmaterial also, versuchen wir Ihnen die Hintergründe der his-
torischen Figuren, die Struktur der Oper aber vor allen Dingen, das nahe zu brin-
gen, was Worte imstande sind zu bewegen, im Guten, wie im Bösen. Diese Zusam-
menstellung kann sowohl für den Deutsch- als auch für den Geschichts- und Ethik-
unterricht verwandt werden.

Im zweiten Teil finden Sie Texte, die den Begriff „Erinnerungskultur“ in einen ge-
schichtlichen Kontext stellen und im Folgenden haben wir uns dem Umstand genä-
hert, auf welche rhetorischen Tricks sich die Propaganda von Populisten kapriziert,
um emotionale Reaktionen zu provozieren. Um Ihnen fürderhin ein Bild über die
Arbeit der Weißen Rose zu vermitteln und sie sozusagen näher rücken zu lassen,
sind im Anhang Originaldokumente hinterlegt, incl. des Hinrichtungsprotokolls. Die
letzen Worte der Geschwister-Scholl vor ihrer Hinrichtung waren:
„ Es lebe die Freiheit.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Ihr Peter Przetak
Leiter der TheaterFABRIK

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2. Der Komponist und der Librettist / Die Komposition und das Li-
bretto
Der Begriff Libretto kommt ursprünglich aus dem Italienischen und heißt so viel wie
„Büchlein“. So bezeichnet wird der Text einer Oper, einer Operette, eines Musicals
oder auch einer Kantate und eines Oratoriums.

Geschichte
Der Begriff entstand bereits im 18. Jahrhundert und setzte sich im 19. Jahrhundert
verstärkt durch, mit dem immer größeren Erfolg der Oper. Diese sollte, als Verbin-
dung von Gesang und Text, die Antike Tragödie wiederbeleben. Das Opernlibretto
als Text der Oper hatte dabei eine Schlüsselrolle und Librettisten waren geachtete
und angesehene Künstler. Sie arbeiteten eng mit den Komponisten zusammen. In
der Epoche der Romantik gewannen dagegen die Komponisten mehr an Bedeutung;
viele Komponisten begannen auch, ihre Libretti selbst zu verfassen.

Verhältnis Komposition zu Libretto
Im Verhältnis zwischen Librettist und Komponist schwang immer die Frage mit, ob
für eine Oper – und später eine Operette und das Musiktheater an sich – der Text
oder die Vertonung wichtiger sei. Muss der Text der Musik gehorchen und sich der
Komposition beugen oder muss die Musik dem Text folgen? In diesem Spannungsfeld
entstehen auch heutige Libretti und Kompositionen. Ein Libretto gehorcht zudem
anderen strukturellen Gesetzen als der gesprochene Text eines Dramas. Gesungener
Text ist schwerer verständlich, die Komplexität muss daher reduziert werden, ein
Libretto weist in der Regel viele Wiederholungen auf. Im Zusammenspiel mit der
Musik definiert das Libretto so die Charaktere des Bühnenstücks, drückt Stimmun-
gen und Emotionen aus.

2.1 Udo Zimmermann
Geboren am 06.10.1943 in Dresden
Ein deutscher Komponist und Professor. Er war Dirigent, Direktor der Sektion Musik
der Akademie der Künste Berlin und Intendant des Europäischen Zentrums der
Künste, Hellerau. Er war u.a. 1970 bis 1984 Dramaturg und Chefdramaturg an der
Staatsoper Dresden, 1983 wurde er zum Ordentlichen Professor für experimentelles
Musiktheater und Komposition an die Hochschule für Musik Dresden berufen, 1986
Direktor des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik, 1988 Leiter des "musica-
viva-ensembles" Dresden, 1990 Intendant der Oper Leipzig (heute Ehrenmitglied),
1997 Künstlerischer Leiter der "musica viva" des Bayerischen Rundfunks, 2001 bis
2003 Generalintendant der Deutschen Oper Berlin. Opernwerke u.a.: "Weiße Rose",
"Levins Mühle", "Die wundersame Schustersfrau", "Der Schuhu und die fliegende
Prinzessin"; Orchester- und Kammermusikwerke.

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2.2 Wolfgang Willaschek
- geb. 1958 in Treuchtlingen / Mittelfranken. Er studierte Musiktheaterregie an der
    Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg und war anschließend
    Dramaturg an der Hamburgischen Staatsoper und unter Rolf Liebermann Leiten-
    der Dramaturg (1986-1988). Daraufhin wurde er als Chefdramaturg an den Salz-
    burger Festspielen engagiert. Ab 1995 war er freiberuflicher Produktionsdrama-
    turg u.a. an Opernhäusern in Brüssel, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, Stuttgart,
    München, Zürich, St. Petersburg und San Francisco. Ab Sommer 1995 - Dezember
    1996 wurde Wolfgang Willaschek Chefdramaturg des Schleswig-Holstein Musik
    Festivals, woraufhin er erneut als freischaffender Produktionsdramaturg arbeite-
    te. Er dehnte sein Tätigkeitsfeld aus und wurde Librettist und Autor. Bereits 1985
    war er Lehrbeauftragter für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und dar-
    stellende Kunst in Hamburg. Seine Lehrtätigkeiten erweiterte Willaschek u. a. an
    der Hochschule für Gestaltung in Hamburg und unterrichtet dort Medienbetriebs-
    technik an der Fachhochschule für Schiffbau in Hamburg und ist Lehrbeauftragter
    für Dramaturgie im Studiengang Schauspieltheaterregie, ebenfalls in Hamburg.

3. Die Oper
Im Geburtsjahr von Udo Zimmermann wurden die Mitglieder der Widerstandsgruppe
Weiße Rose verurteilt. Udo Zimmermann rückt zwei von ihnen, Hans und Sophie
Scholl, in den Mittelpunkt seiner Oper. Sie werden sterben, weil sie das Richtige
getan und zum Widerstand gegen das Falsche aufgerufen haben. Die Komposition
konzentriert sich auf die Stunde vor ihrer Hinrichtung: auf ihre Erinnerungen, Ge-
danken, Träume, Gefühle und Forderungen an ihre Umwelt, nachzudenken und (es)
ihnen nachzutun: „Sagt nicht, es ist fürs Vaterland!“ Wolfgang Willaschek verwob
Briefstellen der historischen Personen mit Texten von Bonhoeffer, Fühmann und Ro-
zewicz zu einem inneren Theater, das über das historisch Konkrete hinaus gegen die
Gleichgültigkeit spricht und so direkt zu jedem von uns führt. Die Komposition
macht das Orchester zum dritten stücktragenden Mitspieler und Kommentator. Von
der anrührenden Lyrik, dem Schreien und dem brüllenden Marsch bis zu den viel-
leicht stärksten Momenten in der Stille.

3.1 Die Form und der Inhalt
Das Bühnengeschehen verzichtet vollständig auf eine äußere Handlung. Der zwar im
Libretto nicht notierte aber gedankliche Hintergrund die letzte Stunde vor der Hin-
richtung darzustellen, spiegelt sich im Bühnenbild wider, das mal Zelle, mal in sei-
ner Offenheit, als ein Ort der Erinnerung sich zu verwandeln imstande ist. Den his-
torischen Hintergrund bilden die Gefühle und Gedanken von Hans Scholl und seiner
Schwester Sophie Scholl in der Stunde vor ihrer Hinrichtung am 22. Februar 1943.
Die beiden Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose waren aufgrund ihrer
Flugblattaktion gegen die faschistische Herrschaft vom Obersten Gerichtshof zum
Tode verurteilt worden. Die Namen der anderen Gruppenmitglieder hatten sie nicht
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preisgegeben. Die Szenen der Oper bestehen aus Visionen, Selbstgesprächen und
reflektierenden Monologen. Die beiden verarbeiten ihre Todesangst, bis sie ihr
Schicksal letztlich annehmen.

In den 16 epischen Szenen der Kammeroper „Weisse Rose“ wird auf die Lebenssi-
tuation und die Schlüsselmomente der Protagonisten eingegangen. Das Libretto
changiert dabei zwischen der Gewissheit von Hans und Sophie nicht umsonst ster-
ben zu müssen, sondern für eine höhere Idee ihr Leben zu geben und der Reflexion
auf den Erkenntnisprozess, den sie durchlebt haben.
Der Blickwinkel von Hans und Sophie auf die Situation ist unterschiedlich. Hans er-
scheint zuweilen nüchterner und gefasster, wobei er in manchem Ausbruch seiner
Wut nachgibt, wohingegen sich Sophie an die Natur und den Glauben wendet, um
der Angst vor dem Tode Herr zu werden.
Auch das Ende der Oper ist dem Geiste der Geschwister Scholl verpflichtet. Im Hin-
richtungsprotokoll wird vermerkt, dass sich beide gefasst und ohne Widerstand zu
leisten, aufs Schafott führen liessen.
Das Augenmerk der Oper richtet sich komplett auf das Innenleben der Geschwister
Scholl und wird dabei durch die Musik unterstützt. Die Musik ist in ihrer Klarheit
und Konzentriertheit zu großer Eindringlichkeit und Transzendenz fähig und konter-
kariert das aufgewühlte Innenleben von Hans und Sophie.
„Sie wussten, dass dieser Kampf gegen eines der unmenschlichsten Systeme mit ih-
rem Tod enden konnte. Aber ihr Glaube an eine bessere, gerechtere Welt war so
stark, dass der Gedanke an den Tod sie nicht zurückhielt“, so Udo Zimmermann
über sein Werk.

Szenenfolge der Weißen Rose

22. Februar 1943, zwischen 16 und 17 Uhr, Gefängnis München Stadelheim.
I. „Gib Licht meinen Augen, oder ich entschlafe des Todes“ – Diese Textzeile
stammt aus dem 13. Psalm. Sophie schrieb ihn am 12.12.1941 in ihr Tagebuch wäh-
rend ihrer Arbeit im NSV-Kindergarten in Blumberg.
Die erste Szene zeigt Hans und Sophie getrennt voneinander in ihren Zellen. Sie
haben Angst vor dem was kommt, aber noch mehr davor schwach zu werden und
ihre Ideale aufzugeben. Die Angst vor dem psychischen Tod ist viel größer als die
vor dem physischen.

II. „Mein Herz ist wach“ – Aus den Aufzeichnungen, die es von und über Sophie
gibt, geht hervor, dass sie ein sehr feinfühliger, naturverbundener Mensch gewesen
war. Dieser Charakterzug wird in der Szene aufgegriffen. Sie gleicht einer schönen
Erinnerung, mit der Sophie sich aus der Zelle hinausträumt.

III. „Schießt nicht“ – Die Erfahrungen als junger Arzt an der Front verfolgen Hans
bis in seine Zelle. Hier handelt es sich um eine Erinnerung an eine Frau, die vor
seinen Augen willkürlich erschossen wurde. Er konnte ihr nicht helfen.

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IV. „Dass es das gibt“ – ist eine Gegenüberstellung von scheinbar nicht vereinbaren
Gegensätzen: Sophie beschreibt die Schönheit der Natur, während sich Hans’ Ge-
danken mit dem Leid des Krieges beschäftigen.

V. „Sie fahren in den Tod und singen“ – Als Kindergärtnerin sind Sophie die Depor-
tationen von Kindern nicht verborgen geblieben. Die Szene ist geprägt von Hilflo-
sigkeit und Ohnmacht.

VI. „Wir haben eine Mauer aufgebaut“ – „Mein Pessimismus wird von Tag zu Tag
größer. Die Skepsis vergiftet meine Seele, ich will fliehen, um sie zu retten; aber
wohin? Verzweifelt errichte ich um mich eine Mauer, die da ist: Ironie,
Satire.“ (Hans, 11.9.1942) – es zeigt die Fassungslosigkeit darüber, dass alle wuss-
ten was passiert, aber nichts getan haben. Hans versucht mit Flugblättern an die
Vernunft der Mitmenschen zu appellieren.

VII. „Die Tür, die Tür schlägt zu“ – Sophie glaubt den Henker vor der Tür zu hören.

VIII. „Sie haben ihr das Haar geschoren“ – Hans betrachtet die Konsequenzen sei-
nes Handelns – war es die Sache Wert, die eigene Schwester mit in den Tod zu neh-
men?

IX. „Einmal noch möchte ich mit dir durch unsere Wälder laufen“ – Sophie erin-
nert sich an die Zeit mit ihrem Freund Fritz zurück und ihr wird bewusst, dass diese
nicht wieder kommen wird.

X. „Ein Mann liegt regungslos erfroren“ – Die Bilder des Krieges holen Hans immer
wieder ein.

XI. Instrumentales Zwischenspiel

XII. „Mein Gott ich kann nichts anderes als stammeln“ – Ein wichtiger Halt für die
Geschwister ist ihr Glaube.

XIII. „Nicht abseits stehn, weil es abseits kein Glück gibt.“ – „Ich kann nicht ab-
seits stehn, weil es abseits kein Glück gibt, weil es ohne Wahrheit kein Glück gibt –
und dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg um die Wahrheit.“ (Hans, 28.10.1941) Vor
der Hinrichtung gab es ein letztes Treffen der Geschwister mit ihren Eltern. Die 13.
Szene greift diese Begegnung auf und macht deutlich, dass die Geschwister ihre
Kraft neben dem Glauben aus dem familiären Zusammenhalt geschöpft haben.

XIV. „Die Vision vom Ende“ – Sophie hatte in der Nacht vor ihrem Tod einen Traum:
Sie trägt ein Kind einen Berg hinauf, legt es ab und stürzt selbst in eine Gletscher-
spalte – sie selbst interpretierte diesen Traum gegenüber einer Mitinhaftier- ten:
das Kind ist die Idee der Weißen Rose, die auch bestehen bleibt, wenn sie selbst tot
ist. Hans stellt sich die Frage, an welcher Stelle eigentlich Faschismus beginnt.

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XV. „Und mein Feind könnte sagen, über den ward ich Herr“ – Hierbei handelt es
sich um die Fortsetzung des Psalms aus der 1. Szene. Hans und Sophie geben sich
nicht geschlagen und bieten ihrem Feind die Stirn.

XVI. „Nicht schweigen, nicht mehr schweigen“ – Über die Melodie eines deut-
schen Volksliedes hinweg sind Appelle der „Weißen Rose“ zu hören.

Zwischen den von Wolfgang Willaschek ausgewählten Texten im Libretto gibt es
kaum kausale Zusammenhänge. So folgt das Werk anderen, assoziativen und mehr
auf Emotionalität bedachte Gesetzmäßigkeiten.

Zimmermann sagte selbst dazu: „Zwei Personen müssen eigentlich alle Gegenspie-
ler, alle Aktionen in sich und fürs Publikum sichtbar spielen. Die beiden sollen in
uns ständig Assoziationen vergegenwärtigen: die Unterdrückung, das totalitäre Sys-
tem, Wahrheitssuche. Alles an ‚Umfeld‘ ist weggelassen, alle ‚Gegenspieler‘. Frei-
lich kann man sagen, dass das ‚Umfeld‘ von den siebzehn Instrumentalisten reflek-
tiert wird: Hier werden Schreie, Träume, Bosheit und Angst klangliche Gestalt.“

Zimmermanns Musik enthält Anklänge an die Tradition der protestantischen Kir-
chenmusik von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach und das deutsche Lied
Franz Schuberts oder Robert Schumanns.
Die beiden Geschwister sind trotz aller Unterschiede durch eine „Leitmelodie“ mit-
einander verbunden, was wiederum ihre Verwandtschaft und ihren gemeinsamen
Geist klanglich veranschaulicht. Im Orchester gibt es gelegentlich Passagen die kei-
ner Systematik folgen. „Martialische Secco-Akkordschläge“ stellen die Brutalität
des Regimes dar. Demgegenüber sind die Vokalstimmen eher „lyrisch-melismatisch“
geführt. Darüber hinaus werden Texte von Sängern gesprochen, die je nach Insze-
nierung mal melodramatisch, mal leise, mal anklagend interpretiert werden.
Der erste Ton der Oper ist programmatisch, denn er ist als Fallbeil der herabfallen-
den Guillotine zu identifizieren.
Das Finale am Ende der Oper zitiert aus dem nationalsozialistischen Kampflied
Wenn wir marschieren, ziehn wir zum deutschen Tor hinaus und verbindet die Aus-
senwelt mit der Innenwelt der Geschwister Scholl, die sich dann auch direkt an das
Publikum mit dem Appell wenden:

                                 „Es ist jetzt Zeit,
                                 Zeit zu bekennen!
                              Die Stimme zu erheben!

                                Aus sich heraus die
                                Wahrheit schrein.“

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Dies ist der letzte Brief von Sophie an Fritz Hartnagel, ihrem Verlobten, der in den
Nachlasspapieren im Bundesarchiv überliefert ist. Sophie, inzwischen 21 Jahre alt,
schreibt ihn 2 Tage vor Ihrer Verhaftung:

       Mein lieber Fritz! Gestern habe ich einen wunderbaren blühenden Stock
       gekauft, er steht vor mir auf dem Schreibtisch am hellen Fenster, seine
       graziösen Ranken, über und über mit zarten lila Blüten besetzt, schweben
       vor und über mir. Er ist meinen Augen und meinem Herzen eine rechte
       Freude, und ich wünschte mir nur, dass Du kommst, bevor er verblüht
       ist. Wann wirst Du nur kommen? Meine ersten Briefe werden Dich
       wohl kaum erreichen, sie waren falsch adressiert. Und ob diese dürftige
       Adresse genügt? Doch muß ich ja warten, bis Du zuerst mir schreibst...
3.2 Besetzung

                           Hans                  Florian Neubauer
                          Sophie                   Emma Moore

                   Musikalische Leitung          Takahiro Nagasaki
                      Inszenierung                Juliane Stephan
                    Bühne, Kostüme                 Ronald Winter
                       Dramaturgie                  Felix Eckerle

3.3 Vorstellungstermine

                       Sa 10.02.2018 / 19:30 Uhr PREMIERE
                                Bühne am Park Gera
                            So 25.02.2018 / 18:00 Uhr
                                Bühne am Park Gera
                            Di 06.03.2018 / 18:00 Uhr
                                Bühne am Park Gera
                            Sa 17.03.2018 / 19:30 Uhr
                                Bühne am Park Gera
                            Sa 24.03.2018 / 19:30 Uhr
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4. Die Weiße Rose

4.1 Die Mitglieder der Weißen Rose
"Wenn die wilden Tiere ihr Gewahrsam gesprengt und unters Volk gelaufen sind,
muß eben jeder, der einen starken Arm hat, nach der Waffe greifen, gleichgültig,
welchen Standes und welcher inneren Berufung er ist", schrieb Hans Scholl im De-
zember 1942 in einem Brief an seine Freundin Rose Nägele. Seine Waffen waren
Worte und Papier. Gemeinsam mit seiner Schwester Sophie, Alexander Schmorell,
Kurt Huber, Christoph Probst und Willi Graf bildete Hans Scholl den Kern der Weißen
Rose.

4.2 Hans Scholl
                             Hans Scholl wird am 22. September 1918 in Ingers-
                             heim/Württemberg geboren. Als er 1933 der Hitlerju-
                             gend (HJ) beitritt, geschieht das gegen den Willen sei-
                             nes von Anfang an regimekritischen Vaters. 1935 unter-
                             stehen Hans in der HJ als Fähnleinführer bis zu 150
                             Jungen.
                             Doch seine Begeisterung für das dort organisierte Ge-
                             meinschaftserlebnis lässt nach. Er fühlt sich doch mehr
                             zu den freiheitlichen Idealen der bündischen Jugend
                             hingezogen. Weil er Mitglied in einem der heimlich
                             agierenden Bünde ist, wird Hans 1937 verhaftet und
                             angeklagt.
                             Während seines Medizinstudiums in München freundet
                             er sich mit Alexander Schmorell, Christoph Probst und
                             Willi Graf an. Über einen Bekannten aus Ulm lernt er
Carl Muth kennen, den Herausgeber der mittlerweile verbotenen katholischen Mo-
natszeitschrift „Hochland“. Der ältere Herr beeinflusst Hans Scholl ebenso wie die
Vorlesungen des regimekritischen Philosophieprofessors Kurt Huber.
Vier Flugblätter haben Hans Scholl und Alexander Schmorell schon verfasst und ver-
teilt, als sie zusammen mit Willi Graf im Sommer 1942 zur Frontfamulatur nach
Russland abkommandiert werden. Anfang November kehren sie nach München zu-
rück – bestärkt in dem Gefühl, etwas gegen dieses Regime und diesen Krieg unter-
nehmen zu müssen.
Bewegt durch die Katastrophe von Stalingrad verteilt Hans am 18. Februar 1943
gemeinsam mit seiner Schwester Sophie das sechste Flugblatt waghalsig am hell-
lichten Tage in der Universität. Sie werden entdeckt, verhaftet, vier Tage später
zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hans Scholl ist 24 Jahre alt. Seine letzten
Worte: "Es lebe die Freiheit".

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4.3 Alexander Schmorell
Alexander Schmorell wird 1917 in Orenburg, Russ-
land, geboren. Nach dem Tod seiner Mutter zieht
sein deutschstämmiger Vater 1921 mit ihm nach
München. Alexander aber wird sein Geburtsland
immer als geistige Heimat betrachten, beschäftigt
sich intensiv mit russischer Kunst und Literatur.
Als er zum Wehrdienst eingezogen wird, bittet er
vergeblich darum, wieder aus dem Militär entlassen
zu werden. Er studiert zunächst in Hamburg, dann
in München Medizin. Dort entdeckt er seine Begeis-
terung für Bildhauerei und Zeichnen. An der Ost-
front muss er in deutscher Uniform an einem Ver-
nichtungskrieg gegen Russland teilnehmen. Als Hans
und Sophie Scholl verhaftet werden, versucht Alex-
ander Schmorell unterzutauchen. Doch er wird
steckbrieflich gesucht und am 24. Februar während
eines Bombenangriffs im Luftschutzkeller erkannt
und verraten. Am 19. April 1943 wird er gemeinsam mit Willi Graf und Kurt Huber
vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Er ist 25 Jahre alt, als er am 13. Juli
durch das Fallbeil hingerichtet wird.

4.4 Sophie Scholl
                        Sie war die einzige Frau im engsten Kreis der Weißen Rose
                        und ist heute eine der bekanntesten Persönlichkeiten des
                        Widerstands überhaupt. Von den Filmen, die über die Wider-
                        standsgruppe gedreht wurden, drehen sich mehrere in erster
                        Linie um Sophie Scholl.
                        Sophie Scholl wird am 9. Mai 1921 geboren. Wie ihr älterer
                        Bruder begeistert sie sich zunächst für das Gemeinschafts-
                        ideal, das der Nationalsozialismus verkündet. Anfang 1934
                        tritt sie in Ulm den Jungmädeln bei. Wie Hans ist sie dann
                        aber auch in der verbotenen bündischen Jugend aktiv und
                        wird deshalb 1937 von der Gestapo
                        für kurze Zeit verhaftet.
                        Immer deutlicher merkt sie schon
                        als Schülerin, dass ihr eigenes libe-
                       rales, christliches Denken sich mit
der Steuerung durch die Partei nicht verträgt. Im Mai
1942 tritt Sophie Scholl ihr Philosophie- und Biologiestu-
dium in München an und wird dort schnell in den Freun-
deskreis ihres Bruders Hans aufgenommen.
Im Januar 1943 hilft Sophie Scholl bei der Herstellung des
fünften Flugblatts. Als sie von einem Besuch bei ihren El-
tern zurückkehrt, ist das sechste bereits gedruckt, das sie
mit Hans im Lichthof der Universität verteilt. Als nach ih-

                                       12
!
rer Verhaftung klar wird, dass die Beweislast gegen sie und ihren Bruder erdrü-
ckend ist, versucht sie, sich als Hauptakteurin der Weißen Rose darzustellen, um
die Freunde zu schützen.

4.5 Kurt Huber
                                   "Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum
                                   Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von
                                   Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern
                                   umgekehrt – die Wiederherstellung der
                                   Legalität." In seiner Verteidigungsrede vor dem
                                   Volksgerichtshof stellt Kurt Huber das national-
                                   sozialistische Russland als geistige Heimat, das
                                   bestehende NS-Herrschaftssystem an den Pran-
                                   ger: "Es gibt kein furchtbareres Urteil über eine
                                   Volksgemeinschaft als das Eingeständnis, das wir
                                   uns alle machen müssen, daß keiner sich vor sei-
                                   nem Nachbarn, der Vater nicht mehr vor seinen
                                   Söhnen, sicher fühlt." Kurt Huber wird am 24.
                                   Oktober 1893 in Chur in der Schweiz geboren. Er
                                   macht früh Karriere: Mit 24 ist er Doktor der Mu-
                                   sikwissenschaften, mit 27 Professor für Psycho-
                                   logie und Philosophie. Wie viele andere Intellek-
                                   tuelle sympathisiert er mit dem aufkeimenden
                                 Nationalsozialismus. Zweifel kommen ihm, als er
von Verbrechen des Regimes erfährt. Dass er politisch nicht ganz auf Linie der Nazis
liegt, ist an der Münchner Universität nach 1940 ein offenes Geheimnis. In seinen
Vorträgen würdigt er auch verbotene Werke jüdischer Denker. Die Mitglieder der
Weißen Rose besuchen Hubers Vorlesung "Leibniz und seine Zeit", in der er die Ver-
antwortung von Intellektuellen als Staatsbürger betont. Durch von der Front zu-
rückgekehrte Studenten hört Kurt Huber von Massenmorden in Polen und der So-
wjetunion. Ab Sommer 1942 trifft er sich auch privat mit dem Kern der Weißen
Rose. Er beschließt, ihre Widerstandsarbeit aktiv zu unterstützen, verfasst das letz-
te Flugblatt, mit dem Sophie und Hans Scholl erwischt werden.
Bei seiner Hinrichtung am 13. Juli 1943 ist Kurt Huber 49 Jahre alt und hinterlässt
eine Frau und zwei Kinder. Am Schluss seiner Rede vor dem Volksgerichtshof zitiert
er den Philosophen Johann Gottlieb Fichte: "Und handeln sollst du als hinge von dir
und deinem Tun allein das Schicksal ab der deutschen Dinge, und die Verantwortung
wär' dein."

4.6 Christoph Probst
Anders als die Geschwister Scholl oder Professor Kurt Huber hat Christoph Probst
nie Sympathien für den Nationalsozialismus gehegt. Geboren am 6. November 1919
im oberbayerischen Murnau, wächst er in einem durch religiöse und kulturelle Of-
fenheit geprägten Elternhaus auf. Weil seine Stiefmutter Jüdin ist, erlebt Christoph
Probsts Familie das Regime früh als bedrohlich.

                                         13
!
1936 schließt er Freundschaft mit seinem Schulkameraden Alexander Schmorell,
dem zuliebe er Russisch lernt. Mit 21 Jahren heiratet Christoph Probst Herta Dohrn,
1940 und 1941 werden ihre beiden Söhne geboren. Hertas Vater, der Privatlehrer
Harald Dorn, ist ebenfalls regimekritisch eingestellt. Die Nazis werden ihn 1945
noch kurz vor Kriegsende erschießen.
Durch Alexander Schmorell lernt Christoph Hans Scholl kennen, im Sommer 1942
trifft er Willi Graf. Er nimmt an den Lese- und Diskussionsabenden teil und wird in
                                  die Flugblattaktionen eingeweiht. Im Dezember
                                   wird er in Innsbruck stationiert. Seine Freunde
                                   wollen den Familienvater nun aus ihren gefährli-
                                   chen Aktivitäten heraushalten, aber Probst ist
                                   noch bei einigen Diskussionen über die Wider-
                                   standsarbeit dabei.
                                   Nach der Katastrophe von Stalingrad entwirft er
                                   ein Flugblatt, in dem er fordert: "Hitler und sein
                                   Regime müssen fallen, damit Deutschland lebt!"
                                   Zwei Tage nach der Verhaftung der Geschwister
                                   Scholl will der Freund sich den Urlaubsschein ab-
                                   holen, um seine neu geborene Tochter und seine
                                   an Kindbettfieber erkrankte Frau zu besuchen –
                                   und wird sofort festgenommen.
                                   Hans Scholl hatte den handschriftlichen Flug-
                                   blattentwurf bei sich getragen. Es ist das einzige
                                   Beweisstück, das die Gestapo gegen Christoph
                                   Probst hat. Mit 23 Jahren wird er am selben Tag
                                   hingerichtet wie Hans und Sophie Scholl.

4.7 Willi Graf
Willi Graf wird am 2. Januar 1918 in Kuchenheim
geboren und von seinen Eltern in Saarbrücken
streng katholisch erzogen. Er wird Mitglied der
katholischen Jungengruppe Neudeutschland, tritt
später dem Jungenbund Grauer Orden bei. Auf
Wanderfahrten und bei Zeltlagern diskutieren
die Jungen über literarische und theologische
Themen. Als die Mitgliedschaft in der Hitlerju-
gend 1936 zur Pflicht wird, weigert Willi Graf
sich dort einzutreten. Nach dem Arbeitsdienst
beginnt er 1937 in Bonn sein Medizinstudium.
Weil er weiterhin im Grauen Orden aktiv ist,
kommt er 1938 ins Gefängnis. 1940 wird Willi
Graf als Sanitäter in die Wehrmacht einberufen
und wird in Jugoslawien, Polen und Russland
Zeuge von Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Im April 1942 wird er in die Münchner Studen-
tenkompanie von Hans Scholl und Alexander

                                         14
!
Schmorell versetzt. Er hilft dabei, das fünfte und sechste Flugblatt herzustellen
und zu verteilen und zieht mit Hans und Alexander nachts los, um Parolen wie "Nie-
der mit Hitler!" an Wände zu schreiben. Außerdem verfügt er über weit verstreute
Kontakte, unternimmt Reisen, um ehemalige Kameraden aus der bündischen Ju-
gend als Mitstreiter zu gewinnen.
Wie Alexander Schmorell und Kurt Huber wird Willi Graf am 19. April 1943 zum Tode
verurteilt. Vor seiner Hinrichtung versucht die Gestapo sechs Monate lang, Namen
anderer Oppositioneller aus ihm herauszupressen, aber er schweigt. Willi Graf wird
25 Jahre alt.

5. Widerstand (eine Begriffsklärung)
Widerstand ist ein Relationsbegriff, der nicht aus sich selbst heraus verständlich ist.
Erst im Verhältnis zu anderen Begriffen gewinnt er Bedeutung, wenn nämlich klar
wird, gegen was oder wen sich der Widerstand richtet. Politischer Widerstand rich-
tet sich gegen eine Herrschaftsordnung oder die in ihrem Rahmen ausgeübte Macht,
der gegenüber Gehorsam verweigert wird. Damit wird "Herrschaft" zum entschei-
denden Gegenbegriff zu "Widerstand". Herrschaft stiftet zwar Ordnung und setzt
Recht; die Herrschenden sind aber zugleich an die Ordnung und das Recht gebun-
den. Wo sie gegen Recht und Ordnung verstoßen, verlieren sie das Recht zu herr-
schen und die Beherrschten die Pflicht zum Gehorsam. In der Konsequenz ist Wi-
derstand zulässig, wenn nicht sogar geboten.
Widerstand ist soziales Handeln gegen eine als illegitim wahrgenommene Herr-
schaftsordnung. Entsprechend haben sich Praktiken und Rechtfertigungen politi-
schen Widerstands analog zum Wandel der Herrschaftsformen verändert. Das Wi-
derstandsdenken der Antike ist personalisiert und fokussiert auf den Tyrannen-
mord. Im Mittelalter treten individueller Widerstand gegen einen Usurpator und
kollektiver Widerstand gegen einen legitimen, aber tyrannischen Herrscher ausein-
ander. In der Frühen Neuzeit wird der individuelle Widerstand im Sinne von
Selbsthilfe depolitisiert, während der kollektive Widerstand zunehmend zivilisiert
und institutionalisiert wird. In der parlamentarischen Opposition findet der kollek-
tive Widerstand in der Moderne seinen formalen Platz als systemimmanenter und
stabilisierender Widerstand, während individueller Widerstand kriminalisiert wird.
In Autokratien, die keine Opposition zulassen, sind kollektiver und individueller Wi-
derstand als politische Dissidenz kaum trennbar.

Demgegenüber entwickeln sich in Demokratien Formen außerparlamentarischer
Systemopposition und zivilen Ungehorsams, um Defizite demokratischer Herr-
schaftssysteme auszugleichen. Im Zuge der Globalisierung und der Transnationali-
sierung des Regierens wird auch internationale Politik zunehmend politisiert und
aufgrund geringer Möglichkeiten zur formalen Opposition in Form transnationaler
Proteste thematisiert. Transnationale Dissidenz ist deshalb ein Hinweis nicht nur für
fehlende Foren institutionalisierter Opposition und insofern für ein wachsendes Le-
gitimitätsdefizit internationaler Politik, sondern auch für die zunehmende Wahr-

                                          15
!
nehmung globaler Herrschaft jenseits des Nationalstaats.[29] Diese Herrschaft ist
allerdings nicht hierarchisch, sondern heterarchisch und führt zu einer Diversifizi-
rung des Widerstands in der postnationalen Konstellation.

6. Erinnerungskultur, was uns die Oper lehrt
Die Oper „Weiße Rose“ ist nur ein Teil dessen was Erinnerungskultur in Deutschland
gerade in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus bedeutet. Wir Menschen sind
die einzige Spezies, die durch eine gemeinschaftlich erworbene Erkenntnis sich
immer weiter zu entwickeln imstande ist. Durch Entdeckung, Kommunikation und
Erinnerung sind wir in der Lage Erkenntnisse generationsübergreifend zu übermit-
teln. Was aber bedeutet das in Bezug auf die Erinnerungskultur? Bloss erworbenes
Wissen genügt nicht, um zu Erkenntnissen zu gelangen, dazu ist auch ein tief emp-
fundene Unrechtsbewusstsein nötig, dass auf allgemein gültige moralisch-ethischen
Werte basiert. Oder schlichter ausgedrückt, wir brauchen ein Gewissen, mit einem
deutlichen Bekenntnis zur Menschlichkeit.
Wie ist es um die Erinnerungskultur bestellt und wie wurde damit umgegangen im
geteilten Deutschland nach 1945? Was können wir aus dem Vorbild der Geschwister-
Scholl beispielhaft lernen? Dafür haben wir Ihnen die folgenden Kopiervorlagen zur
Verfügung gestellt:

                                        16
!
    Während in der Bundesrepublik die "Vergangenheitsbewältigung" ein ständi-
    ger Prozess war, erklärte die SED diese mit der "antifaschistisch-demokrati-
    schen Umwälzung" für beendet. Wie unterschied sich die Erinnerung in Ost
     und West und wo stehen wir heute? Edgar Wolfrum mit einem Überblick.

               Auferstanden aus Ruinen – Traditionssuche in West und Ost

       War die deutsche Geschichte nach der nationalsozialistischen Katastrophe 1945
    an ihren Endpunkt gelangt? Welche historischen Haltepunkte ließen sich noch grei-
          fen, als Deutschland und Europa in Trümmern lagen? Die im Alltagschaos ste-
       ckenden gewöhnlichen Deutschen interessierte dies wenig, die Intellektuellen al-
     lerdings umso mehr. Beschwörung der guten deutschen Traditionen vor Hitler, kei-
      ne "Selbstverdunkelung" der deutschen Geschichte – so lautete das Rezept west-
    deutscher Historiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Osten triumphierte die
       These vom "Irrweg einer Nation" – mit der Pointe, dass nun, in der entstehenden
    DDR, dieser Irrweg endgültig verlassen worden sei: "Auferstanden aus Ruinen und
                                                               der Zukunft zugewandt".

    Später, seit dem Ende der 1960er Jahre, sollten West-Historiker für die Bundesre-
     publik ebenfalls beanspruchen, dass diese den verhängnisvollen deutschen Son-
      derweg hinter sich gelassen habe und "Bonn" glücklicherweise nicht "Weimar"
    wurde. Bis zum Mauerbau 1961 konkurrierten die Deutungseliten beider deutschen
     Staaten erinnerungskulturell um das Verhältnis von Nation und Revolution – Kern
      war stets die Revolution von 1848/49. Im Osten sah man deren verpflichtendes
     Erbe in einer endlich zu schaffenden "einigen deutschen sozialen Republik" – im
                       Westen hieß die Lehre "Einheit und Freiheit".

    Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde in der Bundesrepublik zum
    "Nationalfeiertag" erklärt, zum "Tag der deutschen Einheit". An ihn knüpften sich im
     Zeitverlauf unterschiedliche nationale Geschichtsbilder. Zuerst wurde er als Arbei-
      ter-, dann als Volksaufstand interpretiert. Anfangs sahen die meisten in ihm eine
     Erhebung für die Wiedervereinigung, dann, seit den 1960er Jahren, nur noch eine
     Freiheitsbewegung oder eine gescheiterte Revolution wie 1918/19 oder nur mehr
     einen sozialen Protest. Oftmals gab es einen Vergleich mit dem 20. Juli 1944 als
                       einen Versuch, die totalitäre Diktatur zu stürzen.

    In der DDR wiederum kam es zum Versuch, einen sozialistischen Patriotismus zu
     generieren. Nach der nationalen Trennung bedeutete der Mauerbau die – wie es
    schien: endgültige – Teilung Deutschlands. Während die SED in den 1970er Jah-
      ren die "deutsche Nation" in der DDR-Verfassung eliminierte – was die meisten
    Ostdeutschen ablehnten –, beanspruchte die Bundesregierung mit der Neuen Ost-
      politik die Einheit der Nation zu wahren. Erinnerungskulturell fanden die beiden
           deutschen Gesellschaften Anfang der 1980er Jahre wieder zusammen.

                                            17
!

     Zahlreiche Gedenkanlässe öffneten Schleusen der Erinnerung. Im Westen brach
     ein regelrechter Geschichtsboom aus, "von unten" befördert durch unzählige Ge-
    schichtswerkstätten. Und im Osten erwies sich das "Erbe und Tradition"-Programm
     der SED, das eine gefühlsmäßige Bindung an die "Nation DDR" bewirken sollte,
      als Bumerang: Die Vergangenheit – sei es Luther, Friedrich der Große oder gar
    Bismarck – stimulierte bei den Menschen gesamtdeutsche Gefühle und Solidarität
       und zwar nicht als vergangene Geschichtsnation, sondern in der Gegenwart.

                               Moral und Pragmatismus –
                            Das Erbe des Nationalsozialismus

      Angesichts des Kalten Krieges trat die Moral hinter dem Pragmatismus zurück.
     Was bedeutet dies? In der Bundesrepublik lautete 1949 die Frage: Demokratisie-
     rung und gesellschaftliche Integration der NS-Funktionseliten, also der mittleren
    Garnitur, oder vorbehaltlose Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen. In einer
      Art großen Koalition entschied man sich für den ersten Weg – ein allgemeiner
     Rechtfertigungsdrang und ein gemeinschaftlicher Wille, sich von Schuld und Ver-
    antwortung frei zu sprechen verband die meisten Deutschen miteinander. Vom Ho-
                locaust war bis zum Ende der 1950er Jahre kaum die Rede.

    In der Öffentlichkeit wurde das "Dritte Reich" weitgehend totgeschwiegen. Nur Min-
     derheiten, meist Opfergruppen, wagten die Schuld verdrängende Verharmlosung,
     die Vergangenheitsabwehr und die Schuldabwälzung zu stören. Im populären Ge-
     schichtsbild der Zeit erschien der Nationalsozialismus als unerklärlicher Einbruch,
     als Heimsuchung, ja Verhängnis und Hitler als Dämon. Außerdem wurden die NS-
      Diktatur und die SED-Diktatur über denselben Kamm geschoren und nach dem
     Mauerbau 1961 erschien die DDR nicht wenigen als ein KZ. Halbheiten bestimm-
       ten die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Israel erhielt
      zwar Entschädigungszahlungen, doch in der Wiedergutmachung steckte zu viel
       Kalkül und Außenpolitik, als dass sie moralisch voll überzeugte: Gezahlt wurde
     dort, wo es die internationale – und das bedeutete damals: westliche – Reputation
        der Bundesrepublik gebot, im Westen. Osteuropäische Opfer gingen leer aus.

    Das Klima und mit ihm die Erinnerung wandelte sich seit etwa 1958, als antisemiti-
    sche Skandale die Republik erschütterten. Weit reichende Folgen ergaben sich aus
     den Reaktionen: Die Kultusminister verabschiedeten neue Richtlinien für den Ge-
      schichtsunterricht, der Gesetzgeber schuf den Straftatbestand der "Volksverhet-
    zung" und auf Betreiben von Opfergruppen wurden endlich Gedenkstätten gebaut.
     Ferner richteten die Landesjustizminister die "Zentrale Stelle zur Aufarbeitung na-
     tionalsozialistischer Verbrechen" ein, womit sie die strafrechtliche Verfolgung von
                                  NS-Tätern vorantrieben.

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!
    Intellektuelle wie Rolf Hochhuth kritisierten den Umgang mir der NS-Vergangenheit
     offen und ein Generationenkonflikt radikalisierte den Umgang mit der Vergangen-
    heit. Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag seit 1965 – Mord verjährte
      nach 20 Jahren, durfte NS-Völkermord verjähren? – verzeichneten eine ebenso
       breite öffentliche Resonanz wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem oder der
                           Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main.

     Seit dem Machtwechsel von 1969 politisierte und polarisierte sich die Erinnerung
     an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Willy Brandt (SPD), ehe-
    mals Widerstandskämpfer, verstand sich als "Kanzler eines befreiten Deutschland".
    Doch die CDU/CSU-Opposition klagte: Die Kapitulation von 1945 könne man nicht
    feiern. Viele Konservative lehnten die "linksliberale" Vergangenheitsbewältigung ab
    – eine solche "Dauerbüßeraufgabe" würde das deutsche Selbstwertgefühl auf ewig
                                       traumatisieren.

      1979 dann – ein Medienereignis. Die amerikanische TV-Serie "Holocaust" ver-
     zeichnete in der Bundesrepublik eine sensationelle Sehbeteiligung. Sieben Jahre
     später wurde im "Historikerstreit" um die Identität der Bundesrepublik gestritten –
     und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung fiel deutlich aus: Konstitutiv für den
     bundesdeutschen Rechtsstaat und seine geistige Westbindung blieb der Erinne-
                        rungsimperativ an den Nationalsozialismus.

                                             19
!
                  Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR

                     Während in der Bundesrepublik die Vergangenheits-
    bewältigung ein ständiger und zwischen zahlreichen Gruppen umstrittener Prozess
     war, erklärte die SED, dass mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung"
     1945-1949 der Nationalsozialismus mit Stumpf und Stil "ausgerottet" worden sei.
    Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte
    jegliche Haftungspflichten für die Vergangenheit ab. Hitler, so konnte man meinen,
                              sei ein Westdeutscher gewesen.

      Im Gründungsmythos der DDR hatten deutsche Antifaschisten an der Seite der
     Sowjetunion die Hitler-Diktatur besiegt und dann das neue Deutschland geschaf-
    fen. Die großen Nazis wurden abgeurteilt, die mittleren und kleineren "domestizier-
                   te" die SED in der eigens dafür geschaffenen national-
    demokratischen Blockpartei. Der Antifaschismus war Staatsdoktrin und außenpoli-
       tisch die unangreifbare Existenzberechtigung der DDR – quasi ihr Alleinvertre-
                                       tungsanspruch.

     Da jedoch die allerwenigsten DDR-Bürger Widerstandskämpfer gewesen waren,
     musste über Rituale, Denkmäler, Schule und Künste dieser Antifaschismus in das
     kollektive Gedächtnis eingepflanzt werden. Daraus erklärt sich, dass die DDR flä-
    chendeckend mit Denkmälern und Erinnerungstafeln übersät war. Und das ehema-
      lige KZ Buchenwald machte die SED mit enormem Aufwand zum Gedächtnisort
    des heroischen kommunistischen Widerstands gegen das "Dritte Reich". Sie erkor
                                  es zum "roten Olymp".

     Es wäre freilich zu kurz gegriffen, den DDR-Antifaschismus nur als von oben "ver-
    ordnet" zu bezeichnen. Bei vielen DDR-Bürgern bildeten sich antifaschistische Ein-
    stellungen aus und hielten sich bis zum Untergang des zweiten deutschen Staates,
     teils darüber hinaus. Allerdings wurde der Nationalsozialismus über die Kategorie
                "Faschismus" gleichsam universalisiert – mit fatalen Folgen.

     Der Nationalsozialismus unterschied sich bekanntlich von allen anderen faschisti-
    schen Bewegungen dadurch, dass er den überall vorhandenen Antisemitismus mit
      der Konsequenz der absoluten Vernichtung betrieben hatte. Doch genau diesen
    Wesenskern verschwieg die ostdeutsche Erinnerung, da der Holocaust nicht in das
     Klassenschema passte. In der Auflösungsphase der DDR kam plötzlich ein prag-
                 matischer Zug in die Erinnerung an den Nationalsozialismus.
    Erich Honecker strebte danach, die internationale Anerkennung der DDR mit einem
     Besuch in Washington zu krönen und war – dies verlangten die USA dafür – 1988
      bereit, jüdische Opfer zu entschädigen. Die DDR stieg somit am Vorabend ihres
    Untergangs vom hohen Ross des "Siegers der Geschichte" herab und wurde, was
         die Bundesrepublik immer war: ein Nachfolgestaat des "Dritten Reiches".

                                            20
!
       Gesamtdeutsche und europäische Erinnerungskultur – Wo stehen wir heute?

     Die wichtigsten neuen Konstellationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts las-
                                sen sich in elf Punkten skizzieren:
       1    Alle Vergangenheitsdebatten werden mittlerweile von Normierungen beglei-
    tet. Dies gilt für die nationale Ebene – hier sichtbar im jüngst verabschiedeten bun-
       desdeutschen Gedenkstättenkonzept. Es trifft jedoch auch für die europäische
                           Ebene zu, was die Stockholmer Holocaust-
        2    Konferenz im Jahr 2000 verdeutlichte, die als Geburtsstunde eines offiziel-
     len europäischen Gedächtnisses gilt und den Beginn transnationaler Kooperation
                         im Bereich der Holocaust-Erinnerung markiert.
          3   Als eine Folge der doppelten Vergangenheitsbewältigung, also des Um-
     gangs mit der braunen wie mit der roten Diktatur, gelangt die Totalitarismustheorie
      zu neuen Ehren und zwar in Deutschland wie in ganz Europa, wobei ein Gefälle
    sichtbar wird: Während im Westen des Kontinents der Nationalsozialismus wie bis-
      her als größte Katastrophe betrachtet wird, erscheint dieser im Osten gegenüber
                     dem Kommunismus als die (zum Teil) weitaus kleinere.
       4    Welche Themen auf die erinnerungspolitische Agenda gelangen, hängt stark
    mit den Massenmedien zusammen. Man kann formulieren: Erinnert wird, was mas-
                                    senmedial präsentabel ist.
        5    Die NS-Vergangenheit bleibt in Deutschland als negatives Bezugsereignis
      der Dreh- und Angelpunkt (siehe das Holocaust-Mahnmal in Berlin). Sie gerät in-
    dessen unter dem Druck der erinnerungspolitischen Globalisierung zu einem politi-
     schen Argument für Menschenrechtspolitik. Die Chiffre "Auschwitz" wird zu einem
     Passepartout für militärische Interventionen – man sah dies im Jugoslawienkrieg.
     Da es in den Kriegen auf dem Balkan offenbar um die Verhinderung eines Völker-
      mordes bzw. eines "zweiten Auschwitz" ging, konnte Außenminister Joschka Fi-
    scher selbst seine pazifistische grüne Partei mehrheitlich dazu bringen, deutschen
                                  Militäreinsätzen zuzustimmen.
      6 War die deutsche Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte in Zei-
      ten des Ost-West-Konflikts eine "halbierte" Politik, weil sie den Osten aus-
     klammerte, so wurde infolge der Epochenwende diese halbierte Vergangen-
       heitspolitik mit der Zwangsarbeiterentschädigung 2000 endlich bereinigt.
        7 Zum Teil dramatisch verschoben hat sich die Debatte um die Opfer:
     Dass Deutsche auch Opfer des von ihnen selbst entfesselten Zweiten Welt-
    kriegs waren, wird heute nicht mehr bestritten. Deutsches Schuldbewusstsein
    behindert nicht mehr die Vergegenwärtigung eigener traumatischer Erfahrung
     von Flucht und Vertreibung oder Bombenkrieg. Wichtiger aber noch scheint,
    dass die Opfer des Kommunismus die hegemoniale Erinnerung an die Opfer
    des Nationalsozialismus sprengen und auch auf den Feldern von Wiedergut-
            machung und Entschädigung in Konkurrenz zu diesen stehen.

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    8 Das vereinigte Deutschland stieg spätestens im Jahr 2005 zu einer Art retrospek-
     tiven Siegermacht des Zweiten Weltkrieges auf. Bei den Feiern anlässlich des 60.
    Jahrestages des "D-Days" und damit des Sieges über Hitlers "Drittes Reich" muss-
     ten sich der deutsche Kanzler Gerhard Schröder und seine Delegation nicht mehr
      verstecken. Die geglückte deutsche Demokratie wurde durch die Regierungsprä-
                       senz im Kreis der ehemaligen Alliierten geadelt.
       9    In Deutschland selbst ist – nicht zuletzt als Folge des Generationenwechsels
     – der vormals bezweifelte Patriotismus oder gar der "negative Patriotismus" über-
       wunden, stattdessen macht sich Identitätssicherheit und ein "fröhlicher Patriotis-
    mus" der Deutschen breit, der andere Vater- und Mutterländer einschließt. Insofern
    war das "Sommermärchen" der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 kein
                       Strohfeuer, sondern ein Symptom des Wandels.
        10 Auch auf dem Feld der Vergangenheitsbewältigung, ihren Formen, Inhalten
     und Erfordernissen ist Deutschland zu einem Exportweltmeister geworden. An die-
    ser "DIN-Norm" reiben sich jedoch einige Länder, die eigene Wege gehen möchten
    und nicht einsehen wollen, warum die Deutschen immer die "Besten" sein müssen:
       Erst verüben sie die größten Verbrechen – was mit Blick auf den Holocaust und
      den NS-Vernichtungskrieg zutrifft; dann verarbeiten sie diese mit der besten Ver-
      gangenheitsbewältigung, - was man im Rückblick von 60 Jahren trotz Rückschlä-
                       gen und Skandalen durchaus behaupten kann.
        11 Anders als die NS-Herrschaft hat die SED-Herrschaft in der politischen Kul-
    tur des gegenwärtigen Deutschland noch keinen festen historischen Ort, keine kla-
     re gesamtgesellschaftliche Aneignung gefunden, sondern bleibt umkämpft und er-
    fahrungsgeschichtlich gespalten. Der Untergang der DDR hat nicht dieselbe konsti-
      tutive Bedeutung wie die Befreiung vom Nationalsozialismus – aber die Rückwir-
        kungen des Kollaps´ des Kommunismus auf die politische Kultur Europas und
      Deutschlands könnten sich in längerer Perspektive als wirkungsmächtiger erwei-
     sen, als wir dies heute glauben. Mit Blick auf Nationalsozialismus und Kommunis-
    mus bestehen Ungleichgewichte und Spaltungen zwischen West- und Ostdeutsch-
      land – somit kann man von einer geteilten deutschen Geschichtskultur sprechen.
     Diese Spaltungen sind ihrerseits wiederum der gesamteuropäischen Erinnerungs-
                        landschaft geschuldet, auf die sie verweisen.

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7. Was hätte ich getan?
Das Bedeutsame bei Sophie und Hans Scholl ist der Umstand, dass sie sich bevor sie
sich zum Widerstand entschlossen, bei dieser „Bewegung“ mitliefen, solange bis
ihnen Zweifel kamen und ihnen bewusst wurde, dass sie einer Lüge aufgesessen
sind. Die Frage die sich in diesem Kontext stellt, ist die des Gewissens. Wie bildet
es sich? Worauf muss sich ein Unrechtsbewusstsein stützen? Im Folgenden lassen wir
einige Philosophen und Intellektuelle zu Worte kommen. Dies kann als Gesprächs-
grundlage für Ihren Unterricht dienen, um grundsätzlichen Fragen des Menschseins
auf die Spur zu kommen.

Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814): Das Gewissen ist »das unmittelbare Bewußt-
sein unserer bestimmten Pflicht«, das »Bewußtsein unserer höheren Natur und ab-
soluten Freiheit«. Die allgemeinste ethische Forderung lautet: »Erfülle jedesmal
deine Bestimmung!« (Forderung des sittlichen Triebes). Oder: »Handle stets nach
bester Überzeugung von deiner Pflicht«, oder: »Handle nach deinem Gewissen«.
Das ist das Prinzip der Moralität (Gesinnung), das formale Sittengesetz. Das Sitten-
gesetz gebietet, »jedes Ding nach seinem Endzwecke zu behandeln«. Moralität al-
ler vernünftigen Wesen ist Endzweck; wir sollen alle gleich handeln.

Arthur Schopenhauer (1788 bis 1866): Die "Haupt- und Grundtriebfeder" im Men-
schen wie auch im Tier macht der Egoismus aus. Der Egoismus ist der "Drang zum
Daseyn und Wohlseyn" oder der Wille zum Leben, leben um jeden Preis. Er ver-
mehrt das Leiden unabsehbar: "Der Mensch will unbedingt sein Daseyn erhalten,
will es von Schmerzen, zu denen auch aller Mangel und Entbehrung gehört, unbe-
dingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlseyn, und will jeden Genuß, zu
dem er fähig ist, ja, sucht wo möglich noch neue Fähigkeiten zum Genusse in sich
zu entwickeln.
Alles, was sich dem Streben seines Egoismus entgegenstellt, erregt seinen Unwil-
len, Zorn, Haß: er wird es als seinen Feind zu vernichten suchen.[...] Denn, wenn
jedem Einzelnen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen
Welt Vernichtung; so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie, bei den Allermeisten,
ausschlagen würde.“

Aristoteles (384 v. Chr.- 322 v. Chr.): „Das den Menschen spezifische Handeln,
kommt zustande durch die Klugheit und durch die ethische Tugend. Und zwar be-
wirkt die Tugend, dass das Ziel richtig ist, und die Klugheit, dass man die richtigen
Mittel dazu wählt.“

Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossen-
bürg): war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche
und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt.
„Es ist zwar nicht wahr, daß der Erfolg auch die böse Tat und die verwerflichen Mit-
tel rechtfertigt, aber ebenso wenig ist es möglich den Erfolg als etwas ethisch völ-
lig Neutrales zu betrachten.“

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Immanuel Kant (* 22. April 1724 in Königsberg, Preußen; † 12. Februar 1804 eben-
da)
Das Gewissen ist "ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist". Ein keines Bewei-
ses bedürftiger Grundsatz ist: "man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es un-
recht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.)". "Das Bewußtsein also, daß eine Hand-
lung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. Ob eine Handlung
überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen.
Es ist auch nicht schlechthin notwendig, von allen möglichen Handlungen zu wis-
sen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß
ich nicht allein urteilen und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht un-
recht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Proba-
bilismus, d. i. der Grundsatz entgegengesetzt ist, daß die bloße Meinung, eine
Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen." Das
Gewissen ist "die sich selbst richtende moralische Urteilskraft".

Prof. Dr. Richard Schröder (geb. 1943): „Gewissen hat immer nur das Individuum,
und zwar für sein eigenes tun, wie auch Verantwortung immer nur das Individuum
wahrnehmen kann. „Die Gesellschaft” hat weder ein Gewissen, noch kann sie Ver-
antwortung tragen. allein Individuen können Verantwortung übernehmen, für sich,
für andere und auch für gesellschaftliche Belange. Sozialethik wird auch aus-
schließlich von Individuen betrieben.“

Friedrich Wilhelm Nietzsche (geb. 15. Oktober 1844 in Röcken - 25. August 1900
in Weimar): „Sein Gewissen?... Es läßt sich vorauserraten, daß der Begriff »Gewis-
sen«, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen,
bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gut-
sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist, wie gesagt,
eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht – wie lange mußte diese Frucht herb
und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen
Frucht gar nichts zu sehn – niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiß auch
alles am Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war! – »Wie macht
man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen,
teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlichkeit etwas so
ein, daß es gegenwärtig bleibt?“

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