Berufswettbewerbe 2019 Die ausgezeichneten Beiträge - Das Sportfoto des Jahres von Sebastian Wells: "Der Schrei" - Verband Deutscher ...
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Berufswettbewerbe 2019 Die ausgezeichneten Beiträge Das Sportfoto des Jahres von Sebastian Wells: „Der Schrei“
Vorwort Liebe Mitglieder, die Hauptversammlung des VDS musste bekanntlich wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden, somit entfielen auch die Ehrungen in den Berufswettbewerben. Um Ihnen aber einen Überblick über die Besten des Jahres 2019 zu geben, haben wir alle Gewinner und ihre ausgezeichneten Beiträge zusammengestellt. Die eigentliche Ehrung ist verschoben. Sie soll wahrscheinlich im Oktober stattfinden, falls bis dahin die Welt wieder normal ist. So haben Sie nun die Gelegenheit, sich in Ruhe mit gutem Journalismus zu beschäftigen. Viel Spaß wünscht Ihnen Erich Laaser, VDS-Präsident Inhalt Großer VDS-Preis …………………………………………………………………………………………... 3 VDS-Nachwuchspreis …………………………………………………………………………………... 22 Herbert-Zimmermann-Preis – Bereich Hörfunk ………………………………………….. 34 VDS-Fernsehpreis ………………………………………………………………………………………… 36 Großer Online-Preis …………………………………………………………………………………….. 38 Die Sportfotos des Jahres …………………………………………………………………………….. 40 2
Großer VDS-Preis Förderer: reservix 1. Preis (2.000 Euro) Peter Wenig (Hamburg): Der Kampf ums Traumschiff erschienen am 27. Juli 2019 im Hamburger Abendblatt Den Text lesen Sie ab Seite 4 in diesem pdf. 2. Preis (1.500 Euro) Lars Spannagel (Berlin): Die Zeit ist reif erschienen am 12. Oktober 2019 im Tagesspiegel Den Text lesen Sie ab Seite 12 in diesem pdf. 3. Preis (1.000 Euro) Johannes Knuth (München): Zeit und Liebe erschienen am 20. März 2019 in der Süddeutschen Zeitung Den Text lesen Sie ab Seite 17 in diesem pdf. Die Jury: Andreas Dach, Remscheider General-Anzeiger (Vorsitz) Arno Boes, VDS-Präsidiumsmitglied, freier Journalist Sebastian Conrad, reservix Heike Meier-Henkel, Hochsprung-Olympiasiegerin Thiemo Müller, kicker-sportmagazin Dr. Robert Peters, Rheinische Post Torsten Rumpf, Sport Bild Thomas Weiß, Allgäuer Zeitung Ihr Urteil: Der Kampf um Gold dauert fünfeinhalb Minuten. Maximal. Bei den Olympischen Spielen will sich der Deutschland-Achter belohnen. Für brutal anmutende Trainingseinheiten, für den erbarmungslosen Kampf um den Platz im Paradeboot, für Verzicht und für Rückschläge. Peter Wenig beleuchtet, welche Bedeutung der Ruder-Achter für das Publikum und die Sportler hat. Aktuell und in der Historie. Er berichtet über menschliche Schicksale und Dramen, nennt Gewinner und Verlierer, hält die Lupe über das Innenleben der Mannschaft. Dabei ist die Sprache klar, unmissverständlich und in den Bann ziehend. Fast hat man das Gefühl, selbst mit über das Wasser zu gleiten. Genau fünfeinhalb Minuten lang. 3
Platz 1 – Peter Wenig: Kampf um das Traumschiff Deutschlands Ruder-Achter schrieb große Sportgeschichte. Jetzt geht die Crew mit dem Hamburger Torben Johannesen die „Mission Olympia-Gold 2020“ an. Brutal ist das Trainingspensum, erbarmungslos das Ringen um einen Platz im Boot. Peter Wenig (59) ist Autor beim Hamburger Abendblatt (Foto: Andreas Laible) Durch das weit geöffnete Rolltor lugt die Morgensonne, ein paar Schritte weiter stampft ein Containerschiff den Dortmund-Ems-Kanal Richtung Norden hinauf. Doch die acht Hünen in der Bootshalle schauen nur zu Boden, lauschen betreten den Worten ihres Steuermannes. „Der Worte sind genug gewechselt“, spricht Martin Sauer, 55 Kilogramm, 170 Zentimeter, das Leichtgewicht im Kreis der Riesen. Wie am Vortag hat einer in der Umkleide getrödelt – für Sauer ein Zeichen mangelnden Respekts: „Ich erwarte von niemandem, dass er 24 Stunden am Tag an den Achter denkt. Aber in dem Moment, wo er die Bootshalle betritt, erwarte ich das.“ An diesem Donnerstagmorgen im Mai trennen den Deutschland-Achter im Dortmunder Ruderleistungszentrum noch 447 Tage vom Olympischen Finale in der Bucht von Tokio am 31. Juli 2020. Doch die Stimmung wirkt so angespannt, als stünde der Kampf um die Medaillen unmittelbar bevor. Wortlos tragen die acht Männer das grüne Boot, 17,5 Meter lang, 96 Kilogramm schwer, 69.000 Euro teuer, an den Steg, legen es ins Wasser und schwingen sich auf ihre Rollsitze. Wer hier Platz nehmen darf, will diesen um fast jeden Preis verteidigen. Siebenmal wurde der Achter als Deutschlands Mannschaft des Jahres geehrt – einzig die Fußball-Nationalmannschaft gewann diesen Titel noch öfter. Es ist der 3. September 1960, als auf dem Lago Albano bei Rom ein Mythos entsteht. Der Olympiasieg der Männer vom Ratzeburger See gehört zur Nachkriegs-Sportgeschichte wie der WM-Titel der „Helden von Bern“ 1954 oder der Gold-Ritt 1956 in Stockholm von Hans Günter Winkler auf Halla, der Wunderstute. Karl Adam, als Ruderprofessor geadelt, obwohl er selbst nie bei einem Wettkampf in einem Boot saß, hatte den ersten Achter geformt, der bei Olympischen Spielen die Phalanx des Seriensiegers USA brechen konnte. Kraftübungen zeigte er mit seinem vernarbten linken Unterarm, Granatsplitter hatten ihn im Krieg verwundet. Der 4
Studenten-Boxweltmeister und Hammerwerfer drillte „seine Burschen“, wie er sie nannte, bis zur Erschöpfung. Acht Jahre später holte die Adam-Crew wieder Gold, auch 1988 (Seoul) und 2012 (London) siegte Deutschland. Der Achter – Traumschiff und Galeere zugleich. Acht Ruderblätter, die absolut synchron eintauchen. Eine Mannschaft, die die Riemen bis zur totalen Erschöpfung durch das Wasser zieht – und doch mit der Präzision eines Metronoms. Im Dortmunder Leistungszentrum hängt das Poster mit den Olympiasiegern von Seoul direkt neben dem Bild der Goldmedaillen-Gewinner von London – die Helden von einst sind allgegenwärtig. Maximilian Planer (28), ein bärtiger 1,95-Meter-Mann, 95 Kilogramm geballte Muskelkraft, deutet auf ein schwarzes Sofa in der Ecke des Konferenzraums. „Dort habe ich gesessen, als der Trainer den Kader für den Achter bekannt gab“, sagt Planer. Es war der Tag, den Bundestrainer Uwe Bender den „härtesten Tag der gesamten Saison“ nennt. Der Tag, an dem er die Teams nominiert: für die beiden Zweier, für den Vierer – und eben für den Achter. Es ist das Zwischenzeugnis nach der Wintervorbereitung. Journalistik-Student Planer erfuhr an jenem April-Tag, dass er seinen Platz im Boot abgeben muss. Bender strich neben Planer auch noch Felix Wimberger (29), holte Laurits Follert (23) und Christopher Reinhardt (22) ins Paradeboot. „Das war schon krass. Ich habe mich gefragt, wo wir es verbockt haben“, sagt Planer. Für ihn ein bitteres Déjà-vu, bereits vor den Spielen in Rio de Janeiro 2016 hatte er seinen Platz im Achter verloren. Doch Planer will nicht nachkarten, die jüngeren Konkurrenten seien in der Vorbereitung stärker gewesen, Benders Begründung („Wir haben jetzt mehr PS im Boot“) nachvollziehbar. Mit Wimberger holte er im Vierer Anfang Juni Bronze bei der EM in Luzern. Und doch haben beide nur ein Ziel: noch härter trainieren, um in Tokio wieder im Achter zu sitzen. Im deutschen Traumschiff. Bundestrainer Bender spricht von „schlaflosen Nächten“ vor der Nominierung. Keiner kann die Qualen im Kampf ums Traumschiff besser einschätzen. Wie Schwimmen gilt Rudern als Fleißsportart, zwischen 6500 bis 7000 Ruder-Kilometer spult jeder Athlet in einer Saison ab, dazu die ständige Schinderei im Kraftraum. Dennoch entspricht Bender so gar nicht dem Schleifer-Klischee. Der Karlsruher redet ruhig und bedächtig, holt für den Reporter, der ihn im Trainer-Motorboot begleitet, stets ein wärmendes Sitzkissen. „Ich gehe auf die Athleten ein, spreche mit ihnen über ihre Sorgen“, sagt Bender. „Ich habe das Gefühl, dass es zwischenmenschlich nicht mehr passte, dass ich nicht mehr erwünscht war.“ Eric Johannesen über sein Aus Bei Nominierungen habe er schon alles erlebt. Tränen, Wut, Resignation. Planer und Wimberger hätten vergleichsweise gefasst reagiert: „Sie haben den Bus, der auf sie zufuhr, kommen sehen.“ Dennoch hätte er den bequemeren Weg gehen können: festhalten an der alten Crew, die zweimal Weltmeister wurde, nach Rio kein Finalrennen mehr verlor und 2017 die Weltbestzeit aufstellte. Andererseits zeigt ein kurzer Blick zum Fußball den schmalen Grat zwischen Treue und Verrat am Leistungsprinzip: Joachim Löw vertraute bei der WM in Russland seinen 2014er-Weltmeistern – und erlebte ein Debakel. 5
Der Blick durch bodentiefe Fenster fällt auf den Dortmund-Ems-Kanal. In Reih und Glied stehen Ergometer in der Sporthalle des Leistungszentrums, Maschinen, die mit Rollsitz und Schwungrad das Rudern simulieren. Volker Grabow, in den 1980er-Jahren zweimal Weltmeister im Vierer, hat viele Jahre selbst auf solchen Geräten Kondition gebolzt. Jetzt prüft er als Trainingswissenschaftler, was die Ruderer leisten können, wie belastbar sie sind. Wie Politiker nach Prognosen an Wahlabenden gieren die Sportler nach diesen Werten, von ihnen hängt entscheidend ab, wer im Achter sitzt. Und wer nicht. Keiner war in diesem Frühjahr auf dem Ergo stärker als Christopher Reinhardt. Der Medizinstudent holt sich in der Kantine des Leistungszentrums noch einen Nachschlag Nudeln mit Hähnchenbrustfilet. Bis zu 6500 Kalorien verbrennt ein Top-Ruderer an einem Trainingstag. „Ich bin es gewohnt, über meinen Appetit zu essen“, sagt Reinhardt. Im November 2017 stand seine Karriere auf der Kippe. Wachstumsfugen in den Knien hatten sich verschoben, nach der Operation fiel er neun statt der prognostizierten drei Monate aus. Umso erstaunlicher sein Comeback: Bestwert auf dem Ergo, dritter Rang bei den Deutschen Kleinbootmeisterschaften im Zweier an der Seite von Schlagmann Hannes Ocik – das ersehnte Ticket für den Achter. „Das Glücksgefühl über die Nominierung war genial. Übertroffen werden kann das nur noch durch Medaillen bei einer WM oder Olympischen Spielen“, sagt Reinhardt. Wie hart dieser Weg wird, zeigt sich in diesen Wochen. Der Laie sieht nur von Erschöpfung und Schmerz gezeichnete Athleten, die die Riemen bis zu 48-mal pro Minute durch das Wasser peitschen. Experte Bender beobachtet dagegen aus seinem Motorboot genau, wie das Boot fährt, wenn die Riemen über der Wasseroberfläche schweben. Rund 800 Kilogramm Körpergewicht rollen im Freilauf gegen die Fahrtrichtung des Bootes. Geschieht dies nicht nach jedem Schlag absolut synchron, tauchen die Blätter ungleich ein. Im Orchester hört vielleicht ein Kritiker einen falschen Ton, im Achter kann ein minimaler Wackler den Sieg kosten. Sensoren messen die Kraftkurve jedes Einzelnen Ein schnauzbärtiger Mann spürt genau diese Fehler auf. Stefan Weigelt, promovierter Sportwissenschaftler und begnadeter Tüftler, rüstet das Boot bei Messfahrten mit Sensoren aus. Auf seinem Laptop zeigt er die Kraftkurven der Ruderer. Im Idealfall, sagt er, liegen sie deckungsgleich übereinander. Die alte Crew, das kann man sagen, kam diesem Ideal sehr nah. „Physisch waren andere stärker, technisch wir aber besser“, sagt der Hamburger Torben Johannesen (24/RC Favorite Hammonia), seit Rio fester Bestandteil des Deutschland-Achters. Benders Mission lautet nun, die durch die Umbesetzungen gewonnenen PS wirklich aufs Wasser zu bringen. Verspielt der neue Achter seinen Vorsprung durch Technik, ist alles verloren. „Das Boot läuft noch nicht wirklich gut“, sagt Bender. Reinhardt gab nach den ersten Einheiten ehrlich zu: „Die Mannschaft zeigt einem die Defizite gnadenlos auf.“ Knapp fünf Wochen vor der WM Ende August im österreichischen Ottensheim gibt die Frage nach der Gold-Reife für Tokio Rätsel auf: Den Siegen bei der EM in Luzern sowie beim Weltcup im polnischen Posen folgte vor zwei Wochen eine klare Niederlage gegen die Briten beim Weltcup in Rotterdam. Steuermann Martin Sauer war entsprechend 6
bedient: „Wir haben eine richtige Klatsche bekommen. An den entscheidenden Stellen war kein Saft da.“ Einer wie er kann nur Klartext reden. Sauer, wichtigster Mann Benders bei der Operation Olympia-Gold, gibt den Kurs nicht nur auf dem Wasser vor. Wer mit den Achter-Athleten über Sauer spricht, hört Bewunderung („Der Beste der Welt“), Respekt („Der ehrgeizigste Mensch auf diesem Planeten“) und leise Kritik: „Martin muss aufpassen, dass er den Bogen nicht überspannt.“ Bender weiß das, jüngst forderte er von seinem engsten Vertrauten mehr Nachsicht ein, zu viel Kritik verunsichere die Mannschaft. Als der „Tagesspiegel“ Sauer einmal bat, einen Ruderwitz zu erzählen, konterte der Steuermann: „Sorry, ich kenne gar keinen. Wir erzählen uns im Achter keine.“ Nein, der Berliner taugt nicht zum Stimmungsmacher. Dafür weiß er mehr über Personalführung als viele Autoren kluger Ratgeber. Schon als Elfjähriger steuerte Sauer das erste Mannschaftsboot, sechs Jahre später führte er den deutschen Junioren-Achter zum WM-Sieg. Seit 25 Jahren gibt der Berliner nun gegenüber Athleten, die ein, zwei Köpfe größer sind, den Ton an. Das kann nicht gelingen, wenn man unkontrolliert herumbrüllt. Auftritte wie an jenem Morgen im Bootshaus geschehen mit kaltem Kalkül. Der Steuermann spürt, wenn Mangel an Disziplin den Kurs gefährden könnte. Er hasst unprofessionelles Verhalten. Die Niederlage gegen die Briten in Rio 2016 wurmt ihn noch heute. „Das war eine Katastrophe mit Ansage.“ Der Verband hätte das Quartier viel näher an die Regattastrecke legen müssen: „Die Briten schlenderten entspannt zum Training. Wir saßen bis zu zweieinhalb Stunden im Bus.“ Ein Mitglied der Silber-Crew von 2016 nimmt an einem warmen Juli-Nachmittag auf der Terrasse des Ruder-Clubs Favorite Hammonia Platz, ein paar Schritte entfernt legt gerade ein Zweier an. Eric Johannesen, in London mit Sauer im Achter Olympiasieger, hat das Restaurant seines Vereins an der Alster als Treffpunkt vorgeschlagen. Dabei könnte es ihm niemand verdenken, wenn er momentan einen großen Bogen um jedes Ruderboot machen würde. Zehn Tage zuvor erlebte Johannesen in Posen den wohl bittersten Moment seiner Karriere. In einem kurzen Gespräch informierte ihn das Trainerteam, dass er ab sofort nicht mehr zum Kader gehöre. Zu schwach seien seine Leistungen auch bei diesem Weltcup im Zweier gewesen. Die Entscheidung hatte sich schon angedeutet. „Eric ist aktuell noch immer weit entfernt von der Leistungsfähigkeit, die ihn in den Olympiazyklen vor London und Rio ausgezeichnet hat. Seine Physis war damals ein wahnsinniges Pfund, jetzt liegt er unter dem Durchschnitt des Teams“, sagte Cheftrainer Bender bereits im Juni. Der Rudersport im Verein wird medial kaum beachtet Das Aus für Johannesen zeigt den gnadenlosen Wettbewerb unter den Ruderern. Nach einem selbst verordneten Pausenjahr, das er für den Abschluss seines Wirtschaftsingenieur-Studiums nutzte, hatte sich Johannesen Anfang 2018 wieder in die 7
Elite zurückgekämpft, wurde aber dennoch nur als Ersatzmann für EM und WM nominiert. Für sein erneutes Comeback im A-Kader trainierte der 31-Jährige so hart, dass er sich eine Sehnenscheidenentzündung im rechten Arm einhandelte: „Ich habe viel für das Team geopfert. Ich habe meine Familie fünf Tage die Woche in Hamburg zurückgelassen, mir eine Wohnung mit meinem Bruder in Dortmund genommen, alles dem Ziel, wieder ins Team zu kommen, untergeordnet.“ Umso größer nun die Enttäuschung, dass sein Traum vom Sieg in Tokio in einem Boot mit seinem jüngeren Bruder Torben so abrupt endet. „Ich muss die Entscheidung der Trainer akzeptieren, auch wenn sie für mich schwer nachvollziehbar ist“, sagt Eric Johannesen. Bei der Selektion, also bei den Kleinboot-Meisterschaften, sei er zumindest im Mittelfeld gewesen, auf dem Ergo sogar besser als zwei andere Athleten aus dem jetzigen Achter. Sein bitteres Fazit: „Es spricht vieles dafür, dass es keine rein sportliche Entscheidung war. Ich habe das Gefühl, dass es zwischenmenschlich nicht mehr gepasst hat, dass ich nicht mehr erwünscht war.“ Insgesamt, sagt er, hätte er sich vom Trainerteam mehr Unterstützung gewünscht: „Ich bin mir bewusst, dass ich auf dem Ergometer noch nicht auf meinem alten Leistungsstand bin. Leider wurde nicht individuell darauf eingegangen, dass ich gegebenenfalls andere Reize gebraucht hätte. Letztes Jahr erst aus dem Team raus zu sein, dann wieder drin, bis Dezember keinen festen Zweierpartner zu haben, die Geringschätzung durch den Trainer zu spüren, das alles zehrt.“ Nun gehört Scheitern zum Leistungssport wie Pokale und Medaillen. Und doch ist die Drucksituation im Rudern eine andere. Im Fußball kann Weltmeister Mats Hummels, aussortiert aus dem Nationalteam, beim FC Bayern nicht mehr als Stammspieler gesetzt, als Hoffnungsträger zum Rivalen Borussia Dortmund wechseln. Im Rudern wird der Vereinssport medial kaum beachtet. Und bei einer Regatta gibt es keinen Joker, der durch eine einzige Tat vom Ersatzspieler zum Helden werden kann. „Im Achter sind wir ein Team, aber eben doch Konkurrenten, die um ihren Platz kämpfen müssen“, sagt Johannesen. Sein Comeback bereut er dennoch nicht: „Die Erfahrungen, die ich machen musste, waren für mich immens wichtig.“ Denn Johannesen will nach der Karriere im Sport bleiben: „Ich glaube nicht mehr, dass ich glücklich werde, wenn ich dauerhaft im Büro arbeite. Ich mache meine Trainerscheine, würde gern im Leistungsbereich arbeiten.“ Torben Johannesen lebt ein Leben am Limit Doch noch, sagt er zum Abschied, sei das nächste Comeback möglich. Niemand könne wissen, wohin der Achter nach Tokio sportlich steuert. Deshalb wird er auch weitertrainieren, statt auf dem Dortmund-Ems-Kanal eben auf der Alster im Verein. Seine Freundin würde jede Entscheidung respektieren – schließlich war sie selbst eine exzellente Ruderin. Für seinen Bruder ist die Entscheidung in doppelter Hinsicht bitter. Torben Johannesen verliert seinen engsten Vertrauten im Boot, Erics Erfolge animierten ihn zum Rudern. Bei dessen Olympiasieg 2012 baten ihn die Eltern, alle Zeitungen mit Fotos von Eric auf der Titelseite zu kaufen. Vom Kiosk kehrte er mit einem großen Stapel zurück: „Jedes Blatt hatte den Achter-Triumph auf der ersten Seite.“ 8
Zudem büßt er seinen WG-Partner ein. Die Brüder hatten sich gemeinsam eine Wohnung im Dortmunder Kreuzviertel gesucht, um Miete zu sparen. Dabei führt er ohnehin ein Leben am Limit. Aus der aktuellen Achter-Crew pendelt nur er: zwei Tage Hamburg, fünf Tage Dortmund. Der Wechsel an eine Uni im Ruhrgebiet würde ihn zwei Semester kosten, zudem wohnt seine Freundin an der Elbe. Die Trainer sehen die Fahrerei nicht gern, aber tolerieren sie, weil sie Torbens unbändigen Ehrgeiz kennen. Als ihn das Abendblatt in Hamburg an einem Montagmorgen um 8.30 Uhr zum Frühstück in Uni-Nähe trifft, hat er sich bereits 90 Minuten auf dem Ergometer gequält. Und nach dem Termin geht es direkt zum Seminar. Am späten Abend wieder nach Dortmund. Nun muss er überlegen, ob er die Wohnung nach dem bevorstehenden Auszug seines Bruders ganz aufgeben soll. Oder sich einen anderen Ruderkameraden sucht. Nur ein paar Straßen entfernt von der Johannesen-WG trocknen Trainingsklamotten über Wäscheständern, im Wohnzimmer steht ein mächtiger Billardtisch. Schlagmann Hannes Ocik, Achter-Neuling Follert und Marc Leske aus dem Riemen-Zweier wohnen ebenfalls im Kreuzviertel zusammen, zehn Autominuten vom Leistungszentrum entfernt. Der Zufall will es, dass alle auf der Backbord-Seite rudern. „Eigentlich müsste ich euch beiden was ins Essen tun, um in den Achter zu kommen“, ruft Leske unter dem Gelächter seiner WG-Mitbewohner, als er Obst für den Salat schnippelt. Ocik, ausgebildeter Polizist, hat deutlich mehr Humor als sein Steuermann, dem er als Schlagmann gegenübersitzt. Doch beim Ehrgeiz sind sie Seelenverwandte. Ociks Karriere schien schon vorbei, bevor sie begann – als B-Junior infizierte er sich mit Pfeifferschem Drüsenfieber: „Die Ärzte wussten nicht, ob es noch was wird mit Leistungssport.“ Zwei Jahre später – Ocik hatte sich wieder an die Spitze gekämpft – der nächste Rückschlag: Bei der Qualifikation zur Junioren-WM steuerte er im Zweier gegen eine Boje und kenterte – die Höchststrafe im Wettkampf. 2014 dann das „Seuchenjahr“, wie Ocik es nennt. Der Schweriner verschleppte einen Virus, lag wochenlang flach: „Ich fühlte mich wie ausgewrungen.“ Doch Ocik kam erneut stärker zurück, mit ihm als Schlagmann holte Deutschland 2016 in Rio Silber. „Das waren vier Jahre Arbeit für eine Silbermedaille. Da fragt man schon: Warum?“ Hannes Ocik, Schlagmann, zu Rio 2016 Allerdings zeigen gerade die Minuten nach dem Finale in Brasilien den fast unmenschlichen Druck im Achter: Statt sich über den so knapp erkämpften zweiten Platz zu freuen, steigen die Ruderer tief enttäuscht aus ihrem Boot. „Das waren vier Jahre Arbeit für eine Silbermedaille. Da fragt man schon: Warum?“, klagt Ocik in ersten Interviews. Ein Mythos, der bei Olympischen Spielen entstand, kann nur bei Olympischen Spielen fortgeschrieben werden. Nur dann richten sich alle Scheinwerfer auf die Ruderer – zur EM in Luzern im Juni schickten nicht einmal die Nachrichtenagenturen Reporter. Richard Schmidt (32), nunmehr im zehnten Jahr in Folge im Deutschland-Achter, inzwischen Athleten-Sprecher, stellt sich die Frage nach dem Warum derzeit besonders oft. Sein Gang in die Bootshalle führt vorbei an einem gelben Renn-Einer mit dem 9
Schriftzug „Max Reinelt“. In diesem Boot wollte Reinelt, mit Schmidt Olympiasieger von London 2012, nach dem Karriereende und Medizinstudium noch zum Spaß auf der Donau rudern. Doch der Arzt starb im Februar mit nur 30 Jahren auf der Langlaufloipe in St. Moritz an plötzlichem Herzversagen, das gesamte Team kam zur Trauerfeier nach Ulm. „Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaffen werde, in seinem Boot zu rudern“, sagt Schmidt. Ein paar Tage vor seinem Tod hatte Reinelt seinem Freund noch eine Handy-Nachricht geschickt. Schmidt schrieb kurz zurück, er rufe bald an, gerade so viel zu tun. Zu dem Telefonat kam es nicht mehr. Als vor Jahren ein Vertrauter aus seinem Trierer Ruderverein starb, wäre Schmidt gern zur Beerdigung gefahren – es ging nicht, wieder war das Training gerade wichtiger. „Ich weiß gar nicht, wie viele Hochzeiten und Geburtstage ich durch den Leistungssport verpasst habe“, sagt Schmidt. Nach einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln trainieren Ruderer im Schnitt 35,8 Stunden die Woche, dazu kommen 24,2 Stunden für Arbeit, Ausbildung oder Studium. Schmidt, der gerade seine Doktorarbeit über erneuerbaren Strom und Wasserstoff schreibt, hält eine 70-Stunden-Woche für realistischer. Dank der Förderung durch Sporthilfe, Bundeswehr – der Wirtschaftsingenieur ist Sportsoldat – und Sponsoren komme er finanziell über die Runden: „Ruderer, die am Anfang ihrer Karriere stehen, haben es viel schwieriger.“ „Mein größter Sponsor sind meine Eltern“, bestätigt Christopher Reinhardt. Fast entschuldigend fügt er hinzu, dass er für Olympia im Medizinstudium eine Pause einlegen werde, die er aber für die Promotion nutzen möchte. Und natürlich will er weiter jeden Freitag Fagott spielen mit seinem Orchester in Marl. Es ist der Moment, wo man sich fragt, welche Eruptionen eine Schlagzeile wie diese auslösen würde: „Marco Reus: Für die EM unterbreche ich mein Studium – aber meine Doktorarbeit schreibe ich“. Leistungsdiagnostiker Grabow sieht die Belastung mit Sorge, besonders im Trainingslager, wenn die Ruderer zwischen kräftezehrenden Einheiten Klausuren unter Aufsicht schreiben. „Der Schlaf kommt zu kurz“, warnt Grabow. Ausgerechnet bei Olympia darf der Sponsor nicht werben Wenn Torben Johannesen über seine 70-Stunden-Woche spricht, hört er mitunter, niemand dürfe erwarten, dass die Gesellschaft sein Hobby finanziere: „Aber auf der anderen Seite wird Gold von uns verlangt, das passt nicht zusammen.“ Sein Bruder Eric klapperte nach dem Olympiasieg 2012 Hamburger Autohäuser ab, um ein gesponsertes Auto für die Fahrten nach Dortmund zu bekommen – vergebens. Der Achter funktioniert allein als Marke, die Männer im Boot erkennen nur Insider. Kein Ruderer kann sich guten Gewissens allein auf seine sportliche Karriere konzentrieren. Dass der Achter überhaupt unter so professionellen Bedingungen trainieren kann, hat das Team einem inzwischen 88 Jahre alten Ingenieur zu verdanken: Jochen Opländer initiierte als Chef des Dortmunder Pumpenherstellers Wilo (7800 Mitarbeiter, knapp 1,5 Milliarden Umsatz) die Partnerschaft mit dem Deutschland-Achter. Opländer sagt, er sei nie in seinem Leben in einem Fußballstadion gewesen: „Rudern ist mein Lebenselixier.“ 10
Beim Olympiasieg in London standen die Wilo-Bänder still, die Belegschaft verfolgte das Rennen auf Großbildschirmen. Doch wenn der Achter am 31. Juli 2020 in Tokio um Gold kämpft, wird der Wilo-Schriftzug überklebt – ausgerechnet an dem Tag, wo sich der mediale Fokus weltweit auf den Achter richtet, sperrt das IOC-Reglement die nationalen Sponsoren aus. Sauer wird an jenem Freitag, dem Schlusstag der Olympischen Ruder-Wettkämpfe, auf eine Motivationsansprache verzichten, der Worte sind dann wirklich genug gewechselt: „Bis dahin werden wir uns ungefähr hundertmal angeschrien haben.“ Der Steuermann wird die Konkurrenz genau beobachten, Schlagzahlen vorgeben, ruhig bleiben, auch wenn der Achter zurückliegen sollte: „Panisches Geschreie sorgt nur für Hektik und stört den Rhythmus.“ Auf etwa 22 km/h wird das grüne Boot durch die Bucht von Tokio beschleunigen, angetrieben von acht Ruderern, die am Ende in den berüchtigten Tunnel geraten, wenn ihnen schwarz wird vor Augen, weil jeder Muskel brennt. „Du hast einen Geschmack von Blut im Mund“, hat Eric Johannesen einmal gesagt. Er musste sich nach dem Sieg 2012 in London übergeben, das Überschreiten der „Kotzgrenze“ habe sich gut angefühlt: „Dann weißt du, dass du alles gegeben hast.“ Sollte der Achter 60 Jahre nach Rom wieder Gold holen, weiß Sauer, was ihm blüht. Sie werden sich den Kleinsten aus ihrer Crew schnappen und ihn ins Wasser werfen. Der Steuermann kann mit dem Ritual nichts anfangen: „Meistens ist es saukalt im Wasser.“ Er wird auch das verschmerzen. 11
Platz 2 – Lars Spannagel: Die Zeit ist reif Frischer Asphalt, 41 Tempomacher, keine Gegner. Eliud Kipchoge soll das Unmögliche gelingen: ein Marathon unter zwei Stunden. Das Projekt „1:59“ in Wien kostet Millionen – aber was hat das noch mit Sport zu tun? Lars Spannagel (41) ist Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. Die vier Männer laufen in schweigender Konzentration, nur ihre neongrünen Turnschuhe rascheln durch das Laub der Kastanienbäume. Eliud Kipchoge läuft vorneweg, er atmet gleichmäßig, sein Schritt wirkt leichtfüßig und gleichzeitig kraftvoll, die dünnen Beine tragen ihn scheinbar mühelos voran. Die Sonne über Wien ist an diesem Mittwochmorgen gerade erst aufgegangen, der Prater-Park liegt im Halbdunkel, noch geht es um nichts, ein lockeres Morgentraining. Drei Tage noch, dann soll es um alles gehen. Die vier Läufer passieren Absperrgitter, Lastwagen, Baumaschinen. Auf dem Asphalt der Prater-Hauptallee ist mit oranger Farbe eine Ideallinie aufgemalt, am Rand der Straße sind in Grün kryptische Markierungen auf den Boden gesprüht, Zahlen und Buchstaben. Weiter vorne, wo Kipchoge an diesem Samstag ins Ziel laufen soll, ist ein Teil der Straße abgesperrt. In der Nacht haben Bauarbeiter die oberste Schicht des Asphalts weggefräst, die Oberflächenstruktur war ein wenig zu rau. In der nächsten Nacht wird neu asphaltiert, dann wird, dann muss alles perfekt sein. Denn es ist Perfektion, um die es hier geht. Die Hauptallee wird zur Rennstrecke umgebaut, alles muss optimal vorbereitet sein, damit Eliud Kipchoge – 34 Jahre alt, Weltmeister, Olympiasieger, Weltrekordhalter, größter Marathonläufer aller Zeiten – am Samstag Geschichte schreiben kann. Als erster Mensch will der Kenianer einen Marathon unter zwei Stunden absolvieren, eine der letzten als unüberwindbar geltenden Schallmauern des Sports durchbrechen. Kipchoge erklärt immer wieder, der erste Mensch unter zwei Stunden, das sei so etwas „wie der erste Mensch auf dem Mond“. Für dieses Ziel und das Projekt „1:59“ geben der britische Chemiekonzern Ineos und dessen Chef Jim Ratcliffe, reichster Mann Großbritanniens, eine zweistellige Millionensumme aus. Ratcliffe leistet sich auch das Radteam, für das der Kolumbianer Egan Bernal in diesem Jahr die Tour de France gewonnen hat. Für Kipchoges Rekordversuch bezahlt das Unternehmen ein Team aus Wissenschaftlern, Trainern und Meteorologen, das seit Monaten auf diesen Tag hinarbeitet. 41 Tempomacher, 12
Spitzenläufer aus aller Welt, sollen Kipchoge zum Rekord führen, viele von ihnen sind direkt von der Leichtathletik-WM in Katar nach Wien gereist. Für die Menschen, die bei dem Projekt mitarbeiten, stellt der Rekordversuch einen Triumph des Fortschritts dar, die Essenz des Sports, die ultimative Zuspitzung des olympischen Mottos „höher, schneller, weiter“. Puristen des Laufsports halten das Ganze für eine Perversion, eine reine PR-Kampagne. Laufen. Tee und Maisbrei. Laufen. Um 21 Uhr Licht aus Während Kipchoge und seine Gefährten im Prater ihren Morgenlauf beenden, haben sich im Zielbereich Fotografen und Kameraleute versammelt. Das Projekt wird in jeder Einzelheit dokumentiert: Kipchoges Training in Kaptagat im Westen Kenias, die Anreise, die letzten Vorbereitungen in Wien. Das Rennen am Samstagmorgen wird in 200 Ländern im Fernsehen und im Internet live übertragen. Eliud Kipchoge wird langsamer, bleibt stehen, dehnt seine Beine und Hüften. Die Kameras klicken, ein britischer Fotograf fragt, wo hier eine gute Position für einen „hero shot“ sei. In der Welt des Laufsports ist Kipchoge spätestens seit dem 16. September 2018 ein Held, damals stellt er beim Berlin-Marathon in 2:01:39 Stunden einen neuen Weltrekord auf, mehr als eine Minute schneller als die alte Bestzeit. Olympiasieger ist er bereits zwei Jahre zuvor in Rio de Janeiro geworden, Weltmeister über 5000 Meter schon 2003. Kipchoge wirkt mit seinen 1,67 Metern und 57 Kilogramm fast zerbrechlich, auf den wichtigsten Marathonstrecken der Welt, in Berlin, London oder Chicago, hat er sich aber als unzerstörbar erwiesen. Kipchoge ist ein leiser Held, die meiste Zeit des Jahres trainiert der Vater von drei Kindern in Kenia. Getrennt von seiner Familie lebt er mit anderen Läufern unter spartanischen Bedingungen, liest Fachliteratur über Psychologie und Motivation, spirituelle Romane von Paulo Coelho. Ein Morgenlauf, Tee und Maisbrei, ein langer Mittagsschlaf, ein Nachmittagslauf, Licht aus um 21 Uhr. Selbst seinem Trainer ist manchmal fast unheimlich, wie diszipliniert, pünktlich und zuverlässig Kipchoge ist. Die offiziellen Fotos sind gemacht, Kipchoge soll jetzt schnell zurück ins Hotel, bloß nicht auskühlen. Ein zufällig vorbeigekommener Hobbyläufer will vorher aber noch unbedingt ein Selfie mit dem Kenianer, Kipchoge nickt und lächelt, um seine Augen bilden sich Lachfalten. Dann macht sich die Laufgruppe im lockeren Trab auf den Rückweg. Fans auf der ganzen Welt eifern Kipchoge nach, analysieren seinen Laufstil. Sie kennen die Namen aus dem All-Star-Team, das für Kipchoge das Tempo machen und Windschatten spenden soll: die drei Ingebrigtsen-Brüder aus Norwegen! Der fünffache Weltmeister Bernhard Lagat aus Kenia! Der 19- jährige Äthiopier Selemon Barega, der gerade erst WM-Silber gewonnen hat! Und sie kennen die Rahmendaten dessen, was Kipchoge in Wien vorhat. Um unter zwei Stunden zu bleiben, muss er eine konstante Geschwindigkeit von 21,1 km/h halten, das entspricht 2:50,6 Minuten pro Kilometer, 42 Mal hintereinander. 185 Schritte pro Minute, eine Schrittlänge von 1,90 Meter, 22.000 Schritte bis zur Ewigkeit. 13
Die Zahlen sind wahnwitzig, außerhalb der Reichweite nahezu jedes anderen Athleten. Und trotzdem kann sich fast jeder Hobbyläufer mit Kipchoge identifizieren. Der britische Autor Ed Caesar, der der Jagd nach dem Marathonrekord mit seinem Buch „Two hours“ ein Denkmal gesetzt hat, nennt die Marathondistanz „demokratisch“. Jeder Läufer trete auf den 42,195 Kilometern gegen seine eigenen Grenzen an, jeder müsse Schmerz aushalten, verborgene Reserven aktivieren. „Egal, wie groß das Talent ist, wie gut die Vorbereitung“, schreibt Caesar. „Niemand läuft einen einfachen Marathon.“ Robby Ketchell ist der Mann, der es Eliud Kipchoge so einfach wie möglich machen soll. Der 37 Jahre alte US-Amerikaner sitzt müde und angespannt in der Lobby des Teamhotels, die Farbspritzer auf seiner Jeans, orange und grün, wollen nicht zum edlen Ambiente passen. Ketchell ist gelernter Mathematiker und Sportwissenschaftler, zehn Jahre lang hat er Profiradteams beraten. In Wien hat er anhand der Wettervorhersage - niederschlagsfrei, Windgeschwindigkeit weniger als zwei Meter pro Sekunde, 5 bis 9 Grad Celsius – die perfekte Startzeit um 8.15 Uhr ausgewählt. Außerdem hat er die Aerodynamik der Tempomacher und die Gestaltung des Kurses optimiert. „Ich bin sehr optimistisch. Aber wir müssen perfekt sein. Eliud muss perfekt sein“, sagt Ketchell. „Es wird auf jede Sekunde ankommen, jedes Detail.“ Ketchell hat bereits beim ersten groß angelegten Versuch mitgearbeitet, die Zwei- Stunden-Marke zu unterbieten. Der Sportartikelhersteller Nike schickte 2017 Kipchoge und zwei andere Läufer unter dem Namen „Breaking2“ auf die Formel-1-Rennstrecke in Monza nahe Mailand, trotz ähnlich intensiver Vorbereitung und einer Investition von angeblich 30 Millionen US-Dollar verpasste Kipchoge die Fabelzeit um 25 Sekunden. Die perfekte Werbung für die neueste Laufschuh-Generation – vermeintliche Leistungssteigerung: 4 Prozent, Preis pro Paar: 250 Euro – blieb aus. Ketchell hat seine Lehren aus dem Scheitern von Monza gezogen. Mit Tests im Windkanal und in Computersimulationen hat er eine neue Formation für die Tempomacher erdacht: Jeweils sieben von ihnen werden Eliud je fünf Kilometer begleiten, fünf Männer in einem V vor ihm, zwei leicht versetzt hinter ihm. Damit niemand von der Idealposition abweicht, gibt das Führungsfahrzeug nicht nur die Geschwindigkeit vor, sondern projiziert auch mit einem grünen Laser ein Raster auf den Asphalt. Mit dem, was Ketchell und seine Kollegen erdacht haben, verstoßen sie gegen eine Reihe von Regeln des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Für einen offiziellen Weltrekord schreibt die IAAF einen Rundkurs vor, ein größeres Läuferfeld und feste Verpflegungsstationen. Wechselnde Tempomacher sind verboten. Eliud Kipchoge sagt, den offiziellen Weltrekord halte er ohnehin schon, darum gehe es auch gar nicht. „Ich will Geschichte schreiben, der Nachwelt etwas hinterlassen, andere Menschen inspirieren.“ Als Analogie führt das Ineos-Team gerne die Erstbesteigung des Mount Everest an: Würde Sir Edmund Hillary heute etwa vorgeworfen, dass er 1953 auf dem Weg zum Gipfel die Unterstützung von Sherpas und Sauerstoffflaschen hatte? Dass die Wahl der Organisatoren auf Wien gefallen ist, hat viel mit der Hauptallee im Prater zu tun. Schnurgerade und flach führt sie durch den Park, der Höhenunterschied von einem Ende zum anderen beträgt nur 1,6 Meter, die großen Kastanien schützen vor Wind, für das Rennen müssen nur wenige Straßen gesperrt werden. In London hatte 14
Ineos keinen optimalen Kurs gefunden, auch Berlin war im Gespräch, doch weder das Tempelhofer Feld noch die Straße des 17. Juni genügten den Ansprüchen. Am Ende war es Berlins Marathon-Chef Mark Milde, der Wien vorschlug. Am südöstlichen Wendepunkt der Strecke, im engen Kreisverkehr um das historische Lusthaus, haben Bauarbeiter in der vergangenen Woche eine Art Steilkurve errichtet. Der Neigungswinkel beträgt etwa ein Prozent und ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Robby Ketchell hat fünf Monate lang verschiedene Modelle durchgerechnet, immer wieder. Jetzt ist er überzeugt, dass die Steilkurve Kipchoge zwölf Sekunden bringen wird. Fünf Wetterstationen, die seit dem Sommer im Prater Wind, Luftfeuchtigkeit und Temperaturen aufzeichnen. Ein elektronisches Führungsfahrzeug mit Spezialtempomat. Ein Chip in Kipchoges Schuh, der jedes Training der vergangenen drei Jahre aufgezeichnet hat. 1,2 Kilometer neuer Asphalt auf der Hauptallee. Eigens entwickelte magenschonende Energiegetränke. Perfekte Witterung, kein Gegner außer der Zeit. Was kann da noch schiefgehen? „Man darf nicht vergessen, dass in dem Projekt überall das menschliche Element steckt“, sagt Ketchell und wirkt nicht mehr ganz so optimistisch. „Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“ Fünf Monate Arbeit für die Steilkurve, zwölf Sekunden Zeitgewinn Schon ein Schnupfen könnte das Unterfangen gefährden, die Millionen wären verpulvert. Kipchoge hat wohl nur noch diese Chance. Welcher Sponsor wird wieder so viel Geld aufbringen? Nächstes Jahr will Kipchoge erneut Olympiagold holen, kurz darauf wird er 36 Jahre alt. Auch Wunderläufer kommen irgendwann in ein Alter, in dem sie langsamer werden. In der Hotellobby riecht es nach Krankenhaus, am Empfang steht eine große Flasche Desinfektionsgel bereit. Um das Übertragungsrisiko von Infektionen zu minimieren, schütteln sich die Ineos-Mitarbeiter nicht die Hände. Auch die Tempomacher, die jetzt ihre Ausrüstung einsammeln – schwarze „Ineos“- Leibchen, knallrosa Laufschuhe –, begrüßen sich, indem sie kurz die Fäuste gegeneinander stoßen. Schilder an einer Pinnwand weisen darauf hin, wie wichtig es ist, sich regelmäßig die Hände zu waschen und den Toilettendeckel vor dem Spülen zu schließen. Daneben hängt die Liste mit den Terminen für die Dopingproben: Am Donnerstag und am Samstag werden Kipchoge und alle Tempomacher getestet. Alle Zweifel werden auch diese Tests nicht ausräumen können – wer in der Leichtathletik Außergewöhnliches leistet, steht automatisch unter Verdacht. Für Kipchoge spricht, dass er seine Leistungen kontinuierlich gesteigert hat, auf unterschiedlich langen Strecken erfolgreich war und seit Jahren auf konstant hohem Niveau läuft. Blutprofile von Kipchoge gibt es seit 2001, auch Jos Hermens begleitet den Kenianer schon so lange. Der 69 Jahre alte Niederländer hat schon viele afrikanische Läufer als 15
Manager betreut, einige hat er reich und berühmt gemacht. Als junger Läufer stellte Hermens selbst einen Weltrekord auf, für die weiteste in einer Stunde zurückgelegte Strecke. „20.944 Meter, am 1. Mai 1976“, sagt er und grinst stolz. Vom Zwei-Stunden- Marathon träumt er schon lange. Robby Ketchell hetzt durch die Lobby, Hermens springt auf, Faust gegen Faust, Ketchell hetzt weiter. „Das ist ein Verrückter“, sagt Hermens anerkennend. „Wir brauchen Verrückte.“ Hermens kennt die Kritik der Traditionalisten. Er ist selber irgendwie Traditionalist, schwärmt davon, wie der Äthiopier Abebe Bikila 1960 barfuß zu Olympiagold im Marathon lief, die Tempomacher nennt er „Hasen“. Die Kritik an dem 1:59-Projekt sei okay, sagt Hermens. „Aber wer bestimmt denn, was Sport ist?“ Die Leichtathletik sei eine altmodische Sportart, das habe man doch gerade erst wieder bei der WM in Doha gesehen, wo „alte Männer mit weißen und roten Fahnen“ über die Gültigkeit von Weitsprungversuchen entschieden hätten. „Ich bin selber ein alter Mann“, sagt Hermens und wuschelt sich demonstrativ durch die weißen Haare. „Aber das bedeutet doch nicht, dass ich nichts Neues mehr ausprobieren will.“ Bereits der Versuch, 1:59 zu laufen, eröffne doch für Läufer auf der ganzen Welt einen ganz neuen Horizont. An diesen Effekt glaubt auch Eliud Kipchoge. 22.000 kleine Schritte für ihn, ein Riesensprung für die Menschheit. 16
Platz 3 – Johannes Knuth: Zeit und Liebe Felix Neureuther war Deutschlands bester Skirennfahrer – er war aber auch immer mehr. Ist dieser Typ Sportler in Zukunft noch vorstellbar? Johannes Knuth (33) ist Sportredakteur bei der Süddeutschen Zeitung in München. Ein alpines Skirennen, hat der ehemalige Skirennfahrer Aksel Lund Svindal einmal erzählt, sei etwas sehr Spezielles. Die Fahrer stürzen sich einen Hang hinunter, die Natur rauscht an ihnen vorbei, oft hören sie nur, wie ihre messerscharfen Kanten übers Eis rattern. Oder den dumpfen Knall, wenn sie im Fangnetz landen. Sie sind immer bei sich, es hat etwas Friedliches und Quälendes zugleich: „Du kennst ja keine Zwischenzeiten, du hast null Feedback von den Trainern“, sagt Svindal, „du siehst deine Zeit erst im Ziel.“ Und während jeder Fahrer im Ziel erst mal die Anzeigetafel sucht, wissen die Zuschauer im Stadion und vor dem Fernseher längst, wie es ausgegangen ist. „Alle starren dich an“, sagt Svindal, „und warten auf deine Reaktion.“ Die Bedeutung dieses Moments begriff Svindal früh: Skirennen sind immer auch ein Labor für menschliche Dynamiken, und der Zielraum ist der Ort, in dem sich die Emotionen verdichten. Eine grün unterlegte Zeit auf der Anzeigetafel: Bestzeit. Eine rote Zeit: Rückstand. Wie ein Faustschlag ins Gesicht, jedes verdammte Mal. Meist leuchtet es rot, weil es so viele gute Fahrer gibt. „Da musst du mental ganz schön stark sein“, sagt Svindal, „weil sich deine Reaktion ja auch auf deine Konkurrenten bezieht, mit denen du monatelang durch den Weltcup reist.“ Jede Ankunft nach einer alpinen Winterreise ist auch eine Lebensschule. Demut, Respekt, Gelassenheit. Und Dankbarkeit, wenn das Licht endlich grün aufflackert. Auf Entdeckungsreise war er immer, nicht selten endete sie für ihn im Krankenhaus Als Felix Neureuther am Wochenende seinen letzten Slalom fuhr, da bespielte er diese Bühne so, wie er sie immer bespielt hatte: emotional, aber nie aufreizend. Er breitete die Arme aus, als wolle er alle umarmen, die zum Saisonfinale nach Andorra gekommen waren. So hatte er früher oft auch seine Siege zelebriert. Und bei rotem Licht: winkte er 17
immer noch mal ins Publikum, als wolle er allen fürs Kommen danken. Als Neureuther mal im österreichischen Fernsehen interviewt werden sollte, gleich nach dem Rennen, und der Moderator nicht auftauchte, stellte er sich die Fragen nach seiner Form und seinen österreichischen Rivalen einfach selbst. Und als er vor neun Jahren seinen ersten Weltcup gewann, den Slalom im Ski-Kolosseum von Kitzbühel, da plumpste er in den Schnee, der Vater umarmte ihn, der 31 Jahre zuvor an selber Stelle gewonnen hatte. Mutter Rosi trafen sie später vor dem Stadion, und als Rosi Mittermaier, die Doppel- Olympiasiegerin von Innsbruck 1976, sah, wie Neureuther in Turnschuhen durch den Schnee stapfte, da schrie sie, der Bua solle sich doch erst mal g’scheite Schuh’ anziehen in der Herrgottskälte! Man musste an das Leitmotiv aller Lebenskünstler denken, wenn man die Neureuthers erlebte: Vergiss ruhig auch mal den Ernst der Lage. Die Schiebetür am Münchner Flughafen surrt auf, Felix Neureuther tritt heraus, grauer Pullover, dunkelgrüne Hose, Rucksack und Rollkoffer, den er hinter sich herzieht. Es ist der erste Tag, an dem der 34-Jährige ein Skirennfahrer in der Vergangenheitsform ist, 13 Weltcup-Siege, einmal WM-Silber, zweimal Bronze, aber auch ein Körper, der längst älter ist als dessen Inhaber. Neureuther geht immer ein wenig langsamer, im Hohlkreuz; er war nie ein Trainingsweltmeister, aber 16 Jahre auf Eispisten und in Fangnetzen machen jeden mürbe. Was er jetzt, wie so oft, mit einem Spruch kontert. „Ich muss morgen sofort mit dem Abtrainieren anfangen, weil mein Körper das noch so gewohnt ist.“ Skirennfahrer erlangen selten große Bekanntheit, aber es gibt ein paar, die sich ins öffentliche Gedächtnis gebrannt haben. Der Schwede Ingemar Stenmark war einst unverschämt erfolgreich, Fragen beantwortete er in maximal drei Worten, als sei er sich seiner Größe gar nicht bewusst. Lindsey Vonn, die Amerikanerin: war unverschämt gut, begriff den Weltcup auch als ihre eigene Reality-TV-Show. Bode Miller, ihr Landsmann: wuchs in einem Haus ohne fließendes Wasser und mit Plumpsklo auf, donnerte später lieber eine waghalsige Fahrlinie ins Eis, anstatt noch eine Medaille zu gewinnen, und, Pardon, schiss auch sonst auf die Maßstäbe des Sportbetriebes. Und: Felix Neureuther, der war immer der Neureuther, ein großer Unverbogener in einem zunehmend glatten Sportbetrieb. War Felix Neureuther der Letzte seiner Art? Wie Kinder sich entwickeln, liegt ja vor allem an der Erziehung, und bei den Neureuthers war das immer ein wenig spezieller. Rosi Mittermaier und Christian Neureuther waren erfolgreiche Skirennfahrer, Mittermaier ist eine der bekanntesten Deutschen überhaupt. Sie wollten nicht unbedingt, dass ihr Sohn denselben Beruf ergreift, sie wussten ja, dass er immer auch gegen das Erbe der Eltern fahren würde. Aber sie wollten ihm natürlich auch nichts verbauen. Eigentlich habe es nur ein Leitmotto gegeben, sagt Christian Neureuther, „Aufmerksamkeit und Zeit“. „Zeit“, findet Christian Neureuther, „ist Liebe.“ Der Sohn kam 1984 zur Welt, die Kinder in Bayern waren früh im Skiverein, das Privatfernsehen lief gerade erst an. Die Eltern nahmen ihn immer mit in die Natur, und wenn es schneite und der Felix im Kinderwagen lag, sagte die Mutter: „Ein paar Schneeflocken im Gesicht tun ihm gut.“ Er war noch keine drei Jahre alt, da kurvte er mit 18
seinem ersten Paar Ski zwischen den Leuten auf schwarzen Pisten herum, je wilder das Gelände, desto besser. Er war immer auf Entdeckungsreise, er mochte es, wenn die Natur vorbeirauscht. Eine Zeit lang waren sie fast jede Woche mit ihm im Krankenhaus, der Sohn probierte ja alles aus, ob mit dem BMX-Rad oder den Ski. Aber war das zur aktiven Zeit der Eltern nicht ähnlich gewesen? Slalomläufe mit Pudelmütze; die Rosi auf Abfahrtspisten, die nur mit Heuballen gesichert waren, die von der Kälte so festgefroren waren, dass man als Fahrer besser das Ziel erreichte. Die Eltern ließen den Sohn also seine Grenzen testen, bis zu einem gewissen Grad, das fanden sie wichtig. Christian Neureuther lenkt bis heute die Familie, seine Frau und er sind beruflich noch immer Christian Neureuther und Rosi Mittermaier. Wenn man ihn trifft oder anruft, ist er fast immer auf dem Sprung, wobei die Rosi, die personifizierte Antithese der Überhöhung, das nicht so mag mit all den Terminen. Als die beiden einmal in Afrika ein Waisenhaus besuchten, sagte sie: „Wenn ich keine Familie hätte, könnte ich hier als Betreuerin arbeiten. Mir würde nichts abgehen.“ Materielles war in der Familie nie wirklich wichtig, ein neues Paar Ski gab es nur zu Weihnachten Ihre Prominenz? Hielten sie lange von den Kindern fern. Der Vater versuchte sich früher mal bei Hans Rosenthals „Dalli Dalli“ und kommentierte Skirennen, den Schickimicki-Betrieben in München oder Kitzbühel blieben beide fern. Der Sohn wurde erst auf die einstigen Erfolge aufmerksam, als jemand bei einem Jugendrennen mal ein Olympiabuch dabeihatte, das auch Bilder der Doppel-Olympiasiegerin Rosi Mittermaier zeigte. Materielles war nicht wichtig, ein neues Paar Ski gab es nur zu Weihnachten. Dafür war auf anderes immer Verlass, sagt Christian Neureuther, und zwar ein gemeinsames Frühstück und ein gemeinsames Abendessen, viel Zeit für alle Sorgen und Nöte der Kinder. Man könnte auch sagen: Lieber nicht der Öffentlichkeit treu sein, sondern sich selbst. Als Felix Neureuther mit 18 dann doch den Beruf der Eltern annahm, erforschte er auch diese Welt so, wie er aufgewachsen war: auf Entdeckungsreise. In St. Moritz, bei seiner ersten WM vor 16 Jahren, berichtete er auf der Pressekonferenz sichtlich stolz von den „Super-Hasn“ im Teamhotel. Er fuhr meist schnell, je wilder, desto besser, auch wenn er nicht immer das Ziel erreichte. 2007, im Slalom bei der WM in Åre, lag er prächtig im Rennen, Silber wäre es wohl geworden, wäre er kurz vor dem Ziel nicht ausgeschieden. Aber Neureuther, geistesgegenwärtig, erkannte noch etwas Gutes, wo gerade nicht viel Gutes zu erkennen war: Er übergab einem Adjutanten des schwedischen Königshauses seine Startnummer, die Prinzessin hatte sich das Leibchen gewünscht. Und plötzlich, der Adjutant war schon weg, hüpfte Neureuther über eine Absperrung und machte den Diener noch mal ausfindig. Die deutschen Betreuer schauten ihm verdattert hinterher, sie dachten noch immer an die vergebene Medaille, an entgangene Sponsoren- und Fördergelder. Neureuther dachte: „Hab’ ganz vergessen, meine Handynummer auf das Trikot zu schreiben.“ Er fuhr weiter, und er fuhr couragiert, aber er gewann erst mal nichts, zumindest keine Medaille, wenn es zählte. Er gewann auch nicht, als die WM 2011 in Garmisch- Partenkirchen stattfand, seiner Heimat, weil er so sehr ans Gewinnen dachte. Wer 19
immer knapp scheitert, den lässt die Sportöffentlichkeit in Deutschland schnell fallen, der Neureuther packt es nicht, hieß es, solche Sachen. Neureuther sagte: „Das tangiert mich nicht.“ Aber tief drinnen tat es das natürlich schon, jede Niederlage, jedes rote Licht im Ziel ist ein Schlag, der einen vielleicht gar nicht stärker macht, sondern deformiert. Aber er kam zurück, immer wieder. Die Silbermedaille bei der WM 2013 in Schladming war eine Befreiung, auch wenn es eher der externe Druck war, der abfiel, die Vergleiche mit den Eltern, die Spitznamen der Kollegen, die ihn früher mal Rosi riefen. Geschenkt. Deutsche Rodler und Biathleten konnten fortan doppelt und fünffach bei Olympia gewinnen, Neureuther stieg zum großen Gesicht des Wintersports auf. Er fuhr noch immer diesen famosen Schwung, nicht kraftvoll, sondern immer mit dem richtigen Gefühl, wann er den Ski wie ins Eis pressen musste. Aber die Siege und Medaillen, das war nur das eine. Während die Konkurrenten bei der Massage lagen, schrieb er Autogramme. Während andere vor Olympia 2014 nichts dem Zufall überließen, rauschte er hastig zum Flughafen, erwischte eine Eisplatte – Leitplanke, Schleudertrauma, alle Goldchancen futsch. Er war sich schon seiner Größe bewusst, aber er sonnte sich nicht darin, sondern kritisierte Sportfunktionäre, die Olympische Winterspiele in sommerliche Gegenden verpflanzten, wo sie Schneisen durch geschützte Wälder frästen, um eine Abfahrtspiste für zwei Wochen zu errichten. Wenn das so weitergehe, sagte Felix Neureuther, „dann versinken Olympias Werte im Schutt“. Deutsche Sportler sollen eigentlich immer glatt gewinnen und vorbildlich auftreten; als der Diskuswerfer Christoph Harting nach seinem Olympia-Gold in Rio auf dem Podium zur Nationalhymne schunkelte, war das Gezeter groß. Neureuther schunkelte nie bei der Hymne, er gewann bis zuletzt ja auch keinen großen Einzeltitel. Aber mit seiner Art, da wirkte er dem Publikum immer näher als all die Seriensieger, die Entrückten. Und wenn es im deutschen Team mal schlecht lief, dann redeten nur wenige über die falsche Abstimmung, sondern über den Neureuther, der sich im Fernsehen gerade selbst interviewt hatte. Wie einer wahrgenommen wird, ist auch eine Frage des Zeitpunkts; auch der Sport jenseits des immer abgehobeneren Fußballs entwickelt sich gerade zu einem immer glatteren Geschäft. Wintersportler werden über den Globus zu Wettkämpfen gescheucht, um neue Märkte zu erschließen, wie das im Sportwirtschaftsdeutsch heißt. Die Verbände erfinden immer noch mehr Disziplinen, Parallelslaloms, Single-Mixed-Staffeln, mehr Vermarktung, mehr Umsatz, mehr Medaillen. Wer keine Medaillen gewinnt, wird schlechter gefördert. Die Athleten müssen sich da schon für den Erfolg trimmen, sie trainieren sehr früh schon sehr spezifisch. Interviews? Werden auch zunehmend von Managern geglättet, wenn auch nicht so sehr bei den Alpinen. Aber was geglättet ist, wirkt immer auch austauschbar und kalt. Wie der Schnee auf der Streif. Felix Neureuther war nie geglättet. Er sprach noch immer von Super-Hasn, wenn etwa die Rede auf Ana Ivanović kam, die ehemalige Tennisspielerin und Frau von Bastian Schweinsteiger. Wenn im Zielraum alle auf ihn schauten, ließ er sie an seiner Freude und seinem Ärger teilhaben, wie Boris Becker, der auch immer dann besonders gut war, wenn sich auf dem Platz alles gegen ihn verschworen hatte. Er ging auch dann, als er längst im Weltcup fuhr, immer mal wieder auf Entdeckungstour, heizte in Neuseeland 20
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