Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...

 
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Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Sonderheft

26. September 2019 – 87. Jahrgang

Chinas
Verwandlung
Von der Revolution zur G  ­ rossmacht:
Die Volksrepublik ist 70
Mit Geng Wenbing, Nick Hayek,
Guy Parmelin, Harro von Senger,
Christoph Blocher, David Syz,
Sebastian Heilmann u. a.
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Elegance is an attitude
                   Simon Baker

          The Longines Master Collection
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Intern                                                                                                                 Inhalt

China tritt als zweitgrösste Volkswirtschaft                                                                            6 Wie sich die Retter von China
der Welt gegenüber dem Spitzenreiter USA                                                                               		 selber retteten Christoph Blochers
zunehmend selbstbewusster auf. Zum 70. Ge-                                                                             		 Familien-Abenteuer in Asien
burtstag der Volksrepublik kommt unwillkür-                                                                            10 Botschafter Geng Wenbing
lich die Frage auf, ob die Weltwirtschaft nun                                                                          		 «Weg der friedlichen Entwicklung»
endgültig zweipolig geworden sei. Sebastian                                                                            14 Und täglich grüsst Karl Marx
Heilmann, einer der bekanntesten China-Ex-                                                                             		 Harro von Senger über China
perten in Europa, führt im Interview mit der                                                                           16 «Auf einem eigenen Pfad»
Weltwoche aus, wie China und die USA tatsäch-                                                                          		 Gespräch mit Sebastian Heilmann
lich zu den zwei massgeblichen Polen gewor-
                                                                                                                       18 Xi Jinping Vom Parteiprinzen
den sind. Die Rivalität zwischen den Präsiden-
                                                                                                                       		 zum starken Mann
ten Donald Trump und Xi Jinping dominiere
                                                                                                                       20 Doppelte Kulturbrücke
das Geschehen, und besonders seit der Finanz-
                                                                                                                       		 Schweizer Produkte in China
krise bewege sich China selbstbewusst auf ei-
nem eigenständigen Weg. Seite 16                                                                                       21 Stürmisch zu bescheidenem
                                                                                                                       		Wohlstand Chinas Wirtschaft
Ganz Ähnliches spielt sich zurzeit in der Unter-                    Mehr Verständnis: Botschafter Geng.                22 Wer hat’s erfunden?
nehmenswelt ab. Soeben hat der chinesische                                                                             		 Kampf ums geistige Eigentum
Technologiekonzern Huawei ein neues Mobil-                          über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede          24 China gestern und heute
telefon vorgestellt, das, wie jeweils üblich, tech-                 zwischen den beiden Ländern und über die           		 Eindrückliche Veränderung
nische Verbesserungen bietet; aber diesmal ist                      wichtigsten Abschnitte der Entwicklung Chin-       27 Huaweis 5G-Powerplay
es anders. Es geht nicht nur um schönere Bild-                      as. Geng ist der Ansicht, dass das ­Verständnis    		 Der Handy-Champion in der Schweiz
schirme oder bessere Kameras, sondern auch                          für sein Land im Westen zugenommen hat, er
                                                                                                                       28 Beharrliche Aufholjagd
darum, dass sich eine chinesische Spitzenfirma                      sagt im Interview aber auch klar, wo er in Medi-
                                                                                                                       		 Manager David Syz
von der Welt des international tonangebenden                        enberichten Verzerrungen sieht. Seite 10
amerikanischen Riesen Google löst und eigen-                                                                           29 Wie stabil ist der erwachte Riese?
ständigere Wege geht. Bisher wurde Huawei,                          Zum Jubiläum der Volksrepublik liegt auch          		 Nach der Wachstumsparty
wie alle Marken, die das Android-Betriebssys-                       die Frage auf der Hand, wie sich das Leben für     30 Beginn eines besseren Lebens
tem einsetzen, von Google mit Zusatzdiensten                        einen «normalen» Chinesen in den letzten           		 Shi Minghuas Karriere
und Anwendungen versorgt. Im Mai verhängte                          siebzig Jahren verändert hat. Der 67-jährige       32 Der Wille, es zu schaffen
die US-Regierung aber einen Boykott gegen                           Shi Minghua aus Schanghai war für ein Ge-          		 Der Bühler-Konzern in China
Huawei: US-amerikanische Firmen wurden als                          spräch mit Elisabeth Tester bereit und hat sie     34 Bundesrat Guy Parmelin
Zulieferer von Chips oder Software (zum Bei-                        in seiner gemütlichen Wohnung äusserst zu-         		 Zuerst kamen die Uhren
spiel Google) blockiert. Nun tritt Huawei eben                      vorkommend empfangen und bewirtet. Das
mit eigener Handy-Ausstattung in den Markt.                         Gespräch zeigt die vielen interessanten Paral-
Im Grunde zielt der Boykott der USA auf die                         lelen zwischen seinem Leben und der Ent-           Impressum
neue schnelle Netzwerktechnologie 5G, bei der                       wicklung des Landes auf Seite 30.
                                                                                                                       Herausgeberin: Weltwoche Verlags AG,
Huawei einen Vorsprung hat. Das Powerplay                                                           Ihre Weltwoche     Förrlibuckstrasse 70, Postfach, 8021 Zürich
des Konzerns ist Thema auf Seite 27.                                                                                   Die Weltwoche erscheint donnerstags.
                                                                                                                       Redaktion: Telefon 043 444 57 00, Fax 043 444 56 69,
                                                                                                                       E-Mail-Adressen: vorname.name@weltwoche.ch,
In der Schweiz ist das Chemie-Unternehmen                                                                              leserbriefe@weltwoche.ch
Ems bekannt als eine der ertragsstärksten In-                                                                          Verlag: Tel. 043 444 57 00, Fax 043 444 56 07,
                                                                                                                       E-Mail: verlag@weltwoche.ch
dustriegruppen. Weniger bekannt ist, dass der                                                                          Internet: www.weltwoche.ch
Umbau dieses Konzerns vom Textilfaserge-                                                                               Abo-Service: Tel. 043 444 57 01, Fax 043 444 50 91
schäft zum Hersteller von modernen Kunst-                                                                              E-Mail: kundenservice@weltwoche.ch
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stoffen eng mit China zusammenhing. Kon-                                                                               Schnupperabonnement Inland Fr. 38.— (inkl. MwSt.)
zernchef und Eigentümer Christoph Blocher                                                                              Weitere Angebote für In- und Ausland unter
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unternahm 1985 mit der ganzen Familie eine
Reise nach China, um da die Nachfrage nach                                                                             Gründer: Karl von Schumacher (1894–1957)
Kunststofffaser-Fabriken zu sondieren. Die                                                                             Verleger und Chefredaktor: Roger Köppel
                                                                                                                       Chefredaktion: Philipp Gut (Stv.),
Reise wird hier anschaulich beschrieben. Und                                                                           Beat Gygi (Wirtschaft)
das Ergebnis war, dass Ems in China schliess-                                                                          Produktionschef: Lukas Egli
lich über hundert Textilfabriken baute und ab-
                                                                                                                       Verlagsleiter: Sandro Gianini
lieferte. Seite 6
                                                                                                                       Die Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise
Wie vermittelt ein chinesischer Botschafter der                                                                        oder in Ausschnitten, ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung
                                                                                                                       der Redaktion gestattet.
Bevölkerung in seinem Gastland, welche Be-                                                                             Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine
deutung dem Siebzig-Jahr-Jubiläum der                                                                                  Haftung übernommen.
­Volksrepublik zukommt? Wir sprachen mit
                                                                                                                       Der Weltwoche-Inhalt ist gedruckt auf Recyclingpapier,
 Geng Wenbing, der China in Bern vertritt, über                                                                        das aus 100 % Altpapier hergestellt wird.
 die Nationalfeiertage der Schweiz und Chinas,                                                                         Es schont Ressourcen, Energie und somit die Umwelt.

China Spezial Nr. 39.19                                                                                                                                                               3
Cover: Jon Berkeley für die Weltwoche; Bild Intern: Caspar Martig
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Editorial

Wie weiter
mit China?
Ein Besuch bei Nick Hayek
und ein Gespräch über
dieses faszinierende Land.
Von Roger Köppel

K      ürzlich war ich im wunderschönen neuen
       Sitz der Swatch Group in Biel, gleich
­neben dem altehrwürdig-industrieklassizisti­
 schen Hauptquartier der Uhrenmarke Omega,
 die mich seit der Konfirmation am Handge­
 lenk begleitet.
     Von einer Empore herab grüsst Nick Hayek,
 der Chef, der 150 Millionen Franken in diese
 drachenartige Zauber-Holzkonstruktion in­
 vestierte. Der Bau erinnert auch etwas an ein
 Raumschiff, allerdings an ein biologisch abbau­
 bares. Nach einer kurzen Führung setzen wir        «Heuchlerische Kritik»: Unternehmer Hayek in einem Swatch-Geschäft in Schanghai.
 uns in einem Sitzungszimmer an einen Tisch
 und kommen auf das zentrale Thema: China.          klären Sie einem Afrikaner, der kein Wasser,       sich aus seiner Sicht gegen die Verletzung
     Hayeks Milliarden-Unternehmen ist seit         keinen Strom und keine Medikamente hat,            ­internationaler Handelsregeln wehrt. Aller­
 den achtziger Jahren in China unterwegs. Da­       warum er die chinesischen Investitionen ab­         dings scheint die China-Politik der USA zur­
 mals baute Vater Nicolas mit Hayek Enginee­        lehnen sollte, weil sie von einem bösen,            zeit eher ein etwas kurzsichtiges Manöver, das
 ring ein Stahlwerk. Heute ist das Land ein         ­autoritären Land kommen – und stattdessen          von den nicht so leicht zu beseitigenden Struk­
 wichtiger Abnehmer von Uhren und anderen            doch, bitte schön, auf Almosen aus dem demo­       turschwächen der eigenen Wirtschaft auf den
 Produkten des Hauses. Hayek ist ein unkon­          kratischen Europa warten solle. Heuchleri­         äusseren Gegner ablenken soll.
 ventioneller Denker, weltweit tätig. Kopf­          scher geht’s nicht.»                                   In einem solchen Weltklima wirtschafts­
 schüttelnd erzählt er von der «heuchlerischen           Hayek hat recht. Der westliche Blick auf      kriegerischer Zuspitzung kommt auch die
 Kritik» an China.                                   ­China scheint derzeit verzerrt, eingetrübt von   neutrale Schweiz unter Druck – von aussen
     Vieles, was er sagt und später in Interviews     ­einem angekränkelten Selbstvertrauen. Dazu      und innen. Es gibt viele laute, wenn auch unbe­
 auch wiederholen wird, steht quer zum china­                                                           rufene Stimmen, die einen härteren Ton ge­
 skeptischen Mainstream in der Schweiz. Unse­       Hayek hat recht. Der westliche                      genüber China fordern. Es wäre für die Schweiz
 re Zeitungen sind seit Monaten voll mit ver­                                                           ein Kapitalfehler, sich in den Chor dieser
 schwörungstheorieartigen Berichten über
                                                    Blick auf C
                                                              ­ hina scheint                            ­Konfrontationsopportunisten einzureihen.
 angebliche Weltbeherrschungspläne der Chi­         derzeit verzerrt.                                       Die Schweiz hat einen riesigen Trumpf in
 nesen mit ihrer Seidenstrasse. Im Bundeshaus                                                             der Hand – ihre Neutralität. Neutralität ist das
 werkeln zahlreiche Politiker an neuen Ge­          kommt eine merkwürdige Überheblichkeit,               Recht des Kleinstaats, sich aus dem Streit der
 setzen, die China den Erwerb von Unterneh­         die kein Zeichen von Stärke, eher von Schwä­          anderen herauszuhalten. Neutralität läuft hi­
 men in der Schweiz erschweren sollen.              che im Umgang mit dem aufstrebenden Land             naus auf eine Aussenpolitik, die eher zuhört
     Natürlich betreibe China auch Machtpoli­       bedeutet, das sich innerhalb von nur vierzig         als austeilt, die freundlich und respektvoll mit
 tik, sagt der Unternehmer, aber anders als bei     Jahren von einem Armenhaus zu einem                  allen umgeht, auch wenn man ihre Stand­
 den USA habe er nicht den Eindruck, dass die       relativen bescheidenen Wohlstand hoch­
                                                    ­                                                    punkte nicht immer teilt. In einer Zeit, da alle
 Chinesen anderen Völkern ihren way of life         gearbeitet hat.                                      mit allen streiten, ist der Neutrale im Vorteil.
 ­aufdrücken möchten. Chinesische Unterneh­           Auch dazu hat Hayek eine überraschende             Die Schweiz kann als Oase der Verständigung
  mer seien langfristig orientiert, das schnelle    Diagnose parat: China sei nicht einfach auf­         besser wirken, als wenn sie sich auch noch zum
  Geld zähle weniger, da würden nicht einfach       grund tiefer Löhne nach oben gekommen,               Lautsprecher billiger Vorhaltungen gegen­
  Firmen gekauft, filetiert und dann mit Speku­     sondern in letzter Zeit zusehends auch durch         über China macht.
  lationsabsicht an der Börse verscherbelt.         Innovationskraft mit starken eigenen Produk­            Die Schweiz war ein Pionier bei der Aner­
     Auch das chinesische Engagement in Afrika      ten auf der Grundlage eines sehr grossen             kennung des modernen China vor knapp
  sieht Hayek gelassen. Es sei doch pure Heuche­    Heimmarkts. Es wäre demnach ein Fehler, in           ­siebzig Jahren. Sie kann heute wieder Pionier­
  lei, wenn die gleichen Länder, die früher in      China nur die Masse billiger Arbeiter zu sehen.       arbeit leisten, indem sie den Beweis erbringt,
  China Opiumkriege angezettelt oder gigan­         Das Land hat eine grosse Tradition technolo­          dass gute Beziehungen auf der Basis einer
  tische Kolonialreiche auf der Welt betrieben      gischer Erfindungsfantasie, die nach dem Ab­          jahrzehntelangen freundschaftlichen Verbun­
  hätten, heute den Chinesen verbieten wollten,     fall von Maos Kommandokommunismus akut                denheit ­erfolgreicher sind als der Versuch, die
  in Afrika Strassen, Spitäler, Strom- und Schie­   wieder auflebt.                                       Chinesen daran hindern zu wollen, einen
  nennetze aufzubauen.                                Alle gegen China – die Stimmung wird na­            Wohlstand zu erzielen, den wir im verwöhn­
     Noch pointierter formuliert er es später in    türlich auch durch die Vereinigten Staaten an­        ten Westen längst als Exklusivprivileg für
  einem Interview mit der Aargauer Zeitung: «Er­    geheizt. Präsident Trump hat recht, wenn er           selbstverständlich nehmen.

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                                                                                                                                               Bild: SWATCH
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
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Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Willkommen: Familie Blocher mit Magdalena, Markus, Rahel, Christoph, Miriam und Silvia (v.l.) vor der neuen Synthesefaser-Anlage in Foshan, 1985.

Wie sich die Retter von China
selber retteten
Das Bündner Chemieunternehmen Ems hat im aufstrebenden China über hundert Textilfabriken
­gebaut und mit dem Ertrag daraus den eigenen Wandel zum modernen Kunststoffhersteller bewältigt.
 Es war eine Rettung für beide Seiten. Von Christoph Blocher
Eine Geschäftstätigkeit auf dem chinesischen      von Synthesefasern, mehr und mehr nach             Produktion und Marktaufbau – des Unterneh-
Festland war für Ausländer bis Anfang der         ­Asien verschob. Für Ems war klar: Man kann        mens investiert werden. Für Ems wurde es ein
1980er Jahre praktisch ausgeschlossen. Chine-      nicht in Europa, vor allem nicht in der teuren    Kampf um Leben und Tod.
sische Kontakte waren auf Taiwan beschränkt.       Schweiz und auf keinen Fall in der transport-       Heute darf man sagen, dass diese Strategie
Als dann zu Beginn der achtziger Jahre die       mässig ungünstigen Bergregion Graubünden            erfolgreich und damit richtig war. All die euro-
Volksrepublik China mit ihren weit über einer    – dem Standort von Ems – Synthesefasern pro-        päischen Firmen, die im Fasergeschäft ver-
Milliarde Menschen auch für Ausländer geöff-     duzieren, wenn die Kunden mehr und mehr in          harrten und glaubten, den Asiaten die Stirn
net wurde, drängten die Industriestaaten auf     Asien beheimatet sind. Diese Erkenntnis galt,       bieten zu können, gingen unter. Sogar die
diesen Markt, an vorderster Front die Ameri-     noch bevor das grosse China auf die Weltmärk-       damals weltgrösste deutsche Chemiefirma
                                                                                                     ­
kaner, dann die Japaner und die Europäer. Das    te trat. Ems entschloss sich daher umzustellen,     Hoechst, der Marktführer, mit der wunderba-
neue Marktumfeld kam auch für die                das bedeutete aus der Faserproduktion auszu-        ren Synthesefaser Trevira überlebte nicht.
Ems-Gruppe im Kanton Graubünden gelegen.         steigen und in das völlig neue Gebiet der poly-     Schmerzvoll war auch, als 2009 die schweizeri-
Es wurde daraus eine grosse Sache zum Wohl       meren Werkstoffe einzusteigen.                      sche Kunstgarnfirma Viscosuisse mit Stand­
Chinas und der Schweiz.                              Allerdings galt es, das beachtliche wertvolle   orten in Emmenbrücke und im St. Galler
                                                 Know-how für gute Textilfasern zu nutzen,           Rheintal bankrottging.
I. Wie es dazu kam _ Ems war bis in die          das heisst dieses nach Asien zu lizenzieren und
1970er Jahre hauptsächlich in textilen Synthe-   dort Produktionsfabriken zu verkaufen. Ems          Wir hatten Glück!
sefasern (Nylon und Polyester) tätig. Aber be-   tat dies erfolgreich in Taiwan, in Thailand, auf    Chinas Öffnung wurde für diese Firmen zum
reits damals war klar erkennbar, dass diese      den Philippinen, in Südkorea, in Vietnam –          Schock. Scharf zeichnete sich ab, dass Europa
Produkte auf die Länge in Europa keine           ­also in den grossen Massentextilländern. Das       kein Massentextilproduktionsstandort sein
­Chance haben würden, da sich die ganze Mas-      Geld aus dem Anlagenbau sollte für die Neu-        kann, was auch für den betreffenden Rohstoff
 sentextilindustrie, das heisst die Abnehmer      ausrichtung – für Forschung, Entwicklung,          – eben S
                                                                                                            ­ ynthesefasern – galt. Für Ems wurde

6                                                                                                                               China Spezial Nr. 39.19
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
Chinas Öffnung zur Chance: Ein Riesenmarkt         Auf Schiffen, im Zug, stehend auf Lastwagen        Die Grösse der Kleider spielt ja auch eine Rolle.
für den Bau von Faseranlagen tat sich auf.         und, im Süden, in von Hongkong herbeige-           Wieder wurde ein Mittelwert genommen.
  So schloss Ems bereits Anfang der 1980er         schafften Minibussen bereisten wir das riesige     Gleichzeitig erhielten die beiden Älteren die
Jahre einen ersten Vertrag für den Bau einer       Land. Es war eine langsame, sehr holprige          Aufgabe, zu berechnen, wie viele Tonnen Syn-
Grossanlage zur Herstellung von Polyamid­          Fahrt. Die Strassen waren sehr schlecht, zum       thesefasern es braucht, wenn alle 1,3 Milliarden
fasern (Nylon) in der noch sehr rückständigen      Teil so dicht mit Velos befahren, dass man die     sich ein Tschöpli und ein Paar Hosen neu an-
Volksrepublik China – damals ein Entwick-          Strasse nicht sehen konnte. Hupend bahnte          schaffen. Die Jüngeren bekamen die Auf­gabe,
lungsland – ab. Das hiess, wir stellten eine       sich der chinesische Fahrer einen Weg durch die    zu erfragen, wie viele Jahrestonnen eine moder-
schlüsselfertige moderne Produktionsanlage         «trampelnde» Schar. Autos gab es damals in         ne Produktionsanlage produziere und was die-
in Xinhui (Provinz Guangdong) auf, garantier-      China kaum. Die Waren wurden getragen oder         se ungefähr koste.
ten die Produktionsqualität, die Termine, die      auf den schwer und massiv gebauten Fahr­
Investitionskosten, stellten die Finanzierung      rädern transportiert. Meist mehrere Personen,      Lob vom Handels- und Finanzminister
über schweizerische Banken sicher und bilde-       oft ganze Familien sassen darauf, beladen mit      So entstand schliesslich ein Businessplan für
ten chinesische Ingenieure und ihr Hilfsperso-     unförmigen Kisten, mehreren Hühnerkäfigen,         die nächsten zwanzig Jahre. Mit unseren Be-
nal zum Betrieb der Anlage aus. Die Schulung       lebenden Schweinen.                                rechnungen kamen wir auf 120 grosse Synthe-
erfolgte hier in der Schweiz in den Fabrikan­         Die Menschen waren ausserordentlich             sefabriken, was eine Finanzierung von sechs
lagen in Domat/Ems.                                schlank, was auf knappe Ernährung schliessen       Milliarden nötig machte. Mein Beschluss stand
  Wir hatten Glück! Das Abenteuer gelang.          liess, trugen Hüte aus Reisstroh und ­weite,       fest: Diese Fabriken wollte ich bauen und lie-
Die Faserfabrik in Xinhui wurde zu einer Vor-      dunkelblaue, baumwollene Hosen und Jacken          fern. Und siehe da: Bis 2003 bauten wir in China
zeige- und Referenzanlage. Sie wurde in ganz       (im Westen als Mao-Look bekannt). In den           117 grosse Synthesefaserfabriken und schafften
China bekannt und bewundert.                       ­abgelegenen Gebieten waren wir «Lang­nasen»       dadurch die Umstellung auf polymere Werk-
                                                    die grosse Attraktion. Die Leute liefen zu­       stoffe in Domat/Ems. Einen genaueren Busi-
II. Reise 1985 _ Im Frühjahr 1985 eröffnete ich     sammen, prüften eigenhändig, ob die blonden       nessplan als diesen, den meine vier Schulkinder
meiner Frau, es sei nun dringend, dass ich für      Haare unserer Kinder echt seien. U
                                                                                     ­ nsere Jüngs-   erarbeitet hatten, habe ich nie mehr gehabt.
drei bis vier Wochen durch ganz China reisen       te weigerte sich, ohne Hut w­ eiterzureisen.         Als ich 2007 als Bundesrat im Zusammen-
würde, um den Markt kennenzulernen, denn                                                              hang mit Terrorismusbekämpfung in China
die neue, sehr fortschrittliche Regierung wolle    III. Das wirtschaftliche Konzept _ Armut           weilte, begrüssten mich plötzlich nicht nur der
das Land nun wirtschaftlich voranbringen. Die-     zeigte sich überall. Das Land war durch den        Sicherheits- und Justizminister, sondern auch
se Gelegenheit sei für Ems günstig.                Kommunismus heruntergewirtschaftet. Was            der Handels- und Finanzminister. Sie waren
   Meine Frau erschrak und erhob Einspruch:        brauchen Menschen in einer solchen Situation?      des Lobes voll, dass Ems der wirtschaftlichen
«Wir haben seit fünf Jahren keine Ferien mehr      Mehr zu essen und ein zweites Kleid. Mehr zu       Tätigkeit der Chinesen so früh das Vertrauen
gehabt, und du hast uns versprochen, in diesem     essen, das hiess mehr pflanzen. Doch in C
                                                                                           ­ hina     geschenkt habe. Solch positive Taten –
Jahr gemeinsam mit der Familie Ferien zu ma-       war schon damals jeder Quadratzentimeter Bo-       allerdings auch negative – vergessen die
                                                                                                      ­
chen!» Sie hatte recht.                            den für die Produktion von Lebensmitteln und       ­Chinesen nie.
   So machten wir aus der Not eine Tugend und      Baumwolle besetzt. Die Landwirtschaft war
bereisten mit der ganzen Familie für vier Wo-      maschinell rückständig, aber intensiv.             V. Vom China Anfang der 1980er Jahre zum
chen die Volksrepublik China. Wir, meine Frau         Mir wurde immer klarer, dass die Chinesen       heutigen Stand _ China kam aus der strikt so-
                                                   für ihre zunehmenden eigenen Bedürfnisse,          zialistischen, kommunistischen Staats­
Zugegeben: Der Anfang                              aber auch um den erwarteten Export an billigen     wirtschaft. Weil diese, wie überall in so­
                                                   Textilien zu decken, eine rasch wachsende Tex-     zialistischen Ländern, nicht funktionierte und
einer Geschäftstätigkeit ist                       tilindustrie für Synthesefasern brauchten. Da      die Menschen verarmten, entschloss sich China
schwierig.                                         zeichnete sich für Ems ein zukunftsträchtiges      für die mehr oder weniger freie Marktwirt-
                                                   Geschäftsmodell rasch ab: der Verkauf von          schaft, aber auch dafür, politisch den Sozialis-
Silvia mit den Kindern Magdalena (sechzehn-        schlüsselfertigen Fabrikanlagen für qualitativ     mus aufrechtzuerhalten. 80 Prozent der Chine-
jährig), Markus (vierzehnjährig), Miriam (zehn-    hochwertige Textilfasern nach dem Vorbild der      sen waren Bauern, China ein Entwicklungsland.
jährig), Rahel (achtjährig) und ich, wurden be-    Fabrikanlage in Xinhui.                            Schmutz, Knappheit, Armut und vieles, was
gleitet von einem Tross aus Ingenieuren,                                                              nicht funktionierte, herrschten vor. Die Land-
Dolmetschern und chinesischen Verbindungs­         IV. Der Businessplan _ Während sich die            wirtschaft war reine Handarbeit, Felder eher so
leuten aus Hongkong. Unsere gemeinsamen            künftige Marschrichtung auf dieser China­reise     gross wie Gartebeetli. Im Süden – einem subtro-
«Ferien» begannen mit einer Schifffahrt von        erhärtete, galt es, einen Businessplan für die     pischen Klima – gab es viele Früchte, Reis und
Hongkong nach Xinhui, zusammen mit vielen          kommenden Jahre zu erarbeiten. Dies taten un-      Gemüse. Die Lebensmittel wurden staatlich
Chinesen, die sich in Hongkong mit Luxus­          sere vier Kinder, die damals im Alter zwischen     mittels Coupons verteilt. Die Chinesen hatten
gütern eingedeckt hatten.                          acht und sechzehn Jahren waren:                    knapp zu essen, aber Hungernde – wie wir dies
  Wir waren daran, in unbekannte Gebiete vor-        Am ersten Abend bekamen sie die Aufgabe,         später zum Beispiel in Nordkorea erlebt haben
zustossen. Denn die Regierung wollte vor allem     herauszufinden, wie viele Chinesen in China le-    – bemerkten wir nicht. Verkaufen konnten die
zurückgebliebene Regionen erschliessen. Dank       ben. Sie konnten sich ja beim Begleittross – den   Bauern ihre Produkte bis zu ­diesem Zeitpunkt
der vorbildlichen Fabrikanlage in Xinhui eilte     Chemikern, Ingenieuren, Dolmetschern, Chi-         nur an den Staat.
uns ein guter Ruf voraus, und der B
                                  ­ esuch dieser   nesen und Schweizern – erkundigen.                    Dann erfolgte rasch eine Wende. Märkte wur-
Gebiete wurde uns er­möglicht. Überall wurden        Am zweiten Abend einigten wir uns auf 1,3        den zugelassen. Jeden Morgen strömten Hun-
wir mit grossem Aufwand willkommen ge-             Milliarden Chinesen. Nun galt es, herauszufin-     derttausende von Bauern mit ihren Waren und
heissen. So prangte zum Beispiel ein grosses       den, wie viel Gramm Synthesefasern ein Hemd        Tieren auf den Markt – beispielsweise nach
Spruchband über der Strasse am Eingang einer       und eine Hose brauchten.                           Schanghai. Ein imponierendes, farben­frohes
Stadt: «Die Retter von China aus der Schweiz         Am dritten Abend brachten die Kinder ihre        ­Ereignis. Später wurden die an Hochschulen
sind willkommen.»                                  verschiedenen Zahlen für den Faseranteil vor.       ausgebildeten Ingenieure – die Ausbildung in

8                                                                                                                                  China Spezial Nr. 39.19
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
China erwacht: Unternehmer Blocher (l.) beim Baustellenbesuch.

«Trampelnde» Schar: romantische Agrarwirtschaft, Mitte der 8oer.            Unbekannte Gebiete: die Blochers unterwegs in China.

Naturwissenschaften hatte grosses Gewicht –         – ist das 1980 praktisch bankrott gewesene       fang einer Geschäftstätigkeit ist schwierig,
nach Amerika zur Weiterbildung geschickt.           Land zum B ­ eispiel im Automobilbau die Num-    kompliziert und zeitaufwendig. Aber wenn
Jetzt sprachen sie Englisch, was für uns hilf-      mer eins. China hat Japan, die USA und Europa    man den Zugang zu den Menschen hat, ist es
reich war. Sie begannen schnell, ­industriell zu    darin zahlenmässig überholt. Die grössten        für uns Schweizer einfach, mit Chinesen zu
arbeiten. China öffnete sich für ausländische In-   ­Automessen der Welt finden in China statt.      ­geschäften. Grundlage ist das persönliche Ver-
vestitionen – Amerikaner, Deutsche, Japaner er-                                                       trauen. Wenn man dieses nicht missbraucht,
richteten in China früh Autowerke, an denen         Das andere China                                  gibt es lebenslange Freundschaften. Ich habe
allerdings eine mass­gebliche chinesische Betei-    Für Textilfasern, Textilmaschinen, Eisen­         viele sehr dicke Verträge abgeschlossen, aber
ligung vorgeschrieben war.                          bahnen, Elektronik und vieles mehr brauchen       nie einen Vertrag geöffnet, denn das Vertrauen
                                                    die Chinesen keine fremde Hilfe mehr. Auch in     – nicht das Recht oder viele Juristen – war die
VI. Die Chinesen _ Die Chinesen sind sehr           der Technologie, Digitalisierung, Robotertech-    Grundlage. Und das ist auch heute noch so.
­arbeitsam, interessiert und sparsam. In dieser     nik spielt China ganz vorne mit und hat erst         Ein Geschäftsmann tut gut daran, sich an die
 Beziehung sind sie uns Schweizern ähnlich. Da-     noch den Vorteil eines eigenen, riesigen Mark-    alte Regel zu halten, die ich vor allem auch un-
 rum hatten die Chinesen stets eine hohe Spar-      tes mit über 1,5 Milliarden Konsumenten.          seren Verkäufern mitgegeben habe. «Ihr könnt
 quote, was dem Land beim marktwirtschaftli-          Die Bilder chinesischer Städte, deren Sil-      über alles reden. Aber über drei Dinge nicht:
 chen Aufbau sehr zugutekam. Die Auffassung,        houetten von amerikanischen Städten kaum          nicht über Religion und Politik und nicht über
 China sei nur vorangekommen wegen tieferer         zu unterscheiden sind, sind allerdings nicht      Hunde.» Die Erfahrung zeigt, dass es in dieser
 Löhne, ist zu einfach. Natürlich war dies an-      repräsentativ für ganz China. 60 Prozent der      Beziehung gerne Streit gibt, der dann einer­
 fänglich ein Vorteil im Export. ­Bereits heute     Chinesen leben auf dem Land, wo China noch        ­geschäftlichen Tätigkeit nicht förderlich ist.
 aber gehört China nicht mehr zu den lohngüns-      weitgehend ein Entwicklungsland ist. Aber          So haben wir es auch in China gehalten.
 tigsten Ländern. Der Lebensstandard ist in den     die restlichen 40 Prozent Chinesen machen
 letzten vierzig Jahren enorm gestiegen. Den        600 Millionen aus, das ergibt einen Riesen-
                                                                                                     Alt Bundesrat Christoph Blocher war bis zu seiner Zeit
 Chinesen geht es viel besser.                      markt.                                           in der Landesregierung (2003–2007) Eigentümer und
   Die Chinesen sind aber auch innovativ. Ihre                                                       Konzernchef der Ems-Chemie. Er ist zudem langjähriger
 Forschung und Entwicklungsfähigkeit sind           VII. Der Zugang zu den Menschen _ Ich            ­Spitzenpolitiker der SVP und Initiant des erfolgreichen
                                                                                                      Referendums 1992 gegen den EWR-Beitritt. Die
 nicht zu unterschätzen! Heute – also vierzig       wurde oft gefragt, wie denn die Chinesen als      ­Unternehmen der Ems-Gruppe sind heute im Eigentum
 Jahre nach der Öffnung für die Marktwirtschaft     Geschäftspartner seien. Zugegeben: Der An-         und unter der Führung der Kinder.

China Spezial Nr. 39.19                                                                                                                                    9
Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
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Chinas Verwandlung Von der Revolution zur Grossmacht: Die Volksrepublik ist 70 Mit Geng Wenbing, Nick Hayek, Guy Parmelin, Harro von Senger ...
«Weg der friedlichen Entwicklung»
Geng Wenbing hat als Botschafter Chinas in der Schweiz zur intensiveren Z   ­ usammenarbeit der beiden Länder
beigetragen. Mit Blick auf die Weltpolitik kritisiert er die E
                                                             ­ inmischung des Westens in Chinas
­Angelegenheiten, auch durch internationale Organisationen. Von Beat Gygi und Roger Köppel

 Wenn nächstens der 70. Geburtstag der Volks-
 republik China gefeiert wird, ist aus heutiger
 Sicht fast unvorstellbar, wie das Land damals
 aus Krieg und Zerstörung heraus gegründet
 wurde und dann nach Entwicklungsmöglich-
 keiten suchte. Die Schweiz war von Anfang an
 nah am Geschehen, nur Monate nach der
 Staatsgründung hat sie als eines der ersten
 Länder China diplomatisch anerkannt. Als in
 den achtziger Jahren der chinesische Auf-
 schwung begann, zählten die Schweizer zu
 den ersten Entwicklern und Investoren, später
 auch bei der Einrichtung von freiem Handel.
      Geng Wenbing, seit Februar 2016 ausseror-
 dentlicher und bevollmächtigter Botschafter
 der Volksrepublik China in der Schweiz,
 spricht hier über die eindrückliche Entwick-
 lung seines Landes und dessen Zusammen-
 arbeit mit der Schweiz. Dem Leserpublikum
 ist er schon bekannt, denn aus Anlass des
 ­Jubiläums der Volksrepublik China legt er
  ­dieses Jahr in der Weltwoche monatlich in ei-
   ner Kolumne die chinesische Sicht zu promi-
   nenten Themen dar. Vor seinem Wechsel
   nach Bern war er in anderen Ländern diplo-
   matisch tätig und schliesslich Generaldirek-
   tor des Amtes für Disziplinaraufsicht im
   ­chinesischen Aussenministerium, das in der
    Antikorruptionskampagne eine wichtige
    Rolle spielt. Wir treffen ihn in seiner Resi-
    denz in Bern. Konversation ist auch auf Fran-
    zösisch möglich, hat er doch einen Hoch-
    schulabschluss in französischer Literatur.

 Herr Botschafter, am 1. Oktober ist der
 70. Geburtstag der Volksrepublik China.
 Ist es heute von Bedeutung, dass die
 Schweiz 1950 als eines der ersten Länder
 China diplomatisch anerkannt hat?
   China legte grossen Wert auf die guten Bezie-
   hungen zur Schweiz. Dass diese zu den ers-
   ten Staaten zählte, die China diplomatisch
   anerkannt haben, und dass sich die Bezie-
   hungen zwischen den beiden Ländern seit-
   dem sehr gut entwickeln, schätzen wir sehr.
 Ist das in China in der breiten Bevölke­
 rung bekannt oder nur unter Diploma­
 ten, Politikern und Akademikern?
   Im Volk ist dies nicht allen bewusst, aber
   die Schweiz gehört unter den vielen west-
   lichen Staaten zu den Ländern, die bei den
   Chinesen am beliebtesten sind.
 Werden Sie in der Schweiz auf das Jubi­
 läum angesprochen? In welcher Weise?
   Das Interesse an China ist heute weltweit be-    «Tendenz zu mehr Objektivität»: Botschafter Geng Wenbing.

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                                                                                                                Bild: Caspar Martig für die Weltwoche
merkenswert hoch. Immer mehr Medien be-                 ben und hat schon fassbare Erfolge erzielt.             den Arbeitsmarkt, die Finanzwirtschaft, den
    richten immer häufiger über das Land, in                Hinzu kommt der Aufbau der neuartigen                   Aussenhandel, die ausländischen Investitio-
    jüngster Zeit natürlich auch wegen der chi-             ­internationalen Beziehungen und der Schick-          nen, die allgemeinen Investitionen und die
    nesisch-amerikanischen Beziehung, die von                salsgemeinschaft der Menschheit. Beide               Wirtschaftsprognose s­ tabil zu halten. Diese
    Unsicherheit, Instabilität und Unvorherseh-              ­Konzepte erfreuen sich weitgehender Befür-          Massnahmen sind bereits sehr wirksam. Die
    barkeit geprägt ist. Das 70. Gründungs­                   wortung der internationalen Gemeinschaft. .         Konsumgüterpreise und damit die Inflation
    jubiläum feiern wir also vor dem Hinter-           War die Gründung der Volksrepublik China                   bleiben auf einem s­ tabilen Niveau, darüber
    grund eines internationalen Kräftemessens          vor siebzig Jahren ein revolutionärer Bruch                hinaus hat sich aber die Binnennachfrage
    sowie einer langfristigen und tiefgreifenden       oder eher die Fortsetzung der Geschichte                   nun zum Hauptmotor des Wirtschaftswachs-
    Transformation Chinas, das nach dem Errei-         des alten China?                                           tums entwickelt. Der ­Inlandkonsum machte
    chen der Unabhängigkeit und dem enor-                 Die Volksrepublik hat der alten chinesischen            letztes Jahr schon 76 Prozent des Wirtschafts-
    men wirtschaftlichen Aufschwung nun am                Nation ein neues Leben geschenkt. Gleichzei-            wachstums aus. Und wenn der Internationale
    Erstarken ist. So kommt bei Unterhaltungen                tig haben wir auch die alte chinesische Zivili-     Währungsfonds die Prognose für das globale
    mit schweizerischen Freunden die Rede                     sation geerbt und weitergeführt. China hat          Wirtschaftswachstum soeben auf 3,3 Prozent
    ­irgendwann wie von selbst auf China.                     eine sehr lange Zivilisationsgeschichte von         nach unten korrigiert, zugleich aber die Vor-
  Was interessiert Ihre Gesprächspartner                      mehr als 5000 Jahren. In der Periode vor der        aussage für die chinesische Wirtschaft leicht
  am meisten?                                                 Gründung der Volksrepublik jedoch, also vor         auf 6,3 Prozent erhöht hat, heisst das doch:
    Am ehesten die chinesische Aussenpolitik.                 1949, war es einst ein halbkoloniales und           Die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung in
    Unternehmer interessieren sich auch spe-                  halbfeudales Land, und vor und während des          China ist positiv.
     ziell für die chinesisch-amerikanischen                  Zweiten Weltkrieges litt China lange unter        Was wäre für China eine unannehmbare
     Wirtschafts- und Handelsbeziehungen,                     ausländischen Aggressionen. Erst nach 1949        Forderung Trumps? Wo ginge er zu weit?
     denn diese betreffen ja auch ihre eigenen                stand das chinesische Volk im wahrsten Sinne        Zu jeglicher Einmischung in interne Angele-
     Interessen. Etliche Medien griffen auch                  auf, nachdem die Kommunistische Partei die          genheiten Chinas sagen wir nein. China wird
     heftig debattierte interne Themen Chinas                 Regierung übernommen hatte. Bezüglich               auf keinen Fall ein Abkommen akzeptieren,
     auf, beispielsweise die Lage in Xinjiang                 Gesellschaftssystem und Entwicklungsweg             das die Souveränität und Würde des Landes
     oder Hongkong.                                           haben wir nach einem von Erfolg gekrönten           untergräbt. Wenn die USA ein Abkommen
  Wie empfinden Sie die Medienberichte                        Weg gesucht und diesen auch gefunden.               unterzeichnen möchten, müssten sie die zu-
  über China?                                          Was empfinden Sie als Vertreter Chinas, wenn               sätzlichen Strafzölle aufheben. Ein gegensei-
     Alles in allem gibt es eine Tendenz zu            die gleichen Staaten, die früher als Invasoren             tiges Respektieren der Interessen ist nötig.
     mehr Objektivität in der Berichterstat-           gekommen waren, heute als moralische Auto­                 China will keinen Handelskrieg, aber wenn
     tung. Die Schweizer Medien berichten              ritäten auftreten und vorgeben wollen, wie Sie             die USA unbedingt einen möchten, sind wir
     nun zum Beispiel neutral darüber, wie die         mit Tibet oder Hongkong umgehen sollen?                    bereit, dem entgegenzutreten.
     USA einseitig Zölle auf Waren aus China                  Aus meiner persönlichen Sicht ist die Kritik      Kann aus einem Handelskrieg ein richtiger
     verhängen wollen und wie sich Trumps                     der westlichen Länder meist ideologisch be-       Krieg werden?
     Handelspolitik auswirkt.                                 gründet. Mit Blick auf die Taiwan-Frage, auf        Nein.
  Wie erklären Sie den Schweizerinnen und                     Tibet oder jüngst Xinjiang und Hongkong ist       China ist mit seinen grossen Summen an
  Schweizern, was die wichtigsten Aspekte                     für uns klar, dass sich die USA und einige        US-Staatspapieren quasi der Geldgeber der
  des chinesischen Jubiläums sind?                            westliche Länder von aussen eingemischt           USA, ist das ein Drohpotenzial, das man
     In den vergangenen siebzig Jahren ist es                 ­haben. Dabei geht es nicht mehr einfach um       ausspielen kann?
     China gelungen, die soziale Stabilität und                unterschiedliche politische Auffassungen,          China will keinen Handelskrieg und beson-
     die wirtschaftliche Entwicklung gleich­                   sondern vielmehr darum, dass die USA den           ders keinen Finanzkrieg mit den Vereinig-
     zeitig zu realisieren, und dabei hat das                  Aufstieg von China behindern wollen. Was           ten Staaten führen. Sollte sich der Konflikt
     Land entschlossen und unbeirrt am Ent-                    westliche Invasoren vor hundert Jahren ange-       auf den Finanzsektor ausweiten, hätte er
     wicklungsmodell festgehalten, das den                     richtet hatten, war zwar eine Katastrophe für      unvorhersehbare Auswirkungen auf die
     ­eigenen Gegebenheiten entsprach. Insbe-                  das chinesische Volk, aber das ist Geschichte.     Weltwirtschaft. Wir sehen die Staatsanlei-
      sondere das rasante Wirtschaftswachstum                  Wir legen grösseren Wert auf die Zukunft.          hen der USA nicht als eine Waffe.
      innerhalb von vierzig Jahren führt China         Wenn westliche Länder heute als morali­                  Wer leidet denn eigentlich mehr unter der
      aus der absoluten Armut, und es entwickelt       sche Kritiker auftreten, empfinden Sie das               Auseinandersetzung: China oder die USA?
      sich zur zweitgrössten Volkswirtschaft der       nicht als Doppelmoral?                                     Die Vereinigten Staaten haben unilateral den
      Welt. Heute können 1,4 Milliarden Men-              Doch, das ist Doppelmoral, und nicht nur                Handelskrieg ausgerufen, der zwar tausend
      schen in bescheidenem Wohlstand leben.              aus meiner Sicht. 99 Prozent der einfachen,             Feinde fordert, aber nicht weniger Opfer in
      Nächstes Jahr kann sich China endgültig             normalen Chinesen sprechen sich gegen                   den eigenen Reihen. Es gibt keinen Sieger –
      von der ­absoluten Armut verabschieden.             ­eine Einmischung westlicher Länder in die              die Frage, wer mehr Schaden erleidet, ist sinn-
  Wie behandelt das erstarkende China                      inneren Angelegenheiten ihres Landes aus.              los. Doch der Handelsstreit lässt die Welt
  kleine Länder wie die Schweiz?                       Wie stark bremst denn der Handelskonflikt                  ­einerseits die hegemoniale Verhaltensweise
      In der Aussenpolitik folgt China nach wie vor    zwischen den USA und China eigentlich die                   der Vereinigten Staaten deutlich erkennen
      dem Weg der friedlichen Entwicklung. Es          chinesische Entwicklung?                                    und anderseits die Entschlossenheit Chinas,
      setzt sich ein für die Bewahrung des Weltfrie-       Der Handelsstreit zwischen China und den                den Multilateralismus und den Freihandel zu
      dens. In den letzten Jahren hat China einige         Vereinigten Staaten beeinträchtigt die
                                                           ­                                                       verfechten. Ein chinesisches Sprichwort be-
      positive internationale Initiativen sowie            ­Wirtschaft beider Länder wie auch die Welt-            sagt: Wer die Gerechtigkeit vertritt, findet viel
      Konzepte zur Kooperation lanciert. Vor al-               wirtschaft. In Bezug auf die chinesische Wirt-      ­Unterstützung, wer der Gerechtigkeit zuwi-
      lem die «Belt and Road»-Initiative (BRI) also            schaft sind die Auswirkungen jedoch unter            derhandelt, wird schliesslich isoliert sein. Im-
      die neue Seidenstrasse, wird zu einem aner-              Kontrolle und begrenzt. Wir haben sechs              mer mehr Menschen werden einsehen, dass
      kannt erfolgreichen Programm vorangetrie-                Stabilisierungsmassnahmen erlassen, um
                                                               ­                                                    die Zusammenarbeit und das Erreichen einer

China Spezial Nr. 39.19                                                                                                                                          11
Win-win-Situation den einzigen Weg dar-            Milliarden Dollar, zahlreiche Investitionspro-        einander-Teilens soll die internationale Zu-
   stellen, der in eine bessere Zukunft führt.        jekte wurden genehmigt, die Schweiz liegt auf         sammenarbeit intensiviert werden, so dass
 Im Westen macht man sich Sorgen um das               Platz neun der bei chinesischen Touristen be-         die sich entlang der Routen befindenden Län-
 Wachstum der chinesischen Wirtschaft,                liebtesten Destinationen in Europa. China en-         der sich gut entwickeln und alle davon profi-
 das momentan besonders niedrig ist. Ist              gagiert sich mit ganzem Herzen für die freund-        tieren können. Innovation, Öffnung und Zu-
 eine Rezession zu befürchten?                        schaftliche Zusammenarbeit und verpflichtet           sammenarbeit sollen intensiviert werden. Die
   Die chinesische Wirtschaft wird nicht in eine      sich zu gegenseitigem Respekt und gemeinsa-           Öffnung Chinas ist kein Solospiel, sondern
   Rezession geraten. Wir finden solche Be-           mem Gewinn. Bedauerlicherweise zeigt man              wir begrüssen alle, die daran teilhaben möch-
   sorgnisse nachvollziehbar, denn China hat          in der Schweiz manchmal ein ganz anderes Ge-          ten. Es geht dabei nicht um die Ausweitung
   eine grosse Bedeutung für die Weltwirt-            sicht. Vor allem wenn es um Fragen zu den             des geostrategischen Einflusses, wir möchten
   schaft. Im ersten Halbjahr war die Wirt-           Kern­interessen Chinas geht, achtet man in der        mit allen ­Ländern gemeinsam Projekte entwi-
   schaft trotz schwierigen internationalen           Schweiz manchmal das Empfinden der Chine-             ckeln.Einige Schweizer Firmen haben sich
   Umständen um 6,3% gestiegen, und die               sen nicht und behandelt sie unfreundlich.             der Initiative bereits angeschlossen und da-
   Wachstumsrate des verfügbaren Pro-Kopf-­          Können Sie Beispiele nennen?                           von profitiert. Die Schweizer Regierung, das
   Einkommens lag damit über der Wachs-               Vor kurzem hat die schweizerische Vertretung          Parlament und die Medien sollten bessere
   tumsrate des Bruttoinlandprodukts (BIP).           bei der Uno, ungeachtet des Standpunktes              Rahmen­bedingungen schaffen, damit sich
   Das Ziel für das reale Wachstum 2019 liegt         Chinas und der Tatsache, dass China und die           schweizerische Unternehmen noch mehr in
   zwischen 6 und 6,5 Prozent. Im ersten Halb-        Schweiz seit Jahren einen Menschenrechtsdia-          die Initiative integrieren können. Manchmal
   jahr wurde eine solide Grundlage dafür ge-         log führen, zusammen mit Vertretungen weite-          gehen günstige Chancen schnell vorbei.
   schaffen, auch eine ökologischere, denn der        rer 23 Länder dem Präsidenten des Uno-Men-         In der hiesigen Politik und Öffentlichkeit
   Energieverbrauch pro BIP-Einheit ist um 2,7        schenrechtsrates einen öffentlichen Brief          ist gegenüber chinesischen Investoren wei­
   Prozent gesunken.                                                                                     terhin Skepsis spürbar.
 Werden die Auseinandersetzungen mit den             «Es sind immer die                                    Dazu erhielt ich in jüngerer Zeit häufig
 USA die chinesische Wirtschaft verändern?                                                                 ­Fragen. Ich möchte darauf hinweisen, dass
   In den letzten Jahren wurde die chinesische
                                                     Vereinigten Staaten, die Chaos                         die chinesischen Investitionen nur 1 bis 2 Pro-
   Wirtschaftsstruktur im Rahmen der globa-          ­anrichten.»                                           zent der ausländischen Investitionen in der
   len Wertschöpfungskette ständig optimiert.                                                               Schweiz ausmachen. Es gibt keinen Grund
   Die Amerikaner haben die negative Handels-          übergeben. Darin machten sie China wegen             zur Sorge, dass Chinesen übermässig viel in-
   bilanz als Ausrede benutzt, um den Handels-         Xinjiang und Menschenrechten sowie anderen           vestierten. Die Schweiz hat gut acht Mil­
   krieg anzuzetteln. Doch sie wollen letztlich        innenpolitischen Angelegenheiten et cetera.          lionen Einwohner, und etwa 2000 Schweizer
   nicht das Handelsdefizit verringern, son-           bittere Vorwürfe. Solche Handlungen stehen           Firmen sind in China aktiv. Dagegen hat Chi-
   dern die weitere Entwicklung Chinas verhin-         aber in unvereinbarem Gegensatz zur guten            na fast 1,4 Milliarden Einwohner, aber nur 73
   dern. China hat aber einen riesigen Markt           Entwicklung der sino-schweizerischen Bezie-          chinesische Unternehmen haben in der
   mit fast 1,4 Milliarden Menschen, von denen         hungen. Die Situation in Xinjiang habe ich in        Schweiz Investitionen getätigt. Das ist alles
   etwa 400 Millionen zur kaufkraftstarken             meiner Weltwoche-Kolumne vom 11. Juli en dé-         problemlos. Im Rahmen der wirtschaftlichen
   Mittelschicht gehören. Der Binnenmarkt bil-         tail erklärt und meinen Wunsch zum Ausdruck          Globalisierung und Handelsliberalisierung
   det nun bereits den Hauptmotor für die              gebracht: Klatsch und Gerüchte werden ihr En-        kann doch jedes Unternehmen im Sinn der
   Wirtschaftsentwicklung. Die Transforma­             de bei den Weisen finden. Wenn China und die         Vertragsfreiheit eigenständig handeln.
   tion vom traditionellen zum modernen                Schweiz gute Freunde sind, dann sollten wir       Viele sehen hinter den Investoren den
   ­Konsum, von den Grundprodukten hin zur             uns gegenseitig respektieren und die Interes-    ­chinesischen Staat.
    Unterhaltung, vom Waren- zum Dienstleis-           sen sowie Prinzipien des anderen achten. Inte-       Die Schweiz versteht sich als offene Volks-
    tungskonsum vollzieht sich nun Schritt für         ressen und Gefühle des anderen absichtlich zu        wirtschaft, schweizerische Unternehmen,
    Schritt, das Potenzial ist gewaltig.               verletzen, gehört nicht zur Freundschaft.            insbesondere die grossen Konzerne, machen
 Und wie steht es um die Beziehungen zwi­            Die Schweiz ist ein neutrales Land.                    gerne Geschäfte im Ausland. Unter den
 schen der Schweiz und China? Haben sich               Als ein neutrales Land sollte sich die Schweiz       ­europäischen Investoren in China liegt die
 diese so entwickelt wie erhofft?                      ihres Standpunkts bewusst sein. Es ist rat-           Schweiz auf dem sechsten Platz. Bis im Mai
    Die chinesisch-schweizerischen Beziehungen         sam, objektiv zu bleiben und sich nicht durch         2019 gab es in China insgesamt 1990 geneh-
    haben den historischen Höhepunkt erreicht,         Ideologien beeinflussen zu lassen. Unter be-          migte schweizerische Investitionsprojekte,
    die Kooperation ist sehr dynamisch. In der Po-     freundeten Ländern soll das gegenseitige              allein vierzig Vorhaben stammen aus den
    litik fanden jüngst gegenseitige Besuche zwi-      Vertrauen grossgeschrieben werden. Einige             ersten fünf Monaten dieses Jahres. Ist es
    schen den Führungspersonen in hoher Fre-           Probleme sind allein auf die Einmischung              nicht verständlich, dass chinesische Unter-
    quenz statt. Im Januar nahm Herr Wang              der Vereinigten Staaten in die chinesische            nehmen ähnliche Wünsche haben? Etliche
    Qishan, der Vizepräsident Chinas, am WEF in        ­Innenpolitik zurückzuführen, etwa mit Blick          Politiker und Medienvertreter zeigen sich
    Davos teil und besuchte die Schweiz. Im April       auf Taiwan, Tibet, Falun Gong, nun auch              sehr besorgt, wenn chinesische Unterneh-
    kam Bundespräsident Maurer zum zweiten              Xinjiang und Hongkong. Es sind immer die             men in der Schweiz investieren. Die Landes-
    «Belt and Road Initiative»-Gipfelforum für          Vereinigten Staaten, die Chaos anrichten.            regierung, die Kantonsregierungen sowie
    internationale Kooperation und stattete Chi-     Vergibt sich die Schweiz Chancen in der                 die Städte hingegen betonen immer wieder
    na einen Staatsbesuch ab. Dabei haben beide      ­Kooperation mit China? Bei der «Belt and               nachdrücklich, ihnen seien chinesische In-
    Länder ein Memorandum of Understanding            Road Initiative»?                                      vestoren willkommen. Das ist ein Lichtblick.
    über die Zusammenarbeit in Drittländern im          Die «Belt and Road Initiative» und deren Auf-        Und an dieser Stelle möchte ich von meiner
    Rahmen der BRI unterzeichnet.                       bau bietet eine grosse Plattform für interna­        Seite auch nochmals hervorheben, dass
 Dann läuft es gut zwischen den Ländern?                tionale Kooperation. ­  Ausgehend von den            ­China Investitionen von schweizerischen
    Das Handelsvolumen zwischen der Schweiz             Grundprinzipien der gemeinsamen Bera-                 Unternehmen nach wie vor begrüsst. Je
    und China stieg 2018 um 18 Prozent auf 42,5         tung, des gemeinsamen Aufbaus und des Mit-            mehr, desto besser.

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Und täglich grüsst Karl Marx
Seit der Gründung der Volksrepublik betrachtet Chinas Führung eine chinesische Variante des
­Marxismus als Richtschnur ihres Handelns. Bis Mitte dieses Jahrhunderts wird die innenpolitische
 ­Optimierung im Vordergrund stehen. Von Harro von Senger

Laut dem Sinologen und ehemaligen australi-        Ebenen, die Beziehung zwischen der                «Klassenkampf» einstweilen schlummern zu
schen Premierminister Kevin Rudd haben             Han-Volksgruppe und den nationalen Min-           lassen und eine Koalition mit dem «Klassen-
westliche Führer und Analytiker «oft eher ein      derheiten, die Beziehung zwischen China und       feind» einzugehen. Denn allein gestützt auf
Bild ihrer Wunschvorstellungen auf China           anderen Ländern und so weiter und so fort –       seine damals schwache KPCh, hätte Mao gegen
projiziert, anstatt sich Gedanken zu machen        all dies sind aus Maos Sicht Widersprüche.        Japan nichts ausrichten können.
über die tatsächlichen Stellungnahmen von            Nun gilt es, in den aufeinanderfolgenden          So verbündete er sich im Rahmen einer
Chinas eigenen Führern». In der Tat wider-         Phasen der Entwicklung Chinas jeweils den         «Einheitsfront» mit Tschiang Kai-schek gegen
spiegelt sich der siebzigjährige Werdegang der     Hauptwiderspruch herauszufinden, dessen           Japan und liess in seinem Herrschaftsbereich
Volksrepublik China (VRCh) am treffendsten         Lösung die Hauptaufgabe des chinesischen          die Menschenrechte der Kapitalisten, ja sogar
in Stellungnahmen von Chinas Führern sowie         Volkes sei. Der Hauptwiderspruch ist also         das Bodeneigentum der Grossgrundbesitzer
in chinesischen amtlichen Verlautbarungen          nicht ein für alle Mal gegeben, sondern wech-     schützen. Nach dem so errungenen Sieg über
und Dokumenten. Wenn man diese über die            selt in den aufeinanderfolgenden Phasen der       Japan wurde in den Jahren 1946 bis 1949 wie-
Jahrzehnte hinweg studiert und deren Trag-         Entwicklung. Das Konzept des Hauptwider-          der der Widerspruch zwischen der KPCh und
weite immer wieder vor Ort überprüft, stellt       spruchs wurde von Mao theoretisch begrün-
man eine grosse Kontinuität fest.                  det und machtvoll in die politische Praxis um-
  Da ist zunächst das marxistisch-leninisti-       gesetzt, ist aber nicht seine Erfindung. Soweit
sche Verfassungsverständnis. Es kommt in der       bekannt, ist dieses Konzept erstmals in einem
provisorischen chinesischen Verfassung von         1931 in Leningrad veröffentlichten «Lehrgang
1949 sowie in den chinesischen Verfassungen        des dialektischen Materialismus» von Sirokov
von 1954, 1975, 1978 und 1982 zum Ausdruck.        und Eisenberg vorgestellt worden. Dieser
In diesen Dokumenten präsentiert sich die          Lehrgang wurde ins Chinesische übersetzt
Volksrepublik China jeweils ganz offen als         und von Mao in der Zeit von November 1936
Diktatur. Die Regierung des Landes hat, wie        bis September 1941 studiert. Bis auf den heuti-
Uli Sigg, der Gründer des ersten chinesisch-­      gen Tag ist der jeweilige Hauptwiderspruch
westlichen Joint Ventures, ehemaliger Schwei-      der Angelpunkt, um den sich in der VRCh die
zer Botschafter in Beijing und Sammler mo-         gesamte Innen- und Aussenpolitik dreht.
derner chinesischer Kunst, unlängst sagte,           Mao entwickelte das Konzept des je nach
«einen enormen Durchgriff» und verteidigt          Phase der Entwicklung wechselnden Hauptwi-
die Diktatur wenn nötig mit grösster Härte.        derspruchs angesichts des seit dem Zwischen-
                                                   fall an der Beijinger Marco-Polo-Brücke am 7.
Konzept des «Hauptwiderspruchs»
Die oberste Macht geht in der VRCh von der
KPCh aus. «KPCh» bedeutet nicht Konfuziani-
                                                   Für kurze Zeit liess Mao sogar
sche Partei Chinas und auch nicht Kapitalisti-     das Bodeneigentum der
sche Partei Chinas, sondern Kommunistische         ­Grossgrundbesitzer schützen.
Partei Chinas. Sie betrachtet nicht die «Gesprä-
che» des Konfuzius oder die Schriften von          Juli 1937 flächendeckenden japanischen Krie-
Adam Smith, sondern den Sinomarxismus als          ges gegen China. Er wollte den Funktionären
«Richtschnur ihres Handelns». Der                  der KPCh einen Schulterschluss mit dem Füh-
Sinomarxismus besteht aus dem Produkt
­                                                  rer der «Ausbeuterklassen», ­  Tschiang Kai-
zweier Deutscher und eines Russen, nämlich         schek schmackhaft machen. Bis 1937 war der
dem Marxismus-Leninismus, sowie aus chine-         Widerspruch zwischen der KPCh und der von
sischen Beiträgen, wobei an erster Stelle die      Tschiang Kai-schek geführten Guomindang
Ideen Mao Zedongs zu nennen sind.                  der Hauptwiderspruch gewesen. Laut Mao war
  Den Mao-Zedong-Ideen entstammt ein               angesichts der japanischen Aggression der Wi-
Konzept, das sich wie ein roter Faden durch die    derspruch mit diesem Todfeind zu einem
Geschichte der VRCh zieht. Es ist das Konzept      ­«Nebenwiderspruch» herabgesunken und der
des «Hauptwiderspruchs». Um es zu verste-           Widerspruch zwischen China und Japan zum
hen, muss man zwölf Jahre vor der Gründung          neuen Hauptwiderspruch emporgestiegen.
der VRCh ansetzen. Im Jahr 1937 verbreitete           Nach Maos Doktrin sind Nebenwidersprü-
Mao als internes Schulungsmaterial seine Ge-        che in einer der Lösung des Hauptwider-
danken über den «Widerspruch». Aus seiner           spruchs förderlichen Art und Weise zu behan-
Sicht besteht Politik aus der Analyse und Lö-       deln. Um den nationalen Hauptwiderspruch
sung von Widersprüchen. Die Beziehung zwi-          «China gegen Japan» zu lösen, war es nach Ma-
schen der zentralen Ebene und den lokalen           os Meinung notwendig, den innenpolitischen       «Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums»:

14                                                                                                                                     China Spezial Nr. 39.19
                                                                                                                       Illustration: Rüdiger Trebels für die Weltwoche
der Guomindang zum Hauptwiderspruch.              wärtige Wirtschaft und Kultur die Bedürfnisse     ­ ateriellen und kulturellen Bedürfnissen des
                                                                                                    m
Tschiang Kai-schek, eben noch Verbündeter,        des Volkes nicht zu befriedigen vermögen».        Volkes und der rückständigen gesellschaftli-
wurde nach Taiwan vertrieben, der Menschen-         Für kurze Zeit unterstützte Mao diesen          chen Produktion».
rechtsschutz für die «Klassenfeinde» wurde        Hauptwiderspruch. Aber infolge internatio-
abgeschafft und 1949 die VRCh gegründet.          naler Ereignisse (der Ungarn-Aufstand 1956        «Verwirklichung des Kommunismus»
  In den Jahren 1949 bis 1956 galt als Haupt­     u.a.) und innerchinesischer Entwicklungen         In welchem Kontext stand der schon 1956 pro-
widerspruch der Widerspruch zwischen dem          (die Bewegung «Lasst hundert Blumen blü-          klamierte, aber erst in den Jahren 1978 bis 2017
«Proletariat» und der «Bauernklasse» einer-       hen» lief aus Maos Sicht aus dem Ruder) k
                                                                                          ­ ehrte   ins Visier genommene Hauptwiderspruch?
seits und den «Ausbeuterklassen» anderseits.      Mao zum Hauptwiderspruch «Klassenkampf»           Hierauf gibt die Satzung der KPCh Antwort:
Die Hauptaufgabe war der «Klassenkampf».          zurück, an dem er bis zu seinem Tod (9. Sep-      «Das höchste Ziel und das endgültige Ideal der
Bis 1956 wurden die «Ausbeuterklassen» ent-       tember 1976) festhielt. So kam es zum verhee-     Partei ist die Verwirklichung des Kommunis-
eignet. Kein Quadratmillimeter Land blieb in      renden Grossen Sprung nach vorn 1958 und          mus.» Aus westlicher Sicht ist Kommunismus
privatem Grundeigentum, und so ist es bis         zur katastrophalen Kulturrevolution (1966–
heute geblieben. Der 8. Parteitag der KPCh ver-   76). Die ganz im Zeichen des Klassenkampfes       Die Beseitigung der «rückständigen
kündete 1956 als neuen Hauptwiderspruch           stehenden Jahre von 1956 bis 1976 gelten aus
den Widerspruch «zwischen dem Verlangen           heutiger amtlicher chinesischer Sicht infolge
                                                                                                    gesellschaftlichen Produktion»
des Volkes nach dem Aufbau eines fortschrittli-   von Maos falscher Einschätzung des Hauptwi-       ­geschah auf Kosten der Umwelt.
chen Industriestaates und der Realität eines      derspruchs als zwei verlorene Jahrzehnte.
zurückgebliebenen Agrarstaates sowie jenen          Im Dezember 1978 besann sich die KPCh auf         gleichbedeutend mit Elend und Tod. Aber in
zwischen dem Bedürfnis des Volkes nach ra-        den 1956 verkündeten Hauptwiderspruch,              der VRCh beruft man sich auf diese Aussage
scher wirtschaftlicher und kultureller Ent-       den sie etwas konziser formulierte als den          von Marx: «In einer höheren Phase der kom-
wicklung und dem Umstand, dass die gegen-         Widerspruch «zwischen den wachsenden
                                                  ­                                                   munistischen Gesellschaft, nachdem [ . . . ] alle
                                                                                                      Springquellen des genossenschaftlichen
                                                                                                      Reichtums voller fliessen – erst dann kann [ . . . ]
                                                                                                      die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben:
                                                                                                    ­‹Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach
                                                                                                     seinen Bedürfnissen›!»
                                                                                                         Die «Verwirklichung des Kommunismus» –
                                                                                                     das endgültige Ziel der KPCh – führt laut Marx
                                                                                                     nicht in Armut und Elend, sondern zu einer
                                                                                                     Gesellschaft des materiellen Überflusses, in
                                                                                                     der jeder nach seinen Bedürfnissen leben
                                                                                                     kann. Daher erschien nach Maos Tod aus
                                                                                                     ­amtlicher chinesischer Sicht die Kulturrevolu-
                                                                                                      tion als antimarxistischer Holzweg, denn sie
                                                                                                      hatte China nicht auf den Weg des Wohlstands
                                                                                                      geführt.
                                                                                                         Demgegenüber lenkte die KPCh nach Maos
                                                                                                      Tod das chinesische Volk in Richtung eines
                                                                                                      wohlhabenden China. Die im Hauptwider-
                                                                                                      spruch streng marxistisch-materialistisch an
                                                                                                      erster Stelle stehenden «materiellen Bedürfnisse
                                                                                                      des Volkes» legte die KPCh freilich jahr­­
                                                                                                      zehntelang ungemein eng aus, beschränkt a­ llein
                                                                                                      auf das Wachstum des gesamtgesellschaftlichen
                                                                                                      Bruttoinlandprodukts. Die Beseitigung der
                                                                                                      «rückständigen gesellschaftlichen Produktion»
                                                                                                      geschah auf Kosten der Umwelt. Reine Luft, sau-
                                                                                                      beres Wasser und gesunde Nahrungsmittel ge-
                                                                                                      hörten für die KPCh jahrzehntelang nicht zu
                                                                                                      den «materiellen Bedürfnissen des Volkes».
                                                                                                         Daraus resultierte zwar eine rasante Entwick-
                                                                                                      lung der chinesischen Wirtschaft. Wenn auch
                                                                                                      die VRCh zur weltweit zweitgrössten Volkswirt-
                                                                                                      schaft aufgestiegen ist und wenn auch rund 800
                                                                                                      Millionen Chinesen aus der Armut befreit wur-
                                                                                                      den, so beträgt doch das durchschnittliche jähr-
                                                                                                      liche BIP pro Kopf nur etwas über 9000 US Dol-
                                                                                                      lar (in Deutschland ca. 50 000 Dollar, in der
                                                                                                      Schweiz ca. 61 000 US Dollar). Den chinesischen
                                                                                                      Individuen geht es, durchschnittlich gesehen,
                                                                                                      also keineswegs gut. Dies auch wegen des jahr-
                                                                                                      zehntelang vernachlässigten Umweltschutzes
Sinomarxismus als Richtschnur für das Leben der Chinesen.                                             mit verheerenden Folgen.                       ›››

China Spezial Nr. 39.19                                                                                                                               15
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