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AMNESTY Nr. 95 72 Dezember August 2018 2012 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE NEIN ZUR «FREMDE RICHTER»-INITIATIVE SCHÜTZEN WIR DIE MENSCHENRECHTE ARGENTINIEN TÜRKEI ANTISEMITISMUS Diktatur vor Gericht Idil Eser bleibt beharrlich Alte und neue Formen
VOLKSABSTIMMUNG VOM 25. NOVEMBER 2018 VOLKSINITIATIVE «SCHWEIZER RECHT STATT FREMDE RICHTER (SELBSTBESTIMMUNGSINITIATIVE)»: NEIN NEIN Diese Anti-Menschenrechts- Initiative ist für unseren Rechtsstaat und für die internationale Stellung der Schweiz brandgefährlich. Mehr dazu lesen Sie im Dossier dieses Magazins. ÄNDERUNG DES BUNDESGESETZES ÜBER DEN ALLGEMEINEN TEIL DES SOZIALVERSICHERUNGSRECHTS: NEIN Die vom Parlament beschlossenen Änderungen am Sozialversicherungs- Gesetz ermöglichen unverhältnismässige Eingriffe in die Grundrechte der Versi- cherten, insbesondere in das Recht auf Schutz der Privatsphäre. Versicherte könnten willkürlich überwacht werden. © Shutterstock/Andrey Popov DIE MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AM 25. NOVEMBER IHRE STIMME!
Titelbild INHALT_AUGUST 2018 Titelbild und sämtliche Zeichnungen im Dossier © Ambroise Héritier. AKTUELL THEMA 4 Good News 22 Somalia 6 Aktuell im Bild Drohnen und Drohungen 7 Nachrichten 25 Argentinien Diktatur vor Gericht 9 Brennpunkt Keine willkürliche Überwachung 28 Türkei Die Beharrliche DOSSIER Anti-Menschenrechts-Initiative Idil Eser will trotz drohender Verurteilung nicht still bleiben. 30 Antisemitismus Dialog und Aufklärung – die besten Waffen gegen Antisemitismus 32 Unvergesslich – Unsere Geschichten Die Welt in Claires Küche Nach der Flucht das Engagement 10 Ein Angriff auf die Menschenrechte 12 Gefährliche politische Trends Populistischer Angriff auf den Menschenrechtsschutz. KULTUR 14 Ein unteilbares Ganzes Gibt es einen Widerspruch zwischen Volks- und 35 Musik Menschenrechten? Mein Körper ist keine Waffe 15 Was heisst denn eigentlich… 36 Literatur Völkerrecht, Landesrecht, Grundrechte... «Wer hasst, kommt nicht zur Ruhe» Eine Klärung der Begriffe. 38 Buch 16 Ungenau und widersprüchlich Denkanstösse zu Rassismus Eine juristische Analyse. 18 Sie gaben nicht auf Drei Geschichten von Menschen, die dank der EMRK zu ihrem Recht kamen. CARTE BLANCHE 20 «Jetzt ist nicht die Zeit für Angriffe» 39 Anuschka Roshani Der Amnesty-Experte zum befürchteten Dominoeffekt. Im Stechschritt Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 95, August 2018. Redaktion: Carole Scheidegger (cas., verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Daniel Bax, Ulla Bein, Nadia Boehlen, Camille Grandjean-Jornod, Andreas Gross, Aline Jaccottet, Guillaume Lammers, Bettina Rühl, Patrick Walder, Herbert Winter. Korrektorat: Korrektorat Wilhelm, Oftringen. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Das Magazin gibt es auch als E-Paper unter https://issuu.com/magazin-amnesty-schweiz. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 19. Oktober 2018. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty Inter national, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redak tion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 89 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz International: www.amnesty.org www.instagram.com/amnesty_switzerland 3 AMNESTY August 2018
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Wenn ich meinen Stimm- oder Wahlzettel nicht per Brief abge- schickt habe, pilgere ich sonn- GOO Noura Hussein wird nicht hingerichtet SUDAN − Zwangsverheiratet, vergewaltigt und dann zum Tode verurteilt: In der letzten Ausgabe des Magazins hatten wir von Noura Hussein be- richtet, die ihren Ehemann in Notwehr tö- © Privat tete, als er sie erneut vergewaltigen wollte. tags zur Urne. Und fühle mich Für diese Tat war sie vom sudanesischen dabei oft ganz erhaben staats- Gericht zum Tode verurteilt worden. Nun bürgerlich. Selbst wenn mich wurde die Todesstrafe aufgehoben. Noura Hussein muss allerdings eine Gefängnis- der Ausgang der Volksentschei- strafe von fünf Jahren ab dem Tag ihrer de nicht immer zufriedenstellt: Ich bin ein Fan der Verhaftung im Mai 2017 verbüssen und 337 500 sudanesische Pfund (ca. 8400 direkten Demokratie. Das heisst aber nicht, dass ich CHF) für die Dija (das «Blutgeld») zahlen. mir unbegrenzte Macht für uns Stimmende wünsche. Denn Demokratie bedeutet immer auch die Begren- Der Fall von Noura Hussein hat international ein Schlaglicht auf Zwangs- zung von Macht. Die Menschenrechte sind Teil der und Kinderheirat im Sudan geworfen. Spielregeln, die wir uns dafür gegeben haben. Der Endlich mit der Familie vereint Schutz dieser Rechte ist aber in Gefahr durch die ÄQUATORIALGUINEA – Ramón Esono Ebalé konnte am 28. Mai endlich «Fremde Richter»-Initiative der SVP – ganz abgese- aus Äquatorialguinea ausreisen, nachdem die Behörden dem Karikatu- risten und Menschenrechtsverteidiger einen Reisepass ausgestellt hat- hen davon, dass die Vorlage der Vertrauenswürdigkeit ten. Nun kann er nach drei Monaten Frau und Tochter wiedersehen. und wirtschaftlichen Kraft der Schweiz schaden Ramón Esono Ebalé war offensichtlich wegen seiner Karikaturen fest- könnte. genommen worden, mit denen er Präsident Teodoro Obiang und die Regierung kritisiert hatte. Man hatte ihm Geldfälscherei vorgeworfen, Auch wenn die InitiantInnen es nicht so klar sagen: die Anklage musste aber fallengelassen werden, nachdem der Haupt- Im Visier stehen besonders die Europäische Men- zeuge des Staates seine Aussage zu- © Privat rückzog (siehe AMNESTY Nr. 94). Der schenrechtskonvention (EMRK) und der Europäische Zeuge gab zu, dass er aufgefordert Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dessen worden war, Ramón Esono Ebalé zu Richterinnen und Richter als «fremd» zu bezeichnen, beschuldigen. Das Verfahren gegen den Karikaturisten hatte am 27. Fe ist irreführend – denn auch die Schweiz stellt eine bruar in Malabo begonnen, nachdem Richterin in Strassburg. Was wir alle verlieren wür- er bereits mehr als fünf Monate in Un- tersuchungshaft verbracht hatte. den, wenn die Schweiz die EMRK kündigen müsste, erläutern wir in diesem Dossier. Der Karikaturist Ramón Esono Ebalé war fast drei Monate ohne Anklage inhaftiert. Warum berichten wir schon jetzt über diese Vorlage? Ganz einfach: Das nächste Amnesty-Magazin er- Liu Xia ist endlich frei wieder Schikanen der Behörden scheint erst nach der Abstimmung. Wir möchten CHINA − In der letzten Ausgabe über sich ergehen lassen. Ihre des Magazins informierten wir psychische Verfassung ver- Ihnen frühzeitig Informationen und Argumente lie- über den schlechten Zustand von schlechterte sich zunehmend fern. Vergessen Sie nicht, am 25. November abzu- Liu Xia, der Ehefrau des verstor- und weltweit wurden Appelle lan- benen Nobelpreisträgers Liu ciert, sie endlich aus China aus- stimmen – ob per Brief oder an der Urne! Xiaobo. Seit dem Tod ihres Man- reisen zu lassen. Nun hat die chi- nes stand die Dichterin unter nesische Regierung Liu Xia Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin Hausarrest und musste immer ziehen lassen. 4 AMNESTY August 2018
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS Unabhängiger Journalist Türkischer Rapper IN KÜRZE © wikicommons freigelassen freigesprochen USBEKISTAN – Der Journalist Bo- TÜRKEI – Sercan ÄTHIOPIEN – Der äthiopische bomurod Abdullayev wurde am İpekcioğlu, besser be- Journalist Eskinder Nega war am 7. Mai 2018 freigelassen, muss kannt unter seinem 25. März 2018 zum x-ten Mal un- aber einen Zivildienst von einein- Künstlernamen Ezhel, ist ter konstruierten Vorwürfen festge- halb Jahren ableisten. Drei seiner für seine düsteren Be- nommen worden. Eskinder Nega Mitangeklagten, der Blogger schreibungen des Stras- hatte sich seit den 1990er-Jahren Khayotkhan Nasreddinov sowie senlebens in türkischen für das Recht auf freie Meinungs die Geschäftsmänner Shavkat Städten bekannt. Am äusserung und Pressefreiheit in Olloyorov und Ravshan Salayev, 23. Mai wurde Ezhel von Äthiopien eingesetzt, ehe er 2012 wurden freigesprochen. Abdul- der Polizei inhaftiert, weil zu 18 Jahren Haft verurteilt wur- layev sass im berüchtigtsten Ge- er Werbung für den Dro- de. Nun ist Eskinder Nega frei, die fängnis von Usbekistan und wur- genkonsum gemacht Der türkische Rapper Ezhel hatte sich Anklage wurde fallengelassen. de offenbar gefoltert. Er war am habe. Beweismaterial gab mit sozialkritischen Texten bei den Behörden 27. September 2017 von Beam- es für die Anordnung der Feinde gemacht. ISRAEL – Am 6. Juni wurde der ten des Staatssicherheitsdienstes Untersuchungshaft aber palästinensische Aktivist und (SGB) in Taschkent festgenom- nicht. Am 19. Juni wurde der Rapper von einem Istanbuler Gericht Menschenrechtsverteidiger Mun- men worden, weil er angeblich freigesprochen und seine sofortige Freilassung angeordnet. ther Amira aus dem Hadarim- versucht hatte, mit kritischen Ar- Gefängnis in Israel freigelassen, tikeln die verfassungsmässige Vor dem Hungertod bewahrt nachdem er zuvor seine Gefäng- Ordnung der Republik Usbekis- NIGERIA – Etwa 230 binnenvertriebene Frauen und ihre Kinder haben nisstrafe abgesessen hatte. Er tan zu stürzen. wieder Zugang zu Nahrung. Sie waren vom Hungertod bedroht, weil war wegen seiner friedlichen Teil- die nigerianischen Behörden sie im Lager für Binnenvertriebene, in nahme an einer Protestveranstal- Hinrichtung ausgesetzt dem sie seit 2017 lebten, nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgten. tung festgenommen und von USA – Es waren nur noch wenige Die Lebensmittelversorgung wird inzwischen von humanitären Hilfsor- einem Militärgericht zu sechs Tage bis zur geplanten Hinrich- ganisationen übernommen. Die Frauen gehören zur Knifar-Bewegung, Monaten Haft verurteilt worden. tung, als das texanische Beru- die Gerechtigkeit für die rechtswidrige Festnahme und Inhaftierung Ursprünglich wurde in 13 Punk- fungsgericht einen Hinrichtungs- ihrer Ehemänner und Söhne fordert. Die Entscheidung der Behörden, ten Anklage gegen Munther Ami- aufschub für Clifton Williams die Frauen nicht mehr mit Lebensmitteln zu versorgen, war aller ra erhoben; schliesslich sprach anordnete. Geplant war, sein To- Wahrscheinlichkeit nach eine Strategie, um sie zum Schweigen zu man ihn in vier Fällen der «Stö- desurteil am 21. Juni zu vollstre- bringen. rung der öffentlichen Ordnung» cken. Der Aufschub soll eine wei- und der Teilnahme an einer «un- © AI tere Anhörung ermöglichen: Die angemeldeten Protestveranstal- Verteidigung beantragte, Clifton tung» schuldig. Williams’ geistige Einschränkung erneut zu prüfen. Schon zuvor hat- ten sie argumentiert, dass Williams KASACHSTAN – Die gewaltlose unter vielen psychischen Erkran- politische Gefangene Akmaral kungen leide, die ihn nicht schuld- Tobylova wurde aus medizini- fähig machten. Clifton Williams war schen Gründen aus der Haft ent- des Mordes an Cecilia Schneider lassen, da die Grafikdesignerin angeklagt und zum Tode verurteilt schwanger ist. Allerdings bleibt worden. Er sitzt seit elf Jahren im sie weiterhin angeklagt, eine ex Todestrakt. Williams soll im Juli tremistische Organisation zu un- 2005 in ihr Haus eingebrochen terstützen, nur weil sie die Web- sein und sie erstochen haben. Von site einer Oppositionspartei Anfang an hatte Williams bestrit- besuchte. ten, die Frau getötet zu haben. «Wir wollen unsere Männer zurück»: Eine der Anführerinnen der Knifar. 5 AMNESTY August 2018
AKTUELL_IM BILD © REUTERS/Khaled Abdullah JEMEN – Dieses Mädchen wurde durch die Kämpfe in der Hafenstadt Hodeida am Roten Meer vertrieben. Jetzt steht es gemeinsam mit Frauen in Sanaa an, um sich registrieren zu lassen. Bei den Angriffen der von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführten Koalition auf die Stadt Hodeida wurden nach Schätzungen der Uno zwischen Dezember 2017 und Mai 2018 mehr als 100 000 Menschen vertrieben. 6 AMNESTY August 2018
AKTUELL_NACHRICHTEN Breit abgestützter men und die Haftungsbe © REUTERS/Youssef Boudlal Kompromiss stimmungen sind stark einge- SCHWEIZ – Der Nationalrat hat schränkt. Allerdings: Mit dem am 14. Juni den Gegenvorschlag vorliegenden Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitia- würden gesetzliche Massnah- tive, die von Amnesty Internatio- men schneller in Kraft treten als nal mitgetragen wird, angenom- mit einer Volksabstimmung. Dies men. Für die Initiantinnen und ist gerade für die Betroffenen Initianten enthält dieser Kompro- von Menschenrechtsverletzun- miss schmerzhafte Abstriche: gen wichtig. Als Nächstes wird Die verbindlichen Regeln gelten der Ständerat den Gegenvor- nur für sehr grosse Unterneh- schlag beraten. Nasser Zefzafi hält eine Rede während einer Demonstration gegen Ungerechtig- LGBTI-Pride trotzt Verbot keit und Korruption in der nördlichen Stadt al-Hoceima, 18. Mai 2017. TÜRKEI – Trotz Verbot waren rund 1000 Aktivistinnen und Vertreter von Gruppen für die Rechte von Homosexuellen aufmarschiert: Der dies Schwere Strafen für Rif-AktivistInnen jährige Pride-Marsch vom 1. Juli in Istanbul war von den Behörden MAROKKO – Seit Mai 2017 haben die marokkanischen Sicherheitskräfte zunächst verboten worden, in letzter Minute erhielten die Organisatio Hunderte von DemonstrantInnen, darunter Kinder und mehrere Medien- nen dann doch die Erlaubnis sich zu versammeln, allerdings nur schaffende, verhaftet. Sie hatten ein Ende der Marginalisierung ihrer Ge- in einer winzigen Seitenstrasse abseits des Hauptboulevards. Doch meinden im marokkanischen Rif gefordert. Die immer stärker werdende weder diese Einschränkung, noch die vielen Polizisten, die schwer Protestbewegung richtete sich vermehrt auch gegen Arbeitslosigkeit, Po- bewaffnet mit Hunden, Tränengas und Gummigeschossen aufmar- lizeiwillkür und Korruption. Ende Juni wurden nun die Anführer der so- schierten, konnten den bunten Aufzug verhindern. Es wurde getanzt genannten Hirak al-Shabi-Proteste, Nasser Zefzafi und Nabil Ahamjik, und gesungen, eine riesige Regenbogenfahne wurde gehisst. Popstar zusammen mit zwei weiteren Demonstranten wegen «staatsgefährden- Madonna war auf den Lautsprechern. Die Polizei forderte die Teilneh der Aktivitäten» zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Andere erhielten Ge- menden anschliessend auf, die Veranstaltung aufzulösen und setzte fängnisstrafen von einem Jahr bis zu 15 Jahren. Nasser Zefzafi befand Gummigeschosse gegen einige AktivistInnen ein, die versuchten, in sich vom 23. Mai bis 3. Juni im Hungerstreik, um gegen die ungerechte die Shoppingmeile zu gelangen. Rund elf Demonstrierende wurden Prozessführung und die schlechten Haftbedingungen zu protestieren. vorübergehend festgenommen. Aus Solidarität begannen auch 22 weitere Häftlinge einen Hungerstreik, © Jim Ward /AI der zwischen vier und 19 Tagen dauerte. Nasser Zefzafi befindet sich seit über einem Jahr in Einzelhaft. JETZT ONLINE Die Fussball-WM ist längst vorbei, nicht so aber das Leben im Flüchtlingscamp: Der 17-jährige Rohingya Mohammad Jahangir Alam – ein grosser Neymar-Fan – erzählt, wie er im Lager in Bangladesch seinen Traum einer Fussballkarriere verfolgt. Schon gesehen? Amnesty International Schweiz ist auch auf Instagram! Entdecken Sie Fotos von Aktionen unserer Gruppen und AktivistInnen, Good News, Nachrichten und vieles Weitere mehr! instagram.com/amnesty_switzerland Zu finden auf: www.amnesty.ch/magazin-august18 Weder das massive Polizeiaufgebot noch die Einschüchterungen im Vorfeld konnten die Pride-Parade in Istanbul verhindern. 7 AMNESTY August 2018
AKTUELL_NACHRICHTEN BRIEF AN DIE REDAKTION © privat AMNESTY 94/18 Dossier Klimawandel Es muss Thema sein! Nein, ich wundere mich nicht, warum Amnesty jetzt auf Umwelt macht, ich habe mich im Gegenteil immer gewundert, warum das Thema so kurz kommt! Umwelt- und Menschenrechtsthemen sind gar nicht trennbar. Auch wenn es überall ein Thema sein sollte, bei Amnesty muss es ein Thema sein! Sacharow-Preisträgerin Nasrin Sotoudeh Angesichts der Erkenntnisse aus der Wissenschaft, dass eigentlich schon morgen kein Erdöl mehr verbrannt Nasrin Sotoudeh wieder im Gefängnis werden dürfte, sollten wir uns Gedanken dazu machen, IRAN – Die bekannte iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin wie wir in Zukunft arbeiten werden. Für die Amnesty- Sotoudeh wurde Mitte Juni erneut verhaftet und ins berüchtigte Arbeit ist es ja einerseits zentral, dass wir direkt mit Opfern Evin-Gefängnis in Teheran überführt. Die Gründe dafür sind nicht von Menschenrechtsverletzungen vor Ort sprechen oder bekannt. Zuletzt leistete Sotoudeh jungen Frauen Rechtsbeistand, diese zu uns kommen. Konferenzen, bei denen sich die in der Öffentlichkeit demonstrativ ihr Kopftuch abnahmen, um Amnesty-Mitarbeitende aus verschiedenen Ländern gegen die strikten Bekleidungsregeln zu protestieren. Bereits im persönlich sehen, machen ebenfalls Sinn. Auf der anderen September 2010 hatte man sie zu sechs Jahren Gefängnis wegen Seite schaden wir mit diesen Flugreisen dem Klima. Ein «Propaganda gegen das System» sowie «Mitgliedschaft in einer Konflikt, den wir dringend angehen müssen. illegalen Organisation» – womit das Zentrum für Menschenrechts- ANNIKA SALMI anwälte gemeint war – verurteilt. 2012 wurde Nasrin Sotoudeh der Sacharow-Preis für ihr menschenrechtliches Engagement verlie- hen, im September 2013 hatte man sie schliesslich freigelassen. IN EIGENER SACHE: Die Plastikfolie Unverantwortlich Liebe Leserinnen und Leser USA – Die Vereinigten Staaten haben angekündigt, sich aus dem Im Nachgang zum Erscheinen des letzten Amnesty-Magazins haben Uno-Menschenrechtsrat in Genf zurückzuziehen. Ein folgenschwe- wir einige Briefe erhalten, die die Folierung unseres Heftes kritisiert rer und unverantwortlicher Schritt: Denn trotz aller Schwächen haben – umso mehr als es sich im Schwerpunkt des Heftes um ein bleibt der Menschenrechtsrat ein unverzichtbares Mittel für die Umweltthema handelte. Wir hatten uns vor einiger Zeit entschlossen, Durchsetzung der Menschenrechte weltweit. das Magazin eingeschweisst zu versenden, damit wir die Beilage «In Action» und den Begleitbrief mit dem Adressfeld beilegen können. Dies hat den Vorteil, dass damit die Adresse nicht auch noch auf ein teures Nachruf Couvert gedruckt werden muss – ein zusätzlicher Arbeitsschritt, der damit entfällt. Als spendenbasierte Organisation sind wir natürlich auf Wir trauern um Priska Vogt eine kostengünstige Variante bedacht. Am 18. Juni ist nach schwerer Krankheit unsere langjähri- Vor allem aber hat uns die Tatsache überzeugt, dass die Ökobilanz ge Korrektorin Priska Vogt im Alter von 62 Jahren gestor- der Plastikfolie besser abschneidet als die eines Couverts, wie die ben. Wir verlieren mit Priska eine ausgezeichnete Korrek- eidgenössische Materialprüfungsanstalt EMPA evaluiert hatte. Und torin, die uns durch ihre Herzlichkeit und ihren Humor zwar fällt die Umweltbelastung der Plastikfolie um 20 Prozent geringer sehr ans Herz gewachsen ist. Priska stöberte jeweils den aus als die eines Couverts. allerletzten Fehler in den Texten auf. Mit witzigen, manch- Wichtig ist allerdings, dass Sie – die LeserInnen des Magazins – die mal auch trockenen Kommentaren wies sie auf sprachliche Folie abnehmen und nicht im Altpapier entsorgen. Wir gehen aber Holprigkeiten hin. Man spürte, mit wie viel Herzblut sie davon aus, dass Sie dies tun! ihren Auftrag für das Amnesty-Magazin ausführte. Wir teilen jedoch die Abneigung gegen zu viel Plastik-Müll und sind Nun ist Priska nicht mehr da. Wir sind sehr traurig. gegenwärtig dabei, die ökologischen Alternativen zu evaluieren. Die Redaktion Ihre Redaktion 8 AMNESTY August 2018
AKTUELL_BRENNPUNKT KEINE WILLKÜRLICHE ÜBERWACHUNG Betroffen von einer solchen brauch gegenüber einem Ge- © Keystone/Gaëtan Bally Überwachung können alle sein richt belegen müssen. Jede – von Arbeitslosen über Kran- Überwachung muss gerichtlich ken- und Unfallversicherten bis genehmigt werden. Andernfalls hin zu Menschen mit Behinde- besteht die Gefahr des Macht- rungen. Mit der Revision wür- missbrauchs, denn die Versi- den Sozialversicherungen bei cherungen sind ja Partei im Missbrauchsverdacht Überwa- Verfahren. Die Überwachung chungskompetenzen erhalten, von verdächtigen Personen die zum Teil weiter gehen als sollte zudem im Strafrecht und diejenigen der Behörden im nicht im Sozialversicherungs- Strafverfahren oder im Nach- recht geregelt werden. richtendienst. Wenn die aktuelle Gesetzesver- Das Gesetz erlaubt es, jeman- sion an der Urne abgelehnt den auf dem Balkon oder in sei- wird, kann das Parlament einen ner Wohnung zu fotografieren neuen Anlauf nehmen, damit Wenn private ErmittlerInnen oder zu filmen, solange dies vom die Bekämpfung von Versiche- Versicherte beobachten, ist das öffentlichen Grund aus gemacht rungsbetrug unter Wahrung ein schwerwiegender Eingriff in werden kann. Die Versicherun- der Grundrechte möglich wird. die Privatsphäre. gen könnten eine solche Über- Dass gesetzgeberischer Hand- F ordert Amnesty International nun ein Menschenrecht auf Versicherungsbetrug? Natürlich wachung in der Regel ohne rich- terliche Anordnung durchführen. Eine Staatsanwältin, die einen lungsbedarf besteht, ist unbe- stritten. Die Revision geht näm- lich auf einen Entscheid des nicht. Trotzdem empfiehlt die Mord aufklären muss, oder der Europäischen Gerichtshofs Organisation ein Nein zum ge- Nachrichtendienst, der gegen für Menschenrechte (EGMR) änderten Sozialversicherungs mutmassliche Terroristen ermit- zurück. Er hält Überwachungs- gesetz. Die Vorlage mit dem offi telt, muss solche Massnahmen massnahmen gegen Sozial ziellen Namen «Änderung des hingegen von einem Gericht ge- versicherungsbetrug zwar Bundesgesetzes über den nehmigen lassen. Bei der Über- durchaus für zulässig, urteilte Allgemeinen Teil des Sozialver wachung von Sozialversicherten aber, dass die bisherigen ge- sicherungsrechts» kommt am sollen auch technische Instru- setzlichen Grundlagen der 25. November zur Abstimmung. mente zur Standortbestimmung Schweiz dafür nicht ausreich- Sie soll die gesetzliche Grundla- erlaubt sein, zum Beispiel GPS- ten. Daraufhin verfasste das ge liefern für die Überwachung Tracker, die an Autos ange- Parlament in kurzer Zeit die von Versicherten. In den Augen bracht werden. Nur für solche Gesetzesbestimmungen, gegen von Amnesty International wür- Instrumente braucht es eine die das Referendum ergriffen de die Gesetzesrevision aber zu richterliche Genehmigung. wurde. Amnesty empfiehlt zu unverhältnismässigen Eingriffen dieser Vorlage ein Nein, ebenso in die Grundrechte der Versi- Wenn PrivatdetektivInnen Versi- wie zur «Fremde Richter»- cherten führen, insbesondere in cherte beobachten, ist das ein Initiative, die just die künftige das Recht auf Schutz der Privat- schwerwiegender Eingriff in die Beteiligung der Schweiz am sphäre. Zudem bedroht die Re- Privatsphäre. Amnesty fordert EGMR gefährdet. vision das Prinzip der Verhält- deshalb, dass die Versicherun- nismässigkeit. gen ihren Verdacht auf Miss- Carole Scheidegger 9 AMNESTY August 2018
D ie InitiantInnen nennen sie «Selbstbestimmungsinitiative» oder auch «Fremde Richter»-Initiative. Für uns ist es eine Anti-Menschen- rechts-Initiative. Sie fordert ja, dass künftig das Landesrecht über dem Völkerrecht steht. Das könnte über kurz oder lang dazu führen, dass die Schweiz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten muss. Damit würden wir auch den Schutz unserer Rechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlieren – wollen wir das? Sämtliche Illustrationen im Dossier: © Ambroise Héritier
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE Gefährliche politische Trends Die «Fremde Richter»-Initiative ist ein Angriff auf die Menschenrechte und zugleich Ausdruck gefährlicher globaler Trends. Die Schweiz hat mit der Abstimmung nun als erstes Land die Chance, ein klares Zeichen für den Menschenrechtsschutz zu setzen. Von Patrick Walder S chon der Name der Initiative zeugt vom politischen Ins- tinkt und der klugen Kommunikation ihrer Initiantin, der Schweizerischen Volkspartei (SVP): «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)». Der Name erfasst in wenigen Worten die dominanten politischen Trends, die in den letzten Jahren weltweit erfolgreich waren und die uns alle vor grosse Herausforderungen stellen. Dieser politische Trend richtet sich gegen alles, was als «fremd» empfunden werden kann, seien es Flüchtlinge oder Migrantinnen, die Globalisierung oder die Europäische Uni- lingskrise offenbar – an weiteren Beispielen fehlt es nicht. on; er richtet sich gegen «Eliten», gegen Richterinnen, Büro- Man muss daran erinnern, dass die Menschenrechte nach kraten, Bundesbern sowie gegen Top-Manager und Reiche; dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen wurden als Versprechen, und er behauptet, für Selbstbestimmung einzustehen. Diese dass sich solcher Krieg, Terror und Völkermord niemals lehnt selbstverständlich niemand ab, doch hier kommt sie mehr wiederholen darf. Heute, siebzig Jahre später, wird of- daher als nationalistische Heimatliebe und Abschottung ge- fensichtlich, dass die Lehren, die man damals zog, am Ver- gen aussen. Dazu wird jeweils mit einem behaupteten blassen sind, und dass der angestrebte Konsens der Men- Schweizer «Volkswillen» argumentiert. schenrechte zunehmend infrage gestellt wird. Die Initiantinnen und Initianten surfen nicht nur gekonnt Die Lehre, die man in Europa aus den Gräueln des Zwei- auf dieser Welle, sie haben diese populistische Politik seit ten Weltkriegs zog, konkretisierte sich im Willen der euro den 1990er-Jahren selber geschaffen und sich so zum Vor- päischen Staaten, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und bild für rechtsnationale Parteien in Europa gemacht. In den Menschenrechte zu fördern: Zu diesem Zweck wurde 1949 letzten Jahren hat sich dieser Trend global behauptet und ist der Europarat gegründet, der ein Jahr später die Europäische mit Brexit, Trump und dem Erfolg populistischer Parteien in Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet und 1959 der breiten Öffentlichkeit angekommen. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gegründet hat. Verblassende Lehren Amnesty International kon- Die beiden Pfeiler der Nachkriegsordnung – der gemein- statiert heute, zunehmend alarmiert, eine globale Men- same Markt in der Europäischen Union und die gemeinsa- schenrechtskrise: Die Diffamierungen des Völkerrechts men Rechte im Europarat – haben in Europa siebzig Jahre werden schamloser, die Angriffe gegen Menschenrechtsver- lang für weitgehende Stabilität, Frieden und Wohlstand ge- teidigerInnen häufiger, das Versagen Europas in der Flücht- sorgt. Heute wird offensichtlich, dass diese Pfeiler in eine 12 AMNESTY August 2018
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE Wir alle können nur verlieren in einer Welt, in der Macht vor Recht steht. Krise geraten sind beziehungsweise hef- da bereits heute Widersprüche in der Bundesverfassung zur tig an ihnen gesägt wird. EMRK bestehen. Beispielsweise steht das Verbot, in der Schweiz Minarette zu bauen, im Konflikt mit der Religions- Angriff aus der Schweiz Die freiheit, die in der EMRK garantiert wird. Schweiz hat jahrzehntelang von der Das Beispiel zeigt, wie gefährlich diese Initiative ist. Wäh- europäischen Nachkriegsordnung pro rend sich andere kontroverse Volksinitiativen meist auf ein- fitiert. Jetzt ist es ausgerechnet dieses zelne, oft symbolische Themen beschränkten (wie z. B. ein Land, aus dem ein Angriff auf einen Burkaverbot), hat die Anti-Menschenrechts-Initiative das Po- Pfeiler der Nachkriegsordnung, die tenzial, unsere Rechtsordnung umzukrempeln und den EMRK und den EGMR, lanciert wird. Menschenrechtsschutz auszuhebeln. Denn die in unserer Die Schweiz ist erst spät dem Europa- Verfassung garantierten Grundrechte können durch Volksin- rat – nicht zu verwechseln mit der Euro- itiativen jederzeit geändert oder gar gestrichen werden. päischen Union (EU) – beigetreten (1963). Sie ratifizierte die EMRK noch Kurzfristige Politik Seit siebzig Jahren wurden die später (1974), da dies zuvor wegen des Menschenrechte weitergeschrieben, Konventionen und Insti- fehlenden Frauenstimmrechts nicht tutionen zu ihrer Durchsetzung entwickelt. Heute müssen möglich war. Danach hat sie sich schnell wir feststellen, dass diese Texte nicht in Stein gemeisselt zu einer Musterschülerin gemausert. Sie sind. Bedroht werden sie von einer Politik, die zwar keine engagiert sich im Europarat, feiert sich Lösungen bietet, aber kurzfristig Erfolg verspricht: Gegen als Hüterin der Menschenrechte und Fremde Stimmung machen, gegen Eliten polemisieren und verzeichnet eine rekordtiefe Anzahl von Urteilen des EGMR. gleichzeitig nach unten treten. Nur 1,6 Prozent der beim Strassburger Gericht eingereichten Der Schweizer Angriff auf den Menschenrechtsschutz ist Einzelklagen führten bisher zu einem Urteil gegen die in Europa nicht isoliert. Russland unter Putin setzt Urteile Schweiz. Diese Urteile und die EMRK als Grundrechts-Ori- des EGMR nur noch mit Vorbehalt um; Präsident Erdogan entierung brachten der Schweiz wichtige Fortschritte im Be- hat in der Türkei mit der Ausrufung des Ausnahmezustands reich der Menschenrechte. die EMRK teilweise ausgesetzt. Diese Rechte scheinen der Initiantin der «Fremde Natürlich können die Stimmberechtigten in der Schweiz Richter»-Initiative ein Dorn im Auge. Die SVP startete ihren die EMRK kündigen, wenn sie dies wirklich wollen. Dieses Angriff auf den Menschenrechtsschutz, nachdem klargewor- Ziel müsste die Initiantin aber offen deklarieren. Die Abschaf- den ist, dass die EMRK eine rote Linie setzt bei der Umset- fung des Menschenrechtsschutzes darf nicht durch die Hin- zung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen, die oft von tertüre mit einer Polemik gegen «fremde Richter» erfolgen. dieser Partei lanciert wurden. In den vergangenen Jahren Wir alle können nur verlieren in einer Welt, in der Macht kollidierten mehrere Initiativen (lebenslange Verwahrung, vor Recht steht, und in der es keine wirksamen Regeln zum Ausschaffung krimineller Ausländer, Minarettverbot usw.) Schutz von Minderheiten und individuellen Freiheiten gibt. mit Rechten, die in der EMRK garantiert sind. Bisher wurde Angesichts von verbreitetem Chaos und Rechtsbruch in der die Schweiz (noch) nicht wegen einer kontroversen Initiative Welt: Warum sollten wir da freiwillig auf unsere Rechte und verurteilt. Aber ohne den Schutz der EMRK würde es in der ihren Schutz verzichten? Es ist wahrscheinlich, dass die Schweiz einfacher werden, auf Kosten von Minderheiten Po- Stimmberechtigten für gemeinsame Regeln und Stabilität litik zu machen. stimmen, und dass das Votum über die Anti-Menschenrechts- Nach einer Annahme der «Fremde Richter»-Initiative Initiative zu einem Statement für die Menschenrechte wird, könnte die SVP sofort die Kündigung der EMRK verlangen, das weit über die Schweiz hinaus von Bedeutung sein wird. 13 AMNESTY August 2018
Ein unteilbares Ganzes Können die Menschenrechte den Volksrechten im Grundrechtsschutz zu verweigern und abschliessend über das Schicksal eines Einzelnen zu bestimmen, ohne dessen Wege stehen? Ein Kommentar zum Gesamtkunstwerk genaue Einzelfallbeurteilung durch ein Gericht zuzulassen. Demokratie. Von Andreas Gross Dass ein solches Verhalten einer Mehrheit der Stimmenden unserer ebenfalls von einer Mehrheit von Volk und Ständen angenommenen Bundesverfassung ebenso widerspräche wie D ie Volks- und Menschenrechte sind Zwillinge der demokra- tischen Phase der Französischen Revolution. Beide kamen gleichzeitig auf die Welt. Die Revolutionäre ersetzten die absolu- der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), küm- mert die SVP weiter nicht. Genauer: Um letzteres Hindernis aus dem Weg zu räumen, lancierte sie eben die vorliegende te Souveränität des Königs durch die Souveränität des Volkes. «Selbstbestimmungsinitiative». Dass auch dann freilich an- Sie entwarfen eine demokratische Verfassung, in der die Volks- dere Bestimmungen unserer Bundesverfassung immer noch souveränität die einzige Quelle legitimer politischer Macht dar- gelten würden, die diesen Allmachtsanspruch der Mehrheit stellt. Diese Volkssouveränität setzt sich aus den Grund- oder der Stimmenden als unrechtmässig verunmöglichen wür- Menschenrechten einerseits und den partizipativen Volksrech- den, hat die SVP geflissentlich übersehen. ten andererseits zusammen. Unter letzteren verstand das demo- Mit einer Volksinitiative und einer Volksabstimmung eine kratische Zentrum der Revolutionäre das Wahlrecht der Bürger Einschränkung der Menschenrechte herbeiführen wollen ebenso wie deren Recht, in Referenden über parlamentarische kann nur, wer sich ein selektives Demokratieverständnis zu Gesetze abstimmen und über Volksinitiativen die Ausarbeitung eigen macht. Denn die Demokratie ist ein vielgliedriges Ge- ebensolcher Gesetze verlangen zu können. samtkunstwerk, ein Mosaik aus vielen verschiedenen Teilen, Die Volkssouveränität setzt sich aus negativen und positi- zu denen die Menschenrechte ebenso gehören wie die Volks- ven Freiheitsrechten zusammen. Die negativen Freiheits- rechte oder die Mehrheitsregel. Wer dieses Gesamtkunst- rechte beinhalten den Schutz jedes Menschen vor dem Zu- werk der Demokratie auf ein einziges Element, beispiels griff jeglicher politischer Macht. So ist es in einer rechtsstaatlich weise die Mehrheitsregel, beschränkt, hat sie damit schon verankerten Demokratie keiner Mehrheit (unbesehen davon, verloren. In einer vollständigen Demokratie wird die Macht ob es sich um eine Regierungs-, Parlaments- oder Volks- einer Mehrheit immer durch andere Mächte, beispielsweise mehrheit handelt) gestattet, die Grundrechte einer Minder- jener der Gerichte oder der Menschenrechte, beschränkt. heit oder eines einzelnen Menschen zu ignorieren, zu schmä- Wer dies mittels der Volksrechte zu ändern versucht, stärkt lern oder infrage zu stellen. die Demokratie nicht, sondern verliert sie. Doch genau dies versucht die SVP mit ihrer sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative». Nicht zum ersten Mal. Schon Bücher zum Thema: die SVP-Initiativen für die Ausschaffung von «kriminellen Ausländern» (2012) oder die «Durchsetzungsinitiative» Freiheit und Menschenrechte; 25.11.2018: (2014) gingen in eine ähnliche Richtung: Sie suggerierten, Nein zur Anti-EMRK-Initiative. Hrsg. von Andreas Gross, Fredi Krebs, Martin Stohler und dass in der Bundesverfassung das Recht einer Mehrheit ver- Cédric Wermuth. ankert werden darf, den Rechtsstaat auszuhebeln, den Editions le Doubs, St-Ursanne. 240 Seiten, Fr. 19.80. August 2018. Frau Huber geht nach Strassburg. Andreas Gross ist Politikwissenschaftler und Demokratiespezialist. Er war von 1991 Die Schweiz vor dem Gerichtshof für Menschenrechte. bis 2015 Mitglied des National- und Europarates. Gross lebt in St-Ursanne (JU). Hrsg. von Adrian Ricklin und Kilian Meyer. www.andigross.ch WOZ-Verlag, Zürich. September 2018. 14 AMNESTY August 2018
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE Was heisst denn eigentlich… Hinter der scheinbar einfachen Forderung der «Fremde Richter»-Initiative – Landesrecht vor Völker- recht! – stecken komplexe völker- und staatsrechtliche Begriffe. Eine Erklärung in aller Kürze. Was ist denn eigentlich das Völkerrecht? Das Völkerrecht besteht im Wesentlichen aus Verträgen zwi- schen den Staaten, man spricht daher auch von «internationa- lem Recht». Das Völkerrecht regelt die Zusammenarbeit zwi- schen den Nationen und stellt hierfür verbindliche Prinzipien und Regeln auf. Sie müssen von allen Staaten eingehalten werden, die die Verträge unterzeichnet haben. In der Schweiz müssen wichtige völkerrechtliche Verträge von der Bundes- versammlung genehmigt werden; die StimmbürgerInnen können das Referendum ergreifen (fakultatives Referendum). Ein Vertrag muss aber dem Volk obligatorisch vorgelegt wer- den, wenn er eine Bedeutung hat, die ihn auf die Stufe der Bundesverfassung hebt (obligatorisches Referendum). Und das zwingende Völkerrecht? Nebst dem oben umschriebenen allgemeinen Völkerrecht gibt es das zwingende Völkerrecht, das sogenannte Ius co- gens. Im Unterschied zum oben beschriebenen Völkerrecht, das keinesfalls «nicht zwingend» ist, muss das zwingende Völkerrecht aber auch von Staaten eingehalten werden, die keine entsprechenden Verträge eingegangen sind. Das zwin- gende Völkerrecht enthält hauptsächlich Menschenrechtsnor- sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative» geht es aus- men wie das Verbot von Folter und Sklaverei oder auch das schliesslich um das komplizierte Verhältnis zwischen der Genozidverbot. Eine schriftlich von den Staaten formulierte obersten Quelle des Landesrechts – der Bundesverfassung – Definition oder Aufzählung der garantierten Rechte gibt es und dem Völkerrecht. aber nicht. Die Schweizer Verfassung bezieht sich auf das zwingende Völkerrecht und bekennt sich zu dessen Achtung. Was sind denn nun aber Grundrechte? In der revidierten schweizerischen Bundesverfassung aus Noch ein Völkerrecht? Das humanitäre Völkerrecht dem Jahre 1999 finden sich unter dem Begriff «Grundrech- Das humanitäre Völkerrecht bestimmt die Regeln, die in be- te» alle wesentlichen Freiheitsrechte, welche auch im Inter- waffneten Konflikten gelten, also die Grenzen der erlaubten nationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Kriegsführung und der Schutz der Opfer (Genfer Konventio- in der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK ga- nen von 1949). rantiert sind (z. B. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Mei- nungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre etc.). Das heisst: Die Vom internationalen Recht zum Landesrecht Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention sind Mit Landesrecht sind die Schweizer Verfassung sowie die Ge- in unserer Verfassung enthalten. Vor allem aber bietet die setze gemeint, die in der Schweiz auf allen drei Ebenen EMRK den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern einen zu- (Bund, Kantone und Gemeinden) gelten. Bei Widersprüchen sätzlichen Schutz ihrer Rechte, indem sie eine weitere Ins- gilt immer das höhere Recht, also Bundesrecht vor kantona- tanz anbietet, an welche von Menschenrechtsverletzungen lem Recht und dieses wiederum vor Gemeinderecht. In der Betroffene gelangen können. (mre) 15 AMNESTY August 2018
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE Ungenau und Die «Fremde Richter»-Initiative würde die Behörden dazu zwingen, bereits eingegangene zwischenstaatliche Verpflich tungen anzupassen, wenn sie im Widerspruch zur Bundes verfassung stehen. Warum hauptsächlich die Europäische Menschenrechtskonvention im Visier steht, zeigt folgende Analyse. Von Guillaume Lammers J eder Staat muss selbst bestimmen, wie er das Verhältnis zwischen internationalem Recht und nationalem Recht ausgestaltet. Die Frage ist komplex und es sind verschiedene Dieser Vorrang gilt allerdings nicht absolut. In ganz be- stimmten Fällen lässt sich einem Widerstreit zwischen inter- nationalem und nationalem Recht damit begegnen, dass der Aspekte zu berücksichtigen, so zunächst die Hierarchie zwi- nationalen Norm Priorität eingeräumt wird. Dem Prinzip, schen internationalem und nationalem Recht: Welches Recht wonach das internationale Recht von Ausnahmen abgesehen hat im Konfliktfall Vorrang? Die Schweizer Bundesverfas- dem nationalen vorgeht, tut dies jedoch keinen Abbruch. sung sieht vor, dass internationales Recht grundsätzlich über nationalem Recht steht. Dies bedeutet, dass eine nationale Problematische Vereinbarkeit Die Volksinitia- Norm gegenüber einer internationalen den Kürzeren zieht, tive «Schweizer Recht statt fremde Richter» zielt darauf ab, wenn die beiden unvereinbar sind. diese Rangfolge umzudrehen und die Bundesverfassung Dieses Prinzip geht aus zwei Stellen in der Bundesverfas- über das internationale Recht zu stellen. Die SVP hat diese sung hervor. Es ist erstens in Artikel 5 Absatz 4 der Bundes- Initiative lanciert, nachdem durch Volksinitiativen bereits verfassung formuliert: «Bund und Kantone beachten das Völ- verschiedene Artikel in die Bundesverfassung eingebracht kerrecht.» Weiter sieht Artikel 190 vor, dass das Bundesgericht wurden, deren Vereinbarkeit mit internationalem Recht sich und die anderen Behörden angehalten sind, das internationa- dann als problematisch herausstellte. le Recht anzuwenden. Diese beiden Verfassungsregeln be- Die «Fremde Richter»-Initiative zielt darauf ab, dass die gründen den Vorrang des internationalen Rechts vor dem Bestimmungen der Bundesverfassung nicht mehr in Über- nationalen Recht. einstimmung mit internationalem Recht angewendet werden müssen, wenn das internationale Recht und Verfassung ein- ander widersprechen. Bei Annahme der Initiative würde die Bundesverfassung somit zur «obersten Rechtsquelle der Dr. iur. Guillaume Lammers ist Rechtsanwalt und Lehrbeauf- Schweizerischen Eidgenossenschaft» erklärt, stünde also tragter am Zentrum für Staatsrecht der Universität Lausanne. über internationalem Recht. Ausserdem würde die in Artikel 16 AMNESTY August 2018
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE widersprüchlich 190 der Bundesverfassung festgehaltene Verpflichtung der der Menschenrechte. In Tat und Wahrheit ist vor allem die Behörden, internationales Recht anzuwenden, zurückge- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) im Visier nommen. Diese Verpflichtung wäre künftig nur noch auf in- der Initiative. Die Konvention spielt beim Schutz der Men- ternationale Abkommen beschränkt, die dem fakultativen schenrechte in der Schweiz eine zentrale Rolle. Im Gegen- oder dem obligatorischen Referendum unterstellt waren. satz zu anderen wichtigen Übereinkommen der Schweizer Schliesslich würde die Bundesverfassung mit einem neu- Rechtsordnung wurde sie dem Referendum nicht unterstellt, en Artikel 56a ergänzt. Dieser würde es den Behörden nicht als die Schweiz sie 1974 ratifizierte (wohl aber die später ver- nur untersagen, internationale Verpflichtungen einzugehen, abschiedeten Zusatzprotokolle). Damals mussten die Bun- die im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen (was be- desbehörden das Übereinkommen gar nicht zur Abstim- reits heute der Fall ist). Er würde die Behörden darüber mung bringen, diese Regel kam erst später. hinaus dazu zwingen, bestehende internationale Verpflich- Würde die «Fremde Richter»-Initiative angenommen, ge- tungen anzupassen, wenn sie im Widerspruch zur Bundes- nösse die EMRK also grundsätzlich nicht mehr die «Immu- verfassung stehen – «nötigenfalls» durch Kündigung der nität», die Artikel 190 der Bundesverfassung internationa- betroffenen Abkommen. lem Recht allgemein einräumt. Laut Initiativtext hätte bei einem Konflikt zwischen Bundesverfassung und EMRK die Schadet dem Image der Schweiz Die «Fremde Bundesverfassung den Vorrang, was auf eine Verurteilung Richter»-Initiative ist nicht frei von Ungenauigkeiten und der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Men- Widersprüchen. Obschon die Initiantinnen und Initianten schenrechte mit Sitz in Strassburg hinauslaufen könnte. In- den Vorrang der Bundesverfassung vor internationalem dem die Eidgenossenschaft ihre Verfassung zur «obersten Recht einführen wollen, rüttelt die Initiative nicht an der in Rechtsquelle» erklärte, wäre es ihr gar nicht mehr möglich, der Bundesverfassung festgehaltenen Regel «Bund und Kan- anders zu handeln. Das Nichtbeachten internationaler Ver- tone beachten das Völkerrecht.» Unangetastet lassen sie auch pflichtungen würde die Schweiz als Rechtsstaat in eine un- die in Artikel 190 festgehaltene Verpflichtung der Behörden, haltbare Position manövrieren. Sie müsste der EMRK allen- allen voran des Bundesgerichts, internationales Recht anzu- falls den Rücken kehren, um sich aus der ungemütlichen wenden, auch wenn sich diese Verpflichtung auf Abkommen Lage zu befreien. Dies hätte mit Sicherheit katastrophale beschränken würde, die dem fakultativen oder dem obligato- Konsequenzen. rischen Referendum unterstellt waren. Müssten nun diese Abkommen, die dem Volk vorgelegt worden waren, dennoch angepasst oder gar gekündigt werden? Das ist nur eine der Fragen, die die Initiative aufwirft. Solche Unschärfen führen zu Rechtsunsicherheit. Auf jeden Fall würde die Annahme der Initiative dem Image der Schweiz als Rechtsstaat und vertrauenswürdiger Die Annahme der Initiative würde internationaler Partnerin grossen Schaden zufügen. Immer- hin könnten aufgrund der Verfassungsänderung zahlreiche dem Image der Schweiz als Rechtsstaat Abkommen jederzeit gebrochen und aufgekündet werden. und vertrauenswürdiger internationaler Welcher Staat wäre dann noch bereit, mit der Schweiz eine Vereinbarung einzugehen, wenn das Risiko bestünde, dass Partnerin grossen Schaden zufügen. sie später doch wieder davon abweicht? Zielscheibe EMRK Die sehr allgemein formulierte «Fremde Richter»-Initiative könnte theoretisch Auswirkun- gen auf zahlreiche Verpflichtungen der Schweiz haben. Ihre Annahme hätte jedoch insbesondere Folgen für den Schutz 17 AMNESTY August 2018
DOSSIER_ ANTI-MENSCHENRECHTS-INITIATIVE Sie gaben nicht auf Wir können uns kaum vorstellen, was es für einzelne Menschen wirklich bedeutet, wenn ihre Menschenrechte verletzt werden. Drei Geschichten aus der Schweiz zeigen, wie sich die Europäische Menschenrechtskonvention konkret für Leute ausgewirkt hat, denen Unrecht widerfahren ist. Von Manuela Reimann Graf, in Zusammenarbeit mit Schutzfaktor M und humanrights.ch Diskriminiert wegen Diabetes D er junge Mann freute sich auf die Rekru- tenschule. Da wurde bei ihm Diabetes dia- gnostiziert. Hans Glors Sohn wollte trotzdem von Hans Glors Sohn sei jedoch tiefer als 40 Prozent. «Als ich beschloss, den Fall an den Europäi- seinen Militärdienst leisten, er wurde jedoch schen Gerichtshof für Menschenrechte weiter- für untauglich erklärt. Auch für den Zivildienst zuziehen, sagten alle, ich sei total verrückt», wollte man ihn nicht zulassen. Rund 700 Fran- sagt Hans Glor. Er erkundigte sich im Internet, ken Wehrpflichtersatz pro Jahr sollte er bezah- wie er vorgehen muss. Mit Erfolg: Die Richte- len. Der Sohn schrieb viele Briefe, sogar an den rinnen und Richter in Strassburg kamen 2009 damaligen Bundesrat Samuel Schmid. Alle er- zum Schluss, dass es möglich sein sollte, leicht folglos. Dann zogen der Vater und Sohn vor behinderten Personen entweder in der Armee Gericht. Der Vater erklärt: «Mein Sohn freute eine Funktion anzubieten, die sie trotz ihrem sich, im Militär einen Beitrag für unsere Gebrechen ausüben können, oder sie aber zum Schweiz zu leisten. Schliesslich durfte er nicht Zivildienst zuzulassen. Das Gericht bestätigte, dienen, sollte aber Wehrpflichtersatz bezahlen, was Hans Glor immer gewusst hatte: Die Er- das empfanden wir als unfair.» satzpflicht war diskriminierend. Dank diesem Das Bundesgericht lehnte 2004 die Be- Entscheid haben heute leicht behinderte Män- schwerde seines Sohnes aber ab. Nur Personen ner die Wahl zwischen Ersatzzahlungen oder mit einem Invaliditätsgrad von mehr als 40 Militärdienst. Prozent seien von der Pflicht zur Zahlung des Wehrpflichtersatzes ausgenommen, begründe- te das Gericht seinen Entscheid. Der IV-Grad Bewegende Porträts aus der Schweiz Die Geschichten von Ursula Biondi und Vater und Sohn Glor sind Teil der Ausstellung «Meine Geschichte, mein Recht» von Schutz- faktor M. Sie zeigt mit 9 Porträts von Betroffenen in Text und Video, wie wichtig der Schutz der Menschenrechte ist – auch in der Schweiz. Die Wanderausstellung kann kostenlos für eigene Anlässe verwendet werden und ist online zugänglich. Sie ist Teil der Kampagne gegen die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative. Mit über 115 Organisationen, darunter Amnesty Schweiz, enga- giert sich Schutzfaktor M als Allianz der Zivilgesellschaft im Abstimmungskampf gegen diesen Angriff auf die Menschenrechte. Mehr Informationen: www.sbi-nein.ch 18 AMNESTY August 2018
Zu Unrecht weggesperrt M an nahm ihr das Kind weg, sperrte sie mit 17 Jahren ins Frau- engefängnis Hindelbank: Zu dieser «erzieherischen Mass- nahme» griff die Vormundschaftsbehörde 1966, weil Ursula Bion- di sich in einen geschiedenen, sieben Jahre älteren Mann verliebt hatte und mit 17 schwanger wurde. «Die Zeit in Hindelbank hat tiefe seelische Wunden und eine jahrzehntelange Stigmatisierung Frau gründete in Genf eine Familie und machte Karriere in einer hinterlassen. Sie nahmen mir mein Kind und meine Würde weg. Organisation der Uno. Doch all das half nicht, um das Stigma «Hin- Zehntausende von Menschen wurden so vom Staat gebrochen.» delbank» loszuwerden. Die Ungerechtigkeit quält Ursula Biondi bis Ein Jahr lang verbrachte Ursula Biondi als sogenannte «admi- heute. Erst viele Jahre später hat sie den Mut gefunden, öffentlich nistrativ Versorgte» ohne Gerichtsurteil in der Frauenstrafanstalt. über ihre Geschichte zu reden und zusammen mit anderen betrof- Kaum war ihr Sohn geboren, wurde er ihr weggenommen, um ihn fenen Frauen eine moralische Wiedergutmachung von den Behör- zur Adoption freizugeben. «Ich durfte ihn nicht in den Arm neh- den zu fordern. men. Sie sagten mir nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mäd- Tausende von Jugendlichen und Erwachsenen wurden bis 1981 chen ist.» Ursula Biondi wehrte sich und schaffte es, ihren Sohn ohne Gerichtsverhandlung wegen «liederlichen Lebenswandels», zehn Tage lang bei sich zu haben. Dann nahm man ihn ihr ein «Vaganterei» oder «Arbeitsscheue» eingesperrt. Erst unter Druck zweites Mal weg – für immer, wie sie sagten. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) passte die Nach drei Monaten erhielt sie ihr Kind nach einem unerbittli- Schweiz 1981 das Zivilgesetzbuch entsprechend an. Die administ- chen Kampf und mit viel Glück zurück. Daraufhin musste sie fünf rative Verwahrung gibt es seither nicht mehr. Erst nach Jahrzehn- weitere Monate mit ihrem Sohn im Gefängnis verbringen, bevor sie ten, am 1. August 2014, trat in der Schweiz ein Gesetz in Kraft, das knapp 18-jährig wegen «guter Führung» entlassen wurde. Die junge administrativ versorgte Menschen bis 1981 rehabilitierte. Verhaftet und gefoltert fängnis, woraufhin die schweizerischen Behörden Frau und Kinder zurück in die Schweiz holten. Auch ein zweiter weggewiesener Ta- mile erfuhr nach seiner Ankunft in Colombo dasselbe Schicksal E r durfte nicht in der Schweiz bleiben, befand das damalige Bun- desamt für Migration (BFM) 2009. Sein Asylgesuch, wie auch das seiner Frau, wurde abgelehnt. Erfolglos hatte der aus Sri Lanka stam- und wurde umgehend verhaftet. Erst im April 2015 wurde X. aus der Haft in Sri Lanka entlassen und stellte in der Schweiz einen Antrag auf eine Aufenthaltsbewil- mende Asylsuchende X.* die politische Verfolgung in seiner Heimat ligung aus humanitären Gründen. Diesmal wurde sein Antrag gut- geltend gemacht und dass er als ehemaliges Mitglied der Tamil Ti- geheissen und X. kehrte in die Schweiz zurück. Sein erneutes Asyl- gers im Gefängnis gewesen und miss- gesuch wurde ebenfalls gutgeheissen. handelt worden sei. X. rekurrierte, doch Der Europäische Gerichtshof für das Bundesverwaltungsgericht wies sei- Menschenrechte (EGMR) stellte am ne Beschwerde ab. 26. Januar 2017 einstimmig eine Ver- Schliesslich wurden X., seine Frau letzung der Europäischen Menschen- und die beiden kleinen Kinder 2013 rechtskonvention EMRK fest. Laut nach Sri Lanka ausgeschafft. Bereits bei dem Gerichtshof hätte die Schweiz ihrer Ankunft am Flughafen von Colom- um das Risiko im Ausschaffungsland bo wurde die gesamte Familie festgehal- Bescheid wissen müssen. Der EGMR ten und während 13 Stunden verhört. trat auf die Beschwerde ein, obschon Die Frau und die Kinder kamen danach die Schweiz mittlerweile das neue wieder auf freien Fuss, doch X. wurde in Asylgesuch des Beschwerdeführers ein Gefängnis gebracht, wo man ihn gutgeheissen hatte. misshandelte. Ein Vertreter der schwei- * Name wird aus Schutzgründen nicht zerischen Botschaft besuchte X. im Ge- genannt 19 AMNESTY August 2018
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