Jahrgang Winter 2018 - Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt eV
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39. Jahrgang Winter 2018 Heft 129 Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde Themenseiten: Der Kirchenwald Themenseiten: Anthropozän – Das neue Antlitz der Erde
Inhalt Editorial 3 Geistlicher Impuls Natur, Kunst und Gott. Gedanken zur Glasarche im Luthergarten (Frank Koine) 4 Leserbrief Vor uns die Sintflut? Die christliche Gemeinde in und mit der Gesellschaft (Heiko Reinhold) 8 Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“ – Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung (Ruth Gütter) 11 Beschluss der 12. Synode der EKD zum Engagement für Klimagerechtigkeit (Irmgard Schwaetzer) 16 Aus den Landeskirchen Zukunft einkaufen – auch in Sachsen (Heiko Reinhold) 18 Klimawandel Warum die Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas zum Anstieg der Temperatur auf der Erde führt (Peter Müller) 21 Nachhaltige Entwicklung Die Tränen der Bäume. Naturkautschukgewinnung in Asien (Irene Knoke) 29 Impressum 35 Zum Schluss Jahreslosung 2019 36 Die Themenseiten Anthropozän – Das neue Antlitz der Erde Zeitzeichen (Jörg Göpfert) 1 „Leben im Anthropozän“ – Rezension (Ivo Frankenreiter) 6 Die Schöpfung im Anthropozän: Zwischen Natur und Kultur (Manuel Rivera) 11 Adam im Anthropozän. Können – und sollten – Theologie und Kirchen zu einer transformativen, nachhaltigen Wissenschaft beitragen? (Ivo Frankenreiter) 29
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die Monate April bis Juli 2018 waren die wärmsten dieses Viermonatszeit- raums in Deutschland seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. Gemäß einer Untersuchung am Center for Disaster Manage- ment and Risk Reduction Technology (CEDIM) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gab es seit 1881 in keinem Bundesland ein Jahr, in dem dieser Viermonatszeitraum wärmer gewesen wäre. Im Durchschnitt lagen die Temperaturen in diesen vier Monaten um 1,7 Grad über dem langjäh- rigen Mittel von 1981 bis 2010. Im bisherigen Rekordjahr 2003 betrug die Durchschnittstemperatur im gleichen Zeitraum 15,3 Grad Celsius und damit 1,3 Grad weniger als 2018. Extrem war der Sommer 2018 aber auch in Bezug auf die Trockenheit. Insgesamt seien deutschlandweit gemittelt nur etwa 60 Prozent der üblichen Regenmenge niedergegangen. Nur in den gleichen Monaten der Jahre 1921 und 1976 sei es trockener gewesen. Ob der Hitze- und Dürresommer 2018 eine Folge des vom Menschen ver- ursachten Klimawandels war, lässt sich bisher nicht zweifelsfrei feststellen. Gleichwohl hat er viele Menschen für das Thema sensibilisiert. Aus diesem Anlass haben wir in diese Ausgabe erneut einen Beitrag aufgenommen, in dem die Ursachen des Klimawandels sehr anschaulich erklärt und mögli- che Gegenmaßnahmen erläutert werden. Passend hierzu geben wir den Be- schluss der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Kohleausstieg wieder. Außerdem befassen sich die Autorinnen und Auto- ren dieser Ausgabe mit der neuen Beschaffungsrichtlinie der Evangelisch- Lutherischen Landeskirche Sachsens, einem Impulspapier der Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD und der Kautschukgewinnung in Asien. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe ist der Auseinandersetzung mit den Her- ausforderungen des Anthropozäns gewidmet. Mit ihnen setzen sich auch die Autorinnen und Autoren eines Sammelbandes auseinander, der mit Unter- stützung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt im September 2018 erschienen ist und auf den Themenseiten vorgestellt wird. Mit einem herzlichen Dank an alle Mitwirkenden an dieser Ausgabe wünscht Ihnen eine anregende Lektüre und ein gesegnetes, friedvolles Neues Jahr Ihr Jörg Göpfert BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 3
Geistlicher Impuls Am 15. Oktober 2018 ging im Luther- garten zu Wittenberg eine Glasarche vor Anker. Sie sollte „die Menschen daran erinnern, dass die Umwelt emp- findlich ist und es in unserer Hand liegt, sie zu schützen und zu bewah- ren“. So beschreiben die Initiatorinnen und Initiatoren vom Landschaftspfle- geverein Mittleres Elstertal die Missi- on ihres Kunstprojekts 1. Ende 2015 setzte der bayerische Glaskünstler Roland Fischer mit Kollegen das etwa fünf Meter lange Boot Glasplanke für Glasplanke zusammen. Der thüringische Holzkünstler Christian Schmidt gestaltete Anfang 2016 die mächtige Eichenhand, in der das Boot aus Glas seither ruht. Im April 2016 begab sich die Glasarche dann auf die Reise. Bis ins Jahr 2019 hinein führt sie entlang besonderer Orte. An 20 ausgewählten Stationen geht sie jeweils für einige Wochen vor Anker. Anfang November 2018 lud Pastor Frank Koine, zu jener Zeit Jugendpastor, Musiker und Missionar aus Kenia an der Stadtkirche der Lutherstadt Wittenberg, zu einer Andacht am Heck der Glasarche ein. Am 26. November legte sie wieder ab, um pünktlich zur Eröffnung der 24. UN- Klimakonferenz im polnischen Katowice zu sein. Natur, Kunst und Gott Gedanken zur Glasarche im Luthergarten von Frank Koine Kunst und Natur sind wunderbar miteinander verbunden. Die Künstler, die die Glasarche entworfen und gebaut haben, möchten uns daran erinnern, dass die Menschen für den Schutz der Natur verantwortlich sind. Die Natur kennt keine Grenzen, sie wird keine Zäune errichten, und deshalb müssen wir einen gemein- samen Dialog über die Erhaltung der Arten führen. Diese Glasarche sollte uns an die Fragilität der Natur erinnern. Es gibt viele wertvolle Lektionen, die Kunst und Natur uns vermitteln können. Ich werde über einige dieser Lektionen sprechen. 1 Weitere Informationen zum Projekt Glasarche: www.glasarche-3.de 4 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Geistlicher Impuls Die Natur erinnert uns daran, dass Schönheit in uns selbst existiert Es gibt eine unglaublich schöne Orchidee, die nur in den tiefsten unberühr- ten Gegenden Amazoniens wächst. Die Blume blendet, wenn sie vollständig blüht. Sie ist zart und zeigt eine erstaunliche Farbauswahl. Die Düfte dieser Blume sind so exquisit und intensiv, dass der Wind sie so weit trägt, dass sich die Menschen außerhalb des Waldes fragen, woher dieser Duft kommen mag. Niemand hat diese Blume je gesehen, und es gibt keine Bilder von ihr. – Ich habe sie gerade erfunden. Wenn eine Blume im äußersten Winkel der Erde wächst, blüht und stirbt, wer erzählt dann von ihrer Schönheit? Die Natur vertraut nicht auf unseren Schön- heitsanspruch. Sie ist für sich ganz alleine schön. Sogar Jesus sagte im Matthäus- Evangelium, Kapitel 26: „Nicht einmal König Salomo hatte mit all seinem Reich- tum ein so schönes Gewand wie eine dieser Blumen.“ Der Künstler bringt aus dieser Schönheit erstaunliche Werke hervor – wie diese Glasarche. Wenn wir über ein schönes Kunstwerk staunen, staunen wir über die Schönheit, die in seinem Schöpfer vorhanden ist. Natur und Kunst rufen in uns Schönheit hervor. Die Natur ist geduldig Laotse, ein chinesischer Philosoph, sagte: „Die Natur beeilt sich nicht, aber alles ist getan.“ Ich bin jetzt seit ungefähr drei Monaten in diesem großar- tigen Land, aber ich bin ungeduldig; ungeduldig, weil ich die recht schwie- rige deutsche Sprache immer noch nicht fließend sprechen kann. Ich habe vergessen, dass es lange dauert, sich an einem neuen Ort niederzulassen. Ich muss von Natur und Kunst lernen. Der Sommer weicht langsam dem Herbstwind, der langsam die Kälte des Winters auslöst. Der Frühling wartet geduldig darauf, frische Blumen zu bringen. Wie bei der Natur ist es auch in der Kunst. Der Künstler nimmt sich die Zeit, seine Kunst sorgfältig zu gestalten. Geduldig verwandelt er seine Kreation durch alle möglichen Herausforderungen in das, was wir anschließend ge- nießen. So sollten wir mit dem Leben, mit uns selbst und mit anderen, be- sonders mit anderen, umgehen. Natur und Kunst sind die besten Lehrer der Geduld. Wenn wir geduldig sind, locken wir das Beste aus dem Leben und aus den Beziehungen hervor. BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 5
Geistlicher Impuls Die Natur ist mächtig und weise in ihrer Stille Und so ist es auch mit der Kunst. Natur und Kunst ähneln einander in dem Sinne, dass sie uns zum Staunen und Vergnügen anregen. Wir erfahren Trost und innere Heilung. Natur als Kunst ist Therapie in ihrer reinsten Form. Manchmal, wenn ich tief beunruhigt bin oder eine klare Perspektive brauche, gehe ich in einen Garten, in den Wald oder in eine Kunstgalerie. In Kenia ging ich auf Safari in die Wildparks, und es ist unglaublich: Wer die riesigen Elefanten beobachtet und sieht, wie zärtlich sie mit ihren Jungen sind, oder die Löwen in ihrem Stolz oder die Antilopen, die über die Savan- ne springen, vergisst diese Erfahrung nie. Die Natur bietet eine kraftvolle Form der Wiedergeburt und gibt Kraft für den Alltag. Natur und Kunst geben mir eine sehr tiefe Verbindung zu meinem inneren Selbst. Um uns herum herrscht tiefe Weisheit, wenn wir aufmerksam sind. In Afrika gibt es ein gemeinsames Sprichwort von verschiedenen Kulturen und Stämmen: „Weisheit wächst mit den weißen Haaren alter Menschen.“ Es wird also gelehrt, dass wir älteren Menschen großen Respekt entgegen- bringen sollten. Wie alt ist die Natur? Millionen von Jahren! Und trotzdem, denke ich manchmal, hat die Menschheit keinerlei Respekt vor der Natur. Die Natur wird missbraucht, ignoriert, und zugleich wird von ihr erwartet, dass sie die Bedürfnisse der Menschheit erfüllt. Die Natur verbindet uns miteinander und mit Gott Die Natur bedeckt die ganze Erde, mit Flüssen, Meeren, Wäldern, Bergen und allen Arten von natürlichen Umgebungen. Wir alle verlassen uns auf die Na- tur. Durch die Natur sind wir miteinander verbunden, und die Natur verbindet uns mit Gott. Die Künstler, die die Glasarche geschaffen haben, möchten un- sere Aufmerksamkeit auf die Zerbrechlichkeit der Natur lenken. Der Dichter Ralph Emerson sagte: „Die Natur ist die Kunst Gottes.“ Ich denke, die Weisheit der Natur sagt uns über Gott: Er möchte, dass wir an ihn denken. Mutter Teresa sagte: „Gott ist ein Freund der Stille. Bäume, Blumen und Gras wachsen stumm. Sehen Sie die Sterne, den Mond und die Sonne, wie sie sich schweigend bewegen.“ 6 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Geistlicher Impuls In dem Film „Pocahontas“ gibt es ein Lied, das ich liebe, weil es mich daran erin- nert, wie kraftvoll und weise die Natur in ihrer Stille ist. Lassen Sie mich einige Zeilen aus dem Lied „Colours of the Wind“ – „Farben des Windes“ – für Sie singen: „Komm renn mit mir im Schattenlicht der Wälder Probier die süßen Beeren dieser Welt Komm wälze dich in ihrer reichen Vielfalt Und du merkst, dass im Leben dir nichts fehlt Der Regen und der Fluss sind meine Brüder Der Reiher und der Otter mein Geleit Und jeder dreht sich mit und ist verbunden Mit dem Sonnenrad, dem Ring der Ewigkeit Kannst du hören wie der Wolf heult Unterm Silbermond? Und weißt du auch, warum der Luchs so grinst? Kannst du singen wie die Stimmen in den Bergen? Kannst du malen wie das Farbenspiel des Winds? Kannst du malen wie das Farbenspiel des Winds?“ Gebet Wir danken dir Gott für das Leben, die Natur und die Künste. Danke für die Schönheit und Weisheit, die man in der Natur finden kann. Danke für diese Glasarche, die durch die Arbeit von Künstlern hier im Luthergarten liegt, um uns daran zu erinnern, was wir vielleicht vergessen haben: wie zerbrech- lich die Natur doch ist. Wir bitten dich: Öffne unsere Herzen, damit wir die Weisheit erlangen, die Natur und Kunst über das Leben vermitteln, und zeige uns, wie wir unsere Umwelt besser pflegen können. Darum bitten wir dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Pastor Frank Koine Jugend Pastor Evangelische Stadtkirchengemeinde Wittenberg Jüdenstraße 36 Tel.: 0159 90719299 | fkoine@gmail.com BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 7
Leserbrief Vor uns die Sintflut? Die christliche Gemeinde in und mit der Gesellschaft von Heiko Reinhold „Ich habe derzeit nicht den Eindruck, dass die sächsische Landeskirche als eine gestalterische Kraft unserer Gesellschaft auftreten möchte.“ So schätzt es Christian Wolff, der ehemalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, in einem Interview zur Kohlepolitik ein (Der Sonntag, 5.8.2018). Diese Erfahrung ist wohl auch in anderen Kirchen zu machen – ungeachtet der zahlreichen Verlautbarungen, Stellungnahmen und Projekte, die meist nur begrenzt wirksam werden. Es scheinen vor allem drei Hinderungsgründe zu sein, die den Gestaltungswillen bremsen: 1. „Das ist nicht unsere Aufgabe“ Meist wird kirchenintern der Vorrang von geistlicher Arbeit, von Verkündi- gung und Seelsorge betont. Doch wie glaubwürdig kann eine christliche Ver- kündigung sein, die das prophetische Amt der Kirche leugnet – und damit we- sentliche biblische Aussagen ausklammert –, die schweigt, wenn Schwestern und Brüder aus der weltweiten Ökumene ungerechte Strukturen beklagen, wenn menschenfeindliche Parolen in der Gemeinde laut werden, und die es hinnimmt, dass Kirchen weggebaggert, Tiere gequält und lebensfeindliche Ar- beitsplätze als zukunftsfähig dargestellt werden? Der Ruf zur Nachfolge bedeu- tet Umkehr, das Hinterfragen bisheriger Gewohnheiten – auch praktisch. Das Reich Gottes umfasst nicht nur geistige Sphären, sondern wirkt im besten Sinne ganzheitlich. Seelsorge und Klimaschutz, diakonisches Handeln und politisches Mitgestalten, Mission und fair-ökologischer Einkauf lassen sich nicht gegen- einander ausspielen. Zuspruch gibt es nicht ohne Anspruch. 2. „Es gibt zurzeit Wichtigeres“ Zum Beispiel Strukturdebatten – welch eine frohe Botschaft! Nicht nur, dass es mindestens schon seit Jahrzehnten um Strukturveränderungen geht – was genauso lange auch beklagt wird –, es entsteht gelegentlich der Ein- druck, dass sich diese Diskussionen trefflich als Begründung eignen, um 8 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Leserbrief sich mit nichts anderem befassen zu müssen. Die Wichtigkeit funktions- fähiger und nachvollziehbarer Strukturen ist unbestritten, doch sind mit deren Erarbeitung ständig sämtliche Glieder einer Kirchgemeinde befasst? Liegt die Begabung tausender Christen allein in der Prozentrechnung und der Erstellung von Organigrammen? Der biblische Befund zeigt ganz ver- schiedene Gaben und Aufgaben – ohne eine Bewertung, was mehr oder weniger wichtig ist. Der Schutz der Lebensgrundlagen ist für uns alle jeden- falls existenziell bedeutsam. 3. „Da gibt es schon eine Projektstelle“ Es ist also jemand da, der sich kümmert? Befristet, Teilzeit? Als „die Kirche“? Eine bequeme Möglichkeit, eigene Verantwortung loszuwerden. Als könnten Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung Themen und „Bearbeitungsgegenstand“ nur einzelner Personen sein. Ganz anders als die binnenkirchliche Sichtweise stellt sich die Betrachtung von außen dar. „Die Kirche“ wird von vielen Seiten als große Organisation in der Gesellschaft wahrgenommen, der einerseits eine ethische Urteilsfähigkeit und entsprechend positive Einflussnahme zugetraut werden, von der andererseits jedoch auch eine enorme Vorbildwirkung erwartet wird. Gesamtgesellschaftliche Herausforderungen wie der Klimawandel oder ungerechte Handelsstrukturen machen nicht an Kirchentüren halt, sondern erfordern engagiertes Handeln – nicht nur von extra „Beauftragten“. Professor Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung schrieb 2016 zum Klimavertrag von Paris und der sich daraus ergebenden Rolle der Kirchen: „Die Kirche kann sich in drei Funktionen für eine starke Umsetzung von Klimaschutz einsetzen: Erstens als große Organisation, die selbst Gebäude und Fahrzeuge betreibt. Zweitens als große gesellschaftliche Akteurin, welche der Politik den Mut stärken kann, sich aus den Macht- strukturen der bestehenden Energiewirtschaft zu lösen. Und drittens kann und sollte die Kirche als eben diese sprechen: theologisch. Der Schutz der Erde und des Lebens, neue Chancen für Mitmenschen und die Lösung der Weltprobleme sind mehr als eine Frage ökonomischer Opportunität. Sie sind auch Fragen an uns selbst, unsere Position und Rolle in der Welt. Das Chris- tentum kann sich um Antworten um diese Fragen nicht mit allgemeinen BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 9
Leserbrief christlichen Fürsorge- und Behutsamkeitsformulierungen herumwinden. Es braucht eine starke Theologie der Zuständigkeit.“ 1 Bezeichnenderweise trägt dieser Artikel den Titel „Das Vertagen und Wegsehen ist zu Ende“. Zwei Jahre später gilt das mehr denn je. Doch nicht genug, dass wir unsere eigenen Hausaufgaben – „oikos“! – erledigen müssen. Wenn wir die international verbindlich vereinbarten Klimaziele erreichen wollen, müssen sich wesentliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern. Zehn, zwanzig Prozent Energieeinsparung sind etwas anderes als eine vollständige Abkehr von fossilen Energieträgern in allen Sektoren, also Elektroenergie, Verkehr und Wärme, für die auch unpopuläre politische Entscheidungen erforderlich sind. Hierzu werden die Kirchen – deren Glieder die Bevölkerungsmehrheit darstellen – mindestens als unterstützende Partnerinnen gebraucht. Bei all dem ist zu betonen, dass es bei diesen Aktivitäten auch um Gemeindeaufbau geht. Neue Zielgruppen können erschlossen werden, mehr Menschen können sich aktiv einbringen, haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende kooperieren. Jesu Auftrag „Gehet hin!“ ermutigt zum Betreten neuer Räume. Kirche ist beides: Leib Christi und Körperschaft öffentlichen Rechts. Beides hat seine spezifischen Aufgaben und Methoden. Die Kirche als gesellschaftliche Akteurin – das bedeutet beispielsweise: Bund und Länder haben Klimaziele beschlossen, die EKD bittet ihre Gliedkirchen um entsprechende Maßnahmen, und die neuen Mitteilungen des IPCC zeigen die Verletzlichkeit unserer Erde sehr deutlich. Für unsere Kirchen stellt sich nun nicht die Frage, ob, sondern wie sie sich dazu positionieren, wie und wo sie aktiv werden. Bloße Absichtserklärungen, Bitten und Stellungnahmen reichen nicht mehr aus. Kirchliches Handeln ist nötig. Die Zeit drängt. Heiko Reinhold ehem. Umweltbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens heiko.reinhold@evlks.de 1 Wolfgang Lucht: „Das Vertagen und Wegsehen ist zu Ende. Zum Vertrag von Paris und zur Rolle der Kirchen“, nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Heft 1/16, S. 16 10 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“ Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen – Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung von Ruth Gütter Das Impulspapier der Kammer für nachhaltige Entwicklung wurde im Mai 2018 vom Rat der EKD einstimmig verabschiedet. Am 26. September 2018 wurde es von Professor Uwe Schneidewind, Vorsitzender der Kammer für nachhaltige Entwicklung, und von Marlehn Thieme, Mitglied des Rates der EKD und Vorsitzende des deutschen Nachhaltigkeitsrates, in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Bei der Präsentation bezeichnete Professor Schneidewind das Papier als ein „kleines protestantisches deutsches Laudato si’“, in Anspielung auf die gleichnamige, viel beachtete Enzyklika von Papst Franziskus. In der Tat gibt es sowohl in der Analyse der Ursachen der gegenwärtigen globalen Krisen als auch in der Dringlichkeit des Rufes nach einem konsequenten Umsteuern in Politik und Gesellschaft große Übereinstimmungen zwischen beiden Texten. Bei der Vorstellung des EKD-Papieres hoben Vertreterinnen und Vertreter von Wissenschaft und Politik die Bedeutung der Kirchen für den nötigen Werte- und Kulturwandel für die anstehenden Transformationen beson- ders hervor. Vertreterinnen und Vertreter aus dem kirchlichen Bereich be- zeichneten das Impulspapier als ein „starkes“ Papier, das für das eigene Engagement ermutigend wirke und Anstöße gebe, noch mehr als bisher zu tun. Genau diese Wirkung soll das Papier entfalten, wie man den Worten des Ratsvorsitzenden der EKD Landesbischof Professor Heinrich Bedford- Strohm im Vorwort entnehmen kann (S. 7): „Wir wollen in dem Umsetzungsprozess der Agenda 2030 Mahner, Mittler und Motor sein. Wir wollen zur Umkehr mahnen, wir wollen in gesellschaftlichen Zielkonflikten vermitteln und um faire Lösungen ringen. Und wir wollen selbst in unserer kirchlichen Praxis noch nachhaltiger und glaubwürdiger werden. Wenn uns das gelingt, dann können wir zum Motor einer nachhalti- gen Entwicklung werden, zur treibenden Kraft des Wandels …“ BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 11
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Im Folgenden sollen die Grundstruktur und die Kernaussagen des Impulspa- pieres kurz skizziert werden: Was uns trägt Das Impulspapier beschreibt im ersten Kapitel die theologisch-ethischen Per- spektiven, aus denen die EKD auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen 1 blickt. Ausgehend vom christlichen Schöpfungsglauben und einer Lebenshal- tung der Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung wird dem menschlichen Herrschaftsanspruch über die Schöpfung eine klare Absage erteilt. Zugleich wird unmissverständlich eingestanden, dass der Mensch seiner Verantwortung zur Erhaltung der Schöpfung nicht gerecht geworden ist. Insbesondere der Le- bensstil der Eliten sei alles andere als nachhaltig und gefährde das Leben auf der Erde (S. 10): „Wir machen uns schuldig. Wir werden unserer Schöpfungs- verantwortung nicht gerecht. Wir lieben unseren Nächsten nicht wie uns selbst. Wir sorgen nicht gut für das Geschenk der Schöpfung.“ Die Schöpfung sei zum Objekt von Ausbeutung und Kalkulation geworden, die Frage nach Preis und Nutzen habe alle anderen Werte überschattet. Der Glaube an Gottes Liebe, die größer sei als das menschliche Versagen, eröffne jedoch einen Weg zur Umkehr zu einem Leben in Verantwortung. Angesichts der vielfachen Überschreitun- gen der planetarischen Grenzen wird gemahnt (S. 11): „Ein weiter so geht nicht mehr!“ Außerdem wird eine „Ethik des Genug“ gefordert. Die Akzeptanz von Grenzen sei etwas Heilsames: „Der christliche Glaube gibt Freiheit zur Begren- zung. Er hilft uns, die aktive Begrenzung eigener Möglichkeiten und Interes- sen als ein Ausdruck christlicher Befreiung zu erkennen.“ Vor diesem ethisch- theologischen Hintergrund wird die Agenda 2030 als Transformationsagenda ausdrücklich begrüßt. Sie habe eine Tragweite, die mit der Charta der Men- schenrechte von 1948 vergleichbar sei (S. 12). Die EKD sehe sich in der Pflicht, an ihrer Umsetzung mitzuarbeiten. Was wir begrüßen Im zweiten Kapitel werden der umfassende Anspruch der Agenda 2030 als Agenda für alle Staaten und ihr ganzheitlicher und integrativer Ansatz be- 1 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete am 25. September 2015 eine Resolution mit dem Titel „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Ent- wicklung“: www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf 12 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) grüßt (S. 16). Der hohe Anspruch der Agenda, nämlich die sozialen Grund- lagen für alle Menschen – auch künftiger Generationen – zu sichern und zugleich die ökologischen Grenzen einzuhalten, wird als zentral und unent- behrlich eingeschätzt. Das könne nur gelingen, wenn man sich von bishe- rigen Entwicklungspfaden und Wachstumsstrategien verabschiede (S. 18). Was wir suchen Im dritten Kapitel wird festgehalten, dass die Agenda 2030 vieles von dem enthält, was die Mitgliedskirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen schon seit 40 Jahren fordern und diskutieren. Beispiele sind die Forderung nach einer nachhaltigen und verantwortlichen Gesellschaft (1975 Nairobi), der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (1983 Vancouver) und der Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens (2013 Busan). Obgleich in der Agenda 2030 ein weitreichender und kühner An- spruch vertreten werde, gingen die Suchbewegungen der Kirchen noch dar- über hinaus. Insbesondere müsse die unkritische Koppelung von Wohlstand und Wachstum hinterfragt werden (S. 24). Weiterhin wird kritisch angemerkt, dass der Gedanke der Suffizienz in der Agenda 2030 weitgehend fehle. Hier seien die Kirchen in ihren Reflexionen weiter, da sie schon seit geraumer Zeit eine „Ethik des Genug“ forderten. Auch die Frage, welche kulturellen Verän- derungsprozesse es zur Umsetzung der Agenda 2030 brauche, komme in der Agenda 2030 zu kurz. Hierfür sei insbesondere die Rolle von Religion und Spiritualität nicht zu unterschätzen. Die Kirchen seien bereit, sich an den nö- tigen Suchprozessen für einen Kultur- und Wertewandel zu beteiligen. Dabei ließen sie sich leiten von ihren Visionen von der zukünftigen Welt Gottes, in der Gerechtigkeit und Frieden wohnten (S. 26). Was wir erwarten Im vierten Kapitel wird klargestellt, dass die primäre Verantwortung zur Umsetzung der Agenda 2030 bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten der UN liege. Die Bundesregierung habe sich somit verpflichtet, die Agenda 2030 umzusetzen, und zwar „in, mit und durch Deutschland“ (S. 27). Das bedeute, dass sie nicht nur in ihrer nationalen Politik auf die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele achten müsse, sondern auch in ihrer internationa- len Politik – etwa in ihrer Entwicklungs- oder ihrer Handelspolitik – dafür BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 13
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sorgen müsse, dass die Nachhaltigkeitsziele in anderen Ländern ebenfalls umgesetzt werden können. Das Impulspapier enthält die Forderung, die deutsche Nachhaltigkeitsstra- tegie weiterzuentwickeln und die offensichtlichen Zielkonflikte zwischen verschiedenen Politikfeldern bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu überwinden. Außerdem wird angeregt, die vorhandenen Partizipationsfor- men für die Beteiligung der Zivilgesellschaft auszubauen. Auch an die Kirchen sind im Impulspapier klare Erwartungen gerichtet. Die Kirchen sollen bei der Umsetzung der Agenda 2030 „Mahnerin, Mittlerin und Motor“ sein (S.31–35). Insbesondere für die Rolle als „Motor“, also als Vorrei- terin müsse in den Kirchen noch mehr geschehen. Zwar sei im Bereich der Klimaschutzkonzepte und ethischen Geldanlagen schon einiges erreicht, auch gebe es in der Bewusstseinsarbeit und der spirituellen Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit bereits viele gute Initiativen, dennoch werde das als richtig Erkannte noch zu wenig konsequent in die eigene Praxis umgesetzt. Was zu tun ist Im fünften Kapitel werden vier Politik- und Handlungsfelder herausgegrif- fen, bei denen die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in Deutschland be- sonders unzureichend ist und bei denen auch die Kirchen herausgefordert sind. Es sind die Politik- und Handlungsfelder • „Hunger beenden und nachhaltige Landwirtschaft fördern“ (SDG 1), • „nachhaltig konsumieren und produzieren“ (SDG 12), • „Ungleichheiten überwinden“ (SDG 5 und SDG 10 Geschlechtergerechtigkeit) sowie • „Klima schützen, Kohleausstieg und nachhaltige Mobilität fördern“ (SDG 13). Diese vier Unterkapitel (S.37–71) sind jeweils so aufgebaut, dass sie die Aus- sagen der Agenda 2030 und der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie zu jedem Handlungsfeld darstellen und kommentieren, bevor dann die Handlungs- möglichkeiten und -notwendigkeiten für die Kirchen beschrieben werden. In besonders gekennzeichneten Kästen finden sich in jedem Unterkapitel Praxisbeispiele, die zeigen, wie Kirchen hier zum Vorreiter werden können. 14 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Was wir in Dankbarkeit tun wollen Im Schlusskapitel findet sich eine nachdrückliche Mahnung, dass es höchste Zeit sei, zu einer nachhaltigen Lebensweise umzukehren (S. 71): „Viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Weltgemeinschaft gleicht einem Tanker, der nur lang- sam die Richtung ändern kann. Nur wer den Kurswechsel rechtzeitig einleitet, kann die Kollision verhindern …“ Den Kirchen komme in diesem „Kairos“ eine besondere Verantwortung zu, die sie entschieden und konsequent wahrneh- men müssten. Kirchen sollten sich selbst ehrgeizige Ziele für Veränderungen ihrer eigenen Praxis setzen. Je mehr sie hier erreichten, umso glaubwürdi- ger würden auch ihre Mahnungen und Forderungen an andere. Das Papier schließt mit dem Bekenntnis (S. 72): „Wir wissen, dass die Zeit umzusteuern drängt. Wir bekennen, dass die Erde Gott gehört und nicht uns. Wir wissen, dass der Stern, auf dem wir leben, nur geliehen ist.“ OKR Dr. Ruth Gütter Referentin für Fragen der Nachhaltigkeit Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Abteilung: 31 – Öffentliche Verantwortung | Referat: 316 – Nachhaltigkeit Herrenhäuser Straße 12 | 30419 Hannover Tel.: 0511 2796-8387 | ruth.guetter@ekd.de Bezugsmöglichkeiten für das Impulspapier: EKD-Texte 130 „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“ Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung Kostenfreies Herunterladen aus dem Internet: www.ekd.de/EKD-Texte-288.htm Bestellung gedruckter Exemplare für 2,40 €/Stück zuzüglich Portokosten: versand@ekd.de BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 15
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Beschluss der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 5. Tagung zum Kohleausstieg in der Energievesorgung Die Synode spricht sich für einen zügigen Ausstieg aus der Kohleverstro- mung (Braun- und Steinkohle) aus, der der Umsetzung des Pariser Klima- abkommens entspricht und dazu beiträgt, dass die deutschen Klimaziele möglichst zeitnah noch erreicht werden. Dafür muss kurzfristig die Hälfte der Kohlekraftwerke, vorrangig die ältesten und ineffizientesten, vom Netz genommen werden. Die Synode fordert die politisch Verantwortlichen auf, den mit dem Koh- leausstieg verbundenen Strukturwandel konsequent sozialverträglich zu gestalten sowie für die betroffenen Regionen Perspektiven zu eröffnen. Mit großem Interesse hat die Synode den Zwischenbericht vom 25. Okto- ber 2018 der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ 1 zur Kenntnis genommen, der sehr differenziert mögliche Maßnahmen zur sozialen und strukturpolitischen Entwicklung der Braunkohleregionen dar- stellt. Ausdrücklich unterstützt sie die Absicht der Kommission, „Klima- schutz, gute Arbeit und Wirtschaft in Einklang“ zu bringen „und damit einen Beitrag zur Umsetzung des Leitbilds Nachhaltigkeit“ (S. 28) zu leisten. Die Synode begrüßt, dass die Zivilgesellschaft in den Prozess der Struk- turentwicklung aktiv eingebunden werden soll, und sieht darin auch eine Aufgabe der Kirchen. Die Synode spricht sich dafür aus, umgehend ein konkretes Kohleausstiegs- datum festzulegen. Sie knüpft damit an den Beschluss der Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 27. Oktober 2018 an. Der Zeitpunkt muss wissensbasiert den internationalen Klimazielen genügen und im geplanten Klimaschutzgesetz 2 festgeschrieben 1 Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ wurde auf Beschluss der Bundesregierung vom 6. Juni 2018 eingesetzt. (Anm. d. Red.) 2 Im Koalitionsvertrag der 19. Wahlperiode des Bundestages vom 12. März 2018 wurde verein- bart, ein „Gesetz zur Einhaltung der Klimaziele 2030“ zu verabschieden. In der Regierungserklä- rung dazu kündigte die neue Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- heit, Svenja Schulze, dieses Klimaschutzgesetz für 2019 an. Mit dem Gesetz sollen die Leitlinien für das Klimaschutzziel 2030 rechtlich verankert werden. (Anm. d. Red.) 16 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) werden. Belastbare Studien zeigen, dass ein Kohleausstieg, der den Erfor- dernissen der Sozialverträglichkeit, der Versorgungssicherheit und des Kli- maschutzes entspricht, bis spätestens 2035 notwendig und möglich ist. Die betroffenen Standorte und Regionen brauchen langfristige Planungs- sicherheit, damit sie sich auf die notwendigen Veränderungen einstellen und entsprechende Entwicklungsprozesse einleiten können. Je länger der Beginn des Strukturwandels hinausgezögert wird, umso größer wird die Gefahr, dass die Klimaziele verfehlt werden und es zu sozialunverträglichen Strukturbrüchen kommt. Würzburg, den 14. November 2018 Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland Dr. Irmgard Schwaetzer BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 17
Aus den Landeskirchen Zukunft einkaufen – auch in Sachsen von Heiko Reinhold Seit 1. Juli 2018 gilt in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sach- sens die „Richtlinie für den Erwerb von Waren und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen nach ökologischen und sozialen Gesichtspunkten“. Sie wurde im Amtsblatt vom 15. Juni 2018 veröffentlicht und ist von allen Kirchgemeinden und kirchlichen Einrichtungen anzuwenden. 1 Auch dem Diakonischen Werk wird empfohlen, nach dieser Richtlinie zu verfahren. Bereits im Vorwort der Richtlinie wird eine zentrale Zielsetzung genannt: „Damit wird ein Beitrag zu mehr globaler Gerechtigkeit und Gesundheit ge- leistet.“ Kirchen haben eine besondere Verantwortung in ihrem Tun. Bei ihren Einkäufen haben die Gemeinden und Einrichtungen aber auch mehr Gestal- tungsmöglichkeiten. Sie können beispielsweise Rahmenverträge nutzen oder längere Garantiezeiten in Anspruch nehmen. Im Sinne der haushalterischen Grundsätze von Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit geht es um das Hinter- fragen der eigenen Einkaufsgewohnheiten und eine langfristige Beurteilung von investiven Maßnahmen. Als Kriterien werden deshalb nicht nur die so- ziale und ökologische Verträglichkeit genannt, sondern beispielsweise auch Langlebigkeit, Reparaturfähigkeit, Energiebedarf und Ergonomie. Vorausgegangen war ein entsprechender Beschluss der Landessynode vom April 2017 2, der auch auf den Erfahrungen der 2013 bis 2017 in Leipzig arbeitenden Projektstelle „Kirchgemeinden als Lernorte für Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit“ aufbaute und die Schaffung ähnlicher Stellen in den anderen Kirchenbezirken anregte. Mit diesen Stellen sollte auch die spätere Umsetzung der Richtlinie begleitet werden. Dieser Beschlussteil blieb jedoch leider bisher weitgehend unbeachtet. 1 http://engagiert.evlks.de/fileadmin/userfiles/EVLKS_engagiert/B._Landeskirche/Amtsblatt/ Amtsblatt_2018_11.pdf 2 http://engagiert.evlks.de/fileadmin/userfiles/EVLKS_engagiert/B._Landeskirche/Landessyno- de/PDF/27_Drucksache_Nr._115.pdf 18 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Aus den Landeskirchen In Leipzig wurden die Impulse der Projektstelle dankbar aufgegriffen. Vor allem die Peters-/Bethlehemgemeinde setzte viele Vorschläge um, unterzog ihren Einkauf einem intensiven Check, erstellte eigene Beschaffungsleitli- nien und wurde 2015 als deutschlandweit erste Gemeinde mit dem Siegel der Initiative „Zukunft einkaufen“ ausgezeichnet. 3 Inzwischen entstand dort gemeinsam mit anderen Gemeinden eine Online-Einkaufsplattform, die speziell auf den kirchlichen Bedarf ausgerichtet ist und den nachhalti- gen Einkauf vereinfachen soll. 4 Bereits seit mehreren Jahren ist in Sach- sen eine ökumenische Arbeitsgruppe „Zukunft einkaufen“ aktiv, die mehrere Praxistage veranstaltete sowie Vorträge und konkrete Beratungsleistungen für Gemeinden und engagierte Gemeinde- glieder anbietet. Mit ihrer Hilfe können Fragen zu Produkten, Siegeln, Bezugs- quellen, Garantiezeiten und vielem mehr geklärt werden. Diese Aktivitäten und Erfahrungen führten dazu, dass die Ar- beitsgruppe durch das Landeskirchenamt gebeten wurde, eine Vorlage für die ge- plante Richtlinie zu erstellen. Dabei wur- de schnell klar, dass sich das, was mit „fair-ökologisch-sozialem Einkauf“ ge- meint ist, nur unzureichend mit rechts- konformen Begriffen darstellen lässt. Mit juristischer Hilfe aus dem Landeskir- chenamt wurde dieser Spagat geschafft. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass die Richtlinie – die im Kern nur eine Seite umfasst – nur eine prinzipielle Grundlage bildet. Ergänzt wird sie durch eine Produkttabelle mit empfoh- lenen Kriterien, Siegeln und Bezugsquellen. Hier finden sich beispielsweise Empfehlungen für die Beschaffung von Ökostrom, Büromaterial, Lebens- und Reinigungsmitteln, aber auch Hinweise zu Mobilität und Geldanlagen. 3 http://www.zukunft-einkaufen.de/zertifizierung/kirchengemeinden-mit-ze-siegel/ 4 http://einkaufsnetz-leipzig.de/ BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 19
Aus den Landeskirchen Mehrfach wurde die Frage nach der Verbindlichkeit gestellt. „Diese Richtli- nie ist ab 1. Juli 2018 anzuwenden“ sollte eindeutig sein – allerdings kann die Umsetzung weder kontrolliert noch die Nicht-Umsetzung bestraft wer- den. Die Richtlinie ist als Aufforderung zu verstehen, das Einkaufsverhalten zu überdenken und zu verändern. Sie soll Grundlage für individuelle Rege- lungen sein, die die lokalen Bedingungen – wie Zuständigkeiten, konkreten Bedarf oder Bezugsmöglichkeiten – berücksichtigen. Die sächsische Landeskirche ist neben DGB, BUND, dem Bistum Dresden- Meißen sowie dem Entwicklungspolitischen Netzwerk auch Partnerin der Allianz „Sachsen kauft fair“, 5 die einen ökologisch und sozial verantwort- lichen Einkauf der öffentlichen Hand fordert und kürzlich ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Dass die nach außen gerichteten Forderungen auch im eigenen Handeln umgesetzt werden, sollte selbstverständlich sein. Die Be- schaffungsrichtlinie ist somit nur konsequent. Heiko Reinhold Mitglied der Arbeitsgruppe „Zukunft einkaufen“ heiko.reinhold@evlks.de 5 https://sachsen-kauft-fair.de/ 20 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Klimawandel Warum die Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas zum Anstieg der Temperatur auf der Erde führt von Peter Müller Die Strahlung der Sonne ist die Quelle allen Lebens auf der Erde. Ihre Ener- gie ermöglichte und ermöglicht die Entwicklung von Pflanzen und Tieren. Über die gesamte Oberfläche gemittelt empfängt die Erde von der Sonne ständig eine Strahlungsleistung von 236 Watt pro Quadratmeter in Form kurzwelliger Strahlung mit Maximum im sichtbaren Bereich (siehe Abbil- dung 1). Diese Energie wird direkt oder über Zwischenstufen, wie etwa das Pflanzenwachstum, in Wärme umgewandelt. Die Erde ihrerseits sendet zu- gleich langwelligere infrarote Strahlung mit im Mittel ebenfalls 236 Watt pro Quadratmeter in alle Richtungen des -269 °C kalten Weltraums aus. Ohne Sonne würde es daher auf der Erde nicht nur dunkel werden, sondern infolge dieser eigenen Abstrahlung in kurzer Zeit auch extrem kalt. Abbildung 1: Einseitige solare Einstrahlung auf die Erde und allseitige infrarote Abstrahlung von der Erde (µm = Millionstel Meter). BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 21
Klimawandel Bei Fehlen einer Lufthülle oder bei einer Hülle, die ausschließlich aus einfa- chen Gasen wie Stickstoff und Sauerstoff bestünde, würde sich das Gleich- gewicht zwischen Einstrahlung von der Sonne und Abstrahlung in den kal- ten Weltraum bei einer mittleren Temperatur der Erdoberfläche von -18 °C einstellen. Die seit langem in der Erdatmosphäre vorhandenen Spurengase Wasserdampf (H2O) und Kohlendioxid (CO2) bewirken jedoch durch eine teilweise Rückstrahlung der infraroten Strahlung zur Erdoberfläche einen natürlichen Treibhauseffekt, der zu einer stabilen und für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation günstigen Temperatur auf der Erde von im Mittel +15 °C geführt hat. Dieser natürliche Treibhauseffekt war und ist für das Leben von außerordentlicher Bedeutung. Die von der Erdoberfläche ausgehende Infrarotstrahlung verursacht die An- regung verschiedener Schwingungszustände der Atome in den in der Ab- bildung 2 gezeigten drei- und mehratomigen Treibhausgasmolekülen. Der nachfolgende Übergang in den energetischen Grundzustand dieser Mole- küle ist dann jeweils gekoppelt mit der Aussendung der gleichen (Wärme-) Strahlung in alle Richtungen, also auch zum Teil zurück zur Erde. Abbildung 2: Modelle der wichtigsten Treibhausgasmoleküle. In Deutschland entfielen 2014 bei der Freisetzung von Treib- hausgasen 87,9 Prozent auf Kohlendioxid, 6,2 Prozent auf Methan, 4,3 Prozent auf Dis- tickstoffoxid und 1,6 Prozent auf fluorhaltige Gase. 22 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Klimawandel Im Jahr 1958 begann der amerikanische Chemiker C. D. Keeling mit ei- ner systematischen Bestimmung der CO2-Konzentration der Atmosphäre. Um den Einf luss von Industrie, Verkehr und Pf lanzen auf die Ergebnisse auszuschließen, erfolgten die Messungen in 3400 m Höhe auf der abge- legenen Hawaii-Insel Mauna Loa. Aber auch hier war erstaunlicherweise die CO2-Konzentration nicht konstant, sondern sie variierte um den Wert 315 ppm (parts per million) beziehungsweise 0,0315 Prozent. Nach eini- ger Zeit war die Ursache dafür gefunden. Durch das Pf lanzenwachstum auf der nördlichen Halbkugel, bei dem die Pf lanzen CO2 aus der Atmo- sphäre aufnehmen, nimmt im Frühjahr und Sommer die Konzentration an CO2 ab bis auf ein Minimum im September, um dann im Herbst und Winter durch das Verrotten von Pf lanzenteilen, bei dem CO2 freigesetzt wird, wieder anzusteigen. Diesem jahreszeitlichen Wechsel war jedoch eine ständige Zunahme der CO2-Konzentration in der Atmosphäre über- lagert. Wie die berühmte Keelingkurve in der Abbildung 3 zeigt, hat die CO2-Konzentration in der Atmosphäre in den vergangenen 60 Jahren um 30 Prozent zugenommen. Im mittleren Teil der Abbildung mit den Messergebnissen der letzten beiden Jahre ist zu sehen, dass die CO 2-Konzentration auch im Bereich des jeweiligen Minimums nicht wieder unter den Wert von 400 ppm gefallen ist. Der untere Teil der Abbildung zeigt außer der Keelingkurve auch die CO2-Konzentration der in Eisbohrkernen eingeschlossenen Luft. Tiefere Eisbohrkerne, die Rückschlüsse auf die vergangenen 10.000 Jah- re erlauben, liefern über die gesamte Zeit gleichbleibende CO2-Anteile von etwa 270 ppm. In zeitlicher Übereinstimmung mit Industrialisierung und vermehrter Brandrodung beginnt ab etwa 1860 ein erster Anstieg des Kurvenverlaufs. Der experimentelle Nachweis der jahreszeitlichen Variation der CO2- Konzentration durch das Pf lanzenwachstum sowie des kontinuierlichen Anstiegs war von außerordentlicher Bedeutung für unsere Vorstellungen von der Umwelt. Inzwischen bestätigen weitere Untersuchungen, dass die Verbrennung der fossilen Vorräte an Kohle, Öl und Erdgas eindeutig die Ursache für die CO2-Zunahme in der Atmosphäre ist. BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 23
Klimawandel Keelingkurve der letzten zwei Jahre mit dem Endwert 408,3 ppm CO2 am 10.7.2018. Abbildung 3: Entwicklung der CO2-Kon- Die CO2-Werte vor 1958 stammen aus Eisbohrkernen, die danach zentration in der Atmos- vom Mauna Loa. Quelle der einzelnen Graphiken: phäre über verschiedene https://scripps.ucsd.edu/programs/keelingcurve/ Zeiträume. 24 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Klimawandel Die erhöhte CO2-Konzentration sowie weitere freigesetzte Spurengase wie Methan, Distickstoffoxid und fluorhaltige Gase verursachen einen zusätz- lichen Treibhauseffekt, der mit einem globalen Anstieg der Erdtemperatur verbunden ist. Denn erst die mit steigender Temperatur zunehmende Strah- lungsleistung ermöglicht es, dass die Erde trotz des verstärkten Treibhaus- effektes weiterhin die von der Sonne empfangene Energie durch Abstrah- lung in den kalten Weltraum loswerden kann. Der menschengemachte Temperaturanstieg hat gefährliche Klimaänderun- gen zur Folge mit zerstörerischen Stürmen, Überflutungen, Dürren, mit der Ausbreitung von Parasiten und tropischen Krankheiten und in südlichen Regionen sogar mit dem Übersteigen der Grenztemperatur für das Wachs- tum wichtiger Nutzpflanzen. Im Bereich des Persischen Golfs ist bereits jetzt in der Sommerzeit infolge von Extremtemperaturen bei gleichzeitig hoher Luftfeuchtigkeit nur noch ein begrenzter Aufenthalt im Freien mög- lich. Drastische Klimaänderungen sind insbesondere dann zu erwarten, wenn durch die menschengemachte Erwärmung Prozesse angestoßen wer- den, die wegen des Überschreitens von kritischen Werten, von sogenannten Kipp-Punkten, Temperaturanstiege auslösen, die selbständig weiterlaufen und nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Wie kann eine solche kritische Entwicklung vermieden werden? Die Ver- fügbarkeit von Energie in ihren verschiedensten Formen hat in Deutsch- land zur Erleichterung körperlich schwerer Arbeit in der Landwirtschaft, im Bauwesen und in der Industrie und zu einem insgesamt außerordentlich hohen Lebensstandard geführt. Nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie entsprach im Jahr 2015 der Primärenergie- verbrauch, also der Verbrauch aller in den Energierohstoffen enthaltenen Energie, im Mittel reichlich 45.000 kWh pro Einwohner. Dabei erfolgte die Bereitstellung von 80 Prozent des Primärenergiebedarfs durch Kohle, Erdöl und Erdgas. Eine gute Vorstellung von der derzeitigen Energienutzung erhält man durch einen Vergleich mit der menschlichen Arbeitskraft. Dividiert man die 45.000 kWh durch die 8.760 Stunden eines Jahres, so ergibt sich im zeitlichen Mit- tel ein Leistungsbezug von 5,2 kW pro Einwohner. Ein Erwachsener kann auf einem Energiefahrrad eine Dauerleistung von 100 Watt aufbringen. Ein BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 25
Klimawandel Leistungsbezug von 5,2 kW bedeutet daher, dass praktisch für jeden von uns ständig 52 Energiesklaven rund um die Uhr arbeiten. Abbildung 4: Energiefahrrad zur Erzeugung von elektrischem Strom mit Muskelkraft für die Versorgung verschiedener Verbraucher in der im Herzberger Bürgerzentrum 2014 organisierten Ausstellung „Unser Leben mit Licht – Sehen, Begreifen, Verstehen“. Stärker als alle anderen Gründe (Endlichkeit der Vorräte, Importabhän- gigkeit) erzwingen die mit der Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre verbundenen lebensbedrohlichen Klimaänderungen einen raschen Stopp der gegenwärtig noch massenhaften Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas. Wie die UN-Klimakonferenz im Dezember 2015 in Paris gezeigt hat, ist sich die Weltgemeinschaft, entgegen der Meinung von Leugnern menschgemachter Klimaänderungen, der Probleme voll bewusst. Nach vielen vorangegangenen ergebnislosen Konferenzen wurden in Paris in harten Verhandlungen konkrete Klimaschutzziele vereinbart, die auf eine Begrenzung der Erhöhung der Erdtemperatur um maximal 2 Grad – besser 1,5 Grad – zielen. Die Analysen der Klimaforscher zeigen nun, dass zur Einhaltung der 2-Grad-Grenze die Überschreitung einer CO2- Konzentration von 450 ppm vermieden werden muss und dass dement- sprechend höchstens noch etwa 800 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmo- sphäre emittiert werden dürfen. Etwa 7,6 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde. Bei Gleichverteilung des noch verbleibenden CO2-Budgets von 800 Milliarden Tonnen darf jeder der heutigen Erdbewohner die Atmosphäre nur noch als Deponieraum für 105 Tonnen CO2 benutzen. Im Jahr 2015 lag die Emission im Weltdurchschnitt bei 26 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Klimawandel 4,9 Tonnen CO2 pro Person. Dabei waren es im überreichen Katar jedoch mehr als 40, in den USA 17 und in Deutschland 11 Tonnen CO2 pro Einwohner und Jahr. Die ärmeren südlichen Länder lehnen jedoch eine Gleichverteilung ab, da sie zur wirtschaftlichen Aufholjagd höhere Emissionswerte beanspruchen und da ihre Bevölkerung weiter sehr stark zunimmt. Einen Ausweg aus dieser Zwangssituation bietet die Nutzung der – nach menschlichem Ermessen – zeitlich unbegrenzt verfügbaren erneuerbaren Energien, zu denen insbesondere die Sonnenstrahlung, die Windkraft und die Biomasse gehören. Diese Energien ermöglichen eine dauerhafte und sichere sowie mittel- und langfristig kostengünstige Versorgung. Da die Sonne immer wieder scheint, der Wind immer wieder weht und Biomasse wieder nachwächst, wird mit deren Nutzung künftigen Gene- rationen auch nichts weggenommen. Der Auf bau von Solar- oder Wind- energieanlagen erfordert zwar höhere Anfangsinvestitionen, danach aber nicht die Zuführung von Brennstoffen. Damit entfallen Sorgen um künftig steigende Preise. Das Potential der vor kurzem noch belächel- ten erneuerbaren Energien ist enorm. Die Solarenergie hat gegenüber allen anderen erneuerbaren Energien nicht nur das bei weitem größte Potential, sondern sie ermöglicht mit der Photovoltaik bereits gegen- wärtig häufig auch die billigste Art der Stromerzeugung. Im Jahr 2018 lagen Stromerzeugungskosten neuer Photovoltaik-Freif lächenanlagen in Deutschland bereits im Mittel bei 4,59 Cent pro kWh. Infolge eines höheren Wirkungsgrades und einer noch weiter verbesserten Langzeit- stabilität der Solarstrommodule werden die Kosten künftig auf 3 bis 4 Cent pro Kilowattstunde zurückgehen. In südlichen Ländern mit höherer Sonneneinstrahlung liegen in günstigen Fällen die Kosten bereits jetzt bei 2 bis 3 Cent pro Kilowattstunde Elektroenergie. Für den Umstieg auf erneuerbare Energien bestehen auch in Mitteldeutsch- land gute Bedingungen. In Zukunft sollten sich jedoch hiesige Bewohner mit Unterstützung heimischer Banken zur Bildung von Energiegenossen- schaften zusammentun, um anstelle fremder Investoren selbst die Instal- lation von Anlagen zur Bereitstellung erneuerbarer Energien voranzubrin- gen. Eine solche Energiegenossenschaft aus Bürgern mehrerer Gemeinden könnte sich auf optimale Standorte einigen. Gäbe es genossenschaftliches Eigentum vor Ort, so wäre das nicht nur finanziell für die Bürger und BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 27
Klimawandel die Kommunen von Vorteil, sondern es würde auch die Akzeptanz für die neuen Anlagen erhöhen. Die technischen Voraussetzungen für eine dauerhafte, langfristig kostengünstige und umweltfreundliche auf erneu- erbaren Energien basierende Energieversorgung stehen bereit. Es kommt ausschließlich auf den politischen Willen in der Gesellschaft an, sie zu nutzen. Hierfür tragen jedoch nicht nur die Politiker Verantwortung, son- dern auch jeder Einzelne. Dr. Peter Müller 1 Kniebuschweg 23 | 04936 Schlieben Tel.: 035361 89638 p.mueller.schlieben@t-online.de 1 Dr. Peter Müller hat von 1960 bis 1990 als Festkörperphysiker in einem Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Adlershof gearbeitet. Von 1990 bis 2000 war er in dem am gleichen Ort eingerichteten Ostberliner Institutsteil des Hahn-Meitner-Instituts an Arbeiten zur Entwicklung kostengünstiger Silizium-Solarzellen beteiligt. Dr. Peter Müller ist Mitglied der Vereinigung Eurosolar, der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie und des Solarenergie-Fördervereins Deutschland. 28 BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018
Nachhaltige Entwicklung Die Tränen der Bäume Naturkautschukgewinnung in Asien von Irene Knoke Viele Rohstoffe, die in Europa konsumiert werden, stammen aus Ent- wicklungs- und Schwellenländern. Oft werden sie unter problematischen Arbeits- und Umweltbedingungen gewonnen oder hergestellt. Das Be- wusstsein dafür ist bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern hier- zulande deutlich gestiegen. Vor allem Kaffee, Kakao, Bananen, Palmöl oder metallischen Rohstoffe gerieten in den Blick. Ein anderer – ebenso wichtiger – Rohstoff blieb aber meist außen vor: Naturkautschuk. Eine neue Studie des Institut SÜDWIND und des Global Nature Fund soll diese Aufmerksamkeitslücke jetzt schließen helfen. Naturkautschuk ist ein weltweit gehandelter Rohstoff, der als Gummi in zahlreichen Produkten zum Einsatz kommt. Wichtigster Abnehmer ist die Automobilindustrie. Etwa 70 Prozent des in Deutschland verwendeten Na- turkautschuks landet in Autoreifen. Gemischt wird er meistens mit Synthe- sekautschuk, einer erdölbasierten Alternative. Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften vor allem in puncto Elastizität und Belastbarkeit ist Natur- kautschuk aber bis heute unersetzbar. Vereinfacht lässt sich sagen: je höher die Belastung, desto größer der Anteil an Naturkautschuk. Flugzeugreifen bestehen beispielsweise fast ausschließlich aus Naturkautschuk, PKW-Rei- fen nur etwa zur Hälfte. Doch die Verwendung von Naturkautschuk ist weit vielfältiger. Insgesamt werden mehr als 50.000 verschiedene Produkte dar- aus hergestellt, darunter Handschuhe, Matratzen, Kondome und Schuhsoh- len, aber auch Dichtungen, Förderbänder, Dämm- und Baumaterial. Im Jahr 2017 wurden weltweit insgesamt 13,2 Millionen Tonnen Naturkautschuk verbraucht, 90 Prozent davon stammen aus Asien. Die Quelle für den Rohstoff, aus dem Gummi hergestellt wird, ist der Kaut- schukbaum (Hevea brasiliensis). Von ihm kann der weiße Milchsaft gewon- nen werden, den die Indigenen in Südamerika, der ursprünglichen Heimat des Baumes, „Caucho“ nannten – die „Träne des Baumes“. Er besteht zu einem Drittel aus Naturkautschuk und ist in Deutschland eher unter dem BRIEFE – Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde, Nr. 129, 4|2018 29
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