PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
MÄRZ 2020 | NR. 173 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE

                    SCHWERPUNK T

                    Kommunikation
                    Der Schlüssel zur Selbstbestimmung

14   HILFSMIT TEL
     Die Stimme aus
     dem Tablet
                               20   BEGEGNUNG
                                    Sandro Schaller stösst
                                    neue Türen auf
                                                             26   THER APIEGARTEN
                                                                  Natur und Mensch
                                                                  pflegen sich
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Kompetenz erhalten,
richtig zu handeln

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bei Ihnen vor Ort in allen vier Landessprachen.
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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
M AG A ZIN DER GÖNNER-V EREINIG UNG DER SCH W EIZER PA R A PLEG IK ER-S T IF T UNG

                                                                                        14                                   20
Liebe Mitglieder                                                 Schwerpunkt
Um Stabilität in einer Organisation zu erreichen, braucht es       6   PAT I E N T E N Z E N T R I E R T E KO M M U N I K AT I O N
nebst Kontinuität eine stete Erneuerung. So hat der Stiftungs-         Die Schulung der Kommunikation von Fachpersonen ist
rat der Schweizer Paraplegiker-Stiftung mit der Amtszeitbe-            die Grundlage einer erfolgreichen Behandlung.
schränkung und einer Alterslimite für Stiftungsratsmitglieder     10 D E R E X P E R T E Die Kommunikation im Spital unter-
dafür gesorgt, dass sich das Führungsgremium fortlaufend             liegt besonderen Gesetzen. Keiner kennt diese so gut wie
erneuert und neuen Ideen Platz bietet.                               der Basler Pionier Wolf Langewitz.
      Ende April geht Dr. Daniel Joggi nach einer gut zehnjäh-    14 H I L F S M I T T E L Daniel Rickenbacher lebt mit einer
rigen Amtszeit mit siebzig Lebensjahren in Pension. Es waren         eingeschränkten Kommunikation. Mit einer Stimme aus
unruhige Zeiten in der Gruppe, als er im Dezember 2009 die           dem Tablet stellt er sich seiner Zukunft.
Führung übernahm. Mit seiner ruhigen, sachlichen, konsens-        16 U M G E B U N G S S T E U E R U N G Ein System von Active
orientierten Art brachte er rasch Ruhe, aber auch neuen              Communication gibt Gaby Pozzi viel Freiheit im Austausch
Schwung in die Organisation. Mit einer Organisationsent-             mit der eigenen Wohnung.
wicklung klärte er die Aufgaben der verschiedenen Einheiten       18   R AT G E B E R Wie Sie besser kommunizieren.
und ihre Zusammenarbeit. Dadurch schaffte er ein Klima des        19   S E I T E N B L I C K Wenn Betroffene Betroffene beraten.
Vertrauens und gegenseitigen Respekts. Daniel Joggi hat
Entscheide nicht diktiert, sondern im Gespräch erarbeitet
                                                                 Kompetenz
und das Gegenüber zu überzeugen versucht. Sein brillanter
Geist und seine schier endlose Geduld faszinieren in Nottwil      20   B E G E G N U N G Nach seinem Motocross-Unfall stösst
bis heute.                                                             Sandro Schaller viele neue Türen auf.
      Vielleicht noch beeindruckender als seine Arbeit als        25   E I N L A D U N G Mitgliederversammlung in Nottwil.
Präsident ist die Art und Weise, wie er sein Leben als Tetra-
                                                                  26   SPENDENAUFRUF: THER APIEGARTEN
plegiker mit derselben Hartnäckigkeit und Ausdauer meistert.
                                                                       Neue Behandlungen im Aussenbereich schliessen eine
Er ist stets zur Stelle, wenn man ihn braucht, und immer zur           Lücke in der ganzheitlichen Rehabilitation.
rechten Zeit (aber kaum mehr als zwei Minuten früher). Er
                                                                  28   F O R S C H U N G Die Schweizer Paraplegiker-Forschung
beklagt sich nicht und sieht stets Lösungen, nicht Probleme.
                                                                       ist zum internationalen Vorbild geworden.
Diese Ausdauer und positive Einstellung zum Leben beein-
drucken mich und das ganze Team.                                  29 S T I F T U N G Unter Präsident Daniel Joggi wurde unser
                                                                     Leistungsnetz auf die Zukunft ausgerichtet.
      Mit Daniel Joggi verlässt ein Freund und ein Vorbild die
Schweizer Paraplegiker-Gruppe. Wir danken dir für alles,          30 W I N G S F O R L I F E Die Stiftung aus Salzburg strebt
lieber Daniel, und wünschen dir und deiner Frau Françoise            grosse Ziele in der Rückenmarkforschung an.
alles Gute. Du wirst hier fehlen!                                 32   D A F Ü R H AT E S M I C H H E U T E G E B R A U C H T
                                                                       Assistenzarzt Felix Schatter übernimmt viel Verantwortung.

                                                                   4   CAMPUS NOT T WIL

Dr. iur. Joseph Hofstetter                                        33   DANKE
Direktor Schweizer Paraplegiker-Stiftung                          34   AUSBLICK

                                                                                                                 Paraplegie, März 2020 3
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

                                 Querschnittgelähmte des Jahres 2019

                                 Die Freiburger Architektin Ursula Schwaller und der Aargauer Psychotherapeut Peter Lude sind

62   200
                                 «Querschnittgelähmte des Jahres 2019». Zum 27. Mal ehrte die Schweizer Paraplegiker-Stiftung
                                 zwei Menschen mit Querschnittlähmung, die Grossartiges geleistet haben und wichtige Vorbilder
                                 für andere Betroffene sind. Ursula Schwaller (2. v. r.) erzielte Höchstleistungen im Spitzensport und
                                 lebt die Inklusion mit grossem gesellschaftlichem Engagement. Peter Lude (2. v. l.) leistete bedeu-
Franken                          tende Forschungen, für die er und seine Frau Yvonne Sigrist mit dem Sir Ludwig Guttmann-Preis
                                 ausgezeichnet wurden. Lude führt eine Praxis für Psychotherapie FSP und ist Gemeinderat von
Mit einem Crowdfunding-          Bad Zurzach. (Links: Guido A. Zäch, rechts: Heinz Frei.)
Projekt auf der Plattform
wemakeit.ch plante die
Schweizer Paraplegiker-Stif-     Hauptprobe für Tokyo
tung, innerhalb von 45 Tagen
50 000 Franken für Leih-Sport-   Wenige Monate vor den Paralympischen Spielen in Tokyo
geräte zu sammeln. Dank          nehmen rund vierhundert Topathleten wie Manuela Schär und
der einzigartigen Solidarität    Marcel Hug am World Para Athletics Grand Prix teil. Auf der
von 483 Spenderinnen und         schnellen Bahn in Nottwil versuchen sie, Quotenplätze für ihr
Spendern wurde das Ziel über-    Land zu sichern und sich für eine Selektion zu empfehlen. In den
troffen und es kann sogar ein    Grossanlass «ParAthletics 2020» integriert sind die offenen
Sportgerät zusätzlich ange-      Schweizer Meisterschaften und das Daniela Jutzeler Memorial.
schafft werden. Vielen Dank!     Auf das Publikum wartet ein Spektakel. Zur legendären Stimmung
                                 in der Sport Arena Nottwil kommt ein Rahmenprogramm für
                                 Gross und Klein mit Hüpfburg, Karussell, Kinderschminken und          «Mein erstes Jahr in
Musikalisches Fenster            tausend Gratisbratwürsten.                                            der Pflege»
Als Geschenk an Patientinnen,
Patienten und Angehörige         ParAthletics 2020                                                     Die 21-jährige Andrina von
spielen klassische Musikerin-    28. bis 30. Mai, 1. Juni, Sport Arena Nottwil                         Burg aus Madiswil BE hat am
nen und Musiker auf der Inten-                                                                         1. Oktober ihre neue Stelle als
                                      www.parathletics.ch
sivstation und den einzelnen          Alle Wettkämpfe können im Livestream mitverfolgt werden.
                                                                                                       Pflegefachfrau im Schweizer
Stationen. Am Abend treten                                                                             Paraplegiker-Zentrum angetre-
sie im Rahmen der Freitags-                                                                            ten. Ein Jahr lang erzählt sie
musik des SPZ auf.                                                                                     auf unserem Blog, was sie auf
                                                                                                       der Station C erlebt und wie es
Öffentliches Konzert                                                                                   ihr dabei geht. Einblicke in
13. März 2020, 19.30 Uhr                                                                               ihren Berufsalltag gibt Andrina
SPZ, Raum der Stille                                                                                   auch auf Instagram.
Stummfilmabend, begleitet
an der Orgel von Stéphane                                                                                     Blog: www.para-
Mottoul. Freier Eintritt.                                                                                     plegie.ch / andrina
       www.musikalisches-                                                                                     www.instagram.com /
       fenster.ch                                                                                             paraplegie

4 Paraplegie, März 2020
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

                                                                                 88 157
© RTS 2020

                                                                                                                        Wettbewerb im
                                                                                                                        ParaForum

                                                                              Dauermitglieder                           Die erste Gewinnerin des
                                                                    zählt die Schweizer Paraplegiker-Stiftung.          ParaForum-Wettbewerbs
                                                                   2019 sind 11,4 Prozent neue Dauermitglied-           im Jahr 2020 ist gezogen:
                                                                                    schaften hinzugekommen.             Stefanie Fischer aus
                                                                                                                        Winterthur gewinnt ein
                                                                                                                        Abendessen im Restaurant
                                                                                                                        Sempia des Hotels Sem­
                                                                                                                        pachersee im Wert von
                                                                                                                        200 Franken. Das Hotel
SPV-Lebensberatung                                                                                                      auf dem Campus Nottwil
im Westschweizer                                                                                                        ist Teil der Paraplegiker-
Fernsehen                                                                                                               Gruppe.

Die Sendung «Ensemble» von
                                                                                                                             www.paraforum.ch
RTS wollte mehr über die
Arbeit der Paraplegiker-Stif-
tung und ihrer Schwesterorga-
nisationen in der Romandie

                                                                                                                       36 %
erfahren. Deshalb porträtierte
ein TV-Team in Sion Yann
Avanthey, einen Lebensberater                        Charity-Rallye nach Gambia
der Schweizer Paraplegiker-                          «Die Herzlichkeit der Menschen in Gambia hat mich zutiefst
Vereinigung. Das Team beglei-                        berührt», schreibt uns Urs Lussmann unter das Bild seiner
tete Avanthey, der selbst im                         Ankunft. Der Paraplegiker fuhr mit seinem 20-jährigen Auto        der Menschen mit Querschnitt-
Rollstuhl sitzt, bei seinem tägli-                   7000 Kilometer der Westküste Afrikas entlang und verschenkte      lähmung haben Schulter-
chen Einsatz für Menschen mit                        es in Gambia an die Hilfsorganisation Dresden-Banjul-Organisa-    schmerzen, Frauen sind dop-
Querschnittlähmung.                                  tion. Zudem übergab er zwei von Orthotec revidierte Rollstühle    pelt so häufig betroffen wie
                                                     der ersten integrativen Schule Gambias. Unsere Facebook-          Männer. Dies zeigen Daten der
                                                     Community hat das Abenteuer von Urs mit grossem Interesse         Langzeitstudie SwiSCI der
                                                     begleitet. Einen Reisebericht und packende Bilder seiner Rallye   Schweizer Paraplegiker-
                                                     präsentiert der 51-jährige Zürcher auf unserem Blog.              Forschung. Die Schulter ist
                      Beitrag RTS:                                                                                     besonders anfällig, denn sie
                                                          www.paraplegie.ch / urs
                      http:// bit.ly / rtsensemble                                                                     muss die eingeschränkte
                                                                                                                       Bewegungsfähigkeit des
                                                                                                                       Körpers kompensieren. Zudem
© SRF Oscar Alessio

                                                                                                                       sind Schulterschmerzen nur
                                                                                                                       schwer heilbar und können die
                                                                                                                       Unabhängigkeit stark ein-
                                                                                                                       schränken. Deshalb sollten sie
                                                                                                                       gar nicht erst entstehen.

                                                                                                                       In Nottwil ist die Schulter­
                                                                                                                       gesundheit nicht nur ein
                                                                                                                       medizinisches Thema,
                                                                                                                       sondern auch wichtig für die
                                                                                                                       Forschung. Die Fachleute
                                                                                                                       untersuchen, welche Faktoren
                                                        In einer Spezialausgabe der SRF-Quizsendung                    bei welchen Personen
                                                        «1 gegen 100» hat die vierfache Schwingerkönigin               Schmerzen auslösen. Darauf
                                                                                                                       basierend erarbeiten sie
                                                        Sonia Kälin 29 562 Franken gewonnen – und sie                  Massnahmen zur Prävention.
                                                        dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum gespendet.
                                                        Wir danken herzlich!
                                                                                                                            www.paraplegie.ch /spf

                                                                                                                                     Paraplegie, März 2020 5
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
KO M M U NIK AT I O N

                                                  Wolf Langewitz (2. v. r.) mit Kurs-
                                                       teilnehmerinnen in Nottwil.

6 Paraplegie, März 2020
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
KO M M U NIK AT I O N

Informierte Patientinnen und Patienten
Kommunikation im medizinischen Alltag
Alle medizinischen und therapeutischen Fachpersonen des Schweizer Paraplegiker-Zentrums
durchlaufen eine Schulung für die patientenzentrierte Kommunikation. Diese trägt entscheidend zu einer
erfolgreichen Behandlung bei.

Viele Gedanken kreisten dem Verunfallten durch        che Bedürfnisse: Als Patientin, als Patient wollen
den Kopf, während er auf den Rücktransport mit        wir wissen, was mit uns los ist und wie wir wie-
der Rega in die Schweiz wartete. Er spürte seine      der gesund werden. Ein Arzt dagegen muss unter
Beine nicht mehr, hatte eine Vorahnung, aber          vielen möglichen Diagnosen die richtige heraus-
keine Information über seinen Zustand. «Man           finden. Dafür ist er neben Fachwissen auf präzise
machte Röntgenbilder und die Ärztin vor Ort           Informationen von uns angewiesen.
betreute mich sehr nett. Aber die Ungewissheit             Auch der Wissensunterschied in der Arztpra-
hat mich stark belastet», sagt Roman Späni.           xis kann verunsichern. «Der Austausch mit einer
     Der 42-Jährige aus Freienbach SZ machte          Autoritätsperson findet nicht wie unter Freunden
Badeferien auf den Kapverden und wollte sei-          auf Augenhöhe statt», erklärt Kommunikations-
nen beiden Söhnen zeigen, wie man am bes-             experte Wolf Langewitz. «Die Patientinnen und
ten durch eine Welle taucht – dabei prallte er auf    Patienten sprechen daher selten über ihre Ängste       «Mit dem Arzt
eine Sandbank. Bereits fünfzehn Stunden später        und verschweigen gewisse Dinge.» Wolf Lange-
landete der Helikopter auf dem Dach des Schwei-       witz ist emeritierter Medizinprofessor der Univer-     spricht man
zer Paraplegiker-Zentrums (SPZ). «Die Abklärun-
gen zeigten schnell, wie es um mich stand», sagt
                                                      sität Basel. Gemeinsam mit Anke Scheel-Sailer,
                                                      der leitenden Ärztin Paraplegiologie am SPZ, führt
                                                                                                             anders als im
Späni. «Die Auskunft der Ärzte war eindeutig.»
Gemeinsam mit seiner Familie willigte er in eine
                                                      er in Nottwil Schulungen zur Kommunikation im
                                                      medizinischen Alltag durch.
                                                                                                             Freundeskreis.»
                                                                                                             Prof. Dr. med. Wolf Langewitz
Operation an der Wirbelsäule ein. Hat ihn diese
Entscheidung überfordert? Nein, meint Späni. Der      Die Rolle der Kommunikation am SPZ
Austausch mit den Fachpersonen sei sehr hilf-         In den Kursen lernen die Teilnehmenden die pati-
reich gewesen.                                        entenzentrierte Kommunikation kennen: Wie sie
     Seit vier Monaten ist der Tetraplegiker jetzt    Menschen im Spitalbett ermutigen, sich mitzu-
in Nottwil und lernt jeden Tag etwas mehr über        teilen. Wie sie Gesprächsziele erreichen. Wie sie
seinen Körper und das komplexe Thema Quer-            all jene Fakten vermitteln, die Entscheidungen
schnittlähmung. «Ich bekomme viele Informatio-        ermöglichen. «Patientinnen und Patienten, Ange-
nen, aber gut erklärt. Und wenn man etwas nicht       hörige und Fachpersonen legen bei uns gemein-
versteht, kann man ungeniert nachfragen.»             sam die Rehabilitationsziele fest», sagt Kurslei-
                                                      terin Scheel-Sailer. «Umso wichtiger sind eine
Unterschiedliche Bedürfnisse                          professionelle Kommunikation und die Sensi-             Bessere Gesundheit
Wer schon einmal eine Arztpraxis im Gefühl            bilität für die jeweilige Situation, in der sich ein
                                                                                                              Wenn Fachpersonen besser
verlassen hat, nicht verstanden worden zu sein,       Mensch befindet.»
                                                                                                              kommunizieren, sind die
oder von den vielen Fachworten überfordert war,             Den Ausschlag für die Schulungen gaben
                                                                                                              Patientinnen und Patienten
kennt das: Man hätte sich eine bessere Kommu-         Zufriedenheitsumfragen bei Patientinnen und
                                                                                                              «gesünder»: Sie haben weniger
nikation gewünscht. Doch bereits das Behand-          Patienten und interprofessionellen Teams. Dabei
                                                                                                              Arztbesuche und weniger
lungszimmer sorgt für ungute Gefühle. Zum Arzt        zeigte sich, dass dieser Punkt noch Optimie-
                                                                                                              Beschwerden, sie benötigen
oder ins Spital gehen wir nicht freiwillig; es geht   rungspotenzial hat. «Wir haben erkannt, dass
                                                                                                              weniger Laboruntersuchungen
um Krankheit, Unsicherheit, Schmerzen, Angst.         die Kommunikation ein Schlüsselthema ist, in
                                                                                                              und weniger Medikamente.
Die Beteiligten haben im Gespräch unterschiedli-      das wir fortlaufend investieren müssen», sagt

                                                                                                                            Paraplegie, März 2020 7
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SPZ-Direktor Hans Peter Gmünder. Der gut infor-
mierte Patient soll in Nottwil nicht bloss ein
Schlagwort sein, sondern gelebte Realität.
     Den Fachpersonen stehen oft verschiedene
Varianten für eine Behandlung zur Verfügung.
Welche dann tatsächlich gewählt wird, muss
in jedem Einzelfall neu bewertet werden – und
das kann nur gemeinsam mit den Betroffenen
geschehen. «Damit unsere Patientinnen und Pati-
enten ein Vertrauensverhältnis zu den Fachleu-
ten aufbauen können, müssen sie ein begründet
gutes Gefühl haben, dass ihnen alle notwendigen
Informationen auf angemessene Weise vermittelt
worden sind», erklärt der Klinikdirektor. «So ent-
steht gute Medizin.»

Fragen oder Zuhören?
Die Kommunikationsschulungen im SPZ finden
auf allen Hierarchiestufen statt und werden durch      Wer etwas erfahren will, hat zwei Möglichkeiten,
neue Leitfäden und Strukturen für die Visite und       erklären sie, Fragen oder Zuhören. Beide Strate-
die Gesprächsführung ergänzt. Das Resultat ist         gien seien nützlich. Es brauche ein gezieltes Fra-
messbar: Der Punkt Kommunikation erhält in den         gen, um die Diagnose einzugrenzen, sagt Lan-
Patientenbefragungen immer bessere Noten.              gewitz. Gleichzeitig warnt er davor, nur gezielt
Zudem geben die ausformulierten Leitfäden              zu fragen: «Dann bewegen wir uns im eigenen
allen interprofessionellen Teams mehr Klarheit         Denkmuster und übersehen das Unerwartete.»
und Kompetenzen. Nicht zuletzt profitiert auch
die Kommunikationskultur in Nottwil durch die
permanenten Weiterbildungen.                           « Die Kommunikation in einer Klinik erfordert
     Aber wie kann das «begründet gute Gefühl»
während der Visite aufgebaut werden, wenn in
                                                         hohe Sensibilität.» Dr. med. Anke Scheel-Sailer
wenigen Minuten die wichtigsten Informationen
vermittelt werden müssen? «Darauf legen wir in         Und wer wiederum zu offene Fragen stellt, erhält
den Schulungen viel Wert: Herauszufinden, was          womöglich ausschweifende Antworten. Die bei-
ein Patient, eine Patientin in diesem Moment           den Kommunikationsfachleute empfehlen einen
tatsächlich an Information benötigt», sagt Hans        klugen Mix aus gezielten Fragen und aktivem
Peter Gmünder. Es ist eine Gratwanderung. Wer          Zuhören.
zu viele Fakten bekommt, ist heillos überfordert.
Wer ungenügend informiert wird, kann nicht die         Umgang mit der Informationsflut
Fragen stellen, die für ihn wichtig sind.              Die Fülle an Information, die in einem Spital in     WWSZ-Technik
     Wolf Langewitz und Anke Scheel-Sailer set-        kurzer Zeit vermittelt werden muss, ist immens.
                                                                                                            Warten, Wiederholen, Spiegeln,
zen auf eine enge Verbindung von Theorie und           So stehen zum Beispiel für die Visite der Inneren
                                                                                                            Zusammenfassen ist eine gute
Praxis. Im heutigen Kurs stellen die Teilnehmen-       Medizin pro Patientin und Patient nur 8,5 Minu-
                                                                                                            Option, um herauszufinden,
den Beispiele von schwierigen Situationen vor,         ten zur Verfügung. In dieser Zeit werden in einem
                                                                                                            wo ein Problem liegt.
und die beiden Kursleitenden ordnen ihnen all-         Akutspital im Durchschnitt zwanzig Informa-
                                                                                                            Diese Technik erweitert den
gemeine Muster zu. Ihr erster Tipp: In einigen         tionen gegeben. «Wir sagen also nicht nichts,
                                                                                                            Gesprächsraum für Dinge, die
Fällen ist es nützlich, zuerst eine Agenda festzule-   sondern ausgesprochen viel», sagt Langewitz.
                                                                                                            das Gegenüber nicht von sich
gen – wie viel Zeit haben wir und welche Punkte        Deshalb sei er nicht überrascht, wenn sich die
                                                                                                            aus erzählen würde.
sollen geklärt werden?                                 Angesprochenen nur an wenig erinnern können

8 Paraplegie, März 2020
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Links Anke Scheel-Sailer gibt Tipps
                                                                                                           für die Praxis.
                                                                                                           Rechts Für den SPZ-Direktor ist
                                                                                                           Kommunikation ein Schlüsselthema:
                                                                                                           Dr. med. Hans Peter Gmünder.
                                                                                                           Unten Roman Späni erzählt seine
                                                                                                           Erlebnisse in unserem Blog:
                                                                                                           www.paraplegie.ch / roman

– zu viel Information untergräbt das Credo des        Frage, ob er je wieder wird gehen können – und
                                                                                                            Informationen im Gehirn
gut informierten Patienten.                           war überrascht, dass ihm dazu in der Spezialkli-
     Wenn es darauf ankommt, sollte man sich          nik niemand eine definitive Aussage geben kann.       Unser aktives Gehirn kann mit
auf circa sieben bis zehn neue Informationen          «Anfangs fragte ich mich: Warum ist das so? Aber      circa 7 bis 10 Informationen
beschränken. Die wirklich wichtigen unter ihnen       auch das wird einem gut erklärt.» Bei der Diagno-     umgehen und 2 bis 4 gleichzei-
definieren die Fachpersonen, indem sie das Risiko     se Querschnittlähmung gibt es keine einfachen         tig bearbeiten. Informa­tionen
abschätzen, wenn eine davon nicht gegeben wird:       Antworten, denn jeder einzelne Fall entwickelt        gehen nach rund 20 Sekunden
Welche Wissenslücke könnte der Patientin, dem         sich wieder anders.                                   verloren, wenn sie nicht auf­
Patienten bis zum nächsten Arztbesuch schaden?             Seine Rehabilitation in Nottwil erlebt der       gefrischt werden.
Die auf diese Weise ausgewählten Informationen        gelernte Elektromechaniker, der weltweit Maschi-
müssen dann gut im Gedächtnis verankert wer-          nen in Betrieb genommen hat, als einen Prozess,
den – etwa indem man das Gegenüber bittet, das        der immer weitere Kreise zieht und dabei stän-
Wichtigste zu wiederholen.                            dig neue Elemente hinzufügt – Sozialdienst,
     Und wie erledigt man alle Aufgaben in der        Berufskunde, Wohnungsumbau, Fahrzeugum-
gegebenen Zeit? Der Tipp wird im Kurs mehrmals        bau, Abklärungen für die Tetra-Handchirurgie.
angesprochen: Struktur spart Zeit. «Eine einfache     Die Fragen, die er sich heute stellt, richten sich
Struktur veranlasst mich, zu überlegen, was ich       insbesondere auf die Selbstständigkeit, die er mit
mitteilen will», sagt Anke Scheel-Sailer. «Wenn ihr   seiner Rehabilitation anstrebt.                       Strukturieren
sicher sein wollt, dass euer Gegenüber eine Infor-         «Wenn mich etwas bedrückt, frage ich zuerst
                                                                                                            1. Am Anfang das Zeit­
mation versteht und für die Entscheidung nutzt,       eine Pflegefachperson. Manchmal werde ich
                                                                                                               budget angeben.
muss sie Teil der zwei bis vier Informationen sein,   dann auch an den Arzt auf der Visite verwiesen»,
                                                                                                            2. Organisatorische Aspekte
die unser Gehirn gleichzeitig bearbeiten kann.        sagt Roman Späni. Die Kommunikation im SPZ
                                                                                                               nennen («Wenn mein
Haltet das Ganze so einfach wie möglich – und         sei durchwegs gut. Sein Tipp: Als Patient sollte
                                                                                                               Piepser läutet, muss ich
habt Mut zu Sprechpausen.»                            man den Kopf nicht hängen lassen, wenn man
                                                                                                               kurz ran»).
                                                      etwas nicht gesagt bekommt – sondern dran-
                                                                                                            3. Mit dem Gegenüber die
Nicht aufgeben – dranbleiben                          bleiben. «Man kann hier wirklich alles fragen und
                                                                                                               Agenda festlegen.
Unfallopfer Roman Späni hat ein gutes Gefühl,         erhält immer eine Antwort. Manchmal muss man
                                                                                                            4. Übergänge ankündigen
nach seiner Ankunft in Nottwil den richtigen          halt zwei Mal fragen. Das Wichtigste ist, nicht
                                                                                                               («Jetzt möchte ich auf
Operationsentscheid getroffen zu haben. In            aufzugeben.»
                                                                                                               dieses Thema eingehen»).
der ersten Zeit beschäftigte ihn vor allem die             	                     (hbr, kste / hbr, we)

                                                                                                                            Paraplegie, März 2020 9
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
© Universität Basel, Andreas Zimmermann
KO M M U NIK AT I O N

Kommunikationstraining
«Schreiben Sie einfach einen Fresszettel!»
Die Kommunikation im Spital unterliegt besonderen Gesetzen. Keiner kennt diese
so gut wie der Basler Pionier Wolf Langewitz.

Wolf Langewitz, wenn der Arzt im               nannte Establishment. Die Damen und             Ihre Kurse zeigen, wie man die
Expertenlatein schwelgt, verstehen             Herren Professoren mussten zeigen, dass         knappe Zeit effektiver nutzen
Laien oft gar nichts.                          sie die Autorität auch verdient haben, die      kann. Wie wurden Sie zum «Mr.
In der Schweiz sind die Fachleute eigentlich   sie für sich beanspruchen. Für uns war das      Kommunikation»?
gut davor geschützt, sich über die Sprache     Fokussieren auf den individuellen Patien-       Das kam aus der Begleitung von Assistenz-
aufzublasen: Man kann im Schweizer Dia-        ten eine politisch-ethische Grundhaltung.       ärzten auf der Visite. Als Oberarzt wollte ich
lekt einfach nicht so grossartig daherkom-     In der klinischen Praxis prallte dann unsere    verstehen, wo sie mit psychosomatischen
men wie im Schriftdeutschen. Doch stehen       patientenzentrierte Medizin auf eine Gene-      Fragen konfrontiert sind – und dazu hätten
alle Expertinnen und Experten vor dem Pro-     ration männlicher Kollegen, die noch das        sie den Patientinnen und Patienten eben als
blem, sich von den Abkürzungen zu lösen,       patriarchale Modell gelebt haben – der Arzt     Individuen begegnen müssen. Mich inte-
weil diese ihnen das Leben vereinfachen.       weiss selber, was gut ist, und braucht die      ressierte, weshalb das nicht gelang. Dabei
Im Gespräch mit Laien sich zu überlegen,       Patientinnen und Patienten nicht wirklich.      zeigte sich, dass ihre Probleme entstanden
was heisst jetzt eine Abkürzung schon wie-     Dagegen haben wir rebelliert.                   sind, weil sie nicht mit «schwierigen Perso-
der, bedeutet einen Zusatzaufwand. Und                                                         nen» umgehen konnten. Mit einer Natio-
der ist anstrengend.                           Und hat es genutzt?                             nalfondsstudie konnten wir belegen, dass
                                               Damals schon. Aber es gab in den 1990er-        man diese Form der Kommunikation ver-
Was erschwert die Kommunikation                Jahren einen erneuten Rückschlag, als die       bessern kann. So wurde am Unispital Basel
im Spital?                                     alten Ordinarien wieder auferstanden sind,      die professionelle Kommunikation ein fester
Man befindet sich häufig in einer Ausnah-      denen wir bereits die Zöpfe abgeschnitten       Bestandteil der Ausbildung. Heute durch-
mesituation. Allein schon die Nachricht        hatten. Heute besteht eine Art Pattsituation.   laufen alle Assistenzärztinnen und -ärzte ein
«Sie haben einen hohen Blutdruck» kann         Unsere Bewegung hat dazu geführt, dass          Kommunikationstraining und bekommen
bestürzend sein. Denn sie bedeutet die Illu-   die Patientinnen und Patienten Verbündete       auf Wunsch ein Feedback zu ihrer Kommu-
sion aufzugeben, ohne Behandlung weiter-       haben, damit man nicht mehr einfach über        nikation auf der Visite.
hin gesund und leistungsfähig zu bleiben.      ihren Kopf hinweg entscheiden kann. Und
Im Spital geht es oft um wichtige Dinge, die   Kommunikationskompetenzen sind heute            Wie schaffe ich es als Patientin,
einen betroffen machen. Dadurch wird die       im Medizinstudium ein Teil des Staatsexa-       dass sich mein Arzt verständlicher
Aufnahmekapazität für neue Informatio-         mens. Die patientenzentrierte Kommunika-        ausdrückt?
nen begrenzt und es entstehen Gefühle wie      tion wird allerdings durch Zeitnot, Ressour-    Ein Arzt muss lernen können und dafür
Beunruhigung, Hoffnungslosigkeit, Traurig-     cen- und Personalkürzungen auf die Probe        braucht er die Patientin. Wenn er nicht
keit oder Enttäuschung. Das alles macht die    gestellt: Einerseits fordert man «den infor-    erfährt, dass das Gespräch jetzt weniger
Kommunikation schwieriger und schwerge-        mierten Patienten», mit dem Fachpersonen        glücklich gelaufen ist, kann kein Lernpro-
wichtiger, als wenn ich mit einem Bekann-      alle Alternativen einer Behandlung durch-       zess einsetzen. Patientinnen und Patienten
ten über Alltagsdinge plaudern würde.          sprechen sollen. Andererseits schränkt die      sollten sich also trauen, Feedback zu geben.
                                               Politik die Bezahlung der dafür nötigen         Und das müssen sie lernen, denn sie wer-
Wie haben sich die Hierarchien in              Gesprächszeit wieder ein – das ist ein nicht    den vielleicht manchmal danebengreifen.
der Kommunikation verändert, seit              auflösbarer Widerspruch. Unter den gegen-       Eine einfache Möglichkeit ist sich zu über-
Sie als junger Arzt anfingen?                  wärtigen Reformen im Gesundheitswesen           legen: Was will ich mit dem Arzt bespre-
In den späten 1970er-Jahren gab es eine        leidet die Kommunikation mit den Patien-        chen? Schreiben Sie einen Fresszettel, den
politische Bewegung gegen das soge-            ten besonders.                                  Sie in der Praxis aus der Handtasche ziehen.

                                                                                                                          Paraplegie, März 2020 11
KO M M U NIK AT I O N

                           « Die Patientinnen und Patienten sind im Spital
                             in einer Ausnahmesituation. Es geht oft um wichtige
                             Dinge, die betroffen machen.» Wolf Langewitz

Bei der Visite im Spital könnte zum Beispiel     Ändert sich dies mit den neuen                  eine zustimmende Bewertung von 89 Pro-
eine Pflegefachfrau die Vermittlerrolle über-    Generationen an den Fakultäten?                 zent mit den 92 Prozent eines anderen Spi-
nehmen. Sie stellt die mit Ihnen vorbespro-      In Basel offerieren wir den Studierenden        tals vergleicht, wird er nicht sehr viel in die
chene Frage, für die Sie sich vielleicht schä-   E-Learning-Angebote für die professio-          Kommunikation investieren wollen. Anders
men oder für die der Arzt sich nicht genug       nelle Kommunikation. Uns interessiert, wie      ist die Situation, wenn Konkurrenzkliniken
Zeit nehmen würde. So lernen Sie als Pati-       sie damit arbeiten, und wir bieten Auf-         deutlich besser abschneiden. Aber dann
entin sich zu behaupten – und beide Seiten       frischungskurse an, wenn sie bei einem          stellt sich wiederum die Frage, wie viel Zeit
profitieren.                                     Thema Schwierigkeiten haben. Wir beob-          und Geld die Verbesserungen kosten dür-
                                                 achten, wo Fehler häufiger passieren, um        fen. Umsonst gibt es das nicht.
Man könnte auch «Doktor Google»                  spezifisch nachlehren zu können. Als Uni-
fragen.                                          versität haben wir da eine Kontrollfunk-        Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum
Doktor Google sitzt heute immer öfter mit        tion, weil wir die Studierenden gut auf das     hat an seiner Kommunikationskultur
am Tisch; es ist zwecklos, sich darüber zu       Staatsexamen vorbereiten wollen.                gearbeitet. Welche Eindrücke haben
beklagen. Der Trend könnte ja auch dazu                                                          Sie davon?
führen, dass die Aufgabe der Information         Wie funktioniert so ein E-Learning?             Wie in anderen Kliniken gab es zunächst
auf mehrere Schultern verteilt wird. Doch        Das können Videos mit Beispielen eines          Skepsis. Die Teilnehmenden wollten sich
leider werden auf vielen Websites oft selte-     guten Kommunikationsverhaltens sein.            im Kurs nicht exponieren, indem sie zum
ne, aber schreckliche Risiken erwähnt oder       Oder wir zeigen, wie wir die Visite gerne       Beispiel Rollenspiele ausprobieren. Darüber
irgendwelche Substanzen und Behandlun-           hätten. Derzeit entwickeln wir Beispiele, die   gab es auch Grundsatzdiskussionen. Heute
gen angepriesen. Deshalb sollten Fachper-        spezifisch auf die Bedürfnisse des SPZ aus-     erkennt man den Wert der Schulungen für
sonen die Websites, die in ihrem Gebiet          gerichtet sind.                                 seinen Alltag und geht anders mit Kritik um.
hilfreich sind, kennen und gezielt empfeh-                                                       Die Spielfreudigkeit ist grösser, die Mitarbei-
len. Denn es gibt zu fast jedem Problem          Wie kontrollieren Sie Lernerfolge?              tenden bringen eigene Fälle mit ein und die
gute Angebote im Netz.                           Indem wir etwa Fragen einbauen, deren           Kommunikationskultur im SPZ hat sich ins-
                                                 Antworten angeklickt werden müssen:             gesamt verändert. Das zeigt sich in den inter-
Wie reagieren Sie, wenn jemand                   «Welche Elemente des Visitenstandards           professionellen Teams: Ganz unterschied-
seine Onlinerecherche präsentiert?               identifizierst du im Video?» Womöglich          liche Berufsgruppen sitzen zusammen und
Zunächst interessiert mich: «Was ist Ihr         müssen die Teilnehmenden dann noch ein-         sprechen über einen Problempatienten. Das
Résumé? Was haben Sie nach zwei Stunden          mal den Visitenstandard durchgehen – und        Offensein gegenüber diesem Ansatz legt
googeln mitgenommen?» Oft sind die Pati-         nutzen so eine weitere Lernhilfe.               das Potenzial der Mitarbeitenden frei und
entinnen und Patienten verunsichert, weil                                                        zeigt, dass es sich lohnt, über professionelle
sie sich mit Ausnahmefällen beschäftigt          Das Unispital Basel ist ein Pionier im          Kommunikation nachzudenken. Das Thema
haben und den trivialen Normalfall nicht         Kommunikationstraining. Bekom-                  ist also angekommen. Nottwil stellt sich sei-
kennen – der ist für viele Websites zu lang-     men Sie viele Anfragen als Experte?             nen Herausforderungen in der Begleitung
weilig. Als Zweites versuche ich, Missver-       Die Spitalhygiene bekommt sicher mehr           von Patientinnen und Patienten.
ständnisse aufzuklären. Wir Fachpersonen         Anfragen ... (lacht) Die meisten Patientin-                                      (hbr / zvg)
sind hier in einer Bringschuld und müssen        nen und Patienten sind ja zufrieden mit der
unser Wissen weitergeben.                        Kommunikation. Wenn ein Spitaldirektor

12 Paraplegie, März 2020
KO M M U NIK AT I O N

Wenn der Professor über die Schulter schaut

In Nottwil erhalten Fachpersonen
Feedback zu ihrer Kommunikation
auf der Visite.
Auf seinem Zettel stehen bloss Namen, Stationen
und Telefonnummern. So ausgestattet trifft Wolf
Langewitz zwei Assistenzärztinnen, die sich gerade
im Gang auf die nächste Visite vorbereiten. Eine Pati-
entin hatte über Brustschmerzen geklagt. Die Ärztin-
nen besprechen das Vorgehen und wer von ihnen
das Gespräch leiten wird. Dann erst betreten sie das
Patientenzimmer. Auf ein «Wie gehts?» schildert die
Patientin ihre Befindlichkeit. Die gesprächsführende
Ärztin erklärt, was sie nun alles untersucht.
     Langewitz hört zu, beobachtet. Manchmal stellt
er Fragen. Es scheint, der Gesprächsablauf der Visite
sei weniger zielführend, als es die Ärztinnen geplant
haben. Wieder im Gang lobt er: «Kompliment, wie
du die Übersetzung in die deutsche Sprache machst.
Das war gut verständlich.» Dann schildert er seine                    Präzises Feedback Professor Langewitz begleitet zwei Assistenzärztinnen.
Eindrücke: «Du hast die Tendenz, zu viel zu sagen
– keep it simple!» Sein Feedback ist wohlwollend,
nicht wertend, und doch präzise. «Dein ‹Wie gehts?›      Der Schritt zum E-Learning
hat einen riesigen Gesprächsraum geöffnet, der dir
keine Chance liess, deine Agenda anzubringen. In         Im Frühjahr 2020 stellen Anke Scheel-Sailer und ihr Team Lernvideos her, die
so einem Fall kannst du direkter beginnen: ‹Grüezi       als Grundlage für die internen Kommunikationsschulungen dienen. Diese
Frau X, ich würde gerne folgende Punkte mit Ihnen        speziell auf die Bedürfnisse des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) zuge-
klären ... Und was steht bei Ihnen an?›»                 schnittenen Videos ergänzen die bestehenden Leitfäden durch anschauliche
     Sein Fachwissen erzeugt keine Prüfungssitua-        Beispiele. Unter anderem werden die Kernelemente der patientenzentrierten
tion, sondern schafft eine Atmosphäre, in der man        Begleitung bei der «interprofessionellen Aktivitätsvisite» vorgestellt – das ist
sich auf Augenhöhe begegnet. Mit einem «Sonst            jene Visite, an der sämtliche medizinischen und therapeutischen Berufsgat-
meldest du dich einfach wieder» zieht der Professor      tungen beteiligt sind und sich gegenseitig austauschen.
weiter zur nächsten Visite.

                                   Ein offenes Ohr
                                   Für Fragen, Sorgen und persönliche Anliegen, die im Klinikalltag auch ihren Platz haben möchten,
                                   gibt es Verena Birri. Am SPZ betreut sie den Bereich Patient Care Service und bietet Unterstützung
                                   bei der Erfüllung der Wünsche von Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen. Darunter fallen
                                   Gespräche im Patientenzimmer, Hilfe beim Essen, Einkäufe oder die Begleitung zu Tätigkeiten ausser
                                   Haus. Vor allem ist sie eine gute Zuhörerin. «Eine Kommunikation, die den Raum öffnet, ist wie ein
                                   Pflaster, das kleine Wunden heilt», sagt sie – und lobt die Schulungen in Nottwil.
                                        Die von ihr besuchten Menschen schätzen, wenn jemand Zeit für ein ungezwungenes, neutrales
                                   Gespräch hat. Da Birri nicht zum Rehabilitationsteam gehört, werden ihr Dinge anvertraut, die Fach-
                                   personen nur teilweise zu hören bekommen: «Wenn sie mit etwas unzufrieden sind, können sie es
                                   bei mir deponieren.» Auf Wunsch wird Birri dann zur Brückenbauerin, die eine Lösung auf der Station
                                   anstossen kann. Mit viel Fingerspitzengefühl vermittelt sie den Betroffenen eine Wertschätzung, die
                                   ihre Kraft für die Rehabilitation stärkt.

                                                                                                                          Paraplegie, März 2020 13
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Hilfsmittel
Die Stimme aus dem Tablet
Daniel Rickenbacher lebt mit einer körperlichen Behinderung, die seine Kommunikation
einschränkt. Der Einsatz von Hilfsmitteln hat sein Leben bedeutend verändert.

Kommunikation findet immer und überall statt.             ren setzt es sich mit individuellen Lösungen für
Wir Menschen erzählen, diskutieren, tauschen              Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Susanna
uns aus. Der mündliche Ausdruck ist für unser             Berner ist eine von rund vierzig Mitarbeitenden
Zusammenleben selbstverständlich. Doch was ist,           und Beraterin von Rickenbacher. Sie erklärt: «Mit
wenn das eigene Sprechen vom Gegenüber nicht              dem Talker kann sich Daniel jedem Menschen
verstanden wird? Wenn selbst kleine Alltagsauf-
gaben – etwa ein Getränk bestellen – zum Hin-
dernis werden? Daniel Rickenbacher lebt mit die-          « Ich denke, dass es den Menschen guttut,
ser ständigen Herausforderung. Der 26-jährige
Schwyzer ist wegen eines Sauerstoffmangels bei              wenn sie einmal eine langsamere Form
der Geburt zerebral gelähmt. Seine Lautsprache
sowie seine Mimik und Gestik sind für Aussenste-
                                                            der Kommunikation erleben.» Daniel Rickenbacher
hende nur schwer verständlich.
                                                          zielgerichtet mitteilen.» Als Betreuerin erlebt sie
Sprachcomputer ergänzt Stimme                             oft, wie Kommunikationsgeräte die Lebensquali-
Seit rund zehn Jahren kommuniziert der junge              tät steigern: «Diese Hilfsmittel geben den Betrof-
Mann über einen Talker, der an seinem Elektro-            fenen viel Freiheit im Alltag zurück.»
rollstuhl befestigt ist – ein speziell konfiguriertes
Tablet, das Tasteneingaben akustisch als Sätze            Hürden in der Kommunikation
wiedergibt. Der Sprachcomputer verleiht Daniel            Selbstbewusst und sicher kurvt Rickenbacher mit
Rickenbacher eine klar verständliche Stimme. Wie          seinem Elektrorollstuhl um die Ecke. Seine Behin-
erlebt er dieses Gerät? Rickenbacher tippt die            derung ist für Aussenstehende sofort erkennbar.
Antwort. «Mein Talker ist für mich wie ein guter          Bei der ersten Begegnung reagieren sie zurück-
Freund», tönt es aus dem Lautsprecher. «Dank              haltend und wissen nicht, wie sie mit ihm umge-
ihm bin ich frei unterwegs und kann mich überall          hen sollen. Deshalb hat er es sich zur Aufgabe
mit Menschen unterhalten.»                                gemacht, selber das Eis zu brechen. «Ich zeige
      Er hatte sich lange gegen solche Hilfsmittel        den Leuten, dass ich sie verstehe und gut über
gewehrt. Zu gross war die Befürchtung, dadurch            den Talker kommunizieren kann», sagt er. «So
seine Lautsprache zu verlieren, die ihm das               kann ich Vorurteile abbauen und oft entstehen
Kommunizieren im Familien- und Freundeskreis              interessante Dialoge.»
erlaubt und die er wie eine Standardsprache                    Ein Gespräch mit Daniel Rickenbacher erfor-
wahrnimmt. Doch heute unterstützen seinen All-            dert Geduld. Alles, was er mitteilen möchte, muss
tag neben dem Talker, der auch seine PC-Tastatur          er in sein Tablet eintippen. Dazu kombiniert er
ist, ein am Rollstuhl fixierter Joystick für die Smart-   Symbolbilder zu Wörtern und Sätzen – mithilfe         Daniel Rickenbachers
phone- und Mausbedienung sowie ein System                 eines lange erlernten Kodierungssystems. Eine         Website
zur Umfeldsteuerung.                                      Computerstimme spricht dann die Botschaften.
      Den Einsatz dieser Hilfsmittel ermöglicht           «Ich muss spüren, ob mein Gegenüber für so
Active Communication, ein Unternehmen der                 eine Unterhaltung Zeit hat», erklärt er. In unserer
Schweizer Paraplegiker-Gruppe. Seit zwanzig Jah-          schnelllebigen Welt sei das eine Herausforde-

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                       Am Arbeitsplatz. Der Talker
                    verleiht Daniel Rickenbacher eine
                       klar verständliche Stimme und
                    dient gleichzeitig als PC-Tastatur.

rung. «Ich denke aber, dass es den Menschen
guttut, wenn sie einmal eine langsamere Form
der Kommunikation erleben.» Schwieriger seien
Gespräche mit mehreren Personen: «Wenn die
Themen schnell wechseln, bin ich mit meiner Ant-
wort oft zu spät.»
     Bei einer komplexen Frage kann es zwei
Minuten dauern, bis Rickenbacher sich wunsch-
gemäss ausgedrückt hat. Er wird mit dem Talker
jedoch immer schneller, seine Beraterin steht ihm
dabei zur Seite. «Ich schaue Daniel beim Tippen
über die Schulter», sagt Susanna Berner. «Häufig
verwendete Wörter speichern wir dann als neue
Bildkombination ab, damit er sie nicht mehr als
einzelne Buchstaben eintippen muss. Durch sol-
che Optimierungen spart er viel Zeit.»
                                                          eines Assistenzbeitrags der Invalidenversicherung
Unterwegs als Botschafter                                 konnte er Personen anstellen, die ihn in seinem
Seit 2019 ist Daniel Rickenbacher Botschafter von         neuen Zuhause unterstützen.
Active Communication. Er berichtet aus erster                  «Ich bin jetzt nicht nur Leistungsempfänger,
Hand, wie Kommunikationshilfen am wirkungs-               sondern auch Arbeitgeber», sagt er stolz. Er hat
vollsten eingesetzt werden. «Anhand meiner Er-            sich gut vorbereitet, ist Assistenzmanager, Ein-
fahrungen zeige ich, was alles erreichbar ist. Ich        satzplaner und macht die Abrechnung. «Als
möchte andere Beeinträchtigte dazu motivieren,            gelernter Büropraktiker habe ich die nötigen Vo-
                                                                                                                   Susanna Berger, Active Commu-
ihre Möglichkeiten auszuschöpfen.» Die berufli-           raussetzungen für den Job.» Am Anfang musste                 nication. Sie betreut Menschen
che Tätigkeit ist ihm wichtig: «Durch meine Arbeit        er seine Assistenzpersonen schriftlich instruieren.      mit einer Beein­trächtigung mit indi-
komme ich mit vielen Menschen in Kontakt, so              «Ich habe ihnen viele Aufgaben notiert, da sie              viduell angepassten Hilfsmitteln.
fördere ich die Integration von Behinderten in            meine Lautsprache noch nicht ausreichend ver-
die Gesellschaft.» Seine Expertise werde im Team          stehen.» Ein Jahr habe er auf dieses Ziel hingear-
besonders geschätzt, sagt Beraterin Berner.               beitet. «Das eigenständige Wohnen ist für mich
      Nebst der Tätigkeit für Active Communication        ein weiterer Schritt zur grösstmöglichen Selbst-
engagiert sich Rickenbacher selbstständig für             bestimmung, die ich mit meiner Beeinträchtigung
die unterstützte Kommunikation und bietet über            erreichen kann.»
seine Website verschiedene Dienstleistungen an:                Mutig geht er seine Projekte an und gibt nie auf.
«Ich gebe Weiterbildungen, halte Referate und             «Ich habe immer an meine Chance geglaubt. Der
vermittle Wissen rund um die Kommunikation                Einsatz von Kommunikationshilfen hat mir dann
und das Leben mit einer Behinderung.» Für Ver-            viele Türen geöffnet.» So führt Rickenbacher ein­-
anstaltungen vor Publikum speichert er seine Bot-         drücklich vor, was für Menschen mit einer Beein-
schaften vorgängig auf dem Talker ab, damit er            trächtigung alles möglich ist. Beraterin Susanne
sie flüssig präsentieren kann.                            Berner betont seinen Willen, alles zu tun, um ein
                                                          selbstbestimmtes Leben zu führen. «Daniels posi-
Eine eigene Wohnung                                       tive Haltung beeindruckt uns alle. Die Reaktionen
Bis Januar wohnte Daniel Rickenbacher in einem            sind sowohl intern wie auch extern ausgespro-
Studio der Rodtegg, einer Stiftung für Menschen           chen positiv.»
mit Behinderung. Um noch selbstständiger zu                    So macht Daniel Rickenbachers Weg vielen
sein, zog er in eine eigene Wohnung in Luzern.            Menschen Mut. «Hinausgehen und sich etwas
«Das Leben in der Rodtegg hat mir viel gegeben»,          zutrauen» – das rät er allen, die ebenfalls mit
sagt er. «Damit ich mich aber weiterentwickeln            einer Behinderung leben müssen.
kann, musste ich die Institution verlassen.» Dank                                             (mste / febe)

                                                                                                                                   Paraplegie, März 2020 15
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Umgebungssteuerung
Wie kommuniziert man mit seiner Wohnung?
Gaby Pozzi ist hochgelähmt. Dank zwei Funktionsarmen und Hilfsmitteln zur Steuerung
der Umgebung kann sie wieder selbstständig am Leben teilnehmen.

«Einen Moment, ich komme», sagt die Stimme            bedient sie den Computer. Es sind hart erkämpfte
aus der Gegensprechanlage. Bald darauf geht           kleine Fortschritte. Sie erschliessen der Betroffe-
die Lifttüre auf und Gaby Pozzi empfängt den          nen neue Dimensionen der Kommunikation und
Besuch mit einem neugierigen Lächeln. Auf dem         damit der Selbstständigkeit.
Weg zurück in ihre Wohnung betätigt sie gewisse            «Mich erstaunt immer, wie viel Freiheit man
Tasten auf dem Handy – und schon setzt sich           mit wenigen Hilfsmitteln erreichen kann», sagt
der Lift in Bewegung, geht das Licht im Verbin-       Elia Di Grassi von Active Communication, einer
dungsgang an, öffnet sich die Wohnungstüre.           Tochterfirma der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
Mit einem weiteren Tastendruck drehen sich die        Der Berater mit breitem technischem Fachwis-
Jalousien und geben eine atemberaubende Aus-          sen hat Pozzis Umgebungssteuerung so einge-
sicht auf die Biegung der Limmat frei. Mit Spezial-   richtet, dass sie über ein am Rollstuhl befestigtes
handschuhen, die mit Gummi verstärkt sind,            Kontrollgerät die wichtigsten Funktionen in ihrer
manövriert die hochgelähmte Frau ihren elektro-       Wohnung auslösen kann. Als Eingabegerät dient
                                                                                                            Oben Ein Tastendruck aufs Handy
unterstützten Rollstuhl an den Esstisch.              der Handy-Bildschirm mit einer speziell program-      – und schon kann Gaby Pozzi ihre
     «Ohne Umgebungssteuerung wäre ich Tag            mierten App. Diese erlaubt es Pozzi, ihr Handy als               Wohnung ansteuern.
und Nacht auf eine Begleitperson angewiesen»,         ganz normales Smartphone zu verwenden. «Tele-            Rechte Seite Das Öffnen der
schildert die 59-Jährige ihre Situation. Zwar be-     fonieren, Nachrichten senden, Apps nutzen – und       Haustüre ist eine der wichtigsten
nötigt sie eine Assistenz für die Körperpflege, das   alles nur über einen Knopf», freut sich der Berater   Anwendungen. Sie muss hundert
Ankleiden und Kochen, doch mit gezielt einge-         über die gefundene Lösung.                               Prozent sicher funktionieren.
setzten Hilfsmitteln ist sie heute so weit selbst-
ständig, dass sie alleine das Haus verlassen und      Knopf oder Stimme?
einer Teilzeitarbeit nachgehen kann. Ihre Woh-        Wäre es nicht bequemer, statt eines Knopfs die
nung in Ennetbaden steuert sie über eine App auf      Stimme zu nutzen? «Sprachsteuerungen sind auf
dem Smartphone.                                       dem Vormarsch, aber sie sind noch zu fehler-
                                                      anfällig», erklärt der Experte. Was soll ein Mensch
Hart erkämpfte Fortschritte                           mit Einschränkungen machen, wenn Internet-
Seit jenem schicksalhaften Tag vor elf Jahren hat     anwendungen wie Apples Siri oder Amazons
sich hier viel verändert. Es war ein Velounfall an    Alexa stumm bleiben und die Haustüre nicht
einer Kreuzung. Gaby Pozzi wird von einem Auto        mehr öffnen? Oder das WiFi abstürzt? Oder nach
angefahren, sie bricht sich zweimal die Halswir-      einem Android-Update das Handy nicht mehr
belsäule und hat Kopfverletzungen. Als Notfall        durch Zurufe aus dem Standby-Modus geht?
kommt sie nach Nottwil. In den Jahren nach der        Wegen solcher Unzuverlässigkeiten setzt Active
Rehabilitation kann ihr die Handchirurgie des         Communication die Stimme noch nicht für sen-
Schweizer Paraplegiker-Zentrums in mehreren           sible Anwendungen ein.
Operationen sowohl links wie rechts einen Funkti-          Einschränkungen der Sprachsteuerung ent-
onsarm herstellen. Damit wird es der Tetraplegike-    stehen auch, weil bei den Nutzerinnen und Nut-
rin besser möglich, einfache manuelle Tätigkeiten     zern eine gewisse Deutlichkeit der Aussprache
auszuführen, etwa einen Schalter bedienen oder        gegeben sein muss. Auch Datenschutzbedenken
eine Hand schütteln. Mit weiteren Hilfsmitteln        sind zu berücksichtigen. Denn über die trendigen

16 Paraplegie, März 2020
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Geräte der Unterhaltungselektronik und die digi-     neuen Wohnung viel Überzeugungsarbeit leisten:
talen Home-Assistenten hören grosse amerika-         «Die Vermieter sind unsicher, weil sie die Geräte
nische Technologiefirmen bei uns zu Hause alles      nicht kennen; so entstehen Ängste. Und beim
mit, was gesagt wird. Ihr Datensammeln gefällt       Auszug muss wieder alles zurückgebaut werden.»
nicht allen. Dennoch ist Di Grassi überzeugt,        Oft sind nur kleine Installationen nötig, die aber
dass zukünftig viel mehr Anwendungen über die        Grosses bewirken.
Stimme angesteuert werden.
                                                     Knopf auslösen genügt
                                                                                                                Elia Di Grassi ist Berater bei
Unsicherheit der Vermieter                           «Unser Ziel sind einfache und zweckmässige           Active Communication und betreut
Bei Pozzi sind nur Funk- und Infrarottechnologien    Lösungen für Funktionen, die der Körper nicht        Gaby Pozzis Umgebungssteuerung.
im Einsatz, die eine hohe Sicherheit garantieren.    mehr selber ausführen kann», sagt Elia Di Grassi.
Die Herausforderung ihres Beraters war es, die       Seine Tätigkeit im Team von Active Communica-
Signale der bereits vorhandenen Empfangsgeräte       tion erlebt er als ausgesprochen befriedigend:
miteinander kompatibel zu machen und in ein          «Wir gehen zu einer Person nach Hause, die nur
Gesamtsystem zu integrieren. Da steckt der Teufel    mündlich kommunizieren kann. Und am Abend
oft im Detail, denn einzelne Hersteller nutzen
unterschiedliche Standards. Und Gaby Pozzi ist
auf diverse Funktionalitäten angewiesen, die ihre
                                                     « Ohne dieses System wäre ich Tag und Nacht
Selbstständigkeit ermöglichen.                         auf eine Begleitperson angewiesen.» Gaby Pozzi
      «Dass ich mich heute nachts bei einem Pro-
blem über das Telefon bemerkbar machen kann,         bekommen wir ein Dankesmail oder eine Whats-
ist für mich eine grosse Erleichterung», sagt sie.   App-Nachricht: ‹Super, es funktioniert alles!› Das
Das Leben als Tetraplegikerin bedeute einen          ist für mich ein Highlight dieser Arbeit.»
enormen Organisationsaufwand. Da ist bereits               Schon die kleinste körperliche Möglichkeit,
jedes Detail, das sie zu Hause selber erledigen      einen Knopf auszulösen – sei es über einen Funk-
kann, von unschätzbarem Wert.                        tionsarm, eine Lippenmaus oder eine Augensteu-
      In ihrer Terrassenwohnung in Ennetbaden        erung – ist für die Betroffenen ausreichend. Mit
konnte sie nach dem Unfall grössere Umbauten         den geeigneten Hilfsmitteln können sie damit alle
vornehmen und einen Lift samt Verbindungsgang        weiteren Anwendungen steuern und sind in die
einbauen. Nur wenige Hausbesitzer sind dazu          Gesellschaft integriert.
bereit. So muss sie heute auf der Suche nach einer                                 (kste / a. wagner)

                                                                                                                         Paraplegie, März 2020 17
KO M M U NIK AT I O N

Ratgeber
Wie Sie besser kommunizieren

                           Kommunikation
                                                                                     Kommunikation
                             allgemein
                                                                                     für Patientinnen
                                                                                      und Patienten

 Bereiten Sie sich vor
Überlegen Sie sich, was das Ziel des Gesprächs ist, welches Zeitbudget zur Verfügung
                                                                                          Sagen Sie, wenn Sie etwas nicht
steht, worüber Sie sprechen möchten und welche Informationen Sie benötigen.
                                                                                          verstehen oder es zu schnell ging
                                                                                          Als Patientin, als Patient haben Sie das
 Strukturieren Sie
                                                                                          Recht, so weit wie möglich informiert und
Zu viel Information überfordert und kann zur Verzettelung führen. Geben Sie eine Struk-   aufgeklärt zu werden. Nur so können Sie
tur an. Sie schützt vor Missverständnissen und hilft dem Zeitbudget. Machen Sie nach      mit einer Fachperson gute Entscheidungen
einem strukturierenden Element eine Pause, damit das Gegenüber zustimmen oder             treffen.
Wünsche anbringen kann. Strukturieren Sie das Gespräch zum Beispiel wie ein Buch:
     «Ich möchte mit Ihnen über die Operation sprechen» (Titel)                           Seien Sie kritisch – auch zu
     «Dabei geht es um folgende Punkte...» (Inhaltsverzeichnis)                           Dr. Google
     «Weshalb wir den Eingriff machen» (Kapitel 1), «Wie er ablaufen wird» (Kapitel 2)
                                                                                          Es ist legitim, vor dem Arztbesuch im Netz
     «Welche Risiken bestehen» (Kapitel 3), «Wie es danach weitergeht» (Kapitel 4).
                                                                                          Informationen zu suchen. Die Angebots-
Sind alle mit der Struktur einverstanden, wird das erste Kapitel aufgeschlagen und es     fülle bietet aber auch Gefahren. Inhalte sind
folgt die eigentliche Information (Buchinhalt).                                           nicht immer fundiert und vermitteln falsche
                                                                                          oder einseitige Meinungen. Erkundigen Sie
                                                                                          sich bei Fachpersonen oder Hilfsorganisa-
 Bleiben Sie verständlich
                                                                                          tionen nach guten Websites. Beachten Sie
Fachausdrücke und Abkürzungen sind für Laien unverständlich. Machen Sie einfache          die Aktualität eines Beitrags und dessen
Sätze, verwenden Sie bildhafte Ausdrücke und Vergleiche, geben Sie Beispiele, über-       Quelle.
setzen Sie Fachwörter ins Deutsche.
                                                                                          Prüfen Sie, ob Sie alle wichtigen
 Haben Sie Mut zur Pause                                                                  Informationen bekommen haben
Sprechpausen regeln Rhythmus und Tempo eines Gesprächs. Sie erlauben es, nachzu-          Als Patientin, als Patient sollten Sie die
denken, zu antworten oder seine Meinung zu präzisieren. Die sinnvolle und angenehme       Diagnose kennen. Sie sollten über Art,
Länge einer Pause ist sehr unterschiedlich – und nicht immer einfach auszuhalten.         Durchführung, Ziel, Nutzen und Risiken
                                                                                          eines Eingriffs Bescheid wissen. Und auch
                                                                                          über Nutzen und Risiken von Alternativen
 Berücksichtigen Sie alle Aspekte der Kommunikation
                                                                                          – inklusive der Variante, dass kein Eingriff
Eine Information wird beeinflusst durch die Art, wie sie vorgetragen wird – durch Ges-    erfolgt.
tik, Mimik, Stimmlage, Lautstärke und Tempo. Diese nonverbalen Aspekte vermitteln
Emotionen, bestimmen die Beziehung zum Gegenüber, veranschaulichen und unter-
                                                                                          Nehmen Sie sich Zeit
stützen den Inhalt. Sie können aber auch Spielraum für Deutungen öffnen, wenn die
Zuhörenden etwas anders verstehen, als es gesagt wurde. Klären Sie Missverständ-          Eine gute Entscheidung benötigt Zeit. Neh-
nisse: Fassen Sie wichtige Punkte am Ende zusammen und bitten Sie das Gegenüber,          men Sie sich die Zeit, die Sie brauchen und
in eigenen Worten wiederzugeben, was «angekommen» ist.                                    die die medizinische Situation zulässt.

18 Paraplegie, März 2020
K O SME M
                                                                      I TUE N IBKL AI CT KI O N

Von Mensch zu Mensch

«Los, traut euch», ermutigt der Mann mit
amerikanischem Akzent die Runde, «was
wollt ihr wissen?» Die Angesprochenen
drucksen herum. Tim Sheltons Direktheit
prallt auf Schweizer Zurückhaltung. End-
lich gibt eine Frau der allgemeinen Neugier
nach: «Wie funktioniert das mit der Sexu-
alität?» Die Stimmung wird lockerer und
Shelton schildert der Besuchergruppe mit
charmantem Witz überraschende Details.
Seit 32 Jahren sitzt er im Rollstuhl. Seit 2011
arbeitet er am Schweizer Paraplegiker-Zen-
trum (SPZ) als Besucherführer und Peer-
Berater von Patienten.
      Wenn Shelton als Rollstuhlfahrer Men-
schen im Spital besucht, die gerade erst
eine Rückenmarkverletzung erlitten haben,
steht Sexualität zuoberst auf ihrer Frage-
liste. Welche Formen sind möglich, wie wird
man wahrgenommen? Auf den Besucher-
führungen dagegen muss er die Frage aus
den Leuten herauskitzeln – obwohl sie alle
brennend interessiert. «Meine Aufgabe ist
es, die Menschen auch für schwierige The-
men zu sensibilisieren», sagt er. «Deshalb
habe ich gelernt, offen zu reden.»
                                                  chen erkennen die Leute, dass man mit            du damit zurück an den Platz, um das Essen
Geteilte Erfahrungen                              einer Rückenmarksverletzung gut weiter-          dort zu geniessen. Probiere das einmal aus
Die Offenheit des 51-Jährigen hilft anderen       leben kann. Vor dem Austritt benötigen sie       – und sage mir dann, ob du dabei nichts
Querschnittgelähmten, sich in einer völlig        dann Tipps und Tricks dafür.» So verknüpft       gelernt hast ...»
neuen Welt zurechtzufinden. Die medizi-           der Peer-Berater medizinische Themen mit              Die Learning-by-doing-Aufgaben sind
nischen und therapeutischen Fachperso-            einer Aussenwelt, in der die Betroffenen         nicht einfach. Denn sie entsprechen dem
nen kennen zwar alle Fakten, doch nur ein         auf sich selbst gestellt sind und nicht darauf   Alltag von Menschen mit einer Querschnitt-
Peer-Berater weiss, wie es sich tatsächlich       zählen können, dass rasch eine Fachperson        lähmung, die sich ausserhalb des geschütz-
anfühlt, davon betroffen zu sein. Durch           zum Helfen herbeieilt.                           ten Rahmens des SPZ zurechtfinden müs-
diese mit den Patienten geteilte Erfahrung             Die Peers in Nottwil reden aber nicht       sen. Ein schönes Feedback ist es für den
entstehen gegenseitiges Vertrauen und             nur. Einmal im Monat organisieren sie einen      Peer-Berater, wenn die Teilnehmenden stolz
der Mut, über alles zu sprechen. Auch über        Ausflug. «Learning by doing» heisst das Pro-     darauf sind, wie viele Alltagsaufgaben sie
Dinge, die man eine Fachpersonen nie fra-         gramm, bei dem jeweils auch Fachperso-           auf dem Ausflug gelöst haben.
gen würde.                                        nen aus Physio- oder Ergotherapie und der             Seine Schweizer Frau hat Tim Shelton
     «Fussgänger können sich nicht vorstel-       Pflege zugegen sind.                             in Mexiko kennengelernt. Da lag sein Mo-
len, wie es ist, querschnittgelähmt zu sein»,                                                      torradunfall schon zehn Jahre zurück und
sagt Tim Shelton. «Diese Kommunikations-          Alltagsaufgaben                                  er war alleine mit dem Auto von den USA
lücke füllen die Peers.» Am Anfang der            Das letzte Mal ging es an einen Eishockey-       bis nach Costa Rica gereist. Auch von sol-
Rehabilitation hätten Betroffene vor allem        match des EV Zug. Lernt man dabei über-          chen Abenteuern erzählt er auf dem Besu-
Fragen über das Alltagsleben mit einer            haupt etwas? Sheltons Augen funkeln: «Ich        cherrundgang in Nottwil und bei seinen
Querschnittlähmung. In den Wochen vor             fordere dich auf, in einem Rollstuhl in dieser   Peer-Besuchen im Patientenzimmer. Es sind
dem Austritt stehen dann konkrete Lösun-          Menschenmenge an der Theke eine Brat-            Geschichten, die bei beiden Zuhörergrup-
gen im Mittelpunkt. «In den frühen Gesprä-        wurst und ein Bier zu holen. Dann fährst         pen Mut machen.              (kste / rob)

                                                                                                                           Paraplegie, März 2020 19
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