EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...

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EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
EINE
WELT
                          NR. 1 / MÄRZ 2018

                          Das DEZA-Magazin
                          für Entwicklung und
                          Zusammenarbeit

       HUNGERSNOT
       Katastrophaler Mangel trotz
       grosser Fortschritte – die Gründe

       AUFSTREBENDES
       INDIEN
       Die wachsende Mittelschicht von
       mehreren 100 Millionen Menschen
       verlangt mehr Wohnraum

       FEHLENDE
       MEDIKAMENTE
       Fast die Hälfte der Menschen in den
       ärmsten Ländern hat keinen Zugang
       zu den wichtigsten Medikamenten
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INHALT

                          DOSSIER                                            HORIZONTE                                       FORUM
                              HUNGER                                                INDIEN

          8
         Hunger – das grösste lösbare
                                                                   20
                                                                   Der indische Traum vom Eigenheim
                                                                                                              32
                                                                                                              Warum nur fehlt es an
         Problem weltweit                                          Indiens wachsende Mittelschicht, zu        Medikamenten für die Armen?
         Über 800 Millionen Menschen leiden                        der mehrere 100 Millionen Menschen         Fast die Hälfte der Menschen in den
         chronisch unter Hunger, in einigen                        gehören, verlangt mehr Wohnraum            ärmsten Ländern hat keinen Zugang
         Ländern Afrikas und im Nahen Osten                                                                   zu den wichtigsten Medikamenten
         herrscht gar akute Hungersnot                             24
                                                                   Aus dem Alltag von ...                     35
         15                                                        Marylaure Crettaz Corredor,                Dialog erfolgreicher als
         «Wir müssen die Kriege beenden»                           Missionschefin der Schweizer               Zuckerbrot und Peitsche
         Interview mit David Beasley, Exekutiv-                    Entwicklungszusammenarbeit in Indien,      Entwicklungszusammenarbeit im
         direktor des Welternährungsprogramms                      über ihren kontrastreichen Berufsalltag    Austausch gegen abgewiesene
         der Vereinten Nationen                                                                               Asylsuchende – die Erfahrung zeigt, dass
                                                                   25                                         die Methode kontraproduktiv sein kann
         17                                                        So nah und doch so weit
         Die grosse Wirkung von                                    Die indische Frauenrechtsaktivistin        37
         verbessertem Saatgut                                      Urvashi Butalia über die Mühen der         Geboren auf der Flucht
         Damit Bauernfamilien und die Landwirt-                    beiden Nachbarn Indien und Pakistan,       Carte blanche: Sharbanoo Sadat
         schaft besser gegen Hunger gewappnet                      sich endlich als Freunde zu begreifen      aus Afghanistan über ihre Kindheit
         sind, unterstützt die Schweiz im Tschad                                                              und Klischees, die sie meidet
         den Aufbau eines Saatgutsystems

         19                                                                        DEZA
         Facts & Figures                                                                                                     KULTUR

                                                                   26
                                                                   Schweizer Käse in Kirgisistan              38
                                                                   Mit dem Verkauf einer Schweizer            «Die Welt muss den
                                                                   Milchverarbeitungsanlage an einen          Menschen zustehen»
                                                                   privaten Investor geht ein                 Interview mit der senegalesischen
                                                                   aussergewöhnliches Projekt zu Ende         Schriftstellerin Ken Bugul, die zu

                                                                   29
                                                                                                              den wichtigen Stimmen der afrikanischen
                                                                                                              Gegenwartsliteratur gehört
                                                                   Bioenergie aus Gülle und Pflanzen
         Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit          In Kuba erzeugen Bauernfamilien Biogas
         (DEZA), die Agentur der internationalen Zusam-            und Biodiesel für den Eigenbedarf.
         menarbeit im Eidgenössischen Departement für              Damit erhöhen sie ihre Ernährungs-          3   Editorial
         auswärtige Angelegenheiten (EDA), ist Herausgeberin
                                                                   sicherheit und senken die Bodenbelastung    4   Periskop
         von «Eine Welt». Die Zeitschrift ist aber keine offizi-                                              31   Einblick DEZA
         elle Publikation im engeren Sinn; in ihr sollen auch
                                                                                                              41   Service
         andere Meinungen zu Wort kommen. Deshalb geben
         nicht alle Beiträge notwendigerweise den Standpunkt                                                  43   Fernsucht mit Florence Chitacumbi
         der DEZA und der Bundesbehörden wieder.                                                              43   Impressum

         2              EINE WELT 01/2018
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
EDITORIAL
                      DIE HUNGERSNOT
                     BEDROHT MILLIONEN
                                                                  Die heutige Ausgabe von «Eine Welt» zeigt, vor wel-
                                                                  chen enormen Herausforderungen die internationale
                                                                  Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Bewälti-
                                                                  gung der Hungerkrise in Afrika steht.

                                                                  Für das nächste Thema gibt es keinen geschliffenen
                                                                  Übergang. Ich versuche deshalb gar nicht, einen zu
                                                                  finden. Es geht um das neue Layout von «Eine Welt»,
© DEZA

                                                                  das Ihnen bestimmt schon aufgefallen ist.

         Bereits vor zweieinhalb Jahren war «Hunger» Haupt-       Ich bekenne, dass ich keinen ausgeprägten Sinn für
         thema dieses Magazins. Es ging vor allem um Unter-       Ästhetik habe. So dürfte nicht erstaunen, dass meine
         und Mangelernährung und allgemeine Fragen der            Kolleginnen und Kollegen von der «Eine Welt»-Redak-
         Ernährungssicherheit. Damals schien es, dass der         tion keine leichte Aufgabe hatten, mich von der Not-
         Kampf gegen den Hunger auf der Welt zwar noch            wendigkeit eines neuen Erscheinungsbilds für unsere
         einige Jahre dauern würde und dabei wohl auch            Publikation zu überzeugen. Als dann die EDA-Graphi-
         Rückschläge zu erwarten wären, der Erfolg aber           ker «visuelle Ruheräume» als ein besonders innova-
         insgesamt unaufhaltsam sein würde. Die Realität ist      tives Designmerkmal anpriesen, war meine Skepsis
         heute leider eine andere. Während ich diese Zeilen       vollends geweckt. Weise verliess ich mich schluss-
         schreibe, sind 27 Millionen Menschen in Jemen und        endlich aber auf das Urteil von Leuten, die mehr von
         verschiedenen Regionen Afrikas akut vom Hungertod        künstlerischer Gestaltung verstehen als ich.
         bedroht und praktisch vollständig von humanitärer
         Hilfe abhängig.                                          Das Resultat liegt Ihnen nun vor, und Ihnen gebührt
                                                                  auch das abschliessende Urteil, geschätzte Lese-
         Wie in den allermeisten Fällen von akuten Hungers-       rin, geschätzter Leser. Dabei hoffe ich natürlich,
         nöten sind Nahrungsmittel bitter notwendig, um eine      dass Sie meine heutige Überzeugung teilen, dass
         humanitäre Katastrophe abzuwenden, aber nicht            das gesteckte Ziel erreicht wurde und sich «Eine
         ausreichend, um die Krise zu bewältigen. Deren Ursa-     Welt» nun noch angenehmer liest und die Qualität der
         che liegt nicht immer, aber fast immer auch in bewaff-   Beiträge dank der visuellen Ruheräume (jetzt sogar
         neten Konflikten. Der Krieg unterbricht die Produktion   ohne «») noch besser zur Geltung kommt.
         und verhindert den Zugang der betroffenen Bevöl-
         kerung zu Nahrung. Das gilt insbesondere für den         Manuel Sager
         Südsudan, den Jemen und Teile Nigerias. Der Hun-         Direktor der DEZA
         gertod ist dort nicht einfach das traurige Ende eines
         menschlichen Schicksals, sondern von Menschen
         verursacht oder zumindest in Kauf genommen.

         Die DEZA hat im Februar des vergangenen Jahres
         zusätzlich 15 Millionen Franken für die von Hunger
         besonders betroffenen Länder Afrikas zur Verfügung
         gestellt. Die Hilfe kommt zwar an bei den Notleiden-
         den, aber der Zugang zu ihnen ist oft extrem mühevoll
         und damit teuer. Vielerorts kann unser Hauptpartner
         vor Ort, das Welternährungsprogramm der Vereinten
         Nationen (WFP), die Versorgung aus Sicherheitsgrün-
         den nur aus der Luft sicherstellen, durch sogenannte
         «Air-drops». Diese sind rund zehnmal teurer als der
         Landweg.

                                                                                                          EINE WELT 01/2018   3
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PERISKOP

                                                                                                                            KINDERSTERBLICHKEIT AUF REKORDTIEF
                                                                                                                            (cz) Die Anzahl der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag
                                                                                                                            sterben, ist auf ein Allzeittief gefallen: Die Zahl der jährlichen
                                                                                                                            Todesfälle sank zwischen 1990 und 2016 von 12,6 Millionen
                                                                                                                            auf 5,6 Millionen. Das schreibt die UNO in ihrem jüngsten
                                                                                                                            Bericht zur Kindersterblichkeit. Der Fortschritt sei gross und
                                                                                                                            eine gute Nachricht, heisst es. Man dürfe aber nicht verges-
                                                                                                                            sen, dass noch immer sehr viele Kinder an vermeidbaren
                                                                                                                            Krankheiten sterben. Noch seien die Ziele für nachhaltige
           © Nicolas Pelaez

                                                                                                                            Entwicklung nicht erreicht. Bis 2030 soll die Sterblichkeits-
                                                                                                                            rate von Kindern unter fünf Jahren bei höchstens 25 von
                                                                                                                            1000 liegen. Aktuell sind es noch immer 41. Dabei gibt es
                                               ONLINE IM CONTAINER                                                          enorme Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen.
                                                                                                                            Während in Europa nur etwa jedes 170. Kind unter fünf
                                  (cz) Die ZubaBox ist ein Container, der als Internetcafé                                  Jahren stirbt, ist es in Subsahara-Afrika jedes Dreizehnte.
                                  oder Schulungsraum verwendet werden kann. Die Einrich-
                                  tung wird über Sonnenenergie gespiesen und kann zum
                                  Beispiel in Flüchtlingslagern aufgestellt werden. Die eins-
                                  tigen Schiffcontainer sollen vor allem jungen Menschen                                    SCHWEIZER FILTER EROBERT DIE WELT
                                  eine sichere Umgebung bieten, in der sie lernen und ihre                                  (bf) ETH-Professor Raffaele Mezzenga und sein Oberassistent
                                  Computerfähigkeiten weiterentwickeln können. ZubaBox                                      Sreenath Bolisetty haben eine Filtermembran entwickelt,
                                  wurde von der englischen NGO Computer Aid Internatio-                                     die Schwermetalle und andere Schadstoffe, namentlich
                                  nal entwickelt und wird zusammen mit lokalen Partnern                                     auch Arsen, aus dem Wasser entfernt. Seit sie ihre Erfindung
                                  installiert und unterhalten. Das Projekt gibt es bereits in                               im Januar 2016 in der Fachzeitschrift «Nature Nanotech-
                                  Ghana, Kenia, Nigeria, Togo, Sambia, Simbabwe und Süd-                                    nology» vorstellten, macht sie weltweit Schlagzeilen. Die
                                  afrika. Vergangenes Jahr wurde der erste Container in                                     Nachfrage ist so gross, dass die beiden ihr eigenes Unter-
                                  Bogotá, Kolumbien aufgestellt (Bild).                                                     nehmen Blue Act Technologies gegründet haben. Neben
                                                                                                                            Minengesellschaften oder Atomkraftwerken sind auch
                                                                                                                            Entwicklungsländer an der Filtermembran interessiert.
                                                                                                                            Speziell für Letztere haben die beiden Forscher eine Trink-
                                                                                                                            wasser-Filterflasche entwickelt, «ein rein humanitäres
                              MADE IN AFRICA                                                                                Projekt, das uns sehr am Herzen liegt», betont Mezzenga.
                              (cz) Äthiopien wird zum China Afrikas – so jedenfalls sagt                                    Die Flaschen sollen in Asien, Afrika und Lateinamerika
                              es eine aktuelle Studie des amerikanischen Think-Tanks                                        an Menschen verteilt werden, die keinen Zugang zu sau-
                              Center for Global Development voraus. Im Gegensatz zu vielen                                  berem Trinkwasser haben. Damit die Filtermembran-Fla-
                              anderen Ländern des Kontinents habe es Äthiopien geschafft,                                   sche auch tatsächlich die Ärmsten erreicht, arbeitet das
                              sich als bedeutender Produktionsstandort zu etablieren.                                       Unternehmen mit den Behörden und NGOs zusammen.
                              Marken wie H&M, Guess und J. Crew produzierten bereits                                        Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh wurde bereits
                              im Land. Grund dafür seien vergleichsweise tiefe Kosten                                       Land erschlossen, um eine Produktionsstätte zu bauen.
                              und eine hohe Produktivität. Das Forscherteam hat Perso-
                              nal- und Kapitalkosten sowie Produktivität und Effizienz
                              der Herstellung in mehr als 5000 Firmen in 29 Ländern
                              untersucht. Im Vergleich mit etablierten Produktionsländern
                              wie Bangladesch schnitten viele Länder in Subsahara-Af-
                              rika schlecht ab. Äthiopien hingegen sei konkurrenzfähig
                              und könne von einer Abwanderung der Produktion aus
                              Ländern mit steigenden Löhnen profitieren. In den letzten
                              Jahren ist die Herstellungsindustrie des Landes um jeweils
                              zehn Prozent gewachsen. Die Gesamtwirtschaft Äthiopi-
                              ens ist eine der am schnellsten wachsenden der Welt.
                                                                                                © Mezzenga Lab/ETH Zürich

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EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
PERISKOP
© Zeichnung von Jean Augagneur

                                 «ANTILOPEN-PARFÜM» VERSCHEUCHT TSETSE-FLIEGEN                                                  Die Universität Genf hat zusammen mit jenen von Luzern
                                 (bf) Die in Afrika weitverbreitete Afrikanische Schlafkrank-                                   und Heidelberg den Ort, das Datum und die Dauer von 1800
                                 heit ist eine tödliche Infektionskrankheit, welche durch die                                   Konflikten in Subsahara-Afrika zwischen 1990 und 2011
                                 Tsetse-Fliege auf Mensch und Tier übertragen wird. Nun hat                                     ausgewertet. Die Wirtschaftswissenschaftler haben diese
                                 ein Forscherteam vom Zentrum für Entwicklungsforschung                                         als SCAD (Social Conflict Analysis Database) bezeichnete
                                 der Universität Bonn mit Kollegen aus Kenia und Grossbri-                                      Datenbank mit dem Trockenheitsindex SPEI (Standardised
                                 tannien herausgefunden, wie sich die Krankheit bei Tieren                                      Precipitation Evapotranspiration Index) abgeglichen. Dieser
                                 wirksam verhindern lässt. Weil die Tsetse-Fliegen Wasserbö-                                    misst die monatlichen Niederschläge einer Region und
                                 cke, welche vielerorts in Afrika vorkommen, meiden, haben                                      zieht davon das verdunstete Wasser ab. Damit lässt sich die
                                 die Wissenschaftler den Geruch dieser Antilopen imitiert.                                      verfügbare Wassermenge pro Monat auf einer Fläche von 50
                                 Trugen die Rinder Halsbänder mit dem Abwehrstoff, blie-                                        Quadratkilometern ausrechnen. Fazit der Studie: Aufstände
                                 ben in einem gross angelegten zweijährigen Feldversuch in                                      im Zusammenhang mit Trockenheit brechen innerhalb
                                 Kenia mehr als 80 Prozent der Tiere von der gefürchteten                                       von vier Wochen vor einem Wassermangel aus. Das mete-
                                 Infektion verschont, was wiederum zu einer deutlichen                                          orologische Phänomen erhöht das Risiko eines Aufstands
                                 Verbesserung der Ernährungssicherheit und des Haushalt-                                        um 10 Prozent auf 50 Prozent. Die Wissenschaftler nützen
                                 einkommens der beteiligten Hirtenfamilien beitrug. Gemäss                                      diese Daten, um Risikoperioden und -zonen besser identi-
                                 dem Forscherteam sei im Vergleich zu den üblicherweise                                         fizieren und Präventionsmassnahmen planen zu können.
                                 eingesetzten Tiermedikamenten die Halsbandmethode
                                 auch deutlich kostengünstiger und damit wirtschaftlicher.

                                 DÜRRE ENTFACHT KONFLIKTE
                                 (zs) Ein Zusammenhang zwischen Trockenperioden und
                                 politischen Konflikten wurde zwar schon vermutet, bisher
                                 aber nicht nachgewiesen. Nun ist er wissenschaftlich belegt.
                                                                                                © Brendan Bannon/Polaris/laif

                                                                                                                                                                   EINE WELT 01/2018          5
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
DOSSIER HUNGER

                 Kriegerische Konflikte sind
                 einer der Hauptgründe
                 dafür, warum Menschen
                 an Hunger leiden – hier
                 eine Familie, welche vor
                 dem Bürgerkrieg aus dem
                 Südsudan nach Uganda
                 geflüchtet ist. © Maria Feck/laif

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DOSSIER HUNGER
                  DOSSIER
              HUNGER
HUNGER – DAS GRÖSSTE LÖSBARE PROBLEM WELTWEIT SEITE 8
        «WIR MÜSSEN DIE KRIEGE BEENDEN» SEITE 15
 DIE GROSSE WIRKUNG VON VERBESSERTEM SAATGUT SEITE 17
                FACTS & FIGURES SEITE 19

                                                        EINE WELT 01/2018   7
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DOSSIER HUNGER

                       HUNGER – DAS GRÖSSTE
                     LÖSBARE PROBLEM WELTWEIT
                                               Über 800 Millionen Menschen leiden chronisch unter Hunger,
                                                 in einigen Ländern Afrikas und im Nahen Osten herrscht
                                                akute Hungersnot – obwohl die Erde eigentlich genügend
                                                Nahrungsmittel für alle bieten könnte. Humanitäre Hilfe ist
                                                 zwingend, aber nicht ausreichend für eine Trendwende.
                                                                 Text: Jens Lundsgaard-Hansen

                 Ein Vulkanausbruch in Indonesien, ein      flikte und Terrorgruppen, Trockenheit   so David Beasley, Exekutivdirektor des
                 kalter Sommer mit schlechter Ernte         und Dürre, zahllose Menschen auf der    Welternährungsprogramms WFP der
                 und explodierenden Preisen, die Folgen     Flucht. Schätzungen gehen davon aus,    Vereinten Nationen (siehe Interview
                 der Napoleonischen Kriege. Das waren       dass rund 27 Millionen Menschen vom     S. 15).
                 die Jahre 1816/17 mit der letzten gros-    direkten Hungertod bedroht sind. In
                 sen Hungerkrise in der Schweiz. Heute,     Ländern wie Nigeria, Somalia, Süd-      Neben diesen Brennpunkten führen die
                 gut 200 Jahre später, sind wir Zeuge       sudan, Jemen, Syrien und Irak spielt    Statistiken 815 Millionen Menschen auf,
                 einer akuten Hungerkrise in Afrika         sich gerade die «grösste humanitäre     die weltweit von chronischem Hunger
                 und im Nahen Osten: kriegerische Kon-      Krise seit dem Zweiten Weltkrieg» ab,   und Unterernährung betroffen sind.

                 8         EINE WELT 01/2018
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
DOSSIER HUNGER
Momentan sind
weltweit rund 27
Millionen Menschen
direkt vom Hungertod
bedroht – besonders
betroffen sind unter
anderem das Grenz-
gebiet von Südsudan
und Uganda (linke
Seite) oder das
von Dürre geplagte
Somaliland (rechts).
© Maria Feck/laif
© Christoph Goedan/laif

Jeder neunte Mensch geht am Abend         mehr als «zu wenig zu essen und zu         obwohl ihr Bedarf besonders hoch wäre.
hungrig zu Bett. Wobei Hunger und         trinken» – obwohl schon dies allein        Und wer sich kaum die lebensnotwen-
Durst meist zusammengehören. Fast         schlimm genug wäre. Hunger, Unter-         dige Nahrung leisten kann, wird auch
alle Hungernden leben in Entwick-         und Mangelernährung schwächen die          wenig oder nichts in Gesundheit oder
lungsländern, drei Viertel auf dem Land   Menschen und machen sie anfälliger         Bildung investieren können. Ökonomen
– paradoxerweise also dort, wo die Nah-   für Krankheiten und Seuchen. Fast          schätzen, dass Kinder mit Mangeler-
rung produziert wird. Etwa drei Millio-   die Hälfte aller Todesfälle von Kindern    nährung später ein um fünf bis zehn
nen Kinder unter fünf Jahren sterben      unter fünf Jahren geht auf Hunger und      Prozent tieferes Einkommen haben. Mit
jedes Jahr an chronischer Unterernäh-     Mangelernährung zurück. Bei weit über      anderen Worten: Für viele Hungernde
rung. Andere überleben, leiden aber       100 Millionen Kindern führt der Hun-       öffnet sich die Armutsfalle, oft kann
womöglich ein Leben lang unter man-       ger zu Kleinwüchsigkeit, sie bleiben ein   sich auch die nächste Generation nicht
gelhafter und einseitiger Ernährung.      Leben lang nur eingeschränkt lern- und
Von diesem «verborgenen Hunger» sind      leistungsfähig, haben zeitlebens gerin-
rund zwei Milliarden Menschen welt-       gere Chancen als andere. Mindestens
weit betroffen. Hinzu kommen über 600     eine Viertelmillion Kinder erblinden
Millionen Menschen mit Übergewicht        gemäss der Weltgesundheitsorganisa-
– eine Erscheinung, die nach und nach     tion WHO jedes Jahr, weil sie einen Man-             100 MAL DIE SCHWEIZ
auch die Entwicklungsländer erfasst.      gel an Vitamin A haben. Hunger und                   Die Weltbevölkerung ist zwischen
Kurz: Hunger und Fehlernährung haben      Mangelernährung gelten insgesamt als                 1990 und heute um rund zwei
                                                                                               Milliarden Menschen gewachsen.
viele Gesichte.                           das bedeutendste Gesundheitsrisiko,
                                                                                               Die Zahl der Hungernden hat
                                          gemessen an der Zahl der Todesfälle. Es
                                                                                               hingegen deutlich abgenommen,
                                          sind mehr als bei Tuberkulose, Malaria               beträgt aber immer noch 815 Mil-
Armut führt zu Hunger                     und HIV/Aids zusammen.                               lionen Menschen. Dies sind etwa
und umgekehrt                                                                                  hundertmal Mal mehr Menschen,
                                          Schwangere Frauen, stillende Mütter                  als in der Schweiz wohnen. 98
                                                                                               Prozent der Hungernden leben in
Hunger ist ein Skandal – so eine präg-    und hart arbeitende Bäuerinnen sind
                                                                                               den Entwicklungsländern, allein
nante Kurzformel. Doch Hunger ist         vom Hunger besonders stark betroffen.                etwa 520 Millionen in Asien und
zugleich ein kompliziertes und fol-       Doch sie kommen bei der Verteilung des               240 Millionen in Afrika, vor allem
genreiches Phänomen und wesentlich        knappen Essens oft zuletzt an die Reihe,             südlich der Sahara.

                                                                                                  EINE WELT 01/2018            9
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
DOSSIER HUNGER

                 daraus befreien. Armut führt zu Hun-        Kein Hunger mehr auf der Erde – eine         sich produzieren lässt und wer Zugang
                 ger, und Hunger führt zu Armut. Die         realistische Aussicht? Selbst wenn die       zu Nahrung erhält.» Wo also liegen,
                 Teufelskreise greifen ineinander. Kräfti-   Zahl der Menschen bis 2050 um rund           abgesehen von der Armut an sich, die
                 ges Wirtschaftswachstum und höhere          zwei Milliarden, so die Prognosen der        Ursachen des Hungers? Wo die Lösun-
                 Einkommen in den armen und ärms-            Vereinten Nationen, weiter zunimmt?          gen im Kampf dagegen?
                 ten Ländern sind zwingend.                  Und die Nachfrage nach Nahrungsmit-
                                                             teln – auch dank grösserem Wohlstand
                                                             vieler Menschen – um rund 70 Prozent,        Hungerkrisen durch
                 Ziel ist «Zero Hunger»                      in den Entwicklungsländern gar um            Konflikte und Katastrophen
                                                             100 Prozent steigen wird? Selbst dieser
                 Chronischer Hunger ist heute eine trau-     wesentlich höhere Bedarf an Nahrungs-        Akute Hungerkrisen wie jene in Afrika
                 rige Realität, obwohl unser Planet genü-    mitteln lässt sich decken, zeigt sich die    betreffen zwar nur eine Minderheit
                 gend Nahrungsmittel für alle hergeben       Ernährungs- und Landwirtschaftsor-           der Hungernden, doch sie sind beson-
                 könnte. Und obwohl das Recht auf einen      ganisation der Vereinten Nationen (FAO)      ders virulent. Ihre Ursache liegt meist
                 angemessenen Lebensstandard, einge-         überzeugt. Simon Zbinden, Co-Leiter          in bewaffneten Konflikten oder Natur-
                 schlossen das Recht auf Nahrung und         des Globalprogramms Ernährungssi-            katastrophen wie Dürren und Über-
                 den Schutz vor Hunger, zu den Men-          cherheit der DEZA, teilt diese These:        schwemmungen – akzentuiert durch
                 schenrechten zählt. Die Agenda 2030         «Die grosse Frage ist nicht, ob sich diese   den Klimawandel – oder der Kumula-
                 setzt deshalb das unmissverständliche       Menge an Nahrungsmitteln produzie-           tion von beidem. Dörfer werden verwüs-
                 Ziel: «Zero Hunger» bis 2030.               ren lässt. Die Frage ist, wie und wo sie     tet, Felder, Ernten und Saatgut vernich-

                 Weltweite Ernährungsunsicherheit
                 Januar 2017 in Prozent der Bevölkerung

                                                                                                                                                      Syrien

                                                                                                                          Libyen

                                                  Haiti

                                                                                                                                          Sudan                Jemen
                      Guatemala                                                                                            Tschad

                                                                                       Guinea-Bissau            Nigeria
                                                                                                                                                     Äthiopien Somalia
                                                                                                                            Zentralafr.   Südsudan
                                                                                                                            Republik

                                                                                                                                                     Kenia
                                                                                                                               DR Kongo Burundi

                                                                                                                                                  Malawi

                                                                                                                                                Mosambik
                                                                                                                                          Simbabwe
                                                                                                                          Namibia
                                                                              Ernährungsunsicherheit
                                                                              (in Prozent)

                                                                                      Keine Schätzungen vorhanden

                                                                                      < 1%

                                                                                      1-5%

                                                                                      5-10%

                                                                                      10-25%

                                                                                      > 25%
                                                                                      Zahlen durch ungleiche Erfassungsmethode nicht vergleichbar

                 10               EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER
         tet, die Menschen flüchten und müssen       Hungerkrise in Sudan, Somalia, Nigeria
         alles zurücklassen. Besonders oft trifft    und Jemen etwa 15 Millionen Menschen,
         es fragile und sehr arme Staaten mit        das ist eine enorme finanzielle und
         stark wachsender Bevölkerung, die           logistische Leistung», hält Simon Zbin-
         kaum in der Lage sind, mit derartigen       den von der DEZA fest.
         Krisen umzugehen. Die ohnehin schwa-
         chen Infrastrukturen und Strukturen         Doch bereits während der akuten Krise
         – Strassen, Schulen, Gesundheitsversor-     gilt es, das Augenmerk auf den Auf-
         gung, Administration – brechen rasch        bau tragfähiger Strukturen zu rich-
         vollends zusammen.                          ten. Je besser dies, gerade in fragilen
                                                     und armen Staaten, durch die breit
         Die humanitäre Hilfe versucht, in solch     gefächerte Entwicklungszusammen-
         chaotischen Phasen die ärgste Not zu        arbeit gelingt, desto eher werden diese
         lindern – hauptsächlich mit Nahrungs-       Staaten und ihre Bewohnerinnen und
         paketen, Wasser, Zelten und Decken.         Bewohner akute Hungerkrisen vermei-
         Einzelne Länder wie die Schweiz und         den oder zumindest besser bewältigen
         globale Organisationen wie das Welter-      können. Der Kampf gegen den Hunger
         nährungsprogramm WFP mobilisieren           führt somit auch über das Engagement
         und verstärken ihre Ressourcen vor Ort.     für Gesundheit, Schulen, Berufsbil-
         «Das WFP versorgt in der aktuellen          dung, Arbeit, höhere Einkommen, Frie-
                                                                                                      DIE VIELEN GESICHTER VON
                                                                                                      HUNGER
                                                                                                      Akuter Hunger, Hungersnot:
                                                                                                      Lebensbedrohend, viel zu wenig
                                                                                                      Nahrung während begrenzter
                                                                                                      Zeit, oft als Folge von Natur-
                                                                                                      katastrophen, bewaffneten
                                                                                                      Konflikten, zerstörten Infra-
                                                    Nordkorea                                         strukturen. Von dieser extremen
DOSSIER HUNGER

                                                                                                                     Die Vereinten Nationen warnen
                                                                                                                     davor, dass sich im Jemen – hier eine
                 densförderung, Bürgerbeteiligung und        Sicht der Schweizer Hilfswerke. So legt                 Strassenszene in der Hauptstadt
                 Demokratie.                                 zum Beispiel Swissaid das Schwerge-                     Sanaa – die weltweit grösste
                                                                                                                     Hungersnot seit Jahrzehnten
                                                             wicht auf ökologische Anbaumethoden                     abzeichnet. © Michel Troncy/Gamma-Rapho/laif
                                                             in Kleinbauernfamilien und die Stär-
                 Familienbetriebe als Rückgrat               kung von Bauernorganisationen und
                                                             Frauengruppen. «Die Produktivität der
                 Ein Bereich allerdings ist im Zusam-        Felder und die Vielfalt der angebauten
                 menhang mit dem Hunger besonders                                                         mentinnen und Konsumenten errei-
                 wichtig: die landwirtschaftliche Pro-                                                    chen. In den Industrieländern spielt
                 duktion. Dabei gilt es, eine Vielzahl von                                                «Food Waste» – wenn Lebensmittel im
                 Querbezügen zu beachten. Rund 500                                                        Abfall landen – eine wesentliche Rolle,
                 Millionen bäuerliche Familienbetriebe              «UNSER BEDARF AN                      in den Entwicklungsländern stehen
                 produzieren weltweit etwa 70 Prozent               NAHRUNGSMITTELN                       Mängel bei Lagerung und Transporten
                 der Nahrungsmittel. Frauen spielen               IST EINE DER GRÖSSTEN                   im Vordergrund. Kommt hinzu: Nur 55
                 dabei eine tragende Rolle, haben aber                 GEFAHREN FÜR                       Prozent des produzierten Getreides sind
                 oft nicht das Recht, Land zu besitzen             UNSEREN PLANETEN.»                     direkt für den Menschen bestimmt – 36
                 und können im Dorf nicht mitbestim-              Jonathan Foley, Umweltwissenschaftler   Prozent landen in den Futtertrögen des
                 men.                                                                                     Viehs für die Produktion von Fleisch,
                                                                                                          neun Prozent werden zu Biotreibstoffen.
                 Gerade dort, wo Hunger besonders ver-                                                    Eine Verschiebung der Gewichte hätte
                 breitet ist, wie in Afrika südlich der                                                   Wirkung. Ein zweiter wichtiger Aspekt
                 Sahara oder in Südasien, ist die Produk-    Produkte nehmen zu», stellt Caroline         für den Zugang zu Nahrung bildet der
                 tivität der Landwirtschaft sehr gering.     Morel von Swissaid fest. «Das ist sehr       soziale Schutz für jene, die sich Lebens-
                 «Diese bäuerlichen Familienbetriebe»,       eindrücklich.»                               mittel nicht leisten können. Rund 100
                 so Simon Zbinden, «sind das Rückgrat                                                     Länder unterstützen in verschiedens-
                 der nationalen Ernährungssicherheit.        Nahrungsmittel sind das Eine, der            ter Form arme Bevölkerungskreise mit
                 Ihre Stärke ist zentral im Kampf gegen      Zugang dazu das Andere. Etwa ein             Nahrungsmittelhilfe, in 130 Ländern
                 Hunger und Armut in den ländlichen          Viertel der produzierten Kalorien geht       bestehen Schulmahlzeiten für Kinder.
                 Gegenden.» Sehr ähnlich ist auch die        weltweit verloren, bevor sie die Konsu-      Und doch kommen mehr als zwei Drit-

                 12         EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER
tel der Hungernden nach wie vor nicht       Ein Beispiel für die Dimension der Her-    effiziente und intelligente Umgang mit
in den Genuss von derartiger sozialer       ausforderungen ist das Wasser. Heute       Wasser – wird also immer wichtiger.
Unterstützung.                              sind rund 40 Prozent der Menschen von      Das Potenzial dafür ist in der indus-
                                            Wasserknappheit betroffen; 2050 werden     triellen, aber auch in der kleinbäuerli-
                                            es angesichts des Klimawandels, höhe-      chen Landwirtschaft gross. Dort fehlen
Potenzial bei Wasser und Boden              rer Bevölkerungszahlen und steigen-        oft Informationen und Ausbildung, die
                                            dem Bedarf gemäss Prognosen der FAO        Bewässerungen erfolgen nicht optimal.
Die landwirtschaftliche Produktion          rund zwei Drittel sein. Der Verteilkampf   Mit einfachen technischen Mitteln oder
hat auch Schattenseiten. Die Landwirt-      um das Wasser wird sich intensivieren.     mit präziser Dosierung dank Hightech,
schaft gehört zu den grössten Verursa-      Dennoch ist die FAO überzeugt, dass die    abgestimmt auf die Beschaffenheit der
chern von Treibhausgasen, belastet die      verfügbare Menge an Wasser ausrei-         Böden, liesse sich das Verhältnis von In-
Böden und reduziert die Biodiversität.      chen wird, um die gesamte Menschheit       und Output wesentlich verbessern.
«Unser Bedarf an Nahrungsmitteln», so       zu ernähren – im Wissen darum, dass
der renommierte amerikanische Um-           die Landwirtschaft weltweit der grösste    Auch bei der Speicherung von Wasser
weltwissenschaftler Jonathan Foley, «ist    Wasserverbraucher ist. Auch um 2050        sind Fortschritte möglich. Bereits einfa-
eine der grössten Gefahren für unseren      dürfte sie noch etwa die Hälfte dieses     che biologische Methoden wie Mulchen
Planeten.» Er hält es jedoch für mach-      kostbaren Rohstoffs beanspruchen. Dies     und Kompost verbessern die Qualität
bar, die Produktion auf bestehenden         hat insofern seine Logik, als Landwirt-    der Böden und deren Fähigkeit, Was-
Böden zu verdoppeln und zugleich die        schaft ohne Wasser nicht denkbar ist.      ser zu speichern. Der Schutz der Natur
Umweltbelastung zu reduzieren, wobei        Mehr noch: Wasser ist zentral für deren    und der Kampf gegen den Klimawandel
sowohl die industrielle wie kleinbäuer-     Produktivität und Leistungsfähigkeit.      schliesslich schützen auch das für die
liche Landwirtschaft höhere Beiträge        Auf jenem Fünftel der Böden, die heute     Ernährung der Menschheit so existen-
leisten müssen.                             bewässert werden, wächst die Hälfte des    zielle Wasser: Etwa 80 Prozent der Was-
                                            Getreides. Wassermanagement – der          serreserven finden sich in den Bergen,

ENGAGEMENT UND STRATEGIE DER DEZA
VERSTÄRKTER FOKUS AUF FRAGILE STAATEN
Das Thema Hunger ist prägend für die        diesem (indirekten) Kampf gegen den        Zugang zu Land, Wald und Wasser.
Strategie der DEZA. Diese legt verstärk-    Hunger.
tes Gewicht auf die fragilen Staaten, hat                                              Fragile und von Konflikten zerrissene
doch Hunger sehr viel mit Fragilität zu                                                Staaten bilden auch in der humani-
tun, mit instabilen Staaten, schlechten     Landwirtschaft und                         tären Hilfe der DEZA klare Schwerge-
Strukturen – und mit bewaffneten Kon-       Ernährungssicherheit                       wichte – so etwa in Somalia, im Südsu-
flikten. Diese sind gemäss Simon Zbin-                                                 dan und in Syrien. Dank den ständigen
den, Co-Leiter des Globalprogramms          Einen Kern des Engagements gegen           Strukturen vor Ort verfügt die DEZA
Ernährungssicherheit der DEZA, «der         Hunger und Armut bildet auch der           über ein «Frühwarnsystem» und kann
stärkste Treiber des Hungers».              Bereich der Landwirtschaft und Ernäh-      die humanitäre Hilfe bei akuten Hun-
                                            rungssicherheit. In der bilateralen Ent-   ger- oder Flüchtlingskrisen leichter
Damit ist auch klar, dass Länder in         wicklungszusammenarbeit der DEZA           nach oben fahren. In der momentanen
Afrika südlich der Sahara, in den Kri-      liegt dieser, gemessen an den Ausgaben     Hungerkrise hat die DEZA auch die Bei-
sengebieten des Nahen Ostens sowie          (2016), denn auch auf Rang 1. Im Fokus     träge an globale Organisationen rasch
in Südasien in der Strategie der DEZA       stehen die bäuerlichen Familienbe-         erhöht – das Welternährungsprogramm
höheres Gewicht erhalten. Simon Zbin-       triebe, die gerade in den Hungergebieten   WFP lag 2016 mit einem Schweizer Bei-
den: «Resultate sind in fragilen Staaten    Afrikas oder Südasiens eine tragende       trag von insgesamt rund 67 Millionen
vielleicht schwieriger zu erreichen, und    Rolle spielen und grosses Potenzial für    Franken an der Spitze aller Organisati-
die Kosten sind höher. Doch der Bedarf      höhere Erträge haben. Ausbildung,          onen der Vereinten Nationen. 2017 dürf-
ist dort am dringendsten.» Dabei sind       Anwendung neuer und ressourcen-            ten die Beiträge noch höher liegen. Die
die Friedensförderung, die Stärkung der     schonende Methoden haben Priorität.        Schweiz ist damit eines der bedeutends-
Bürgerbeteiligung und Demokratie, die       Ebenso wichtig sind die Anpassung          ten Geberländer des WFP. ¢
Bildung sowie die Gesundheit zentral in     an den Klimawandel sowie der sichere

                                                                                                     EINE WELT 01/2018        13
DOSSIER HUNGER

                                                                                                     Schulklasse im
                                                                                                     westafrikanischen Mali.
                                                                                                     Leiden Kinder an Hunger,
                                                                                                     bleiben sie ein Leben
                                                                                                     lang nur eingeschränkt
                                                                                                     lern- und leistungsfähig.
                                                                                                     © Godong/robertharding/laif

                                                                                                                                                            © WFP/Claire Nevill
                 ein Drittel der urbanen Bevölkerung       Entwicklungsländern stark trifft, gelte
                                                                                                                         MEHR FAIRNESS
                 bezieht sein Wasser aus Waldgebieten.     es zu unterscheiden: «Bei der Reduk-                          Hunger hat auch mit fehlender
                 «Die Abholzung von tropischen Wäl-        tion der Treibhausgase sind wir in den                        Fairness zu tun. «Land-Grabbing»
                 dern, um bebaubares Land zu erschlies-    Industriestaaten gefordert. In den Ent-                       oder Kauf und Pacht von Was-
                 sen, ist für unsere Umwelt so zerstöre-   wicklungsländern geht es vor allem                            serrechten in grossem Umfang
                                                                                                                         durch Staaten, grosse Konzerne
                 risch wie kaum etwas anderes», urteilt    darum, sich an veränderte Bedingun-
                                                                                                                         oder Finanzakteure entziehen
                 Jonathan Foley.                           gen anzupassen, zum Beispiel durch                            den Menschen in den Entwick-
                                                           widerstandsfähigere Getreidesorten und                        lungsländern die Lebensgrund-
                                                           die Vermeidung von Erosion.»                                  lagen. Fairer Handel sichert den
                 Lösbare Herkulesaufgabe                                                                                 Kleinbauern angemessene Preise
                                                                                                                         und eine nachhaltige Produktion.
                                                           Zero Hunger – schätzungsweise zusätz-
                                                                                                                         Der landwirtschaftliche Protek-
                 Für Simon Zbinden von der DEZA wären      liche 270 Milliarden Franken an Inves-
                                                                                                                         tionismus auch der Schweiz ver-
                 auch bei der Düngung des Bodens Ver-      titionen pro Jahr sind nötig, um dort-                        schliesst die Märkte für diverse
                 änderungen angezeigt und leicht mög-      hin zu gelangen. Die Menschheit steht                         Agrargüter aus den Entwick-
                 lich: «Hier bei uns setzen wir zu viel    vor einer Herkulesaufgabe. Doch es gibt                       lungsländern. Das Engagement
                 Dünger ein. In Afrika aber hätten ein     viele Ansatzpunkte und Hebel, die sich                        für Demokratie, Menschenrechte
                                                                                                                         und Rechtsstaatlichkeit sowie
                 wenig mehr Dünger und eine verbes-        in Bewegung setzen lassen. Oder wie es
                                                                                                                         gegen Korruption und einseitigen
                 serte Bodenbearbeitung einen sehr         das Welternährungsprogramm WFP                                Freihandel gehört deshalb zu
                 grossen Effekt.» Auch in Sachen Klima-    formuliert: «Der Hunger ist das grösste                       den Prioritäten der DEZA und der
                 wandel, der die Landwirtschaft in den     lösbare Problem weltweit.». ¢                                 Schweizer Hilfswerke.

                 14        EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER
«WIR MÜSSEN DIE KRIEGE BEENDEN»
David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, spricht von der
grössten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Er meint damit die akute Hungerkrise in Afrika und
im Nahen Osten. Interview: Jens Lundsgaard-Hansen.

Herr Beasley, die Zahl der hungernden     Menschen vor dem Hungertod. Das ist        cherheit in den Regionen, die Sie erwäh-
Menschen hat – nach Jahren des Rück-      die grösste humanitäre Krise seit dem      nen, ist in erster Linie durch Konflikte
gangs – wieder zugenommen. Was läuft      Zweiten Weltkrieg.                         bestimmt. Wir tun alles dafür, dass die
falsch?                                                                              Menschen die Dimension dieser Kri-
Tatsächlich haben wir in den letzten      Südsudan, Somalia, Jemen, Syrien und       sen verstehen und erkennen, wie stark
zwei Jahrzehnten grosse Fortschritte im   andere Konfliktregionen – die Zahl der     diese ihr Leben beeinflussen und wie
Kampf gegen den Hunger erzielt. Doch      Konflikte und Krisenherde ist hoch. Kön-   wichtig es für die globale Stabilität ist,
leider geht die Entwicklung zurzeit in    nen Sie überhaupt noch Prioritäten set-    den Hunger zu beenden. Dieser trägt
eine falsche Richtung. Rund 108 Millio-   zen, oder fühlen Sie sich wie Sisyphus?    wesentlich zur globalen Instabilität bei
nen Menschen litten 2016 unter schwe-     Wir brauchen mehr denn je neue             und ist einer der Auslöser der aktuel-
rer Ernährungsunsicherheit, verglichen    Impulse, um den Hunger weltweit in         len Migrationskrise. Unsere Forschung
mit 80 Millionen im Jahr zuvor. Der       gemeinsamem Engagement zu be-              zeigt, dass eine Zunahme der Ernäh-
Hauptgrund dafür sind von Menschen        kämpfen. Der erste und wichtigste          rungsunsicherheit um ein Prozent zu
verursachte Konflikte. Vor allem des-     Impuls wäre, die Konflikte zu beenden.     einer Zunahme der Migration um zwei
wegen stehen gegenwärtig 27 Millionen     Die Situation bezüglich Ernährungssi-      Prozent führt.

                                                                                                    EINE WELT 01/2018        15
DOSSIER HUNGER

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                 der Geberländer? Wie steht es mit der         Jede noch so kleine Spende, zum Bei-
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                 Es ist so, die gegenwärtige Krise erfordert   (www.sharethemeal.org ), hat eine Wir-
                 mehr Geld. Die Reaktion unserer Geber-        kung.
                 länder war enorm. Was die Schweiz
                 betrifft: Sie war und ist ein grossartiger    Welche Beiträge leistet das WFP im
                 Partner. Seit 2012 rangiert sie unter den     Zusammenhang mit chronischer Ernäh-
                 zehn wichtigsten Geberländern. Über           rungsunsicherheit und Fehlernährung?
                 die Jahre hat sich die Schweiz zu einem       Wir stellen den Regierungen unser Wis-
                 wichtigen Verbündeten des WFP ent-            sen zur Verfügung und unterstützen sie
                 wickelt, der die neue Strategie des WFP       im Kampf gegen den Hunger. So arbei-
                 stark unterstützt. Das geht über Geld-        ten unsere Experten für Schulmahlzei-
                 beiträge und Sachleistungen hinaus.           ten mit Ländern in Afrika, Asien und
                                                               Lateinamerika zusammen, damit diese
                                                               ihre eigenen Programme aufbauen und
                                                               führen können. Das Ziel ist es, arme
                                                               Kinder in die Schule zu bringen und
                        «KRIEGE UND KONFLIKTE                  auch dort zu behalten, damit sie eine
                            FÜHREN STETS                       bessere Ausbildung und die Chance für
                             ZU GROSSER                        eine bessere Zukunft erhalten.
                      ERNÄHRUNGSUNSICHERHEIT
                          UND UMGEKEHRT.»                      Das Ziel der «Agenda 2030» ist klar:
                                                               «Zero Hunger» bis 2030. Bis 2050 wer-
                                                               den wir zwei Milliarden Menschen mehr
                                                               sein als heute. Glauben Sie an dieses Ziel,
                                                               oder ist es etwas illusorisch?
                 Die DEZA unterstützt das WFP dabei,           Ich glaube sehr stark an dieses Ziel. Es
                 in Krisen und Katastrophen die Brücke         ist der Grund dafür, dass Männer und
                 zwischen humanitärer Hilfe und Ent-           Frauen jeden Tag für das WFP arbeiten.
                 wicklungszusammenarbeit zu schlagen.          Nicht wenige nehmen Gefahren für ihre
                 Die DEZA trägt auch neue, innovative          persönliche Sicherheit in Kauf, wenn
                 Konzepte mit, zum Beispiel die Bar-           sie jenen helfen, die am verletzlichsten
                 geldtransfers an Bedürftige.                  sind. Wir werden das Ziel der «Agenda
                                                               2030» also nie aus den Augen verlieren.
                 Hat das WFP, angesichts all dieser Kri-       Doch gleichzeitig muss ich eingestehen:
                 sen, genügend Ressourcen und Kraft,           Wir werden den Hunger nie wirklich
                 um nicht nur die Symptome, sondern            beenden können, wenn wir die Kriege
                 auch die Ursachen des Hungers zu              nicht beenden. Das Ziel der «Agenda
                 bekämpfen?                                    2030» ist schlicht nicht erreichbar,
                 Auf lange Sicht verfolgt das WFP das          wenn wir die Konflikte nicht drastisch
                 Ziel, zur wirtschaftlichen Weiterent-         reduzieren können. Denn diese führen          DAVID BEASLEY ist seit April 2017
                 wicklung der Länder und Gesellschaf-          stets zu grosser Ernährungsunsicher-          Exekutivdirektor des Welter-
                 ten beizutragen, in denen wir präsent         heit, und umgekehrt. Es gibt mehr als         nährungsprogramms (WFP)
                 sind. Wir arbeiten daran, mehr Kinder         genügend Wohlstand auf der Welt, um           der Vereinten Nationen. Dieses
                                                                                                             versorgt jedes Jahr rund 80
                 mit Schulmahlzeiten zu versorgen und          jeden Menschen zu ernähren. Doch
                                                                                                             Millionen Menschen, die unter
                 körperlich gesunde Erwachsene in die          wenn derart viel Energie in Konflikte
                                                                                                             schwerem Hunger leiden. David
                 Entwicklung und Unterstützung ihrer           fliesst, ist es nicht möglich, bei unserem    Beasley war über 40 Jahre lang
                 Regionen einzubinden. Das Welternäh-          übergeordneten Ziel echte Fortschritte        in Politik, Wirtschaft und öffentli-
                 rungsprogramm wird immer stark sein           zu erzielen. ¢                                chem Dienst tätig und engagierte
                 in Notsituationen, doch um dauerhafte                                                       sich dabei für die wirtschaftliche
                                                                                                             Entwicklung und humanitäre
                 Ernährungssicherheit zu erreichen,
                                                                                                             Unterstützung der Bedürftigsten.
                 müssen wir die Lebenssituation von                                                          Zwischen 1995 und 1999 war er
                 Männern, Frauen, Knaben und Mäd-                                                            Gouverneur des US-Staats South
                 chen gemeinsam und nachhaltig ver-                                                          Carolina.

                 16         EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER
DIE GROSSE WIRKUNG VON
VERBESSERTEM SAATGUT
Ohne fremde Hilfe können sich im Tschad mehrere Millionen Menschen nicht ernähren. Die landwirtschaft-
liche Produktion ist gering, es fehlt an Strukturen, und oft bleibt der Regen aus. Ein DEZA-Projekt will ein
nationales Saatgutsystem aufbauen und den Bauernfamilien zu besserem Saatgut verhelfen.

                                                                                        Im Rahmen des DEZA-Projekts
                                                                                        im Süden des Tschads
«Die Suche der Bäuerinnen und Bauern      zu Qualitätskontrolle, Verteilung und         überprüfen diese Bäuerinnen
nach qualitativ gutem Saatgut ist heute   Vertrieb – funktioniert schlecht oder         die Qualität des Samens.
                                                                                        © Mahamat Guihini Dadi/DEZA
meist vergebens», stellt Mahamat Gui-     gar nicht.
hini Dadi, DEZA-Mitarbeiter im Tschad,
nüchtern fest. Auf den lokalen Märkten
findet sich kaum etwas zu kaufen, die     Geprägt von Armut und Hunger
Produktion und das Angebot im gan-
zen Land sind gering. Die ganze Saat-     Diese Lücke ist fatal. Allein mit qualita-
gutkette – von der Entwicklung neuer      tiv gutem Saatgut liesse sich die Produk-
Sorten, über deren Produktion bis hin     tion von Getreide um über 20 Prozent

                                                                                        EINE WELT 01/2018             17
DOSSIER HUNGER

                 steigern. Das wäre dringend notwen-         chen Rahmen für eine geordnete Saat-        «Das Projekt fokussiert denn auch
                 dig: Gemäss Welthungerindex besteht         gutkette zu schaffen. Dazu gehört unter     gezielt auf Frauen und junge Men-
                 im Tschad eine «Hungersituation»,           anderem ein nationaler Aktionsplan          schen», so Mahamat Guihini Dadi. Dies
                 das Land liegt weltweit auf Platz 2 der     für die Produktion und den Vertrieb         aus zwei ganz konkreten Gründen: Zum
                 Negativskala, zwei Drittel der 14 Millio-   von Saatgut. Beim landwirtschaftlichen      einen sind schwangere Frauen und Kin-
                 nen Menschen leben in starker Armut.        Forschungsinstitut ITRAD stehen die         der übermässig vom Hunger betroffen.
                 «Letztes Jahr war etwa ein Viertel der      Ausbildung der Mitarbeitenden sowie         Zum anderen sind es oft die Frauen, die
                 Bevölkerung auf externe Unterstützung       die Entwicklung neuer Saatgutsorten         in den Dörfern bleiben, die landwirt-
                 angewiesen, um sich zu ernähren»,           im Vordergrund. Zusätzlich sollen für       schaftliche Produktion aufrechterhal-
                 sagt Mahamat Guihini Dadi. «Die Lage        die Qualitätsanalyse und -kontrolle effi-   ten und im Bereich Saatgut über grosses
                 scheint sich eher zu verschlechtern als     ziente Instrumente und Methoden ein-        Wissen verfügen. Die Männer hingegen
                 zu verbessern.»                             geführt werden. Auf regionaler Ebene        ziehen in die Städte, um Arbeit zu fin-
                                                             müssen landwirtschaftliche Betriebe         den. ¢
                 Die Gründe für die verbreitete Unte-        die neuen und besseren Sorten herstel-
                 rernährung sind auch im Tschad viel-        len und Vertriebskanäle entwickeln, die
                 fältig. Der Klimawandel scheint die         bis in die Dörfer und zu den Bauernfa-
                 Tendenz zu Dürren und Trockenheit           milien reichen. Und diese schliesslich
                 zu verstärken. Früher fiel in einem von     müssen dazu übergehen, neues und
                 zwei oder drei Jahren genügend Regen,       qualitativ besseres Saatgut auch einzu-
                 heute ist dies vielleicht in einem von      setzen.
                 vier Jahren der Fall. Doch die Natur ist
                 nicht der alleinige Grund dafür, dass       «Es geht darum, Fähigkeiten und Ins-
                 die Menschen hungern. Die schwache          trumente aufzubauen, Rollen und
                 landwirtschaftliche Produktion und          Zuständigkeiten zu klären und Prozesse
                 Produktivität haben auch mit unzu-          zu etablieren, die sich zuerst einmal
                 reichenden Methoden, ungenügender           einspielen müssen, um später autonom
                 Ausbildung und schlechten Arbeitsge-        zu funktionieren», fasst Mahamat Gui-
                 räten der Bäuerinnen und Bauern zu          hini Dadi den anspruchsvollen Prozess
                 tun. Wer bitterarm ist, kann auch nicht     zusammen. Es geht um Theorie und
                 investieren. Und wo Strukturen fehlen       die Definition von neuen Arbeitsinstru-
                 oder unklar sind, wie dies beim Saatgut     menten und -abläufen, aber auch um
                 der Fall ist, funktioniert das System als   die konkrete Praxis: Die Projektverant-
                 Ganzes nicht.                               wortlichen begleiten und unterstützen
                                                             die Aktivitäten der verschiedenen betei-
                                                             ligten Instanzen, es werden Texte und
                 Tragfähige Kette aufbauen                   Checklisten formuliert, Ausbildungen
                                                             angeboten und durchgeführt, Zustän-
                 Das Ziel des von der DEZA finanzierten      digkeiten geklärt und Formen der
                 Projekts ist deshalb klar: Es soll eine     Zusammenarbeit eingeführt.                            RIESIGES LAND, VERNETZTES
                 funktionierende Saatgutkette aufgebaut                                                            PROJEKT
                                                                                                                   Die Republik Tschad zählt rund
                 werden, damit die Bäuerinnen und Bau-
                                                                                                                   14 Millionen Einwohner und ist
                 ern, die am Schluss der Kette stehen,       Frauen und Kinder im Fokus                            flächenmässig etwa so gross
                 über qualitativ besseres Saatgut verfü-                                                           wie Deutschland, Frankreich und
                 gen. Dieses wird in den schwierigen kli-    Neben dem strukturellen, administra-                  Italien zusammen. Das Projekt
                 matischen Verhältnissen und im Kampf        tiven und ausbildungsbezogenen Auf-                   der DEZA zum Aufbau einer Saat-
                                                                                                                   gutkette im Tschad ist im Norden
                 gegen den Hunger grössere Ernten und        bau trägt das Projekt auch bereits bei
                                                                                                                   und Süden des Landes aktiv. Die
                 höhere Einkommen ermöglichen.               der Produktion von Saatgut Früchte.                   erste Projektphase endet 2018,
                                                             Im südlichen Tschad beispielsweise                    eine zweite Phase ist in Vorberei-
                 Momentan besteht die Kette aus vielen       produzieren inzwischen verschiedene                   tung. Dabei sind eine Erweiterung
                 nur dürftig oder überhaupt nicht funk-      Frauengruppen verbessertes Saatgut                    des Projekts und der Einbezug
                 tionierenden und schlecht verknüpf-         und verkaufen es anschliessend auf den                der EU und Deutschlands als
                                                                                                                   Finanzierungspartner denkbar.
                 ten Gliedern. Auch aus diesem Grund         Märkten. Mit dem erzielten Einkom-
                                                                                                                   Die Weltbank hat bereits ein eige-
                 hat das Projekt vergangenes Jahr das        men sichern sie die Ernährung und den                 nes Projekt gestartet, welches
                 tschadische Landwirtschaftsministe-         Schulbesuch ihrer Kinder.                             die Wirkung des DEZA-Projekts
                 rium dabei unterstützt, den gesetzli-                                                             verstärken soll.

                 18         EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER
FACTS & FIGURES

98 Prozent                                                         Weitere
der Menschen mit                                                   Schlüsselzahlen
chronischem Hunger leben in
Entwicklungsländern. 75 Prozent                                    > Von den 815 Millionen
von ihnen leben auf dem Land.                                      Menschen, die chronisch
                                                                   unter Hunger leiden, leben
                                                                   rund 490 Millionen in Konflikt-
                                                                   und Krisengebieten.
                                                                   > Über 600 Millionen oder
                                                                   ein Drittel aller Frauen in
5000 Kinder                                 1000                   gebärfähigem Alter haben
sterben jeden Tag weltweit wegen                                   als Folge von Hunger
Unter- und Mangelernährung.                                        und Mangelernährung zu
                                            1000
                                                                   wenig rote Blutkörperchen
                                                                   (Anämie).
                                            1000                   > Weltweit sind rund 40
                                                                   Millionen oder 6 Prozent
                                            1000                   der Kinder unter fünf
                                                                   Jahren übergewichtig. Bei
                                            1000                   den Erwachsenen liegt der
                                                                   Anteil bei knapp 13 Prozent.
                                                                   > Preisschwankungen von
                                                                   Lebensmitteln betreffen
1 Milliarde Tonnen                                                 die Ärmsten am stärksten.
Um so viel muss die Getreide-                                      In den USA geben die
produktion bis 2050 global
zunehmen, um den Bedarf zu
decken. Heute liegt die Produktion
                                                    +              Menschen knapp 7 Prozent,
                                                                   in der Schweiz knapp 9
                                                                   Prozent ihres Budgets für
bei gut 2 Milliarden Tonnen.                                       Nahrungsmittel aus. In wenig
                                                                   entwickelten Ländern liegt
                                                                   der Anteil meist zwischen
                                                                   40 und 60 Prozent,
                                                                   gelegentlich gar höher.
Welthungerindex 2017
Gemäss dem Welthungerindex 2017 (www.globalhungerindex.org)
haben 52 von 119 Ländern Hungerwerte (WHI), die als ernst,
sehr ernst oder gravierend eingestuft werden.                      Quellen und Links
Die Länder mit den höchsten Werten sind:                           • www.worldhunger.org
                                                                   Hunger Notes (World Hunger
                                                                   Education Service and World Hunger
                                                                   Notes); viel Wissenswertes über
                                                                   verschiedenste Aspekte von Hunger
                                                                   • www.wfp.org
                                                                   Das Welternährungsprogramm der
                                                                   Vereinten Nationen ist die wichtigste
                                                                   Institution der UNO im Kampf gegen den
                                                                   globalen Hunger und vereint verschiedenste
                                                                   Organisationen, u.a. FAO, IFAD, Unicef, WHO
                                                                   • www.fao.org
 Zentralafrikanische              Tschad            Sierra Leone   Die Ernährungs- und Landwirtschafts-
      Republik                                                     organsiation der Vereinten Nationen
                                                                   gibt unter anderem den Bericht «How
     WHI: 50,9                       43,5              38,5        to Feed the World in 2050» heraus

                                                                            EINE WELT 01/2018            19
HORIZONTE INDIEN

                                        DER INDISCHE TRAUM
                                          VOM EIGENHEIM
                                             Indiens wachsende Mittelschicht, zu der mehrere 100 Millionen
                                           Menschen gehören, verlangt mehr Wohnraum. Seit der Bargeldreform
                                             von 2016 sind jedoch das Wachstum und auch die Bautätigkeit
                                             der jahrelang am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der
                                             Welt eingebrochen. Trotzdem hoffen viele Inderinnen und Inder,
                                             bald in ihre bereits bezahlten Wohnungen einziehen zu können.
                                                                 Text: Volker Pabst, Neu-Delhi

                   Delhi wuchs in seiner Geschichte        che Hochhäuser gibt es mit wenigen       strebenden Mittelschicht den Traum
                   immer in die Fläche. Das Territorium    Ausnahmen keine – oder genauer, gab      vom Eigenheim erfüllen.
                   von Indiens Hauptstadt mit ihren über   es keine. Seit einigen Jahren wächst
                   20 Millionen Einwohnerinnen und Ein-    Delhi nämlich auch in die Höhe. An den
                   wohnern umfasst mittlerweile andert-    Rändern der Stadt entstehen Traban-      Riesige Überbauungen
                   halb tausend Quadratkilometer. Selten   tenstädte mit hohen Wohntürmen aus
                   sind die Häuser im Zentrum aber mehr    Beton. In riesigen Überbauungen wollen   Einer von ihnen ist Amir Azan. Seit eini-
                   als einige Stockwerke hoch. Eigentli-   sich dort Hunderttausende aus der auf-   gen Monaten lebt der IT-Ingenieur im 14.

                   20        EINE WELT 01/2018
HORIZONTE INDIEN
Das Gedränge in Delhis                       veralteter Infrastruktur aber durchaus      thek hält sich trotz den Zinsen, die
Mittelklassevierteln und deren               eine gewisse Modernität. Und angesichts     landesüblich über 10 Prozent liegen, in
veraltete Infrastruktur sind
der Grund dafür, warum viele
                                             des beschränkten Freizeitangebots in        Grenzen. Doch nicht für alle hat sich
Inderinnen und Inder in neu                  vielen indischen Städten, insbeson-         der Schritt bisher gelohnt – vor allem,
errichtete Trabantenstädte vor den           dere in den aus dem Boden gestampf-         wenn sich die Fertigstellung der Pro-
Toren der indischen Hauptstadt
                                             ten und noch nicht zu Ende gebauten         jekte über Jahre verzögert.
ziehen. © Tim Graham/robertharding/laif
                                             Satellitenstädten, haben eigene Sport-
                                             stätten und Parks einen gewissen Reiz.
                                             Denn ausserhalb des Compounds ist           Grosse Verzögerungen
                                             der öffentliche Raum vernachlässigt,
Stock eines Hochhauses, der eigentlich       die Wege sind lang und der öffentli-        Mona Das hat 2012 mit ihrem Mann
der 13. ist. Weil Numerologie in Indien      che Verkehr funktioniert nur mässig.        eine Dreizimmerwohnung in Noida
eine wichtige Rolle spielt und die 13 auch   Da schätzt man die Infrastruktur in         gekauft, bezogen hat sie diese noch
hierzulande eine unglückbringende Zahl       unmittelbarer Nähe.                         immer nicht. «Unsere Wohnung liegt
ist, folgt aber auf das 12. direkt das 14.                                               im 26. Stock, vom Wohnhaus sind aber
Stockwerk. Azans Wohnhaus steht in           Azan lächelt, wenn er auf die «World        erst vier Stockwerke gebaut», erklärt
Noida, einem Vorort im Südosten Delhis       Class Living Standards» angesprochen        die Dozentin für Politikwissenschaften.
und gehört zur Gaur City, einem nach         wird, mit denen Komplexe wie die Gaur       «Seit fünf Jahren bezahlen wir jeden
dem federführenden Bauunternehmen            City ihre Käufe umwerben. Er hat für        Monat 35 000 Rupien (530 Franken) an
benannten Grosskomplex. Nach Fertig-         seine Firma einige Zeit in den USA          die Bank. Und fast noch einmal gleich-
stellung aller Gebäude werden hier ein-      gearbeitet und kann vergleichen. «Was       viel geht als Miete weg. Wir können
mal mindestens 35 000 Menschen leben         dort zum Standardausbau einer einfa-        uns das zum Glück leisten. Andere ste-
– mehr als in Neuenburg, Freiburg oder       chen Mietwohnung gehört, gibt es bei
Chur. Es gibt ein Sportstadion, Swim-        uns nur im Luxussegment.» Dennoch
mingpools, Einkaufsmöglichkeiten und         ist er nicht unzufrieden. «Ich habe
Kinderspielplätze. Die Schule und das        eine Klimaanlage und einen kleinen
Spital sind noch im Bau.                     Balkon. Zum Joggen nutze ich das Sta-
                                             dion, manchmal gehe ich auch in den
Nicht alle Überbauungen, die in den ver-     Pool», erzählt er. «Ich arbeite viel, und             DEMONETARISIERUNG
                                                                                                   Es war die wahrscheinlich radi-
gangenen Jahren im Umland von Delhi          wenn ich von meiner Arbeit am Abend
                                                                                                   kalste Reform ihrer Art. Am Abend
und anderen grossen Städten des Lan-         nachhause komme, fehlen mir Zeit und                  des 8. Novembers 2016 kündigte
des wie Pilze aus dem Boden geschossen       Energie für grössere Ausflüge.» Azans                 die indische Regierung die sofor-
sind, haben so gewaltige Dimensionen         Firma ist 18 Kilometer von der Gaur City              tige Entwertung aller 500- und
wie die Gaur City in Noida. Praktisch        entfernt, zum Pendeln ruft er sich über               1000-Rupien-Noten an, 86 Pro-
allen Projekten ist aber gemein, dass sie    Fahrdienstvermittler wie Uber oder Ola                zent des zirkulierenden Bargelds
                                                                                                   wurde so über Nacht wertlos.
mehr als reinen Wohnraum anbieten.           ein Taxi. Morgens komme er relativ gut
                                                                                                   Der Überraschungsschlag sollte
Ein Gemeinschaftszentrum für gesel-          durch den Verkehr, doch abends sei er                 einerseits Schwarzgeldbesitzer
lige Anlässe sowie ein Sportzentrum          meist weit mehr als eine Stunde unter-                zur Deklaration ihrer Vermö-
mit Schwimmbecken sind Standard,             wegs.                                                 gen und der Nachzahlung von
Luxusüberbauungen bieten oft mehr,                                                                 Steuern zwingen, andererseits
                                                                                                   erhoffte man sich eine Formali-
etwa ein Wellnesszentrum oder einen          Für den Kauf der Wohnung seien aber
                                                                                                   sierung der indischen Wirtschaft.
kleinen Golfplatz. Den westlichen Beob-      nicht die Zusatzangebote in der Über-                 Diese Ziele wurden nur ansatz-
achter erinnert das an urbanistische         bauung ausschlaggebend gewesen, son-                  weise erreicht, die Kosten der nur
Konzepte der Vergangenheit, die heute        dern die Lage und vor allem der Preis.                mangelhaften Reform waren aber
weitgehend als gescheitert betrachtet        «Das Leben in der Stadt ist interessan-               gewaltig. Insbesondere die arme,
werden. Auch sonst wirken die gesichts-      ter, gerade für einen Junggesellen wie                im riesigen informellen Sektor
                                                                                                   beschäftigte Bevölkerung wurde
losen, ins staubige Brachland gestellten     mich. Aber in Delhi hätte ich mir nur
                                                                                                   von der plötzlichen Entwertung
Betonblocks wenig verlockend.                ein Zimmer leisten können. Nun habe                   des Bargelds schwer getroffen.
                                             ich eine Dreiraumwohnung, in der ich                  Für den letztjährigen Wachstums-
                                             auch bleiben kann, wenn ich einst eine                einbruch der einst am schnells-
Billiger als in der Stadt                    Familie gründe.» Azan erklärt, sein                   ten wachsenden grossen
                                                                                                   Volkswirtschaft der Welt wird
                                             Apartment habe 3,7 Millionen Rupien
                                                                                                   die Reform ebenfalls mitverant-
Dennoch verströmen die Wohnkom-              (57 000 Franken) in der Gaur City gekos-
                                                                                                   wortlich gemacht. Korruption und
plexe im Vergleich zum Gedränge in           tet. 50 Prozent habe er direkt bezahlen               Geldwäsche, etwa im Bausektor,
Delhis Mittelklassevierteln und deren        können. Die Belastung durch die Hypo-                 sind nicht verschwunden.

                                                                                                       EINE WELT 01/2018           21
HORIZONTE INDIEN

                   hen aber vor dem Ruin.» Die Wohnung         Hinzu kam der Effekt der für das ganze    Bargelds ihren Wert. Kaum eine Bran-
                   des Ehepaares Das gehört zum «Wish          Land überraschenden Entwertung der        che war von der kontroversen Mass-
                   Town»-Komplex, der grössten Über-           grössten Banknoten. Durch die soge-       nahme so stark betroffen wie die Bau-
                   bauung in Noida mit insgesamt über          nannte Demonetarisierung, mit der         wirtschaft. Es ist ein offenes Geheimnis,
                   30 000 Einheiten. Fertiggestellt sind       die Regierung die riesige Schattenwirt-   dass durch Bauprojekte grosse Summen
                   bisher erst einige Tausend. Gebaut wird     schaft trockenlegen wollte, verloren      an Schwarzgeld weissgewaschen wer-
                   zurzeit nicht. Die Baufirma, die zum        über Nacht 86 Prozent des gesamten        den. Plötzlich fehlte dieses Geld.
                   Grosskonglomerat Jaypee gehört, ist in
                   schwere Zahlungsschwierigkeiten gera-
                   ten, seitdem die Preisblase am Immobi-
                   lienmarkt geplatzt ist.

                   In den vergangenen Jahren stiegen die
                   Immobilienpreise jährlich im hohen
                   zweistelligen Prozentbereich, was zu
                   Spekulationsgeschäften führte. Die
                   Anzahlungen der Käufer für eine Über-
                   bauung wurden statt in die Fertigstel-
                   lung oftmals sofort in neue Projekte
                   gesteckt, die sich später noch teurer
                   verkaufen liessen. Es herrschte Goldgrä-
                   berstimmung. Als sich dann angesichts
                   des drastisch gestiegenen Angebots
                   neue Ausschreibungen aber nicht mehr
                   so gut absetzen liessen und die Preise zu
                   sinken begannen, gerieten viele Unter-
                   nehmen in Schwierigkeiten und muss-
                   ten die Bautätigkeit einstellen.

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