AMNESTY - JEMEN: DER IGNORIERTE KRIEG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
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AMNESTY Nr. 97 März 2019 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE JEMEN: DER IGNORIERTE KRIEG FLÜCHTLINGE GESPRÄCH USA Auch die Seele braucht Hilfe Homosexualität und Islam Schweizer Medikamente im Todestrakt?
© Itzel Plascencia / Amnesty International Mexico AKTIV WERDEN GEGEN SEXUELLE GEWALT AN FRAUEN Rund ums Thema Aktiv werden gegen sexuelle EINLADUNG ZUR Gewalt an Frauen wird es an der Jahresver JAHRESVERSAMMLUNG 2019 sammlung eine öffentliche Podiumsdiskussion, Workshops und eine Aktion geben. Amnesty International setzt sich dafür ein, Frauenrechte Die Jahres- und Generalversammlung (GV) 2019 als Menschenrechte zu stärken. findet am 4. und 5. Mai beim Weltpostverein in Bern In einer EU-weiten Umfrage gab jede zehnte statt. Frau an, seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer sexuel ler Gewalt geworden zu sein, wobei die Zahlen Eingeladen sind alle Mitglieder! Werden Sie heute auch in der Schweiz besorgniserregend sind. Mit noch Mitglied und nehmen Sie dadurch an der der #MeToo-Kampagne wurde klar, wie brennend ganzen Jahresversammlung teil. dieses Thema ist und wie viel Handlungsbedarf es gibt. Auch Amnesty Schweiz will jetzt ein Anmeldung: bis zum 24. März 2019 auf Zeichen setzen! Mit AktivistInnen und ExpertIn www.amnesty.ch/gv nen starten wir die grosse Kampagne 2019. Einreichung von Motionen und Postulaten: bis zum 8. März 2019 an gv@amnesty.ch
Titelbild INHALT_MÄRZ 2019 Ungewisse Zukunft: Eine Binnenvertriebene aus der jemenitischen Hafenstadt Hodeida in einem Zeltlager in Sanaa. © REUTERS / Mohamed al-Sayaghi AKTUELL THEMA 4 Good News 24 Flüchtlinge 6 Aktuell im Bild Keine Zeit zu verlieren 7 Nachrichten 9 Brennpunkt Orbáns Schikane Die psychologische Hilfe für DOSSIER Flüchtlinge komme oft zu spät, sagt Essam Daod. Jemen: Der ignorierte Krieg 26 LGBTI «Der Islam wird missbraucht, um kulturelle Dogmen zu begründen» 29 Todesstrafe Schweizer Medikamente im Todestrakt? 32 Unternehmensverantwortung El Hatillo muss weichen 34 Marokko Eine Tajine mit einer Prise Hoffnung 10 Ein Funken Hoffnung 12 Unversehrt bleibt niemand KULTUR Jemen: Ein Spielball der Weltmächte. 35 Buch 16 Bilder in Trümmern In Beton gegossene Furcht Murad Subay: Kunst auf Ruinen. 36 Film 18 Die verlorene Generation Verschlungene Pfade Den Preis des Kriegs zahlen vor allem die Kinder. 37 Buch 19 «Viele werden mehrfach vertrieben» Flippern gegen Totalitarismus Zur Lage der Binnenflüchtlinge. 20 Der Golf der Flucht und des Leids Trotz Krieg fliehen immer noch Menschen nach Jemen. CARTE BLANCHE 21 «Die Wahrheit zählt nichts» 39 Elena Dratva Soll es Frieden geben, müssen Kriegsverbrechen Darum gehe ich auf die Strasse bestraft werden. 22 Blutige Geschäfte Vom zynischen Profit mit Waffen im Jemen. Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 97, März 2019. Redaktion: Carole Scheidegger (cas), Manuela Reimann Graf (mre, verantw.) MitarbeiterInnen dieser Nummer: Jean-Marie Banderet (jmb), Ulla Bein, Markus Bickel (mbi), Hannah El-Hitami, Julie Jeannet, Ralf Kaminski, Klaus Petrus, Maik Söhler Söhler (msö), Keno Verseck, Cornelia Wegerhoff, Marlene Zöhrer (MaZ). Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/ gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 26. April 2019. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 89 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3 AMNESTY März 2019
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Der Krieg im Jemen sei kein ver- gessener, sondern ein ignorierter Krieg. Das sagt die Menschen- rechtlerin Radhya al-Mutawakel im Interview. Wie recht sie hat. Wir wissen längst, was in dem Land vor GOO Ahmed H. ist endlich wieder frei UNGARN − Am 19. Januar wurde Ahmed H. vorzeitig freigelassen, nachdem er dreieinhalb Jahre wegen unbegründeter Terrorismusvor- würfe in Ungarn in Haft verbracht hatte. Ahmed H. hatte 2015 sein Zuhause in Zypern verlassen, um seinen Eltern und anderen Familien- mitgliedern bei ihrer Flucht von Syrien nach Europa zu helfen. Einen Monat später war die Familie an der ungarisch-serbischen Grenze an- gekommen. Dort kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei, die sich geht. Wir haben die Bilder von Tränengas und Wasserwerfer einsetzte. Einige Menschen warfen mit Steinen, darunter auch Ahmed. Es gibt jedoch auch Bildmaterial, das zerstörten Häusern gesehen, von deutlich zeigt, wie er vor den Zusammenstössen mit einem Megafon verhungernden Kindern. Wir wenden uns ab, weil diese beide Seiten dazu aufruft, Ruhe zu bewahren. Wegen des Steinwurfs, Bilder so unerträglich sind. Und anders als beim Krieg in den ein ungarisches Gericht als «Terrorakt» einstufte, wurde Ahmed H. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Strafe wurde später auf Syrien ist es leichter, diesen Konflikt zu verdrängen. Aus sieben, dann auf fünf Jahre mit Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung dem Jemen kommen nicht Zehntausende Flüchtlinge reduziert. Nun wurde Ahmed freigelassen und kann endlich seine nach Europa und erinnern uns damit an den Krieg in ihrer Frau und seine zwei Töchter wiedersehen. Heimat. Die Menschen im Jemen haben schlicht nicht © zvg die Möglichkeit, aus ihrem Land zu fliehen. Die westlichen Regierungen ignorieren den Jemen aus ganz eigennützigen Gründen. Denn andernfalls müssten sie Massnahmen gegen Saudi-Arabien und seine Ver- bündeten ergreifen, mit welchen sich doch so gute Ge- schäfte machen lassen. Dazu kommen strategische In- teressen um die Dominanz in der Region – wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Auch die offizielle Schweiz liefert Rüstungsgüter an die kriegführenden Länder. Das ist nicht nur ignorant, son- dern zynisch. Setzen wir uns dafür ein, dass dies auf- Wieder vereint: Ahmed H. und seine Tochter. hört! Manuela Reimann Graf, verantwortliche Redaktorin Immer mehr Staaten me und unmenschliche Bestra- gegen Todesstrafe fung abgeschafft. Heute verbie- UNO – Eine Rekordzahl von ten 139 Staaten die Todesstrafe PS: Das beiliegende «In Action» war schon im Druck, Mitgliedstaaten der Vereinten per Gesetz oder wenden sie nicht als uns die Nachricht erreichte: Die 100 000 Unter Nationen hat sich am 17. De- mehr an, auch wenn sie noch im schriften für die Korrektur-Initiative sind beisammen! zember für ein Todesstrafen- Strafrecht steht. Moratorium ausgesprochen: Unterschreiben Sie die Initiative bitte dennoch – falls 121 Staaten stimmten in der Gerettet durch Live-Tweet Sie es nicht schon getan haben. Denn je mehr Unter Generalversammlung für einen SAUDI-ARABIEN/KANADA – Als Ra- schriften zusammenkommen, umso grösser der Druck Hinrichtungsstopp. Eine Welt haf Mohammed al-Kunun in ohne Todesstrafe ist damit näher Thailand strandete, erregte sie auf Regierung und Parlament, solche Waffenlieferungen denn je. Als die Uno 1945 ge- weltweit Aufsehen: Denn die an Länder, die in einem Konflikt stecken, endlich zu gründet wurde, hatten nur 8 von 18-jährige Saudi-Araberin war im stoppen. 51 Mitgliedstaaten diese grausa- Urlaub in Kuwait vor der Gewalt 4 AMNESTY März 2019
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS ihrer Familie geflohen und wollte eigentlich nach Australien weiter. Todesurteil gegen Christin aufgehoben PAKISTAN – Asia Bibi ist IN KÜRZE © privat Doch während des Transits in wirklich freigesprochen. MAURETANIEN – Die beiden Akti Thailand wurde ihr Pass be- Am 29. Januar wies der visten Biram Dah Abeid und Ab schlagnahmt, und die Einwande- Oberste Gerichtshof einen dellahi el Housein Mesoud wur rungsbehörden hinderten sie da Antrag auf Überprüfung den am 31. Dezember 2018 ran, ihre Reise fortzusetzen. Die dieses Urteils zurück. Das nach über vier Monaten in Haft junge Frau berichtete live auf Gericht hatte bereits im freigelassen. Beide setzen sich in Twitter über ihre Situation. Men- Oktober das Todesurteil Mauretanien gegen Sklaverei ein. schen auf der ganzen Welt setz- gegen die christliche Biram Dah Abeid wurde in den ten sich für sie ein. Die Flucht Landarbeiterin aufgehoben vergangenen Jahren bereits drei fand ein glückliches Ende: Die und sie von allen Vorwür- mal in Zusammenhang mit sei Uno anerkannte sie als Flüchtling fen freigesprochen. Asia nem Engagement festgenommen. und Kanada gewährte ihr Asyl. Bibi war 2010 wegen Be- leidigung des Propheten Aus der Todeszelle entlassen: Die pakistani- INDONESIEN – Am Nationalfeiertag © zvg/Twitter Mohammed zum Tode sche Christin Asia Bibi. vom 29. Juni 2007 veranstaltete verurteilt worden und sass der Primarlehrer Johan Teterissa somit acht Jahre lang in der Todeszelle. Nach der Aufhebung des mit weiteren Aktivisten vor den Todesurteils knickte die pakistanische Regierung nach tagelangen Augen des Präsidenten einen Ausschreitungen fundamentalistischer Islamisten jedoch ein: Sie hin- friedlichen Protest: Dabei führten derte Asia Bibi daran, das Land zu verlassen, und wies den Obersten sie einen Kriegstanz auf und ent Gerichtshof an, das Urteil zu überprüfen. Bei Redaktionsschluss war rollten die verbotene Flagge einer unklar, ob Asia Bibi Pakistan verlassen hatte oder nicht. Unabhängigkeitsbewegung. Da nach nahm die Polizei Johan Rechte von Frauen gestärkt Teterissa fest. Er wurde zu einer IRLAND – Es ist ein grosser Fortschritt für die Rechte der Frauen in Ir- lebenslangen Haftstrafe verurteilt. In Sicherheit: land: Am 12. Dezember 2018 verabschiedete das irische Parlament Am 25. Dezember 2018 wurde Rahaf Mohammed al-Kunun. das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch. Die irische Frauenbewe- der Gewissensgefangene endlich gung hatte sich sehr lange dafür eingesetzt. Die Entkriminalisierung freigelassen. Er bedankte sich bei Vertreibung von der Abtreibung war Gegenstand eines historischen Referendums im Amnesty International und allen 200 Familien abgewendet vergangenen Mai; 66 Prozent der Bevölkerung nahmen es an. Am- UnterstützerInnen, die sich für PARAGUAY – Mit einer Eilaktion nesty International wird die Umsetzung des Gesetzes genau beob- ihn eingesetzt hatten. ist es Amnesty International achten. gelungen, die Vertreibung von NIGER – Yahaya Badamassi, Koor © AI Irlande 200 Familien in Paraguay abzu- dinator einer Menschenrechtsor wenden. Im Juli 2018 waren ganisation, ist am 6. Dezember Hunderte Polizisten in der Ge- freigekommen. Er war angeklagt, meinde Guahory im Departamen- an einer aufrührerischen Bewe to Caaguazú stationiert worden, gung teilgenommen und die Ge um gegen vermeintlich rechtswid- fährdung der Staatssicherheit rige Landbesetzungen vorzuge- geplant zu haben. Yahaya Bada hen. Nach der Intervention von massi verbrachte acht Monate in Amnesty und von LandaktivistIn- Haft. Er hatte gegen das neue nen sah die Regierung jedoch Finanzgesetz in Niger protestiert. von ihrem Plan ab, auf diesem Noch immer in Haft ist der Akti Wege rechtswidrige Zwangsräu- vist Sadat Illiya Dan Malam, der mungen zu verschleiern. Die Poli- an den gleichen Protestveranstal zeikräfte wurden Ende 2018 wie- tungen teilnahm. der aus dem Gebiet abgezogen. Mehr Selbstbestimmung für Frauen in Irland. 5 AMNESTY März 2019
AKTUELL_IM BILD © Reuters/Mohammad Ismail AFGHANISTAN – Friedensverhandlungen nach 40 Jahren Konflikt: Die gebeutelte Zivilbevölkerung hätte den Frieden wahrlich nötig. Die Frauen sind in diesem Prozess aber zu wenig vertreten, nur drei der zwölf Delegationsmitglieder der Regierung sind weiblich. Ihre Rechte, die von den Taliban mit Füssen getreten wurden, gilt es zu sichern. Erstaunlich zuversichtlich zeigt sich diese 17-jährige Afghanin, die den Kampfsport Muay Thai betreibt: «Afghanische Frauen haben im Sport viel erreicht – ich bin optimistisch, dass die Taliban diese Errungenschaften akzeptieren werden.» 6 AMNESTY März 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN Verfolgung von Schwulen und Lesben rige Haftstrafe. Am 21. Januar © AI / Jan Petersmann TSCHETSCHENIEN – Seit Dezember 2018 wurden mindestens zwei Men- wurde gegen die Koordinatorin schen, die von den tschetschenischen Behörden für homosexuell gehal- der Bewegung Open Russia (Ot- ten werden, zu Tode gefoltert. Dies passierte im Rahmen einer neuen krytaya Rossiya) wegen «wieder- Welle der Verfolgung von Schwulen in der russischen Republik. Das rus- holter Beteiligung an den Aktivi- sische LGBTI-Netzwerk berichtet, dass ungefähr 40 Menschen durch täten einer unerwünschten tschetschenische Behörden in einem Regierungsgebäude in der Stadt Organisation» Anklage erhoben. Argun festgehalten und gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden. Die russischen Behörden verfol- Einigen der Gefangenen hat man den Pass weggenommen, um sie an gen seit einigen Jahren eine ge- Vor der indischen Botschaft in Berlin. der Ausreise zu hindern. Bereits 2017 wurden bei einer homophob mo- zielte Strategie der Unterdrü- tivierten Verfolgung Dutzende von Schwulen in Tschetschenien entführt, ckung und Kriminalisierung Büros der Organisation durch- gefoltert und manche gar getötet. Am 21. Dezember 2018 veröffentlich- kritischer Stimmen. Im Januar sucht und die Bankkonten einge- te die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Euro- ging die Polizei landesweit mit froren wurden. In einem älteren pa) einen Bericht über die damaligen Ereignisse. Demnach hat sich strafrechtlichen Ermittlungen, Verfahren von 2016 verfügte nun Russland geweigert, die Vorkommnisse in Tschetschenien zu untersu- Durchsuchungen und Festnah- am 8. Januar das zuständige Ge- chen. Bis heute hat keine Ermittlung stattgefunden und niemand wurde men gegen Aktivistinnen und richt von Bengaluru, die Anklagen für die begangenen Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen. Aktivisten der Bewegung Open gegen Amnesty International we- Russia vor. gen Aufwiegelung einzustellen. © AI Die Beschwerde bezog sich auf Verfahren gegen Amnesty eine Veranstaltung zu Menschen- eingestellt rechtsverletzungen in Jammu und INDIEN – Die indische Regierung Kaschmir, die vermeintlich setzt zivilgesellschaftliche Organi- «staatsfeindlich» gewesen sei. sationen seit längerem unter Amnesty begrüsst die Entschei- Druck. Auch Amnestys Sektion im dung, mit der ein skandalöser Land bekommt dies zu spüren, Versuch, die Meinungsfreiheit zu zuletzt Ende Oktober 2018, als die ersticken, abgewehrt wurde. Hunderte von «Gilets jaunes» verwundet FRANKREICH – Bei den Protesten der «Gilets jaunes» wurden mehr als 1700 Demonstrierende verletzt. Allein das Kollektiv Désarmons-nous In der russischen Republik Tschetschenien werden Homosexuelle gejagt. beklagt 100 Verletzte. Zwölf von ihnen verloren ein Auge durch Gum- migeschosse. Andere Demonstrierende wurden durch Sprenggranaten Islamischer Staat vergiftet Landminen aus und vergiftete verletzt. Eine 80-jährige Frau starb am 3. Dezember 2018 in Marseille, Brunnen Brunnen mit Öl. Die Vertriebenen weil sie von einem Tränengasbehälter verwundet wurde, der durch das IRAK – Tausendfachen Mord, können deshalb bis heute nicht Fenster in ihre Wohnung flog. Laut Zeugenberichten war der Einsatz Folter und Versklavung hat der zurückkehren. von Gummigeschossen © Alexandros Michailidis / shutterstock selbst ernannte Islamische Staat durch die Polizei zum Teil (IS) an den Jesiden und Jesidin- Erste Anklage unter Gesetz unverhältnismässig. Das nen verübt. Amnesty Internatio- gegen NGOs zeigen auch Videos, welche nal dokumentiert in einem Be- RUSSLAND – Zum ersten Mal ist in von Amnesty Frankreich richt, wie der IS gezielt auch die Russland ein Strafverfahren auf überprüft wurden. Insge- Lebensgrundlage der jesidischen Grundlage des repressiven Ge- samt 717 PolizistInnen und Bevölkerung im Irak zerstörte: setzes über «unerwünschte Or- Feuerwehrleute wurden Bewässerungsanlagen wurden ganisationen» eingeleitet worden, ebenfalls Opfer von Gewalt. demoliert, Obstgärten und ande- das 2015 verabschiedet worden re landwirtschaftliche Kulturen war: Der angeklagten Menschen- vernichtet, Vieh und Maschinen rechtsverteidigerin Anastasia Hartes Vorgehen gegen gestohlen. Zudem legte der IS Shevchenko droht eine sechsjäh- Protestierende. 7 AMNESTY März 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN kommen. Amal Fathy ist nur des- © privat 70 MENSCHENRECHTE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER halb im Visier der Justiz, weil sie JAHRE auf sozialen Medien über ihre Er- fahrungen mit sexueller Gewalt berichtete und die Untätigkeit der ägyptischen Regierung kritisierte. Umfrage: Mehrheit gegen Killerroboter Amal Fathy droht WELTWEIT – In einer 2018 durch- wieder Haft geführten Umfrage erklärten ÄGYPTEN – Die Justizfarce gegen mehr als 60 Prozent der Befrag- die ägyptische Frauenrechtlerin ten, dass sie gegen die Entwick- Amal Fathy geht weiter: Nach- lung autonomer Waffensysteme dem ein Gericht ihre Freilassung sind. Die sogenannten Killer angeordnet hatte, bestätigte ein roboter sollen ohne menschliches WIMMELBILD-POSTER: JETZT NACHBESTELLEN anderes Gericht in einem zweiten Zutun Ziele auswählen und töten Wir haben etliche positive Reaktionen zum Poster in der letz Verfahren eine zweijährige Haft- können. «Die Regierungen sollten ten Ausgabe erhalten – vielen Dank dafür! Das Wimmelbild strafe. Amal Fathy wurde zwar die Menschen vor den unzähli- zeigt die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschen am 27. Dezember 2018 tatsäch- gen Risiken durch Killerroboter rechte. Möchten Sie ein zusätzliches Exemplar? Sie können lich aus dem Gefängnis entlas- schützen und sich nicht in ein das Poster kostenlos bei uns bestellen. Gerne senden wir sen. Sie darf ihr Haus jedoch – neues brandgefährliches Wett Ihnen auch einen Klassensatz für eine Schulklasse zu. ausser für medizinische rüsten stürzen», kommentierte Jetzt bestellen unter www.amnesty.ch/poster-70jahre Behandlungen – nicht verlassen Patrick Walder von Amnesty In- und muss sich wöchentlich bei ternational Schweiz die Umfrage. der Polizei melden. Nur wenige Amnesty fordert ein Verbot völlig Tage später hat jedoch ein ande- autonomer Waffensysteme, was Buchungsplattformen profitieren von illegalen res Kairoer Gericht in einem derzeit 28 Staaten unterstützen. Siedlungen zweiten Verfahren den Schuld- Die Umfrage zu den Killerrobo- ISRAEL/BESETZTE GEBIETE – Die grossen Online-Buchungsplattformen spruch und die Verurteilung zu tern fand in 26 Ländern statt, Airbnb, Booking.com, Expedia und TripAdvisor bieten in israelischen zwei Jahren Haft bestätigt. Damit unter anderem in Deutschland, Siedlungen im besetzten Westjordanland Hunderte von Unterkünften kann die Mutter eines kleinen China, Russland, Grossbritannien, an. Sie tragen damit zum Unterhalt und zum Ausbau der Siedlungen Kindes jederzeit wieder in Haft Frankreich und in den USA. bei und profitieren so indirekt von einer Verletzung des Völkerrechts, da die Siedlungen illegal sind. Das dokumentiert Amnesty Internatio- nal in einem Bericht. Die israelische Regierung investiert beträchtliche JETZT ONLINE Summen in den Tourismussektor. Naturparks, archäologische Stätten und andere touristische Attraktionen dienen regelmässig als Recht Am 6. Februar fand in der Schweiz wieder einmal der fertigung für die Enteignung palästinensischen Landes oder gar die Sirenentest statt. Amnesty International nutzte diesen Anlass, Zerstörung palästi- um auf die desolate Lage im Jemen hinzuweisen, wo Bomben © AI ohne Vorwarnung fallen. Sehen Sie sich das Video zur Aktion an. nensischer Dörfer. Amnesty fordert Was erwartet Sie in den Kursen von Amnesty Schweiz? Ein die Buchungsplatt- kurzes Video zeigt es spielerisch. formen auf, sich aus diesen Gebieten 14 Frauen in Polen haben eine Busse erhalten für ein zurückzuziehen. Transparent, auf dem «Stop Faschismus» stand. Mehr dazu sehen Sie bei uns. Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-maerz19 Touristinnen im Westjordanland. 8 AMNESTY März 2019
AKTUELL_BRENNPUNKT ORBÁNS SCHIKANE der organisieren in Pécs regel- 25-prozentige Strafsteuer auf mässig Protest-Happenings. Einnahmen zahlen, wenn sie «illegale Einwanderung fördern». Deswegen steckt die Schule, an der Orsolya Varga arbeitet, nun «Diese Bestimmungen schwe- in Schwierigkeiten. Die Pädago- ben wie ein Damoklesschwert gin möchte nicht, dass Einzel- über uns», sagt Áron Demeter heiten des Falls und der Name von Amnesty Ungarn. «Sie sind der Schule öffentlich bekannt ein Drohsignal, dass jederzeit et- werden, sie will ihre KollegInnen was gegen uns unternommen nicht gefährden. Der Schuldirek- werden kann.» tor könnte sich gezwungen se- © REUTERS/Bernadett Szabo hen, Orsolya Varga zu entlassen, Zum Alltag der grösseren NGOs weil er sonst riskiert, keine För- gehört auch, dass sie Schwierig- dergelder mehr zu erhalten. Da- keiten haben, Veranstaltungs- mit würde die Existenz der räume zu finden, weil Vermie Schule infrage gestellt. Schwei- terInnen staatliche Schikanen Aktivisten entfernen ein Plakat, auf gen will Orsolya Varga jedoch fürchten. Einrichtungen des dem George Soros beschuldigt wird, nicht. «Wenn der Direktor mich öffentlichen Dienstes sagen E eine Million MigrantInnen pro Jahr in inst war Orsolya Varga über- entlassen muss, gehe ich eben Weiterbildungen zu Themen wie Europa ansiedeln zu wollen. zeugte Wählerin des ungari- putzen oder arbeite an der Su- Menschen- und Bürgerrechte schen Ministerpräsidenten Viktor permarktkasse», sagt sie. ab. Wegen der breit auslegbaren Orbán und seiner Partei Fidesz. Bestimmungen des «Stop Doch in den letzten Jahren Fälle wie dieser sind in Ungarn Soros»-Gesetzes zog die Open- kamen der Theaterpädagogin alltäglich. Seit Viktor Orbán im Society-Stiftung des US-Börsen- immer mehr Zweifel. «Macht- Sommer 2014 den Aufbau eines milliardärs George Soros im missbrauch und Korruption ha- «illiberalen Staats» ankündigte, August letzten Jahres von ben sich überall ausgebreitet», geht die Regierung systematisch Budapest nach Berlin um – sie sagt die 50-Jährige. gegen «die Zivilen» – AktivistIn- fürchtete willkürliche staatliche nen und Nichtregierungsorgani- Eingriffe in ihre Arbeit und Re- Orsolya Varga arbeitet an einer sationen (NGOs) – vor. Es trifft pressionen gegen Mitarbeitende. gemeinnützigen Privatschule nicht nur Organisationen wie Am- in der südungarischen Stadt nesty International oder das Hel- Orsolya Varga erinnert die Lage Pécs. Nach der Parlaments- sinki-Komitee, sondern auch ein- in Ungarn inzwischen fast an die wahl im April letzten Jahres zelne Personen wie Orsolya Varga Zeiten der Kádár-Diktatur. Wa entschloss sie sich, öffentlich oder kleinere Initiativen aus der rum steckt sie eigentlich nicht zu protestieren «gegen Tyrannei Provinz. Die Mittel sind Medien- zurück – immerhin steht ihre und antidemokratische Ver kampagnen mit abstrusen Vor- Existenz auf dem Spiel? Orsolya hältnisse», wie sie sagt. Sie würfen, schwarze Namenslisten, Varga sagt: «Wenn mich meine gründete über Facebook die Behördenschikanen und Gesetze Kinder und Enkel eines Tages Initiative «Frauen-Widerstands- wie das letztes Jahr verabschie- fragen, was ich in dieser Zeit ge- bewegung», deren Anfangs- dete «Stop Soros!»-Paket. Mit macht habe, dann möchte ich buchstaben im Ungarischen dessen Bestimmungen können antworten können: Ich habe das Wort «NEM» ergeben, zu NGOs kriminalisiert werden. nicht geschwiegen.» Deutsch: «Nein». Ihre Mitglie- Unter anderem müssen sie eine Keno Verseck 9 AMNESTY März 2019
© Anasalhadji / shutterstock.com V ier Jahre schon wird das Land auf der arabischen Halbinsel vom Krieg gebeutelt. Er hat der Bevölkerung die gegenwärtig schlimmste humanitäre Krise der Welt beschert: Zehntausende Getötete und Verletzte, 80 000 Kinder, die an Unter- oder Mangel ernährung gestorben sind, Epidemien von Cholera und Diphtherie. Eine zerstörte Infrastruktur, ein kaputter Staat. Und doch keimt ein Funken Hoffnung dank der Waffenstillstands vereinbarung für die Stadt Hodeida, deren Hafen für die Versor- gung so zentral ist. Wie wichtig der Druck der internationalen Gemeinschaft auf die Kriegsparteien ist, damit dieser Funken nicht wieder erlischt, zeigt unser Dossier. 10 AMNESTY März 2019
Ein Funken Hoffnung 11 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN Unversehrt bleibt niemand Millionen Existenzen im Jemen sind für immer zerstört. Doch an Schulen und Universitäten, unter Künstlern und Menschenrechtlerinnen geht der Kampf um ein normales Leben weiter. Von Markus Bickel D ie letzte Session im alten Jahr endete für die fünf Hip- Hopper von WaxOn alles andere als gechillt. Gutes Geld hatte die Band bei ihren Auftritten in Mukalla verdient, auf Im Visier der Behörden Das rabiate Vorgehen ge- gen die Band durch die Polizeikräfte des Südlichen Über- gangsrats, die nach dem Sieg über die al-Qaida 2016 die Geburtstagsfeiern und Abschlussbällen zahlten die Gastgeber Macht in Mukalla übernommen hatten, reiht sich ein in das bisweilen mehr als 150 Dollar für die Show. Doch am liebsten Vorgehen der Kriegsautoritäten anderswo im Jemen: Ziviles tanzen die fünf jungen Männer auf dem zentralen Platz der in Engagement wird gnadenlos verfolgt, Protest rücksichtslos der Bucht von Aden gelegenen Hafenstadt – umsonst. unterdrückt. Neben Menschenrechtlern, Künstlerinnen und Doch damit ist vorerst Schluss. Ende Dezember 2018 Friedensaktivisten sind auch Journalistinnen von dem Feld- stürmten Polizisten eine Probe von WaxOn und zertrümmer- zug gegen die Freiheit betroffen. ten das Equipment der Gruppe. Die Beamten hätten sie «wie Die Menschenrechtsorganisation Mwatana hat unzählige Terroristen behandelt», sagte einer der Rapper im Januar der Fälle willkürlicher Verhaftungen, unfairer Prozesse und er- Nachrichtenagentur Reuters. Weil die Polizei ihre Auftritte zwungenen Verschwindens dokumentiert – vor allem in den als «religiöse Sünde» wertete, fühlte sich auch Bandleader von Ansar Allah kontrollierten Gebieten. Die gemeinhin als Mohammed Basaud an die «al-Qaida-Ära» erinnert. Unter Huthis bezeichnete Gruppe ist nach ihrem 2004 getöteten der einjährigen Herrschaft des jemenitischen Ablegers des Anführer Hussein Badreddin al-Huthi benannt. Terrornetzwerks war Musik in Mukalla auf öffentlichen Plät- Auch das Mwatana-Team ist längst selbst ins Visier von zen verboten. Behörden und Geheimdiensten geraten: Im vergangenen Längst vergangene Zeiten, dachte Basaud, der die Band Sommer wurden die Direktorin Radhya al-Mutawakel und 2014 zusammen mit anderen aus dem Boden gestampft hat- ihr Mann Abdul Rashid al-Faqih am Flughafen von Seiyun te. Schliesslich hatten künstlerische und persönliche Freiheit verhaftet – saudische Offizielle, die die einheimischen Kräfte sowie ein friedliches Auskommen bis zu dem Polizeieinsatz kontrollieren, führten sie zum Verhör ab (siehe Interview im Dezember 2018 seinen Alltag bestimmt. Das gilt für viele Seite 21). Nur weil Amnesty International und andere Men- der 150 000 BewohnerInnen der Hafenstadt, einer Oase des schenrechtsorganisationen weltweit sich für die beiden ein- Friedens im von Krieg und Verzweiflung zerrütteten Jemen. setzten, kamen sie schnell wieder auf freien Fuss. Die Regel Aber auch das erst seit April 2016: Damals gelang es Sol- aber ist das nicht, im Gegenteil. daten der Vereinigten Arabischen Emirate, die Gotteskrieger von al-Qaida aus der Stadt zu vertreiben. Tausend Kämpfer Im Würgegriff der Milizen Willkürliche Verhaf- und ZivilistInnen kostete die Schlacht das Leben. Doch das tungen und andere Schikanen drohen nun auch in Mukalla, rigide religiöse Tugendregime, das die al-Qaida-Kämpfer im fürchten Einheimische, die Zeit der relativen Ruhe in der Ha- April 2015 nach der Erbeutung von 200 Millionen Dollar aus fenstadt am Golf von Aden könnte sich langsam dem Ende zu- der Filiale der Zentralbank von Mukalla errichtet hatten, war neigen. Doch einfach fügen wollen sich die fünf Hip-Hopper endlich am Ende. von WaxOn dem Druck von oben bisher nicht. Wenn man die Basaud und seine Band wagten sich danach schnell wie- Band schon nicht für das zerstörte Equipment entschädige, so der hinaus auf die Strassen der Hauptstadt der Provinz Ha- Basaud, sollten die Behörden wenigstens das «überflüssige» ramaut – so wie viele andere Bands, die gar nicht daran dach- Tanzverbot fallen lassen. Eine für jemenitische Verhältnisse ten, die neuen Autoritäten um Erlaubnis für öffentliche fast schon freche Forderung, wenn man sieht, was Künstlerin- Auftritte zu bitten. Seitdem al-Qaida aus der Stadt vertrieben nen, Schuldirektoren und Menschenrechtlerinnen in den war, hatte WaxOn ohnehin niemand mehr in ihrer Versamm- meisten der 21 Gouvernements mitmachen müssen: Das Land lungsfreiheit beschnitten. Bis zu jenem Abend im vergange- befindet sich im Würgegriff der Milizen. Und die dulden kei- nen Dezember eben. nen Bürgersinn – nicht kulturell und schon gar nicht politisch. 12 AMNESTY März 2019
© Anasalhadji / shutterstock.com Zerstörte Städte, zerstörte Menschen: Jemenitischer Soldat im Kampf in der Stadt Taiz. Eine ganze Generation von Jugendlichen wird so um ihre den schiitischen Gottesstaat bestimmt die Aussenpolitik der Zukunft gebracht, die noch vor wenigen Jahren deutliche Bes- beiden Golfmonarchien entscheidend, da nicht nur in Bag- serung im Armenhaus der arabischen Welt versprach. Wie bei dad, sondern auch in Beirut und Damaskus Verbündete Te- den Protesten in Tunesien, Ägypten, Syrien und anderen ara- herans die Regierungen kontrollieren. bischen Staaten gingen auch im Jemen 2011 Zehntausende Politisch erreicht wurde durch den Feldzug mit Hightech- auf die Strassen, um sich der Diktatur Ali Abdullah Salehs zu waffen made in USA, Grossbritannien, Russland, China, entledigen. Nach zähen Verhandlungen gab der Langzeitherr- Frankreich und Deutschland allerdings eher das Gegenteil. scher die Macht ein Jahr später an seinen Stellvertreter Abd Der Nordwesten des Landes und die Hauptstadt Sanaa sind Rabbu Mansur Hadi ab. Der versprach einen Übergang mit weiter fest in den Händen der Huthis, die den von Riad un- mehr Mitspracherechten für die benachteiligten Gruppen des terstützten Präsidenten Abd Rabbu Mansur Hadi schon im Landes, darunter die Huthis und die nach Unabhängigkeit September 2014 zur Flucht nach Aden gezwungen hatten. strebende südliche Separatistenbewegung Hirak. Als die Rebellen im März 2015 auch in der südlichen Ha- Doch dem zivilen Engagement setzten die Herrscher rasch fenstadt einmarschierten, fasste der damalige saudische Ver- ein Ende, und der von viel Hoffnung begleitete Nationale Dia- teidigungsminister und heutige Kronprinz Mohammed bin log, der eine Neuordnung des 1990 wiedervereinten Landes Salman gemeinsam mit dem Thronfolger der Vereinigten versprach, scheiterte. Gemeinsam mit abtrünnigen Armeedi- Arabischen Emirate, Mohammed bin Zayed, den Beschluss visionen wechselte der abgesetzte Machthaber Saleh in der Fol- zum Angriff. ge die Seiten – und verbündete sich mit den Huthis, die er als Unmittelbares Ziel des Kriegs war die Rückkehr Hadis an Präsident noch militärisch bekämpft hatte. Die Huthis began- die Macht und die Zerschlagung der Huthis – die beiden nen ihren Siegeszug im September 2014 mit der Eroberung Prinzen sehen in den Huthis eine Stellvertreterarmee Irans Sanaas. Studierende, Lehrkräfte und KünstlerInnen, die sich im traditionellen Vorhof Saudi-Arabiens. Doch 48 Monate kritisch über die Machtergreifung äusserten, zählten zu den nach der Flucht Hadis ist aus dem Jemen ein Flickenteppich ersten, die festgenommen und drangsaliert wurden. autoritär geführter Einflusszonen geworden. Rücksicht auf ZivilistInnen nimmt keiner der Warlords; Folter, Verfolgung Gegen Irans Einfluss Spätestens zu diesem Zeit- und erzwungenes Verschwinden stehen in vielen Landestei- punkt müssen in Riad und Abu Dhabi die Planungen für len ungeahndet auf der Tagesordnung. eine Intervention begonnen haben. Ziel der konterrevolutio- nären Achse damals wie heute: die dauerhafte Übernahme Zivile Ziele, zivile Opfer In ihrer Verachtung einer weiteren arabischen Hauptstadt durch Verbündete des grundlegender Bürgerrechte stehen sich die lokalen Verbün- Irans zu verhindern. Das Gefühl der Einschnürung durch deten der arabischen Militärallianz und die Huthis in nichts 13 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN nach. Tag für Tag werden die 28 Millionen Jemenitinnen und Geheime Gefängnisse Gedeckt werden sie bei Jemeniten nicht nur ihres Rechts auf körperliche Unversehrt- diesem Vorgehen von den Vereinigten Staaten, wo Donald heit beraubt, auch persönliche Freiheitsrechte werden immer Trump den Kampf gegen den Iran ebenfalls zum zentralen stärker bedroht. Mit dramatischen Langzeitfolgen: Das Sana’a Ziel seiner Nahostpolitik erklärt hat. An der strategischen Center for Strategic Studies kommt gemeinsam mit der Co- Partnerschaft mit Saudi-Arabien hält der amerikanische Prä- lumbia Law School Human Rights Clinic in einem Bericht an sident fest, obwohl selbst die CIA davon ausgeht, dass Mo- den Uno-Menschenrechtsrat zu dem Schluss: «Es besteht ein hammed bin Salman den Mord an dem Journalisten Jamal hohes Risiko von allumfassender schlechter psychischer Ge- Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul im Okto- sundheit im Jemen, darunter schweren Depressionen, Angst- ber 2018 in Auftrag gab. zuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen.» Versuche des Kongresses, das Verhältnis nach der Hin- Schlimmer noch, die Kriegsparteien hungern die Bevölke- richtung des Regierungskritikers neu auszurichten und die rung systematisch aus. 14 Millionen Menschen, die Hälfte der Rüstungsexporte an das Herrscherhaus in Riad zu stoppen, Bevölkerung, sei unmittelbar von Mangel- und Unterernährung scheiterten Ende 2018. Lediglich einige europäische Staaten bedroht, warnte schon im vergangenen Herbst Uno-Nothilfeko- legten die Lieferungen auf Eis. Wie lange, ist unklar. ordinator Mark Lowcock. 10 000 Menschen sind bei Gefechten Auch die diplomatische Aufmerksamkeit, die der Jemen und Bombenangriffen seit 2015 getötet worden, mehr als seit dem Mord an Khashoggi erfährt, könnte schon bald vor- 40 000 verletzt. Hunderttausende sind an Cholera erkrankt. bei sein. Hinzu kommt, dass mehr als ein Drittel aller Luftangriffe Dass die westlichen Verbündeten der Vereinigten Arabi- zivilen Zielen wie Bauernhöfen, Märkten, Schulen und Kran- schen Emirate und Saudi-Arabiens an Aufklärung kein Inte- kenhäusern galt. Die Hälfte der medizinischen Infrastruktur resse haben dürften, belegen Recherchen von Amnesty Inter- ist zerstört oder nicht mehr funktionsfähig. In vielen Teilen national und der Nachrichtenagentur Associated Press. des Landes sind auch Strom- und Wasserversorgung nicht Demnach unterhalten Soldaten der Emirate in den von ihnen mehr intakt. beherrschten Gebieten ein Netzwerk geheimer Gefängnisse, Die erschütternde Bilanz ist Ergebnis eines Politikwechsels in denen Terrorismusverdächtige gefoltert und sexuell miss- der saudischen Führung, die nach dem Tod König Abdullahs braucht werden. Bei einigen der Verhöre soll auch amerikani- im Januar 2015 begann. Zwar hatte das Königshaus schon seit sches Militärpersonal anwesend gewesen sein. Um ein Ende 2011 die Führung der Gegenrevolution im Nahen Osten bean- der Gewalt der Aufseher zu erreichen, traten die Häftlinge sprucht, um ein Übergreifen der arabischen Aufstände auf die des Beir-Ahmed-Gefängnisses in Aden im März 2018 drei eigene Bevölkerung zu verhindern. Doch das aggressive Zu- Mal in den Hungerstreik. Mit schlimmen Folgen: Freigelas- rückdrängen von Freiheitsbewegungen und Muslimbruder- sene berichteten, wie mehr als ein Dutzend Soldaten sie fes- schaft in der Region auch mit militärischen Mitteln forcierte selten, ihnen die Augen verbanden, sie zusammenschlugen erst dessen Nachfolger Salman bin Saud – angetrieben von und sexuell missbrauchten. Im Schatten des Jemen-Kriegs seinem Lieblingssohn Mohammed bin Salman und dessen geht der Krieg gegen den Terror mit unverminderter Härte Mentor in Abu Dhabi, Mohammed bin Zayed. weiter. Beginn der bewaffneten Jemenitischer «arabischer Rebellion der schiitischen Frühling». Protestbewegung Bewegung Ansar Allah, gegen den Präsidenten Saleh, auch Huthi genannt, der sich die Huthis und südliche gegen das Regime von Unabhängigkeitsgruppen Die Huthis erobern den Norden des Landes Ali Abdullah Saleh. anschliessen. und die Hauptstadt Sanaa. 2004 2011 September 2014 2009 Februar 2012 Intervention der Rücktritt von Saleh. Präsidentschaftswahlen saudischen Armee mit Mansur Hadi als einzigem Kandidaten. gegen die Huthis. 14 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN Jemen – wer kontrolliert was? Oman Saudi-Arabien Jemen Rotes Meer Saada Historische Marib Grenze Sanaa Hodeida Eritrea Mukalla Taiz Äthiopien Aden Golf von Aden Dschibuti Somalia © muellerluetolf.ch, Quellen: C.Hughes/Reuters, CRS/US-Dept. of State, Ali Zifan/Wikipedia. Kontrolliert durch die Huthi-Rebellen (Ansar Allah) Präsenz diverser vorwiegend islamistischer Gruppierungen (al-Qaida) und Stämme Kontrolliert durch die Militärallianz/Hadi-Regierung und «südliche Bewegung» Hirak (Southern Transitional Council) Flucht Hadis nach Saudi-Arabien, von wo aus er die Unterstützung gegen die Huthis Ex-Präsident Saleh wird mobilisiert. Die von Saudi-Arabien von seinen ehemaligen geführte Koalition von sunnitischen Huthi-Verbündeten arabischen Staaten startet die Offensive. ermordet. März 2015 4. Dezember 2017 Januar 2015 April 2015 13. Dezember 2018 Präsident Hadi flüchtet Verhängung eines Während der Stockholmer Gespräche über nach Aden und erklärt Aden Waffenembargos der Uno den Haupthafen des Landes, Hodeida, wird zur Interims-Hauptstadt. gegen die Huthi-Rebellen. ein Waffenstillstand vereinbart. 15 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN Bilder in Trümmern Murad Subay macht Krieg und Unterdrückung «Fuck war» heisst das Wandgemälde. Murad Subay ent- schuldigt sich für diese Ausdrucksweise. Aber das sei nun im Jemen zum Thema seiner Street-Art-Aktionen. mal die beste Beschreibung dessen, was ihm und seinen Von Cornelia Wegerhoff Landsleuten im Jemen durch den Kopf gehe. Murad Subay, 1987 in Dhamar, im zentralen Hochland Jemens, geboren, ist mit Konflikt und Krieg aufgewachsen. D ie Überreste einer Hauswand in Jemens Hauptstadt Sanaa, an einer Ecke schwarz verkohlt, weil jemand da- vor einen Müllhaufen in Brand gesetzt hat. «Das ist aber kei- 1994, kurz vor Beginn des Bürgerkriegs, zog er mit den El- tern und seinen sechs Geschwistern nach Sanaa. Dort stu- dierte er englische Literatur, begann aber schon als Jugendli- ne Kriegsruine», stellt Murad Subay klar, als er das Foto auf cher zu malen. Seine Familie habe ihn immer ermutigt, er- seinem Laptop zeigt. «Da wurden aus anderen Gründen zählt er dankbar. Seine ersten politischen Erfahrungen Häuser abgerissen.» Der 31-Jährige möchte nicht, dass die sammelte er bei den Studentenprotesten 2008. Die Sicher- Szenerie falsch gedeutet wird, womöglich «zu pathetisch», heitsleute auf dem Campus der Universität wollten ihm da- wie er sagt. Die Lage in seiner Heimat sei dramatisch genug. mals die langen lockigen Haare abschneiden. Er trägt sie «Ich male oft auf Ruinen. Sie sind für mich ein Symbol für heute noch so und lacht bitter: «Damals fingen wir an zu ler- die kaputten Seelen der Jemeniten.» Und die seien Fakt. nen, Nein zu sagen, auch zu den vielen grossen Ungerechtig- Murad Subay hat die halb eingerissene Mauer in ein keiten in unserem Land.» Kunstwerk verwandelt. Jetzt blickt ein ausgemergelter Mann auf die Passanten. Er sitzt auf einem TNT-Fass wie auf einem Mit Mauerbildern erinnern Als die Aufstände normalen Hocker. Seine Augen sind tief eingefallen, nur 2011 auch Sanaa ergriffen, ging Subay mit auf die Strasse. Ein noch schwarze Löcher. Das Haar gleicht einem abgebrannten Jahr später tauschte er dann zum ersten Mal die Leinwand Wald. Die trostlose Gestalt spielt Oud, die orientalische Laute. gegen Strassenmauern. «Colour the walls of your street» lau- 16 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN Manchmal ist die Direktheit seiner Werke kaum zu ertragen. tete das Motto seiner ersten Kampagne. Dabei ermutigte Su verglichen wird. Er lächelt, wenn er darauf angesprochen bay vor allem Junge, die Mauern in ihren Vierteln, die bei wird, aber die Art, wie sie arbeiteten, sei doch sehr verschie- Kämpfen beschädigt worden waren, mit bunten Farben zu den. Er selbst male gerne mit Menschen zusammen. Oft verschönern. Ebenfalls 2012 startete er die Kunstaktion «The bringt er den AnwohnerInnen der Viertel, in denen er malt, walls remember their faces». Zusammen mit Angehörigen deshalb Farbe und Pinsel mit. Und vielleicht seien Zuschau- malte er Schwarzweissporträts von mehr als hundert Ver- ende und Mitwirkende für ihn sogar ein Schutz. missten an Wände. «Als die Familien mit mir auf die Strasse gingen, um ihre verschwundenen Väter, Brüder, Söhne zu Nicht für oder gegen «Faces of War» heisst Su malen, kamen sie mit den Passanten ins Gespräch», berichtet bays jüngste Street-Art-Serie, mit der er sich aber nicht auf Subay nicht ohne Stolz. «Bis dahin war das Schicksal ihrer die Seite einer Kriegspartei stellen wolle, wie er betont. Verwandten totgeschwiegen worden.» Über sieben Monate «Kunst ist nicht für oder gegen etwas. Sie soll nur darstellen, war Subay für die Aktion in Sanaa, Aden, Taiz und Hodeida wie sehr alle Beteiligten unter dem Krieg leiden», sagt Subay unterwegs. Nicht selten wurden die Vermisstenbilder über betont diplomatisch, ehe es aus ihm herausbricht: «Die einen Nacht übertüncht. «Doch die Familien gingen zurück und haben die Hauptstadt besetzt. Die anderen kommen mit malten die Bilder neu, manche bis zu zehnmal.» Flugzeugen und zerstören das Land. Ich bin jemand aus dem Unbeeindruckt von Krieg und politischer Gängelung ar- Volk. Zu dem halte ich und sonst zu niemandem.» beitete auch Subay weiter. Manchmal ist die Direktheit seiner Solche Ansichten genügen, um sich im Jemen in Gefahr Werke kaum zu ertragen. Ein Kindersoldat träumt vom Fuss- zu begeben; bereits zweimal wurde der Künstler festgenom- ballspielen, ein kleines Mädchen giesst eine Rose, die aus ei- men. Die meisten Menschen würden deshalb zu allem nem Granatwerfer entspringt. Insbesondere diese vorder- schweigen. Nicht seine Art, stellt Subay trotzig fest. gründig pittoresken Motive ähneln denen von Banksy, dem britischen Street-Art-Künstler, mit dem Subay immer wieder www.muradsubay.com 17 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN Die verlorene Generation Vier Jahre Krieg haben die jemenitische Bevölkerung in eine der schrecklichsten humanitären Krisen geführt. Zwei Millionen Kinder leiden unter akuter Unterernährung. Von Julie Jeannet D as Bild der siebenjährigen Amal Hussain ging um die Welt. Der ausgehungerte, skelettartige Körper des Kin- des, von Fliegen umschwirrt, wurde zum Symbol der Tragö- Konflikte zwischen den Huthis und der Armee Anfang 2014 verschärft haben, arbeitet die NGO mit den Dorfvorstehern auf beiden Seiten zusammen, um die am dringendsten benö- die, die den Jemen seit vier Jahren heimsucht. Am 26. Okto- tigte humanitäre Hilfe zu organisieren. ber erlag das Mädchen dem Hunger. In den vier Jahren des Konflikts sind nach Angaben der Uno fast 80 000 jemeniti- Tödliche Inflation Die nationale Währung hat seit sche Kinder verhungert. Alle zehn Minuten stirbt ein Kind an Beginn der Krise fast die Hälfte ihres Werts gegenüber dem einer vermeidbaren Ursache. Bei der Hälfte der Kinder unter Dollar verloren. «Lebensmittel sind auf den Märkten zwar fünf Jahren ist es Unterernährung. erhältlich, aber die Menschen können sie sich nicht mehr Das ärmste Land auf der arabischen Halbinsel war schon leisten», sagt Annabel Symington, Sprecherin des Welter- vom Hunger gebeutelt, bevor der Krieg zwischen den Huthi- nährungsprogramms (WFP) in Sanaa. Die Preise für Grund- Rebellen und der Regierung zwei Drittel der Bevölkerung in nahrungsmittel einschliesslich Weizen, Öl, Hülsenfrüchte, eine erneute Ernährungskrise stürzte. «Die Strassen von Zucker und Salz seien explodiert. «Dies ist eine menschen- Sanaa sind voller Bettler und Bettlerinnen. Frauen und Kin- gemachte Krise, die nicht durch Dürre oder schlechte Ernten der betteln jetzt jede Nacht, das war zuvor selten der Fall», verursacht wird.» sagt Basheer al-Mohallal, Direktor von Pulse for Social Jus Basheer al-Mohallal wirft der Koalition vor, den Geldfluss tice. Seit 2013 führt die Organisation mit Sitz in Sanaa Solida- und damit die jemenitische Wirtschaft zu beeinflussen, um ritätsprojekte in Dörfern und Stadtteilen durch. Seit sich die die nördlichen Regionen zu schwächen und so Druck auf die Huthis auszuüben, damit diese ihre Waffen abgeben. In den © Mohamed Al-Sayaghi / Reuters letzten zwei Jahren haben mehr als eine Million jemenitische Beamte ihr Gehalt nicht bekommen. Infolgedessen sank die Kaufkraft vieler Familien, und der Staat brach zusammen. Laut Rasha Mohammed, Jemen-Researcherin bei Am- nesty International, ist die Situation komplexer. Beide Seiten seien für die humanitäre Katastrophe verantwortlich. «Luft- und Strassenblockaden stellen keine Verletzung des humani- tären Rechts dar, solange sie keine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung haben. Die Koalition lässt die humanitäre Hilfe mal durch, mal blockiert sie den Zugang und behaup- tet, damit nicht gegen das Gesetz zu verstossen. Die Huthis ihrerseits versuchen zu kontrollieren, welche Regionen hu- manitäre Hilfe erhalten.» Ende Dezember warf die Uno den Rebellen vor, einen Teil der humanitären Hilfe bei Sanaa umgeleitet zu haben. Die Güter tauchten an den Marktstän- den der Hauptstadt wieder auf. Die Hälfte aller Jemenitinnen und Jemeniten wissen nicht, wann sie das nächste Mal essen werden. Und die me- dizinische Versorgung ist mit dem Zusammenbruch des Ein Vater trauert um seine soeben an Unterernährung verstorbene Tochter, Gesundheitssystems noch schwieriger geworden. Die Hälfte die nur vier Monate alt wurde. der medizinischen Infrastruktur ist ausser Betrieb. «Nebst 18 AMNESTY März 2019
DOSSIER_JEMEN der humanitären Hilfe gibt es nur Privatkliniken, aber die men, wo sie sechs Monate unterbrochen gewesen war. Trotz sind für die meisten Menschen viel zu teuer. Darüber hinaus diesem Fortschritt hat WFP noch immer keinen Zugang zu ist es fast unmöglich geworden, das Land zu verlassen, um 51 000 Tonnen Getreide, die in einer Mühle am Roten Meer sich im Ausland behandeln zu lassen», sagt Basheer al-Mo- lagern. Ende Januar beschädigte ein Angriff der Rebellen hallal. Infolge der Blockade und der Bombardierung haben zwei Silos. «Wir müssen dringend an diese Vorräte heran. 16 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trink- Sie sind sehr wichtig, denn sie würden uns erlauben 3,7 Mil- wasser oder sanitären Einrichtungen. Die schrecklichen hy- lionen Menschen einen Monat lang zu ernähren», fügt gienischen Bedingungen führten 2017 zu einer Cholera-Epi- Symington hinzu. demie – dem schwersten Ausbruch dieser hochansteckenden Krankheit, der je dokumentiert wurde. Auch die Diphtherie Eine verlorene Generation Den Beamten wieder breitet sich aus – eine ansteckende, gefährliche Infektions- ihre Gehälter zu zahlen, würde das Leiden der Bevölkerung krankheit, die seit 1992 verschwunden war. lindern. Bei den Verhandlungen von Stockholm sprach die Regierung von Präsident Hadi das Thema an. «Noch hat sich Hodeida brennt und blutet Im vergangenen nichts geändert, doch wir sind optimistisch, dass er sein Juni hat die Offensive gegen die Stadt Hodeida, wo der wich- Versprechen hält», sagt Amnesty-Researcherin Rasha Mo- tigste Hafen des Landes liegt, die Bevölkerung noch härter hammed. getroffen. «70 Prozent aller Nahrungsmittelimporte des Je- Wie die kleine Amal Hussain ist eine ganze Generation men kommen in Hodeida an. Die schrecklichen Kämpfe ha- von JemenitInnen dem Hunger zum Opfer gefallen. «Selbst ben die Kapazitäten des Hafens deutlich eingeschränkt», er- wenn der Krieg morgen enden würde, würde es viele Jahre klärt Annabel Symington von WFP. «Zwischen November dauern, den Jemen wieder aufzubauen», beklagt Annabel Sy- und Januar konnten nur 25 Schiffe Hodeida und den kleinen mington. «Auch wenn wir morgen alle hungernden Kinder Hafen von Salif weiter nördlich erreichen. Unsere Hilfsliefe- ernähren könnten, hätte die Unterernährung irreversible rungen sind entsprechend verzögert worden.» Auswirkungen auf ihr Wachstum und ihr Gehirn. Zwei Mil- Ein Hoffnungsschimmer ist der Waffenstillstand, der am lionen Kinder sind am Verhungern. Ihnen wir das Recht auf 18. Dezember nach den Verhandlungen in Schweden in Kraft Nahrung genommen. Sie werden nie mehr richtig wachsen trat. Er erlaubte den humanitären HelferInnen, ihre Arbeit in und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden können. Es der Region von Tuhaytah und Durayhimi wieder aufzuneh- handelt sich um eine verlorene Generation.» «Viele werden mehrfach vertrieben» Im Jemen sind zurzeit rund zwei E AMNESTY: Wie sieht die aktuelle Situation der Vertriebenen aus? Millionen Menschen im eigenen Land F Shabia Mantoo: Ihre Situation ist sehr schwierig; es ist ein auf der Flucht. Wie sieht ihre Lage aus? täglicher Kampf um Nahrung und Sicherheit vor den Bom- Auskunft gibt die für den Jemen zustän- ben und der Gewalt. Seit Beginn des Konflikts wurden insge- samt mehr als vier Millionen Menschen zur Flucht gezwun- dige Sprecherin des Uno-Flüchtlings gen; von diesen haben viele mittlerweile versucht, nach hilfswerks UNHCR, Shabia Mantoo. Hause zurückzukehren. Sie finden bei der Rückkehr oft be- schädigte Häuser vor und sind gezwungen, erneut wegzuge- Interview: Manuela Reimann Graf hen. Auch werden viele mehrfach vertrieben, sie fliehen von einem Gebiet zum anderen. Die meisten sind inzwischen länger als ein Jahr vertrieben und haben alle ihre Ersparnisse und Ressourcen ausge- schöpft. Sie sind auf die Hilfe grosszügiger Menschen ange- 19 AMNESTY März 2019
© UNHCR Rawabi Al Nahdah Vertriebene wie diese Familie aus Hodeida müssen oft im Freien ausharren – bei brütender Hitze tagsüber und kalten Nächten. wiesen, die eigentlich selbst Hilfe benötigen würden. Viele Nun, das UNHCR ist bereits seit etwa drei Jahrzehnten im Familien konnten nichts mitnehmen und leben unter er- Jemen. Wir haben zunächst auf die Bedürfnisse von Flücht- bärmlichen Bedingungen oder sogar im Freien. lingen reagiert, die vom Horn von Afrika nach Jemen flohen (siehe unten, Anm. der Red.). Im Lauf der Jahre wurden wir E Warum verlassen nicht mehr Menschen das Land? immer mehr mit Wellen der Vertreibung innerhalb des Lan- Die Mehrheit hat keine andere Wahl, als im Jemen zu bleiben. des konfrontiert. Dank unserer langjährigen Präsenz im Dafür gibt es verschiedene Gründe: So ist es kaum möglich, das Land hatten wir bereits humanitäre Programme im Einsatz, Land zu verlassen, wenn es an den Grenzen Kämpfe gibt. Die so können wir jedes Governorat auf dem Festland erreichen. Menschen sind damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, und ver- Dennoch arbeiten wir unter schwierigen Umständen, denn fügen nicht über die Mittel, um eine Reise anzutreten. Nur ein der Konflikt ist zur grössten humanitären Krise weltweit an- vergleichsweise kleiner Teil, rund 65 000 Personen, ist in gewachsen. Wir müssen uns bei allen Konfliktparteien konti- Nachbarstaaten oder weitere Länder des Nahen Ostens geflohen. nuierlich für einen ungehinderten humanitären Zugang ein- setzen, um die Menschen in Not erreichen und den Schutz E Wie kann das UNHCR die Binnenvertriebenen in dieser unseres Personals und der Infrastruktur gewährleisten zu Kriegssituation erreichen? können. Der Golf der Flucht und des Leids Es ist kaum zu glauben, aber im Jemen kamen und kommen trotz die, wenn Gefahr droht aufzufliegen, nicht davor zurückschrecken, die dem Krieg jedes Jahr noch Zehntausende MigrantInnen und Flücht- oft minderjährigen MigrantInnen einfach ins Meer zu werfen. Die linge an – vor allem aus Ländern des Horns von Afrika, so Somalia, jenigen, die es dennoch nach Jemen schaffen, werden nicht selten Äthiopien und Eritrea. Der Jemen war aufgrund seiner geografischen verhaftet und in Lagern festgehalten, in welchen sie ausgebeutet Lage am Golf von Aden schon immer ein Transit- und Aufnahme- werden, wie verschiedene humanitäre Organisationen und die Inter- land; viele haben das Ziel, in die Arabischen Emirate oder noch wei- nationale Organisation für Migration berichten. Auch Erpressung, Lö- ter zu reisen. Doch aufgrund der Lage im Jemen bleiben viele Flücht- segeldforderungen, Sklaverei und sexuelle Gewalt sind an der Tages- linge und MigrantInnen in dem Land stecken. Die Bedingungen, die ordnung. Es kommt auch zu gewaltsamen Rückführungen – oft von sie hier erwarten, haben sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. «Viele denselben Schleppern, die die Leute ins Land gebracht haben. wissen einfach zu wenig über die Situation im Jemen», sagt Shabia Den Weg von Jemen nach Afrika machen umgekehrt jemenitische Mantoo vom UNHCR. So nehmen sie den Weg über das Meer im Golf Flüchtlinge: Gemäss UNHCR sind Zehntausende Jemenitinnen und von Aden auf überfüllten, kleinen Booten; dabei kommt es – wie auf Jemeniten nach Dschibuti, Somalia und Äthiopien geflohen. Sie leben dem Mittelmeer – zu Unglücken mit unzähligen Toten. Der Konflikt dann oft in denselben Camps wie die afrikanischen Flüchtlinge, die befördert das Netzwerk von Schmugglern und Menschenhändlern, aus dem Jemen zurückgekehrt sind. (mre) 20 AMNESTY März 2019
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