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EINE WELT NR. 1 / MÄRZ 2018 Das DEZA-Magazin für Entwicklung und Zusammenarbeit HUNGERSNOT Katastrophaler Mangel trotz grosser Fortschritte – die Gründe AUFSTREBENDES INDIEN Die wachsende Mittelschicht von mehreren 100 Millionen Menschen verlangt mehr Wohnraum FEHLENDE MEDIKAMENTE Fast die Hälfte der Menschen in den ärmsten Ländern hat keinen Zugang zu den wichtigsten Medikamenten
INHALT DOSSIER HORIZONTE FORUM HUNGER INDIEN 8 Hunger – das grösste lösbare 20 Der indische Traum vom Eigenheim 32 Warum nur fehlt es an Problem weltweit Indiens wachsende Mittelschicht, zu Medikamenten für die Armen? Über 800 Millionen Menschen leiden der mehrere 100 Millionen Menschen Fast die Hälfte der Menschen in den chronisch unter Hunger, in einigen gehören, verlangt mehr Wohnraum ärmsten Ländern hat keinen Zugang Ländern Afrikas und im Nahen Osten zu den wichtigsten Medikamenten herrscht gar akute Hungersnot 24 Aus dem Alltag von ... 35 15 Marylaure Crettaz Corredor, Dialog erfolgreicher als «Wir müssen die Kriege beenden» Missionschefin der Schweizer Zuckerbrot und Peitsche Interview mit David Beasley, Exekutiv- Entwicklungszusammenarbeit in Indien, Entwicklungszusammenarbeit im direktor des Welternährungsprogramms über ihren kontrastreichen Berufsalltag Austausch gegen abgewiesene der Vereinten Nationen Asylsuchende – die Erfahrung zeigt, dass 25 die Methode kontraproduktiv sein kann 17 So nah und doch so weit Die grosse Wirkung von Die indische Frauenrechtsaktivistin 37 verbessertem Saatgut Urvashi Butalia über die Mühen der Geboren auf der Flucht Damit Bauernfamilien und die Landwirt- beiden Nachbarn Indien und Pakistan, Carte blanche: Sharbanoo Sadat schaft besser gegen Hunger gewappnet sich endlich als Freunde zu begreifen aus Afghanistan über ihre Kindheit sind, unterstützt die Schweiz im Tschad und Klischees, die sie meidet den Aufbau eines Saatgutsystems 19 DEZA Facts & Figures KULTUR 26 Schweizer Käse in Kirgisistan 38 Mit dem Verkauf einer Schweizer «Die Welt muss den Milchverarbeitungsanlage an einen Menschen zustehen» privaten Investor geht ein Interview mit der senegalesischen aussergewöhnliches Projekt zu Ende Schriftstellerin Ken Bugul, die zu 29 den wichtigen Stimmen der afrikanischen Gegenwartsliteratur gehört Bioenergie aus Gülle und Pflanzen Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit In Kuba erzeugen Bauernfamilien Biogas (DEZA), die Agentur der internationalen Zusam- und Biodiesel für den Eigenbedarf. menarbeit im Eidgenössischen Departement für Damit erhöhen sie ihre Ernährungs- 3 Editorial auswärtige Angelegenheiten (EDA), ist Herausgeberin sicherheit und senken die Bodenbelastung 4 Periskop von «Eine Welt». Die Zeitschrift ist aber keine offizi- 31 Einblick DEZA elle Publikation im engeren Sinn; in ihr sollen auch 41 Service andere Meinungen zu Wort kommen. Deshalb geben nicht alle Beiträge notwendigerweise den Standpunkt 43 Fernsucht mit Florence Chitacumbi der DEZA und der Bundesbehörden wieder. 43 Impressum 2 EINE WELT 01/2018
EDITORIAL DIE HUNGERSNOT BEDROHT MILLIONEN Die heutige Ausgabe von «Eine Welt» zeigt, vor wel- chen enormen Herausforderungen die internationale Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Bewälti- gung der Hungerkrise in Afrika steht. Für das nächste Thema gibt es keinen geschliffenen Übergang. Ich versuche deshalb gar nicht, einen zu finden. Es geht um das neue Layout von «Eine Welt», © DEZA das Ihnen bestimmt schon aufgefallen ist. Bereits vor zweieinhalb Jahren war «Hunger» Haupt- Ich bekenne, dass ich keinen ausgeprägten Sinn für thema dieses Magazins. Es ging vor allem um Unter- Ästhetik habe. So dürfte nicht erstaunen, dass meine und Mangelernährung und allgemeine Fragen der Kolleginnen und Kollegen von der «Eine Welt»-Redak- Ernährungssicherheit. Damals schien es, dass der tion keine leichte Aufgabe hatten, mich von der Not- Kampf gegen den Hunger auf der Welt zwar noch wendigkeit eines neuen Erscheinungsbilds für unsere einige Jahre dauern würde und dabei wohl auch Publikation zu überzeugen. Als dann die EDA-Graphi- Rückschläge zu erwarten wären, der Erfolg aber ker «visuelle Ruheräume» als ein besonders innova- insgesamt unaufhaltsam sein würde. Die Realität ist tives Designmerkmal anpriesen, war meine Skepsis heute leider eine andere. Während ich diese Zeilen vollends geweckt. Weise verliess ich mich schluss- schreibe, sind 27 Millionen Menschen in Jemen und endlich aber auf das Urteil von Leuten, die mehr von verschiedenen Regionen Afrikas akut vom Hungertod künstlerischer Gestaltung verstehen als ich. bedroht und praktisch vollständig von humanitärer Hilfe abhängig. Das Resultat liegt Ihnen nun vor, und Ihnen gebührt auch das abschliessende Urteil, geschätzte Lese- Wie in den allermeisten Fällen von akuten Hungers- rin, geschätzter Leser. Dabei hoffe ich natürlich, nöten sind Nahrungsmittel bitter notwendig, um eine dass Sie meine heutige Überzeugung teilen, dass humanitäre Katastrophe abzuwenden, aber nicht das gesteckte Ziel erreicht wurde und sich «Eine ausreichend, um die Krise zu bewältigen. Deren Ursa- Welt» nun noch angenehmer liest und die Qualität der che liegt nicht immer, aber fast immer auch in bewaff- Beiträge dank der visuellen Ruheräume (jetzt sogar neten Konflikten. Der Krieg unterbricht die Produktion ohne «») noch besser zur Geltung kommt. und verhindert den Zugang der betroffenen Bevöl- kerung zu Nahrung. Das gilt insbesondere für den Manuel Sager Südsudan, den Jemen und Teile Nigerias. Der Hun- Direktor der DEZA gertod ist dort nicht einfach das traurige Ende eines menschlichen Schicksals, sondern von Menschen verursacht oder zumindest in Kauf genommen. Die DEZA hat im Februar des vergangenen Jahres zusätzlich 15 Millionen Franken für die von Hunger besonders betroffenen Länder Afrikas zur Verfügung gestellt. Die Hilfe kommt zwar an bei den Notleiden- den, aber der Zugang zu ihnen ist oft extrem mühevoll und damit teuer. Vielerorts kann unser Hauptpartner vor Ort, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), die Versorgung aus Sicherheitsgrün- den nur aus der Luft sicherstellen, durch sogenannte «Air-drops». Diese sind rund zehnmal teurer als der Landweg. EINE WELT 01/2018 3
PERISKOP KINDERSTERBLICHKEIT AUF REKORDTIEF (cz) Die Anzahl der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, ist auf ein Allzeittief gefallen: Die Zahl der jährlichen Todesfälle sank zwischen 1990 und 2016 von 12,6 Millionen auf 5,6 Millionen. Das schreibt die UNO in ihrem jüngsten Bericht zur Kindersterblichkeit. Der Fortschritt sei gross und eine gute Nachricht, heisst es. Man dürfe aber nicht verges- sen, dass noch immer sehr viele Kinder an vermeidbaren Krankheiten sterben. Noch seien die Ziele für nachhaltige © Nicolas Pelaez Entwicklung nicht erreicht. Bis 2030 soll die Sterblichkeits- rate von Kindern unter fünf Jahren bei höchstens 25 von 1000 liegen. Aktuell sind es noch immer 41. Dabei gibt es ONLINE IM CONTAINER enorme Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen. Während in Europa nur etwa jedes 170. Kind unter fünf (cz) Die ZubaBox ist ein Container, der als Internetcafé Jahren stirbt, ist es in Subsahara-Afrika jedes Dreizehnte. oder Schulungsraum verwendet werden kann. Die Einrich- tung wird über Sonnenenergie gespiesen und kann zum Beispiel in Flüchtlingslagern aufgestellt werden. Die eins- tigen Schiffcontainer sollen vor allem jungen Menschen SCHWEIZER FILTER EROBERT DIE WELT eine sichere Umgebung bieten, in der sie lernen und ihre (bf) ETH-Professor Raffaele Mezzenga und sein Oberassistent Computerfähigkeiten weiterentwickeln können. ZubaBox Sreenath Bolisetty haben eine Filtermembran entwickelt, wurde von der englischen NGO Computer Aid Internatio- die Schwermetalle und andere Schadstoffe, namentlich nal entwickelt und wird zusammen mit lokalen Partnern auch Arsen, aus dem Wasser entfernt. Seit sie ihre Erfindung installiert und unterhalten. Das Projekt gibt es bereits in im Januar 2016 in der Fachzeitschrift «Nature Nanotech- Ghana, Kenia, Nigeria, Togo, Sambia, Simbabwe und Süd- nology» vorstellten, macht sie weltweit Schlagzeilen. Die afrika. Vergangenes Jahr wurde der erste Container in Nachfrage ist so gross, dass die beiden ihr eigenes Unter- Bogotá, Kolumbien aufgestellt (Bild). nehmen Blue Act Technologies gegründet haben. Neben Minengesellschaften oder Atomkraftwerken sind auch Entwicklungsländer an der Filtermembran interessiert. Speziell für Letztere haben die beiden Forscher eine Trink- wasser-Filterflasche entwickelt, «ein rein humanitäres MADE IN AFRICA Projekt, das uns sehr am Herzen liegt», betont Mezzenga. (cz) Äthiopien wird zum China Afrikas – so jedenfalls sagt Die Flaschen sollen in Asien, Afrika und Lateinamerika es eine aktuelle Studie des amerikanischen Think-Tanks an Menschen verteilt werden, die keinen Zugang zu sau- Center for Global Development voraus. Im Gegensatz zu vielen berem Trinkwasser haben. Damit die Filtermembran-Fla- anderen Ländern des Kontinents habe es Äthiopien geschafft, sche auch tatsächlich die Ärmsten erreicht, arbeitet das sich als bedeutender Produktionsstandort zu etablieren. Unternehmen mit den Behörden und NGOs zusammen. Marken wie H&M, Guess und J. Crew produzierten bereits Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh wurde bereits im Land. Grund dafür seien vergleichsweise tiefe Kosten Land erschlossen, um eine Produktionsstätte zu bauen. und eine hohe Produktivität. Das Forscherteam hat Perso- nal- und Kapitalkosten sowie Produktivität und Effizienz der Herstellung in mehr als 5000 Firmen in 29 Ländern untersucht. Im Vergleich mit etablierten Produktionsländern wie Bangladesch schnitten viele Länder in Subsahara-Af- rika schlecht ab. Äthiopien hingegen sei konkurrenzfähig und könne von einer Abwanderung der Produktion aus Ländern mit steigenden Löhnen profitieren. In den letzten Jahren ist die Herstellungsindustrie des Landes um jeweils zehn Prozent gewachsen. Die Gesamtwirtschaft Äthiopi- ens ist eine der am schnellsten wachsenden der Welt. © Mezzenga Lab/ETH Zürich 4 EINE WELT 01/2018
PERISKOP © Zeichnung von Jean Augagneur «ANTILOPEN-PARFÜM» VERSCHEUCHT TSETSE-FLIEGEN Die Universität Genf hat zusammen mit jenen von Luzern (bf) Die in Afrika weitverbreitete Afrikanische Schlafkrank- und Heidelberg den Ort, das Datum und die Dauer von 1800 heit ist eine tödliche Infektionskrankheit, welche durch die Konflikten in Subsahara-Afrika zwischen 1990 und 2011 Tsetse-Fliege auf Mensch und Tier übertragen wird. Nun hat ausgewertet. Die Wirtschaftswissenschaftler haben diese ein Forscherteam vom Zentrum für Entwicklungsforschung als SCAD (Social Conflict Analysis Database) bezeichnete der Universität Bonn mit Kollegen aus Kenia und Grossbri- Datenbank mit dem Trockenheitsindex SPEI (Standardised tannien herausgefunden, wie sich die Krankheit bei Tieren Precipitation Evapotranspiration Index) abgeglichen. Dieser wirksam verhindern lässt. Weil die Tsetse-Fliegen Wasserbö- misst die monatlichen Niederschläge einer Region und cke, welche vielerorts in Afrika vorkommen, meiden, haben zieht davon das verdunstete Wasser ab. Damit lässt sich die die Wissenschaftler den Geruch dieser Antilopen imitiert. verfügbare Wassermenge pro Monat auf einer Fläche von 50 Trugen die Rinder Halsbänder mit dem Abwehrstoff, blie- Quadratkilometern ausrechnen. Fazit der Studie: Aufstände ben in einem gross angelegten zweijährigen Feldversuch in im Zusammenhang mit Trockenheit brechen innerhalb Kenia mehr als 80 Prozent der Tiere von der gefürchteten von vier Wochen vor einem Wassermangel aus. Das mete- Infektion verschont, was wiederum zu einer deutlichen orologische Phänomen erhöht das Risiko eines Aufstands Verbesserung der Ernährungssicherheit und des Haushalt- um 10 Prozent auf 50 Prozent. Die Wissenschaftler nützen einkommens der beteiligten Hirtenfamilien beitrug. Gemäss diese Daten, um Risikoperioden und -zonen besser identi- dem Forscherteam sei im Vergleich zu den üblicherweise fizieren und Präventionsmassnahmen planen zu können. eingesetzten Tiermedikamenten die Halsbandmethode auch deutlich kostengünstiger und damit wirtschaftlicher. DÜRRE ENTFACHT KONFLIKTE (zs) Ein Zusammenhang zwischen Trockenperioden und politischen Konflikten wurde zwar schon vermutet, bisher aber nicht nachgewiesen. Nun ist er wissenschaftlich belegt. © Brendan Bannon/Polaris/laif EINE WELT 01/2018 5
DOSSIER HUNGER Kriegerische Konflikte sind einer der Hauptgründe dafür, warum Menschen an Hunger leiden – hier eine Familie, welche vor dem Bürgerkrieg aus dem Südsudan nach Uganda geflüchtet ist. © Maria Feck/laif 6 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER DOSSIER HUNGER HUNGER – DAS GRÖSSTE LÖSBARE PROBLEM WELTWEIT SEITE 8 «WIR MÜSSEN DIE KRIEGE BEENDEN» SEITE 15 DIE GROSSE WIRKUNG VON VERBESSERTEM SAATGUT SEITE 17 FACTS & FIGURES SEITE 19 EINE WELT 01/2018 7
DOSSIER HUNGER HUNGER – DAS GRÖSSTE LÖSBARE PROBLEM WELTWEIT Über 800 Millionen Menschen leiden chronisch unter Hunger, in einigen Ländern Afrikas und im Nahen Osten herrscht akute Hungersnot – obwohl die Erde eigentlich genügend Nahrungsmittel für alle bieten könnte. Humanitäre Hilfe ist zwingend, aber nicht ausreichend für eine Trendwende. Text: Jens Lundsgaard-Hansen Ein Vulkanausbruch in Indonesien, ein flikte und Terrorgruppen, Trockenheit so David Beasley, Exekutivdirektor des kalter Sommer mit schlechter Ernte und Dürre, zahllose Menschen auf der Welternährungsprogramms WFP der und explodierenden Preisen, die Folgen Flucht. Schätzungen gehen davon aus, Vereinten Nationen (siehe Interview der Napoleonischen Kriege. Das waren dass rund 27 Millionen Menschen vom S. 15). die Jahre 1816/17 mit der letzten gros- direkten Hungertod bedroht sind. In sen Hungerkrise in der Schweiz. Heute, Ländern wie Nigeria, Somalia, Süd- Neben diesen Brennpunkten führen die gut 200 Jahre später, sind wir Zeuge sudan, Jemen, Syrien und Irak spielt Statistiken 815 Millionen Menschen auf, einer akuten Hungerkrise in Afrika sich gerade die «grösste humanitäre die weltweit von chronischem Hunger und im Nahen Osten: kriegerische Kon- Krise seit dem Zweiten Weltkrieg» ab, und Unterernährung betroffen sind. 8 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER Momentan sind weltweit rund 27 Millionen Menschen direkt vom Hungertod bedroht – besonders betroffen sind unter anderem das Grenz- gebiet von Südsudan und Uganda (linke Seite) oder das von Dürre geplagte Somaliland (rechts). © Maria Feck/laif © Christoph Goedan/laif Jeder neunte Mensch geht am Abend mehr als «zu wenig zu essen und zu obwohl ihr Bedarf besonders hoch wäre. hungrig zu Bett. Wobei Hunger und trinken» – obwohl schon dies allein Und wer sich kaum die lebensnotwen- Durst meist zusammengehören. Fast schlimm genug wäre. Hunger, Unter- dige Nahrung leisten kann, wird auch alle Hungernden leben in Entwick- und Mangelernährung schwächen die wenig oder nichts in Gesundheit oder lungsländern, drei Viertel auf dem Land Menschen und machen sie anfälliger Bildung investieren können. Ökonomen – paradoxerweise also dort, wo die Nah- für Krankheiten und Seuchen. Fast schätzen, dass Kinder mit Mangeler- rung produziert wird. Etwa drei Millio- die Hälfte aller Todesfälle von Kindern nährung später ein um fünf bis zehn nen Kinder unter fünf Jahren sterben unter fünf Jahren geht auf Hunger und Prozent tieferes Einkommen haben. Mit jedes Jahr an chronischer Unterernäh- Mangelernährung zurück. Bei weit über anderen Worten: Für viele Hungernde rung. Andere überleben, leiden aber 100 Millionen Kindern führt der Hun- öffnet sich die Armutsfalle, oft kann womöglich ein Leben lang unter man- ger zu Kleinwüchsigkeit, sie bleiben ein sich auch die nächste Generation nicht gelhafter und einseitiger Ernährung. Leben lang nur eingeschränkt lern- und Von diesem «verborgenen Hunger» sind leistungsfähig, haben zeitlebens gerin- rund zwei Milliarden Menschen welt- gere Chancen als andere. Mindestens weit betroffen. Hinzu kommen über 600 eine Viertelmillion Kinder erblinden Millionen Menschen mit Übergewicht gemäss der Weltgesundheitsorganisa- – eine Erscheinung, die nach und nach tion WHO jedes Jahr, weil sie einen Man- 100 MAL DIE SCHWEIZ auch die Entwicklungsländer erfasst. gel an Vitamin A haben. Hunger und Die Weltbevölkerung ist zwischen Kurz: Hunger und Fehlernährung haben Mangelernährung gelten insgesamt als 1990 und heute um rund zwei Milliarden Menschen gewachsen. viele Gesichte. das bedeutendste Gesundheitsrisiko, Die Zahl der Hungernden hat gemessen an der Zahl der Todesfälle. Es hingegen deutlich abgenommen, sind mehr als bei Tuberkulose, Malaria beträgt aber immer noch 815 Mil- Armut führt zu Hunger und HIV/Aids zusammen. lionen Menschen. Dies sind etwa und umgekehrt hundertmal Mal mehr Menschen, Schwangere Frauen, stillende Mütter als in der Schweiz wohnen. 98 Prozent der Hungernden leben in Hunger ist ein Skandal – so eine präg- und hart arbeitende Bäuerinnen sind den Entwicklungsländern, allein nante Kurzformel. Doch Hunger ist vom Hunger besonders stark betroffen. etwa 520 Millionen in Asien und zugleich ein kompliziertes und fol- Doch sie kommen bei der Verteilung des 240 Millionen in Afrika, vor allem genreiches Phänomen und wesentlich knappen Essens oft zuletzt an die Reihe, südlich der Sahara. EINE WELT 01/2018 9
DOSSIER HUNGER daraus befreien. Armut führt zu Hun- Kein Hunger mehr auf der Erde – eine sich produzieren lässt und wer Zugang ger, und Hunger führt zu Armut. Die realistische Aussicht? Selbst wenn die zu Nahrung erhält.» Wo also liegen, Teufelskreise greifen ineinander. Kräfti- Zahl der Menschen bis 2050 um rund abgesehen von der Armut an sich, die ges Wirtschaftswachstum und höhere zwei Milliarden, so die Prognosen der Ursachen des Hungers? Wo die Lösun- Einkommen in den armen und ärms- Vereinten Nationen, weiter zunimmt? gen im Kampf dagegen? ten Ländern sind zwingend. Und die Nachfrage nach Nahrungsmit- teln – auch dank grösserem Wohlstand vieler Menschen – um rund 70 Prozent, Hungerkrisen durch Ziel ist «Zero Hunger» in den Entwicklungsländern gar um Konflikte und Katastrophen 100 Prozent steigen wird? Selbst dieser Chronischer Hunger ist heute eine trau- wesentlich höhere Bedarf an Nahrungs- Akute Hungerkrisen wie jene in Afrika rige Realität, obwohl unser Planet genü- mitteln lässt sich decken, zeigt sich die betreffen zwar nur eine Minderheit gend Nahrungsmittel für alle hergeben Ernährungs- und Landwirtschaftsor- der Hungernden, doch sie sind beson- könnte. Und obwohl das Recht auf einen ganisation der Vereinten Nationen (FAO) ders virulent. Ihre Ursache liegt meist angemessenen Lebensstandard, einge- überzeugt. Simon Zbinden, Co-Leiter in bewaffneten Konflikten oder Natur- schlossen das Recht auf Nahrung und des Globalprogramms Ernährungssi- katastrophen wie Dürren und Über- den Schutz vor Hunger, zu den Men- cherheit der DEZA, teilt diese These: schwemmungen – akzentuiert durch schenrechten zählt. Die Agenda 2030 «Die grosse Frage ist nicht, ob sich diese den Klimawandel – oder der Kumula- setzt deshalb das unmissverständliche Menge an Nahrungsmitteln produzie- tion von beidem. Dörfer werden verwüs- Ziel: «Zero Hunger» bis 2030. ren lässt. Die Frage ist, wie und wo sie tet, Felder, Ernten und Saatgut vernich- Weltweite Ernährungsunsicherheit Januar 2017 in Prozent der Bevölkerung Syrien Libyen Haiti Sudan Jemen Guatemala Tschad Guinea-Bissau Nigeria Äthiopien Somalia Zentralafr. Südsudan Republik Kenia DR Kongo Burundi Malawi Mosambik Simbabwe Namibia Ernährungsunsicherheit (in Prozent) Keine Schätzungen vorhanden < 1% 1-5% 5-10% 10-25% > 25% Zahlen durch ungleiche Erfassungsmethode nicht vergleichbar 10 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER tet, die Menschen flüchten und müssen Hungerkrise in Sudan, Somalia, Nigeria alles zurücklassen. Besonders oft trifft und Jemen etwa 15 Millionen Menschen, es fragile und sehr arme Staaten mit das ist eine enorme finanzielle und stark wachsender Bevölkerung, die logistische Leistung», hält Simon Zbin- kaum in der Lage sind, mit derartigen den von der DEZA fest. Krisen umzugehen. Die ohnehin schwa- chen Infrastrukturen und Strukturen Doch bereits während der akuten Krise – Strassen, Schulen, Gesundheitsversor- gilt es, das Augenmerk auf den Auf- gung, Administration – brechen rasch bau tragfähiger Strukturen zu rich- vollends zusammen. ten. Je besser dies, gerade in fragilen und armen Staaten, durch die breit Die humanitäre Hilfe versucht, in solch gefächerte Entwicklungszusammen- chaotischen Phasen die ärgste Not zu arbeit gelingt, desto eher werden diese lindern – hauptsächlich mit Nahrungs- Staaten und ihre Bewohnerinnen und paketen, Wasser, Zelten und Decken. Bewohner akute Hungerkrisen vermei- Einzelne Länder wie die Schweiz und den oder zumindest besser bewältigen globale Organisationen wie das Welter- können. Der Kampf gegen den Hunger nährungsprogramm WFP mobilisieren führt somit auch über das Engagement und verstärken ihre Ressourcen vor Ort. für Gesundheit, Schulen, Berufsbil- «Das WFP versorgt in der aktuellen dung, Arbeit, höhere Einkommen, Frie- DIE VIELEN GESICHTER VON HUNGER Akuter Hunger, Hungersnot: Lebensbedrohend, viel zu wenig Nahrung während begrenzter Zeit, oft als Folge von Natur- katastrophen, bewaffneten Konflikten, zerstörten Infra- Nordkorea strukturen. Von dieser extremen
DOSSIER HUNGER Die Vereinten Nationen warnen davor, dass sich im Jemen – hier eine densförderung, Bürgerbeteiligung und Sicht der Schweizer Hilfswerke. So legt Strassenszene in der Hauptstadt Demokratie. zum Beispiel Swissaid das Schwerge- Sanaa – die weltweit grösste Hungersnot seit Jahrzehnten wicht auf ökologische Anbaumethoden abzeichnet. © Michel Troncy/Gamma-Rapho/laif in Kleinbauernfamilien und die Stär- Familienbetriebe als Rückgrat kung von Bauernorganisationen und Frauengruppen. «Die Produktivität der Ein Bereich allerdings ist im Zusam- Felder und die Vielfalt der angebauten menhang mit dem Hunger besonders mentinnen und Konsumenten errei- wichtig: die landwirtschaftliche Pro- chen. In den Industrieländern spielt duktion. Dabei gilt es, eine Vielzahl von «Food Waste» – wenn Lebensmittel im Querbezügen zu beachten. Rund 500 Abfall landen – eine wesentliche Rolle, Millionen bäuerliche Familienbetriebe «UNSER BEDARF AN in den Entwicklungsländern stehen produzieren weltweit etwa 70 Prozent NAHRUNGSMITTELN Mängel bei Lagerung und Transporten der Nahrungsmittel. Frauen spielen IST EINE DER GRÖSSTEN im Vordergrund. Kommt hinzu: Nur 55 dabei eine tragende Rolle, haben aber GEFAHREN FÜR Prozent des produzierten Getreides sind oft nicht das Recht, Land zu besitzen UNSEREN PLANETEN.» direkt für den Menschen bestimmt – 36 und können im Dorf nicht mitbestim- Jonathan Foley, Umweltwissenschaftler Prozent landen in den Futtertrögen des men. Viehs für die Produktion von Fleisch, neun Prozent werden zu Biotreibstoffen. Gerade dort, wo Hunger besonders ver- Eine Verschiebung der Gewichte hätte breitet ist, wie in Afrika südlich der Wirkung. Ein zweiter wichtiger Aspekt Sahara oder in Südasien, ist die Produk- Produkte nehmen zu», stellt Caroline für den Zugang zu Nahrung bildet der tivität der Landwirtschaft sehr gering. Morel von Swissaid fest. «Das ist sehr soziale Schutz für jene, die sich Lebens- «Diese bäuerlichen Familienbetriebe», eindrücklich.» mittel nicht leisten können. Rund 100 so Simon Zbinden, «sind das Rückgrat Länder unterstützen in verschiedens- der nationalen Ernährungssicherheit. Nahrungsmittel sind das Eine, der ter Form arme Bevölkerungskreise mit Ihre Stärke ist zentral im Kampf gegen Zugang dazu das Andere. Etwa ein Nahrungsmittelhilfe, in 130 Ländern Hunger und Armut in den ländlichen Viertel der produzierten Kalorien geht bestehen Schulmahlzeiten für Kinder. Gegenden.» Sehr ähnlich ist auch die weltweit verloren, bevor sie die Konsu- Und doch kommen mehr als zwei Drit- 12 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER tel der Hungernden nach wie vor nicht Ein Beispiel für die Dimension der Her- effiziente und intelligente Umgang mit in den Genuss von derartiger sozialer ausforderungen ist das Wasser. Heute Wasser – wird also immer wichtiger. Unterstützung. sind rund 40 Prozent der Menschen von Das Potenzial dafür ist in der indus- Wasserknappheit betroffen; 2050 werden triellen, aber auch in der kleinbäuerli- es angesichts des Klimawandels, höhe- chen Landwirtschaft gross. Dort fehlen Potenzial bei Wasser und Boden rer Bevölkerungszahlen und steigen- oft Informationen und Ausbildung, die dem Bedarf gemäss Prognosen der FAO Bewässerungen erfolgen nicht optimal. Die landwirtschaftliche Produktion rund zwei Drittel sein. Der Verteilkampf Mit einfachen technischen Mitteln oder hat auch Schattenseiten. Die Landwirt- um das Wasser wird sich intensivieren. mit präziser Dosierung dank Hightech, schaft gehört zu den grössten Verursa- Dennoch ist die FAO überzeugt, dass die abgestimmt auf die Beschaffenheit der chern von Treibhausgasen, belastet die verfügbare Menge an Wasser ausrei- Böden, liesse sich das Verhältnis von In- Böden und reduziert die Biodiversität. chen wird, um die gesamte Menschheit und Output wesentlich verbessern. «Unser Bedarf an Nahrungsmitteln», so zu ernähren – im Wissen darum, dass der renommierte amerikanische Um- die Landwirtschaft weltweit der grösste Auch bei der Speicherung von Wasser weltwissenschaftler Jonathan Foley, «ist Wasserverbraucher ist. Auch um 2050 sind Fortschritte möglich. Bereits einfa- eine der grössten Gefahren für unseren dürfte sie noch etwa die Hälfte dieses che biologische Methoden wie Mulchen Planeten.» Er hält es jedoch für mach- kostbaren Rohstoffs beanspruchen. Dies und Kompost verbessern die Qualität bar, die Produktion auf bestehenden hat insofern seine Logik, als Landwirt- der Böden und deren Fähigkeit, Was- Böden zu verdoppeln und zugleich die schaft ohne Wasser nicht denkbar ist. ser zu speichern. Der Schutz der Natur Umweltbelastung zu reduzieren, wobei Mehr noch: Wasser ist zentral für deren und der Kampf gegen den Klimawandel sowohl die industrielle wie kleinbäuer- Produktivität und Leistungsfähigkeit. schliesslich schützen auch das für die liche Landwirtschaft höhere Beiträge Auf jenem Fünftel der Böden, die heute Ernährung der Menschheit so existen- leisten müssen. bewässert werden, wächst die Hälfte des zielle Wasser: Etwa 80 Prozent der Was- Getreides. Wassermanagement – der serreserven finden sich in den Bergen, ENGAGEMENT UND STRATEGIE DER DEZA VERSTÄRKTER FOKUS AUF FRAGILE STAATEN Das Thema Hunger ist prägend für die diesem (indirekten) Kampf gegen den Zugang zu Land, Wald und Wasser. Strategie der DEZA. Diese legt verstärk- Hunger. tes Gewicht auf die fragilen Staaten, hat Fragile und von Konflikten zerrissene doch Hunger sehr viel mit Fragilität zu Staaten bilden auch in der humani- tun, mit instabilen Staaten, schlechten Landwirtschaft und tären Hilfe der DEZA klare Schwerge- Strukturen – und mit bewaffneten Kon- Ernährungssicherheit wichte – so etwa in Somalia, im Südsu- flikten. Diese sind gemäss Simon Zbin- dan und in Syrien. Dank den ständigen den, Co-Leiter des Globalprogramms Einen Kern des Engagements gegen Strukturen vor Ort verfügt die DEZA Ernährungssicherheit der DEZA, «der Hunger und Armut bildet auch der über ein «Frühwarnsystem» und kann stärkste Treiber des Hungers». Bereich der Landwirtschaft und Ernäh- die humanitäre Hilfe bei akuten Hun- rungssicherheit. In der bilateralen Ent- ger- oder Flüchtlingskrisen leichter Damit ist auch klar, dass Länder in wicklungszusammenarbeit der DEZA nach oben fahren. In der momentanen Afrika südlich der Sahara, in den Kri- liegt dieser, gemessen an den Ausgaben Hungerkrise hat die DEZA auch die Bei- sengebieten des Nahen Ostens sowie (2016), denn auch auf Rang 1. Im Fokus träge an globale Organisationen rasch in Südasien in der Strategie der DEZA stehen die bäuerlichen Familienbe- erhöht – das Welternährungsprogramm höheres Gewicht erhalten. Simon Zbin- triebe, die gerade in den Hungergebieten WFP lag 2016 mit einem Schweizer Bei- den: «Resultate sind in fragilen Staaten Afrikas oder Südasiens eine tragende trag von insgesamt rund 67 Millionen vielleicht schwieriger zu erreichen, und Rolle spielen und grosses Potenzial für Franken an der Spitze aller Organisati- die Kosten sind höher. Doch der Bedarf höhere Erträge haben. Ausbildung, onen der Vereinten Nationen. 2017 dürf- ist dort am dringendsten.» Dabei sind Anwendung neuer und ressourcen- ten die Beiträge noch höher liegen. Die die Friedensförderung, die Stärkung der schonende Methoden haben Priorität. Schweiz ist damit eines der bedeutends- Bürgerbeteiligung und Demokratie, die Ebenso wichtig sind die Anpassung ten Geberländer des WFP. ¢ Bildung sowie die Gesundheit zentral in an den Klimawandel sowie der sichere EINE WELT 01/2018 13
DOSSIER HUNGER Schulklasse im westafrikanischen Mali. Leiden Kinder an Hunger, bleiben sie ein Leben lang nur eingeschränkt lern- und leistungsfähig. © Godong/robertharding/laif © WFP/Claire Nevill ein Drittel der urbanen Bevölkerung Entwicklungsländern stark trifft, gelte MEHR FAIRNESS bezieht sein Wasser aus Waldgebieten. es zu unterscheiden: «Bei der Reduk- Hunger hat auch mit fehlender «Die Abholzung von tropischen Wäl- tion der Treibhausgase sind wir in den Fairness zu tun. «Land-Grabbing» dern, um bebaubares Land zu erschlies- Industriestaaten gefordert. In den Ent- oder Kauf und Pacht von Was- sen, ist für unsere Umwelt so zerstöre- wicklungsländern geht es vor allem serrechten in grossem Umfang durch Staaten, grosse Konzerne risch wie kaum etwas anderes», urteilt darum, sich an veränderte Bedingun- oder Finanzakteure entziehen Jonathan Foley. gen anzupassen, zum Beispiel durch den Menschen in den Entwick- widerstandsfähigere Getreidesorten und lungsländern die Lebensgrund- die Vermeidung von Erosion.» lagen. Fairer Handel sichert den Lösbare Herkulesaufgabe Kleinbauern angemessene Preise und eine nachhaltige Produktion. Zero Hunger – schätzungsweise zusätz- Der landwirtschaftliche Protek- Für Simon Zbinden von der DEZA wären liche 270 Milliarden Franken an Inves- tionismus auch der Schweiz ver- auch bei der Düngung des Bodens Ver- titionen pro Jahr sind nötig, um dort- schliesst die Märkte für diverse änderungen angezeigt und leicht mög- hin zu gelangen. Die Menschheit steht Agrargüter aus den Entwick- lich: «Hier bei uns setzen wir zu viel vor einer Herkulesaufgabe. Doch es gibt lungsländern. Das Engagement Dünger ein. In Afrika aber hätten ein viele Ansatzpunkte und Hebel, die sich für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sowie wenig mehr Dünger und eine verbes- in Bewegung setzen lassen. Oder wie es gegen Korruption und einseitigen serte Bodenbearbeitung einen sehr das Welternährungsprogramm WFP Freihandel gehört deshalb zu grossen Effekt.» Auch in Sachen Klima- formuliert: «Der Hunger ist das grösste den Prioritäten der DEZA und der wandel, der die Landwirtschaft in den lösbare Problem weltweit.». ¢ Schweizer Hilfswerke. 14 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER «WIR MÜSSEN DIE KRIEGE BEENDEN» David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, spricht von der grössten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Er meint damit die akute Hungerkrise in Afrika und im Nahen Osten. Interview: Jens Lundsgaard-Hansen. Herr Beasley, die Zahl der hungernden Menschen vor dem Hungertod. Das ist cherheit in den Regionen, die Sie erwäh- Menschen hat – nach Jahren des Rück- die grösste humanitäre Krise seit dem nen, ist in erster Linie durch Konflikte gangs – wieder zugenommen. Was läuft Zweiten Weltkrieg. bestimmt. Wir tun alles dafür, dass die falsch? Menschen die Dimension dieser Kri- Tatsächlich haben wir in den letzten Südsudan, Somalia, Jemen, Syrien und sen verstehen und erkennen, wie stark zwei Jahrzehnten grosse Fortschritte im andere Konfliktregionen – die Zahl der diese ihr Leben beeinflussen und wie Kampf gegen den Hunger erzielt. Doch Konflikte und Krisenherde ist hoch. Kön- wichtig es für die globale Stabilität ist, leider geht die Entwicklung zurzeit in nen Sie überhaupt noch Prioritäten set- den Hunger zu beenden. Dieser trägt eine falsche Richtung. Rund 108 Millio- zen, oder fühlen Sie sich wie Sisyphus? wesentlich zur globalen Instabilität bei nen Menschen litten 2016 unter schwe- Wir brauchen mehr denn je neue und ist einer der Auslöser der aktuel- rer Ernährungsunsicherheit, verglichen Impulse, um den Hunger weltweit in len Migrationskrise. Unsere Forschung mit 80 Millionen im Jahr zuvor. Der gemeinsamem Engagement zu be- zeigt, dass eine Zunahme der Ernäh- Hauptgrund dafür sind von Menschen kämpfen. Der erste und wichtigste rungsunsicherheit um ein Prozent zu verursachte Konflikte. Vor allem des- Impuls wäre, die Konflikte zu beenden. einer Zunahme der Migration um zwei wegen stehen gegenwärtig 27 Millionen Die Situation bezüglich Ernährungssi- Prozent führt. EINE WELT 01/2018 15
DOSSIER HUNGER Erhalten Sie die nötige Unterstützung bessern. Übrigens: Alle können helfen. der Geberländer? Wie steht es mit der Jede noch so kleine Spende, zum Bei- Schweiz? spiel über unsere App «Share The Meal» Es ist so, die gegenwärtige Krise erfordert (www.sharethemeal.org ), hat eine Wir- mehr Geld. Die Reaktion unserer Geber- kung. länder war enorm. Was die Schweiz betrifft: Sie war und ist ein grossartiger Welche Beiträge leistet das WFP im Partner. Seit 2012 rangiert sie unter den Zusammenhang mit chronischer Ernäh- zehn wichtigsten Geberländern. Über rungsunsicherheit und Fehlernährung? die Jahre hat sich die Schweiz zu einem Wir stellen den Regierungen unser Wis- wichtigen Verbündeten des WFP ent- sen zur Verfügung und unterstützen sie wickelt, der die neue Strategie des WFP im Kampf gegen den Hunger. So arbei- stark unterstützt. Das geht über Geld- ten unsere Experten für Schulmahlzei- beiträge und Sachleistungen hinaus. ten mit Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika zusammen, damit diese ihre eigenen Programme aufbauen und führen können. Das Ziel ist es, arme Kinder in die Schule zu bringen und «KRIEGE UND KONFLIKTE auch dort zu behalten, damit sie eine FÜHREN STETS bessere Ausbildung und die Chance für ZU GROSSER eine bessere Zukunft erhalten. ERNÄHRUNGSUNSICHERHEIT UND UMGEKEHRT.» Das Ziel der «Agenda 2030» ist klar: «Zero Hunger» bis 2030. Bis 2050 wer- den wir zwei Milliarden Menschen mehr sein als heute. Glauben Sie an dieses Ziel, oder ist es etwas illusorisch? Die DEZA unterstützt das WFP dabei, Ich glaube sehr stark an dieses Ziel. Es in Krisen und Katastrophen die Brücke ist der Grund dafür, dass Männer und zwischen humanitärer Hilfe und Ent- Frauen jeden Tag für das WFP arbeiten. wicklungszusammenarbeit zu schlagen. Nicht wenige nehmen Gefahren für ihre Die DEZA trägt auch neue, innovative persönliche Sicherheit in Kauf, wenn Konzepte mit, zum Beispiel die Bar- sie jenen helfen, die am verletzlichsten geldtransfers an Bedürftige. sind. Wir werden das Ziel der «Agenda 2030» also nie aus den Augen verlieren. Hat das WFP, angesichts all dieser Kri- Doch gleichzeitig muss ich eingestehen: sen, genügend Ressourcen und Kraft, Wir werden den Hunger nie wirklich um nicht nur die Symptome, sondern beenden können, wenn wir die Kriege auch die Ursachen des Hungers zu nicht beenden. Das Ziel der «Agenda bekämpfen? 2030» ist schlicht nicht erreichbar, Auf lange Sicht verfolgt das WFP das wenn wir die Konflikte nicht drastisch Ziel, zur wirtschaftlichen Weiterent- reduzieren können. Denn diese führen DAVID BEASLEY ist seit April 2017 wicklung der Länder und Gesellschaf- stets zu grosser Ernährungsunsicher- Exekutivdirektor des Welter- ten beizutragen, in denen wir präsent heit, und umgekehrt. Es gibt mehr als nährungsprogramms (WFP) sind. Wir arbeiten daran, mehr Kinder genügend Wohlstand auf der Welt, um der Vereinten Nationen. Dieses versorgt jedes Jahr rund 80 mit Schulmahlzeiten zu versorgen und jeden Menschen zu ernähren. Doch Millionen Menschen, die unter körperlich gesunde Erwachsene in die wenn derart viel Energie in Konflikte schwerem Hunger leiden. David Entwicklung und Unterstützung ihrer fliesst, ist es nicht möglich, bei unserem Beasley war über 40 Jahre lang Regionen einzubinden. Das Welternäh- übergeordneten Ziel echte Fortschritte in Politik, Wirtschaft und öffentli- rungsprogramm wird immer stark sein zu erzielen. ¢ chem Dienst tätig und engagierte in Notsituationen, doch um dauerhafte sich dabei für die wirtschaftliche Entwicklung und humanitäre Ernährungssicherheit zu erreichen, Unterstützung der Bedürftigsten. müssen wir die Lebenssituation von Zwischen 1995 und 1999 war er Männern, Frauen, Knaben und Mäd- Gouverneur des US-Staats South chen gemeinsam und nachhaltig ver- Carolina. 16 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER DIE GROSSE WIRKUNG VON VERBESSERTEM SAATGUT Ohne fremde Hilfe können sich im Tschad mehrere Millionen Menschen nicht ernähren. Die landwirtschaft- liche Produktion ist gering, es fehlt an Strukturen, und oft bleibt der Regen aus. Ein DEZA-Projekt will ein nationales Saatgutsystem aufbauen und den Bauernfamilien zu besserem Saatgut verhelfen. Im Rahmen des DEZA-Projekts im Süden des Tschads «Die Suche der Bäuerinnen und Bauern zu Qualitätskontrolle, Verteilung und überprüfen diese Bäuerinnen nach qualitativ gutem Saatgut ist heute Vertrieb – funktioniert schlecht oder die Qualität des Samens. © Mahamat Guihini Dadi/DEZA meist vergebens», stellt Mahamat Gui- gar nicht. hini Dadi, DEZA-Mitarbeiter im Tschad, nüchtern fest. Auf den lokalen Märkten findet sich kaum etwas zu kaufen, die Geprägt von Armut und Hunger Produktion und das Angebot im gan- zen Land sind gering. Die ganze Saat- Diese Lücke ist fatal. Allein mit qualita- gutkette – von der Entwicklung neuer tiv gutem Saatgut liesse sich die Produk- Sorten, über deren Produktion bis hin tion von Getreide um über 20 Prozent EINE WELT 01/2018 17
DOSSIER HUNGER steigern. Das wäre dringend notwen- chen Rahmen für eine geordnete Saat- «Das Projekt fokussiert denn auch dig: Gemäss Welthungerindex besteht gutkette zu schaffen. Dazu gehört unter gezielt auf Frauen und junge Men- im Tschad eine «Hungersituation», anderem ein nationaler Aktionsplan schen», so Mahamat Guihini Dadi. Dies das Land liegt weltweit auf Platz 2 der für die Produktion und den Vertrieb aus zwei ganz konkreten Gründen: Zum Negativskala, zwei Drittel der 14 Millio- von Saatgut. Beim landwirtschaftlichen einen sind schwangere Frauen und Kin- nen Menschen leben in starker Armut. Forschungsinstitut ITRAD stehen die der übermässig vom Hunger betroffen. «Letztes Jahr war etwa ein Viertel der Ausbildung der Mitarbeitenden sowie Zum anderen sind es oft die Frauen, die Bevölkerung auf externe Unterstützung die Entwicklung neuer Saatgutsorten in den Dörfern bleiben, die landwirt- angewiesen, um sich zu ernähren», im Vordergrund. Zusätzlich sollen für schaftliche Produktion aufrechterhal- sagt Mahamat Guihini Dadi. «Die Lage die Qualitätsanalyse und -kontrolle effi- ten und im Bereich Saatgut über grosses scheint sich eher zu verschlechtern als ziente Instrumente und Methoden ein- Wissen verfügen. Die Männer hingegen zu verbessern.» geführt werden. Auf regionaler Ebene ziehen in die Städte, um Arbeit zu fin- müssen landwirtschaftliche Betriebe den. ¢ Die Gründe für die verbreitete Unte- die neuen und besseren Sorten herstel- rernährung sind auch im Tschad viel- len und Vertriebskanäle entwickeln, die fältig. Der Klimawandel scheint die bis in die Dörfer und zu den Bauernfa- Tendenz zu Dürren und Trockenheit milien reichen. Und diese schliesslich zu verstärken. Früher fiel in einem von müssen dazu übergehen, neues und zwei oder drei Jahren genügend Regen, qualitativ besseres Saatgut auch einzu- heute ist dies vielleicht in einem von setzen. vier Jahren der Fall. Doch die Natur ist nicht der alleinige Grund dafür, dass «Es geht darum, Fähigkeiten und Ins- die Menschen hungern. Die schwache trumente aufzubauen, Rollen und landwirtschaftliche Produktion und Zuständigkeiten zu klären und Prozesse Produktivität haben auch mit unzu- zu etablieren, die sich zuerst einmal reichenden Methoden, ungenügender einspielen müssen, um später autonom Ausbildung und schlechten Arbeitsge- zu funktionieren», fasst Mahamat Gui- räten der Bäuerinnen und Bauern zu hini Dadi den anspruchsvollen Prozess tun. Wer bitterarm ist, kann auch nicht zusammen. Es geht um Theorie und investieren. Und wo Strukturen fehlen die Definition von neuen Arbeitsinstru- oder unklar sind, wie dies beim Saatgut menten und -abläufen, aber auch um der Fall ist, funktioniert das System als die konkrete Praxis: Die Projektverant- Ganzes nicht. wortlichen begleiten und unterstützen die Aktivitäten der verschiedenen betei- ligten Instanzen, es werden Texte und Tragfähige Kette aufbauen Checklisten formuliert, Ausbildungen angeboten und durchgeführt, Zustän- Das Ziel des von der DEZA finanzierten digkeiten geklärt und Formen der Projekts ist deshalb klar: Es soll eine Zusammenarbeit eingeführt. RIESIGES LAND, VERNETZTES funktionierende Saatgutkette aufgebaut PROJEKT Die Republik Tschad zählt rund werden, damit die Bäuerinnen und Bau- 14 Millionen Einwohner und ist ern, die am Schluss der Kette stehen, Frauen und Kinder im Fokus flächenmässig etwa so gross über qualitativ besseres Saatgut verfü- wie Deutschland, Frankreich und gen. Dieses wird in den schwierigen kli- Neben dem strukturellen, administra- Italien zusammen. Das Projekt matischen Verhältnissen und im Kampf tiven und ausbildungsbezogenen Auf- der DEZA zum Aufbau einer Saat- gutkette im Tschad ist im Norden gegen den Hunger grössere Ernten und bau trägt das Projekt auch bereits bei und Süden des Landes aktiv. Die höhere Einkommen ermöglichen. der Produktion von Saatgut Früchte. erste Projektphase endet 2018, Im südlichen Tschad beispielsweise eine zweite Phase ist in Vorberei- Momentan besteht die Kette aus vielen produzieren inzwischen verschiedene tung. Dabei sind eine Erweiterung nur dürftig oder überhaupt nicht funk- Frauengruppen verbessertes Saatgut des Projekts und der Einbezug tionierenden und schlecht verknüpf- und verkaufen es anschliessend auf den der EU und Deutschlands als Finanzierungspartner denkbar. ten Gliedern. Auch aus diesem Grund Märkten. Mit dem erzielten Einkom- Die Weltbank hat bereits ein eige- hat das Projekt vergangenes Jahr das men sichern sie die Ernährung und den nes Projekt gestartet, welches tschadische Landwirtschaftsministe- Schulbesuch ihrer Kinder. die Wirkung des DEZA-Projekts rium dabei unterstützt, den gesetzli- verstärken soll. 18 EINE WELT 01/2018
DOSSIER HUNGER FACTS & FIGURES 98 Prozent Weitere der Menschen mit Schlüsselzahlen chronischem Hunger leben in Entwicklungsländern. 75 Prozent > Von den 815 Millionen von ihnen leben auf dem Land. Menschen, die chronisch unter Hunger leiden, leben rund 490 Millionen in Konflikt- und Krisengebieten. > Über 600 Millionen oder ein Drittel aller Frauen in 5000 Kinder 1000 gebärfähigem Alter haben sterben jeden Tag weltweit wegen als Folge von Hunger Unter- und Mangelernährung. und Mangelernährung zu 1000 wenig rote Blutkörperchen (Anämie). 1000 > Weltweit sind rund 40 Millionen oder 6 Prozent 1000 der Kinder unter fünf Jahren übergewichtig. Bei 1000 den Erwachsenen liegt der Anteil bei knapp 13 Prozent. > Preisschwankungen von Lebensmitteln betreffen 1 Milliarde Tonnen die Ärmsten am stärksten. Um so viel muss die Getreide- In den USA geben die produktion bis 2050 global zunehmen, um den Bedarf zu decken. Heute liegt die Produktion + Menschen knapp 7 Prozent, in der Schweiz knapp 9 Prozent ihres Budgets für bei gut 2 Milliarden Tonnen. Nahrungsmittel aus. In wenig entwickelten Ländern liegt der Anteil meist zwischen 40 und 60 Prozent, gelegentlich gar höher. Welthungerindex 2017 Gemäss dem Welthungerindex 2017 (www.globalhungerindex.org) haben 52 von 119 Ländern Hungerwerte (WHI), die als ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft werden. Quellen und Links Die Länder mit den höchsten Werten sind: • www.worldhunger.org Hunger Notes (World Hunger Education Service and World Hunger Notes); viel Wissenswertes über verschiedenste Aspekte von Hunger • www.wfp.org Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen ist die wichtigste Institution der UNO im Kampf gegen den globalen Hunger und vereint verschiedenste Organisationen, u.a. FAO, IFAD, Unicef, WHO • www.fao.org Zentralafrikanische Tschad Sierra Leone Die Ernährungs- und Landwirtschafts- Republik organsiation der Vereinten Nationen gibt unter anderem den Bericht «How WHI: 50,9 43,5 38,5 to Feed the World in 2050» heraus EINE WELT 01/2018 19
HORIZONTE INDIEN DER INDISCHE TRAUM VOM EIGENHEIM Indiens wachsende Mittelschicht, zu der mehrere 100 Millionen Menschen gehören, verlangt mehr Wohnraum. Seit der Bargeldreform von 2016 sind jedoch das Wachstum und auch die Bautätigkeit der jahrelang am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt eingebrochen. Trotzdem hoffen viele Inderinnen und Inder, bald in ihre bereits bezahlten Wohnungen einziehen zu können. Text: Volker Pabst, Neu-Delhi Delhi wuchs in seiner Geschichte che Hochhäuser gibt es mit wenigen strebenden Mittelschicht den Traum immer in die Fläche. Das Territorium Ausnahmen keine – oder genauer, gab vom Eigenheim erfüllen. von Indiens Hauptstadt mit ihren über es keine. Seit einigen Jahren wächst 20 Millionen Einwohnerinnen und Ein- Delhi nämlich auch in die Höhe. An den wohnern umfasst mittlerweile andert- Rändern der Stadt entstehen Traban- Riesige Überbauungen halb tausend Quadratkilometer. Selten tenstädte mit hohen Wohntürmen aus sind die Häuser im Zentrum aber mehr Beton. In riesigen Überbauungen wollen Einer von ihnen ist Amir Azan. Seit eini- als einige Stockwerke hoch. Eigentli- sich dort Hunderttausende aus der auf- gen Monaten lebt der IT-Ingenieur im 14. 20 EINE WELT 01/2018
HORIZONTE INDIEN Das Gedränge in Delhis veralteter Infrastruktur aber durchaus thek hält sich trotz den Zinsen, die Mittelklassevierteln und deren eine gewisse Modernität. Und angesichts landesüblich über 10 Prozent liegen, in veraltete Infrastruktur sind der Grund dafür, warum viele des beschränkten Freizeitangebots in Grenzen. Doch nicht für alle hat sich Inderinnen und Inder in neu vielen indischen Städten, insbeson- der Schritt bisher gelohnt – vor allem, errichtete Trabantenstädte vor den dere in den aus dem Boden gestampf- wenn sich die Fertigstellung der Pro- Toren der indischen Hauptstadt ten und noch nicht zu Ende gebauten jekte über Jahre verzögert. ziehen. © Tim Graham/robertharding/laif Satellitenstädten, haben eigene Sport- stätten und Parks einen gewissen Reiz. Denn ausserhalb des Compounds ist Grosse Verzögerungen der öffentliche Raum vernachlässigt, Stock eines Hochhauses, der eigentlich die Wege sind lang und der öffentli- Mona Das hat 2012 mit ihrem Mann der 13. ist. Weil Numerologie in Indien che Verkehr funktioniert nur mässig. eine Dreizimmerwohnung in Noida eine wichtige Rolle spielt und die 13 auch Da schätzt man die Infrastruktur in gekauft, bezogen hat sie diese noch hierzulande eine unglückbringende Zahl unmittelbarer Nähe. immer nicht. «Unsere Wohnung liegt ist, folgt aber auf das 12. direkt das 14. im 26. Stock, vom Wohnhaus sind aber Stockwerk. Azans Wohnhaus steht in Azan lächelt, wenn er auf die «World erst vier Stockwerke gebaut», erklärt Noida, einem Vorort im Südosten Delhis Class Living Standards» angesprochen die Dozentin für Politikwissenschaften. und gehört zur Gaur City, einem nach wird, mit denen Komplexe wie die Gaur «Seit fünf Jahren bezahlen wir jeden dem federführenden Bauunternehmen City ihre Käufe umwerben. Er hat für Monat 35 000 Rupien (530 Franken) an benannten Grosskomplex. Nach Fertig- seine Firma einige Zeit in den USA die Bank. Und fast noch einmal gleich- stellung aller Gebäude werden hier ein- gearbeitet und kann vergleichen. «Was viel geht als Miete weg. Wir können mal mindestens 35 000 Menschen leben dort zum Standardausbau einer einfa- uns das zum Glück leisten. Andere ste- – mehr als in Neuenburg, Freiburg oder chen Mietwohnung gehört, gibt es bei Chur. Es gibt ein Sportstadion, Swim- uns nur im Luxussegment.» Dennoch mingpools, Einkaufsmöglichkeiten und ist er nicht unzufrieden. «Ich habe Kinderspielplätze. Die Schule und das eine Klimaanlage und einen kleinen Spital sind noch im Bau. Balkon. Zum Joggen nutze ich das Sta- dion, manchmal gehe ich auch in den Nicht alle Überbauungen, die in den ver- Pool», erzählt er. «Ich arbeite viel, und DEMONETARISIERUNG Es war die wahrscheinlich radi- gangenen Jahren im Umland von Delhi wenn ich von meiner Arbeit am Abend kalste Reform ihrer Art. Am Abend und anderen grossen Städten des Lan- nachhause komme, fehlen mir Zeit und des 8. Novembers 2016 kündigte des wie Pilze aus dem Boden geschossen Energie für grössere Ausflüge.» Azans die indische Regierung die sofor- sind, haben so gewaltige Dimensionen Firma ist 18 Kilometer von der Gaur City tige Entwertung aller 500- und wie die Gaur City in Noida. Praktisch entfernt, zum Pendeln ruft er sich über 1000-Rupien-Noten an, 86 Pro- allen Projekten ist aber gemein, dass sie Fahrdienstvermittler wie Uber oder Ola zent des zirkulierenden Bargelds wurde so über Nacht wertlos. mehr als reinen Wohnraum anbieten. ein Taxi. Morgens komme er relativ gut Der Überraschungsschlag sollte Ein Gemeinschaftszentrum für gesel- durch den Verkehr, doch abends sei er einerseits Schwarzgeldbesitzer lige Anlässe sowie ein Sportzentrum meist weit mehr als eine Stunde unter- zur Deklaration ihrer Vermö- mit Schwimmbecken sind Standard, wegs. gen und der Nachzahlung von Luxusüberbauungen bieten oft mehr, Steuern zwingen, andererseits erhoffte man sich eine Formali- etwa ein Wellnesszentrum oder einen Für den Kauf der Wohnung seien aber sierung der indischen Wirtschaft. kleinen Golfplatz. Den westlichen Beob- nicht die Zusatzangebote in der Über- Diese Ziele wurden nur ansatz- achter erinnert das an urbanistische bauung ausschlaggebend gewesen, son- weise erreicht, die Kosten der nur Konzepte der Vergangenheit, die heute dern die Lage und vor allem der Preis. mangelhaften Reform waren aber weitgehend als gescheitert betrachtet «Das Leben in der Stadt ist interessan- gewaltig. Insbesondere die arme, werden. Auch sonst wirken die gesichts- ter, gerade für einen Junggesellen wie im riesigen informellen Sektor beschäftigte Bevölkerung wurde losen, ins staubige Brachland gestellten mich. Aber in Delhi hätte ich mir nur von der plötzlichen Entwertung Betonblocks wenig verlockend. ein Zimmer leisten können. Nun habe des Bargelds schwer getroffen. ich eine Dreiraumwohnung, in der ich Für den letztjährigen Wachstums- auch bleiben kann, wenn ich einst eine einbruch der einst am schnells- Billiger als in der Stadt Familie gründe.» Azan erklärt, sein ten wachsenden grossen Volkswirtschaft der Welt wird Apartment habe 3,7 Millionen Rupien die Reform ebenfalls mitverant- Dennoch verströmen die Wohnkom- (57 000 Franken) in der Gaur City gekos- wortlich gemacht. Korruption und plexe im Vergleich zum Gedränge in tet. 50 Prozent habe er direkt bezahlen Geldwäsche, etwa im Bausektor, Delhis Mittelklassevierteln und deren können. Die Belastung durch die Hypo- sind nicht verschwunden. EINE WELT 01/2018 21
HORIZONTE INDIEN hen aber vor dem Ruin.» Die Wohnung Hinzu kam der Effekt der für das ganze Bargelds ihren Wert. Kaum eine Bran- des Ehepaares Das gehört zum «Wish Land überraschenden Entwertung der che war von der kontroversen Mass- Town»-Komplex, der grössten Über- grössten Banknoten. Durch die soge- nahme so stark betroffen wie die Bau- bauung in Noida mit insgesamt über nannte Demonetarisierung, mit der wirtschaft. Es ist ein offenes Geheimnis, 30 000 Einheiten. Fertiggestellt sind die Regierung die riesige Schattenwirt- dass durch Bauprojekte grosse Summen bisher erst einige Tausend. Gebaut wird schaft trockenlegen wollte, verloren an Schwarzgeld weissgewaschen wer- zurzeit nicht. Die Baufirma, die zum über Nacht 86 Prozent des gesamten den. Plötzlich fehlte dieses Geld. Grosskonglomerat Jaypee gehört, ist in schwere Zahlungsschwierigkeiten gera- ten, seitdem die Preisblase am Immobi- lienmarkt geplatzt ist. In den vergangenen Jahren stiegen die Immobilienpreise jährlich im hohen zweistelligen Prozentbereich, was zu Spekulationsgeschäften führte. Die Anzahlungen der Käufer für eine Über- bauung wurden statt in die Fertigstel- lung oftmals sofort in neue Projekte gesteckt, die sich später noch teurer verkaufen liessen. Es herrschte Goldgrä- berstimmung. Als sich dann angesichts des drastisch gestiegenen Angebots neue Ausschreibungen aber nicht mehr so gut absetzen liessen und die Preise zu sinken begannen, gerieten viele Unter- nehmen in Schwierigkeiten und muss- ten die Bautätigkeit einstellen. 22 EINE WELT 01/2018
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