GLEICH-BERECHTIGT (UN) - Margrit Stamm
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
KOMPAKT (UN) GLEICH- BERECHTIGT Frauen zwischen Klischees und Karriere UNSPL ASH / R ACHEL PFUE T ZNER (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL) Sexismus Stereotype Diskriminierung Von »Herrenwitzen« Weiblich, fähig, Entwicklungshilfe bis #MeToo ungeeignet per Gleichstellung
EDITORIAL IMPRESSUM Michaela Maya-Mrschtik Chefredakteure: Prof. Dr. Carsten Könneker (v.i.S.d.P.) Redaktionsleiter: Dr. Daniel Lingenhöhl E-Mail: michaela.maya-mrschtik@spektrum.de Art Director Digital: Marc Grove Layout: Oliver Gabriel, Marina Männle Liebe Leser*innen, Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe vor 100 Jahren, im Jahr 1918, errangen Frauen in Produktmanagement Digital: Antje Findeklee, Dr. Michaela Maya-Mrschtik Deutschland erstmals das Wahlrecht. Seither haben sie Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Tiergartenstr. 15–17, 69121 Heidelberg, Tel. 06221 9126-600, sich zahlreiche Privilegien erkämpft, die zuvor nur Männer Fax 06221 9126-751; Amtsgericht Mannheim, HRB 338114, UStd-Id-Nr. DE229038528 genießen durften. Viele meinen deshalb, die Gleichstellung Geschäftsleitung: Markus Bossle Marketing und Vertrieb: Annette Baumbusch (Ltg.), von Mann und Frau sei abgeschlossen – Frauen hätten Michaela Knappe (Digital) Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, heute bereits die gleichen Möglichkeiten und Chancen Ilona Keith, Tel. 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.de Folgen Sie uns: wie ihre Landsmänner. Doch so einfach ist die Sache Die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH ist Kooperations- partner der Nationales Institut für Wissenschaftskommunikation nicht: Auch 2018 stehen Frauen weiterhin vor strukturellen gGmbH (NaWik). und gesellschaftlichen Barrieren, die einer wahren Bezugspreis: Einzelausgabe € 4,99 inkl. Umsatzsteuer Gleichstellung der Geschlechter im Weg stehen. Vorurteile, Anzeigen: Wenn Sie an Anzeigen in unseren Digitalpublikationen interessiert sind, schreiben Sie bitte eine E-Mail an (oft subtile) Unterdrückung, Sexismus und sexuelle Gewalt service@spektrum.de. verhindern, dass Menschen unabhängig ihres Geschlechts Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche sich in Beruf und Alltag auf Augenhöhe treffen können. In Nutzung des Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist diesem Kompakt gehen wir einigen dieser Probleme auf ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks berechtigt den Verlag den Grund. zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) Nutzung des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle vorzu- nehmen: © 2018 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell- schaft mbH, Heidelberg. Jegliche Nutzung ohne die Quellenangabe Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht Ihre in der vorstehenden Form berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bildnachweise: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 10.09.2018 Leserbriefe zu kürzen. 2
INHALT 04 GLEICHBERECHTIGUNG SEITE GLEICHBERECHTIGUNG Weiblich, fähig, ungeeignet 04 Weiblich, fähig, ungeeignet 12 STEREOT YPE Die Geniefalle 21 MIS SBR AUCH IN DER THER APIE »Er wirkte wie ein gütiger alter Herr« 28 SE XUELLE BEL ÄSTIGUNG #MeToo im Labor? 34 HERRENWIT ZE »Sexismus ist heute subtiler« 40 LINGUISTIK DIANE39 / GE T T Y IMAGES / ISTOCK Kulturwandel zeigt sich im Sprachgebrauch 42 GLEICHSTELLUNG Die beste Entwicklungshilfe 51 WEIBLICHER Z YKLUS SEITE SE XUELLE BEL ÄSTIGUNG GLEICHSTELLUNG SEITE Mythos PMS 28 #MeToo im Labor? Die beste Ent- 42 56 VERHÜTUNG wicklungshilfe Für immer Frauensache? ECLIPSE _IMAGES / GE T T Y IMAGES / ISTOCK 63 LINGUISTIK Wie »gender« darf die Sprache werden? V ERHÜ T UNG SEITE Für immer Frauensache? 56 LIKOPER / GE T T Y IMAGES / ISTOCK TOEPS / GE T T Y IMAGES / ISTOCK 3
GLEICHBERECHTIGUNG Weiblich, fähig, ungeeignet von Liesa Klotzbücher Auf ihrem Weg in eine Führungsposition müssen Frauen mehr Hindernisse überwinden als Männer. MIMAGEPHOTOS / STOCK.ADOBE.COM (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL) Manchmal stehen sie sich auch selbst im Weg. 4
I n der politischen Führungsriege des erklärte sie 2015 in einer Rede vor dem Bun- Landes stand es 6 : 10. Sechs Frauen desrat. »Drei Viertel der Frauen, die berufs- AUF EINEN BLICK und zehn Männer bildeten die letzte tätig sind, sagen: Es geht in der Arbeitswelt Bundesregierung. Auch der Bundes- ungerecht zu.« Es gelte, endlich die Lücke Hürdenlauf zum tag war zu 36 Prozent weiblich – im zu schließen, die zwischen der im Grundge- Chefsessel Vergleich zu den Führungsetagen der Wirt- setz verankerten gleichberechtigten Teilha- 1 W eibliche Führungskräfte bilden nach wie schaft geradezu vorbildlich. So war Ende be von Frauen und Männern und der Le- vor eine Minderheit. So ist nur rund jeder 2015 lediglich jeder fünfte Aufsichtsrat und benswirklichkeit bestehe. 20. Vorstandsposten der größten deut- nur rund jeder 20. Vorstand der 100 größ- Nicht nur Politiker und Wirtschaftswis- schen Unternehmen von einer Frau be- ten deutschen Unternehmen weiblich. senschaftler, sondern auch Psychologen be- setzt. Von großen Veränderungen war dort zu- schäftigen sich mit dem altbekannten Phä- letzt wenig zu spüren: Seit 2006 stieg etwa nomen, dass gut ausgebildete Frauen häufig 2 E in bedeutsamer Grund hierfür sind Ge- der Anteil der Aufsichtsrätinnen bei den auf ihrem Karriereweg an eine Barriere sto- schlechterstereotype: Sie halten sich hartnäckig und verändern sich nur lang- 100 größten Banken und Sparkassen um ßen, an der es nicht weitergeht. Forscher sam. insgesamt lediglich 6 Prozentpunkte; er sprechen von der »glass ceiling«, auf Deutsch liegt aktuell bei 21 Prozent. Dabei arbeiten »gläserne Decke«. Sie behindere den weite- 3 A uf dem Weg nach oben laufen Frauen in der Finanzbranche insgesamt mehr ren Aufstieg nach oben massiv, sei aber Gefahr, an eine »gläserne Decke« zu sto- Frauen als Männer. Die Dynamik gleiche durchsichtig und daher leicht zu übersehen. ßen oder nur in einer prekären Lage des »dem Ritt auf einer Schnecke«, so die Bi- Doch was ist der Grund dafür? Laut Psy- Unternehmens Führungsaufgaben über- tragen zu bekommen. lanz von Elke Holst vom Deutschen Insti- chologen sind vor allem Geschlechterste- tut für Wirtschaftsforschung und Anja reotype verantwortlich (siehe »Kurz er- Kirsch von der Freien Universität Berlin, klärt«). Sowohl Männer als auch Frauen die diese Zahlen in ihrem »Managerin- sind nicht vor ihnen gefeit; oft sind sie sich nen-Barometer« präsentierten. ihrer überhaupt nicht bewusst. Studien ha- Die ehemalige Familienministerin Ma- ben gezeigt, dass beide Geschlechter Frau- nuela Schwesig wollte das ändern. »Abituri- en vermehrt sozial verträgliche, umsor- enten und Studienabsolventen sind in der gende Eigenschaften zuschreiben. Sie gel- Mehrzahl Frauen – und sie merken, dass sie ten etwa als hilfsbereit, mitfühlend und nicht in den Führungsetagen ankommen«, freundlich. Das bezeichnen Forscher als 5
»gemeinschaftsorientiert«. Männer gelten dagegen eher als »handlungsorientiert«, zum Beispiel unabhängig, ehrgeizig und Kurz erklärt durchsetzungsstark. STEREOTYPE Fragt man Menschen, wie eine erfolgrei- Verbreitete Überzeugungen über die Mitglieder einer sozialen Gruppe – etwa che Führungskraft sein muss, so nennen Frauen, ethnische Minderheiten oder Homosexuelle. Sie sind oft, aber nicht im- die meisten solche handlungsorientierten mer negativ (zum Beispiel »Mädchen sind schlechter in Mathe«) und dienen Eigenschaften. Das Konzept von Führung dazu, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen, indem sie auf Basis von ist in unseren Köpfen also stark mit »männ- lichen« Persönlichkeitszügen verknüpft. Gruppenzugehörigkeit pauschalisieren. Stereotype können für die betroffenen Im englischsprachigen Raum hat sich der Gruppen negative Konsequenzen nach sich ziehen, von offener Diskriminierung Ausspruch »think manager, think male« bis zur selbsterfüllenden Prophezeiung. So schneiden Mädchen tatsächlich we- eingebürgert, was so viel heißt wie »Denk niger gut bei Rechenaufgaben ab, wenn man ihnen zuvor sagt, Mädchen seien ich an Manager, denk ich an Männer«. darin grundsätzlich schlechter als Jungen. »Die Vorstellung ›typisch Mann, typisch Frau‹ hält sich hartnäckig«, bestätigt die IMPLIZITER ASSOZIATIONSTEST Sozialpsychologin Melanie Steffens von Ein sozialpsychologisches Messverfahren, das unbewusste, automatische Asso- der Universität Koblenz-Landau. Ge- ziationen erfasst. Dem Probanden werden auf dem Bildschirm Wörter wie »liebe- schlechterstereotype würden nur nicht voll« präsentiert, die er so schnell wie möglich zwei gegensätzlichen Begriffen mehr so unverblümt ausgesprochen. einer Kategorie zuordnen soll (etwa Frau oder Mann und warm oder kalt). Dazu drückt er entsprechende Tasten. Zwei Begriffe (etwa Frau und warm) belegen Sexismus ist heute subtiler dabei dieselbe Taste; nach einer gewissen Zeit wechselt die Zuordnung (Mann Unverhohlenen sexistischen Äußerungen und warm). Ist der Proband schneller, wenn bei »liebevoll« die Taste für »Frau« stimmen seit den 1970er Jahren immer we- und für »warm« dieselbe ist, geht man davon aus, dass diese Begriffe in seinem niger Menschen zu. Sexismus funktioniert Gedächtnis implizit miteinander verknüpft sind. Der Test basiert auf der Annah- heute subtiler – etwa, indem man die Dis- me, Informationen seien im Gedächtnis in Form von assoziativen Netzwerken kriminierung von Frauen leugnet. Und gespeichert. hinter mancher »ritterlichen« Einstellung gegenüber Frauen verbirgt sich eine pater- 6
nalistische Sicht: So stimmen Probanden, FRAU AN DER SPITZE die Sätze bejahen wie »Frauen sollten von Angela Merkel ist laut der Forbes-Liste Männern umsorgt und beschützt werden«, 2016 der drittmächtigste Mensch der Welt. auch eher feindseligen Aussagen gegen- Insgesamt sind aber nur 6 der 74 einfluss- über Frauen zu (etwa »Viele Frauen versu- reichsten Persönlichkeiten auf der chen, unter dem Deckmantel der Gleichbe- Forbes-Skala Frauen. rechtigung besondere Vergünstigungen zu erlangen«). Ebenso haben auch Männer, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, mit Diskriminierung zu rechnen, wie Laurie Rudman und Kris Meschner von der Rut- gers University in New Brunswick (USA) 2013 zeigten. Sowohl männliche als auch weibliche Probanden empfanden einen männlichen Angestellten, der den Perso- nalchef um eine zwölfwöchige Elternzeit bat, als unsicherer, weniger ehrgeizig und durchsetzungsfähig. Sie verneinten außer- dem häufiger Aussagen wie »Er macht Überstunden, wenn es nötig ist« oder »Er ist bei der Arbeit respektiert« und schlu- gen ihn seltener für eine Beförderung, ein Führungskräftetraining oder eine Gehalts- erhöhung vor. Ob Männer, die in Elternzeit ISTOCK / R ALPH ORLOWSKI gehen oder wegen der Familie nur halbtags arbeiten, negativer bewertet werden als Frauen, ist unklar. Manche Untersuchun- gen deuten darauf hin, andere nicht. 7
Da »kontrastereotypes« Verhalten häu- handlungen mit einem weiblichen oder fig auf Unverständnis stößt oder gar zu männlichen Chef. Gegenüber einer Vorge- Die »Frauenquote« Sanktionen führt, vermeiden es viele. Das setzten agierten männliche Probanden da- zeigt zum Beispiel eine weitere Studie von bei aggressiver und verlangten einen deut- Ab dem 1. Januar 2016 gilt für alle bör- Rudman, in der die Teilnehmer Dinge ge- lich höheren Lohn. Sollten sie eine Bonus- sennotierten und »voll mitbestimmungs- fragt wurden wie »Wann wurde das Haar- zahlung mit einem Kollegen teilen, so pflichtigen« Unternehmen, deren Auf- sichtsrat aus ebenso vielen spray erfunden?« oder »Wer hat zum ers- gaben sie weniger ab, wenn es sich dabei Arbeitnehmern wie Aktionären besteht, ten Mal Flammenwerfer in einer Schlacht um eine in der Hierarchie höhergestellte eine vorgeschriebene Mindestquote an eingesetzt?«. Erfahrungsgemäß weiß so Frau handelte. Dieses Verhalten dient laut Frauen von 30 Prozent in Aufsichtsräten. etwas kein Mensch. Hinterher erhielten einer Theorie dazu, das männliche Selbst- Rund 100 Unternehmen sind von der alle Probanden die fingierte Rückmeldung, bild zu schützen, das durch die Konstellati- Regelung betroffen, die meisten von sie hätten den ersten Platz im Wissensquiz on gefährdet ist. Und tatsächlich bewerten ihnen haben mindestens 2000 Arbeitneh- mer. Die Firmen müssen bei jedem neu belegt – und zwar entweder in der Katego- Probanden Männer mit einem weiblichen zu besetzenden Posten im Aufsichtsrat rie »Männerfakten« oder »Frauenfakten«. Chef als weniger maskulin als jene mit ei- so lange eine Frau (oder einen Mann) Außerdem fragte man sie, ob sie mit der nem männlichen Chef. berücksichtigen, bis die Geschlechter- Veröffentlichung ihres Siegs auf einer In einem weiteren Versuch überprüften quote erfüllt ist. Sonst bleibt der Platz Homepage einverstanden seien. Männer, die Wissenschaftler, ob der wahrgenomme- leer. Dieselbe Vorgabe besteht auch für die vermeintlich über hervorragendes ne Führungsstil die Bereitschaft zu teilen Aufsichtsratsgremien, in denen der Bund weibliches Wissen verfügten, und Frauen, beeinflusst. Einer machtorientierten und mehr als zwei Sitze innehat. Etwa 3500 weitere Unternehmen müssen selbst die sich besonders gut in der Männerdo- ehrgeizigen Vorgesetzten gaben männliche Zielgrößen für Vorstand, Aufsichtsrat und mäne auskannten, stimmten dem selte- Probanden weniger von ihrem Bonus ab als die obersten Managementebenen formu- ner zu. Erkundigte sich der Versuchsleiter einem Mann mit diesen Eigenschaften. Ge- lieren, um ihren Frauenanteil zu erhöhen. anschließend, in welcher Kategorie eine genüber einer ergebnisorientierten Mana- Person gewonnen habe, log diese ihn häu- gerin zeigten sie sich dagegen ähnlich groß- fig sogar an. zügig wie gegenüber einem vergleichbaren Welche Konsequenzen Stereotype im Mann. Frauen überließen weiblichen und Arbeitsalltag haben können, demonstrier- männlichen Führungskräften im Schnitt te eine Studie der Universität Mailand von denselben Betrag, egal welchen Führungs- 2015. Die Forscher simulierten Gehaltsver- stil diese an den Tag legten. 8
Doch Stereotype sind nicht unveränder- gangenen Jahrzehnte weit weniger verän- lich, sie können sich wandeln. »Das ist aber dert. Man kann das sich wandelnde Wissenschaftlerinnen verdienen, wenn man ein langsamer Prozess«, erklärt Steffens. In weibliche Stereotyp als positiven Schritt Fach, Rang und Dienstjahre berücksichtigt, einer 2014 veröffentlichten Studie nutzte werten. Auf der anderen Seite kann es Frau- in den USA im Jahr gut 3000 Dollar weniger die Sozialpsychologin den so genannten en überfordern, all diesen Rollen gerecht als männliche Kollegen, und zwar sowohl in von Frauen als auch in von Männern domi- Impliziten Assoziationstest (siehe »Kurz werden zu wollen. So erledigen laut Befra- nierten Fächern. erklärt«). Dieses Verfahren basiert auf der gungen voll berufstätige Frauen trotzdem Annahme, man könne über die Reaktions- noch den Großteil der Hausarbeit. Und Psychol. Women Q. 33, S. 410–418, 2009 zeit Rückschlüsse auf sexistische oder ras- wenn Frauen etwa 70 und Männer 30 Pro- sistische Einstellungen ziehen, die Men- zent der Kindererziehung übernehmen, schen in expliziten Tests möglicherweise dann haben viele Paare bereits das Gefühl, haben, schließlich begegnet uns die Bun- verheimlichen würden. Das Ergebnis: Ei- es gehe bei ihnen gerecht zu. Diese »second deskanzlerin bereits seit 2005 ständig in genschaften wie »liebevoll« sahen alle eher shift« (auf Deutsch: zweite Schicht) nach den Medien. als weiblich an, »gefühlskalt« als männlich. der Arbeit bringe Frauen unter enormen Sowohl Männer als auch Frauen assoziier- Zeitdruck, erklärt Steffens. Die Zeit fehle Fördert eine Kanzlerin ten jedoch das eigene Geschlecht implizit dann, um »networking« zu betreiben und die Gleichstellung? mit »Kompetenz«. Dass Menschen dazu die Karriere voranzubringen. Dass Merkels Vorbild andere Frauen dazu neigen, intuitiv ihre soziale Gruppe zu be- Wie Stereotype gezielt verändert wer- animiere, Karriere zu machen, ist laut Stef- vorzugen, ist bekannt. Dennoch hatten bei- den können, lässt sich bisher nicht befrie- fens nicht unbedingt der Fall. Eine Spitzen- de Geschlechter in früheren Untersuchun- digend beantworten. In einer Studie der frau könne auch abschrecken, wenn Ge- gen Kompetenz stärker Männern zuge- Organisationspsychologen Niels Van Qua- schlechtsgenossinnen sich nicht mit ihr schrieben. Auch andere Befunde legen quebeke und Anja Schmerling von 2010 identifizieren (etwa »Das könnte ich nicht« nahe, dass Frauen mittlerweile »männli- verbanden Probanden weibliche Vorna- oder »So wie Angela Merkel will ich nicht che« Eigenschaften zugesprochen werden, men ebenso schnell wie männliche mit sein«). »Ein paar Gegenbeispiele reichen während sie gleichzeitig nach wie vor als Führungsaufgaben, wenn sie zuvor Bilder nicht aus, um Stereotype aufzubrechen«, einfühlsam oder unterstützend gelten. von Spitzenpolitikerinnen wie Angela sagt die Sozialpsychologin. Nur wenn mehr Frauen haben offenbar eine weitere so- Merkel betrachtet hatten. Nach diesem Be- Frauen Spitzenpositionen innehätten, ziale Rolle erhalten. Das Stereotyp des Man- fund dürften wir hier zu Lande keinen stünden auch genügend weibliche Vorbil- nes hat sich dagegen im Verlauf der ver- Mangel an weiblichen Führungskräften der zur Wahl. 9
Steffens vergleicht den Karriereweg von nis: Vor allem in Krisenzeiten oder wenn »In Krisenzeiten passt das männlich ge- Frauen mit einem Hürdenlauf, der bereits sich die Firma in einem Abwärtstrend be- prägte Bild der idealen Führungskraft nicht damit beginne, dass Eltern und Lehrer bei findet, werden Frauen an die Spitze beru- mehr so gut«, fasst Bruckmüller die Befun- Mädchen technische Begabungen und fen. Die beiden Wirtschaftspsychologen de zusammen. In einer schwierigen Phase Führungspotenziale weniger gut erken- nannten ihre Entdeckung die »gläserne erhofften sich Menschen von einem Chef nen. Wer dennoch die »gläserne Decke« Klippe«: Wenn die Firma zu kämpfen hat, ein gutes Gespür für die Mitarbeiter – et- durchbricht, den erwartet danach eine wei- ist auch der Chefsessel wacklig und das Ri- was, was als typisch weiblich gilt. Manch- tere Hürde, so Michelle Ryan und Alexan- siko zu scheitern besonders groß. mal gehe es einer Firma aber auch darum, der Haslam von der University of Exeter. Doch weshalb bekommen Frauen, wenn mit einer weiblichen Führungskraft ein Auf die Spur hatte sie die Journalistin Eliza- es brenzlig wird, leichter als sonst das Zep- sichtbares Zeichen des Neuanfangs und beth Judge gebracht, die in der englischen ter in die Hand? Sind sie womöglich beson- der Veränderung zu setzen. Gleichzeitig Tageszeitung »The Times« im Jahr 2003 re- ders fähig, knifflige Führungsposten zu berichteten Frauen in Führungspositionen sümierte, der Triumphmarsch der Frauen übernehmen? Oder schützen Männer Ge- von wesentlich weniger Unterstützung als in die Vorstandsetagen habe nur Chaos an- schlechtsgenossen eher vor einer solchen Männer, was die Situation für sie beson- gerichtet. Judge hatte den Prozentsatz Lage, indem sie lieber Frauen der Gefahr ders schwierig mache. weiblicher Vorstände bei den 100 größten aussetzen? Männliche Befragte neigten je- Vor solchen Mechanismen kann die und umsatzstärksten Unternehmen des denfalls stärker als weibliche dazu, das Phä- neue Quotenregelung, die am 1. Januar Landes berechnet. Von jenen zehn Firmen nomen zu verharmlosen oder seine Exis- 2016 in Kraft trat, Frauen nicht schützen. mit den meisten Frauen im Vorstand hat- tenz anzuzweifeln. Manuela Schwesig bezeichnet sie dennoch ten sechs im Vergleich zu den anderen Nach einer Überblicksarbeit von Susan- als historischen Schritt. »So selbstverständ- Top-100-Unternehmen die schlechtesten ne Bruckmüller von der Universität Kob- lich, wie Frauen heute wählen, werden sie Leistungen erbracht. Überdurchschnittlich lenz-Landau und Kollegen aus dem Jahr in den Führungsetagen mitbestimmen«, erfolgreich dagegen waren fünf Unterneh- 2014 hielten weibliche wie männliche Pro- glaubt sie. Andere beurteilen das skepti- men mit männlichen Vorständen gewesen. banden Frauen tatsächlich oft für besser ge- scher. »Die Frauenquote ist nur ein Ein- Waren Frauen schlicht ungeeignet für Füh- eignet als Männer, die Führung einer Firma stieg«, sagt die Ökonomin Elke Holst. Sie rungsaufgaben? in angespannter wirtschaftlicher Lage zu sei das Resultat gescheiterter Selbstver- Ryan und Haslam erschien Jugdes übernehmen. In »guten Zeiten« tendierten pflichtungen. Und auch in der jetzigen Schlussfolgerung zu einfach. Sie schauten sie hingegen dazu, männliche Kandidaten Form appelliere man damit großteils an sich den Datensatz genauer an. Ihr Ergeb- der weiblichen Konkurrenz vorzuziehen. Firmen, sich freiwillig Quoten aufzuerle- 10
gen. Doch die Unternehmenskultur müsse durch die Quote Frauen in Führungsposi- Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentli- sich grundlegend ändern – etwa in puncto tionen auf lange Sicht selbstverständli- chen Dienst. Juli 2015. PDF abrufbar unter: http://t1p. Flexibilität bei Arbeitszeiten und Karriere- cher werden und Stereotype aufweichen. de/0ymw modellen. »Doch Phänomene wie die gläserne Klippe Holst, E., Kirsch, A.: Weiterhin kaum Frauen in den Vorstän- »Quoten führen zu negativen Nebenef- verdeutlichen die Grenzen von Quotenre- den großer Unternehmen: Auch Aufsichtsräte bleiben Män- fekten«, sagt Melanie Steffens. Es bestehe gelungen«, sagt die Sozialpsychologin. nerdomänen. In: DIW-Wochenbericht 82, S. 47–60, 2015 die Gefahr eines neuen Stereotyps: das der Gleichberechtigung sei eben mehr als nur Holst, E.,Kirsch, A.: Finanzsektor: Frauenanteile in Spitzen- Quotenfrau, die ihre Position nur ihrem ein Zahlenspiel. gremien bleiben gering. In: DIW-Wochenbericht 82, S. 62- Geschlecht verdankt. Um Skeptiker zu 71,2015 überzeugen, müsse sie härter arbeiten und (Gehirn&Geist, 2/2016, aktualisiert) Ebert, I. et al.: Warm, but maybe not so Competent?—Con- bessere Ergebnisse liefern. Bekannterma- temporary Implicit Stereotypes of Women and Men in Ger- ßen schwächt es das Selbstbild, nur eine Literaturtipp many. In: Sex Roles 70, S. 359-375, 2014 Quote zu erfüllen. Erklärt man jemandem, Steffens, M. C ., Ebert, I. D.: Frauen – Männer – Karrieren. Ryan, M., Haslam, S.: The Glass Cliff: Evidence that Women er habe eine Position allein auf Grund sei- Eine sozial-psychologische Perspektive auf Frauen in are Over‐represented in Precarious Leadership Positions. nes Geschlechts oder seiner Hautfarbe be- männlich geprägten Arbeitskontexten. Springer, Wiesbaden In: British Journal of Management 16, S. 81-90, 2005 kommen, sinkt sein Selbstwertgefühl, und 2016 Rudman, L., Mescher, K.: Penalizing Men who Request a er schätzt seine Fähigkeiten geringer ein Ein leicht verständlicher und guter Überblick zum Thema Family Leave: Is Flexibility Stigma a Femininity Stigma? In: als zuvor. Journal of Social Issues 69, S. 322-340, 2013 Auf der anderen Seite müsse man Frau- Quellen Rudman, L., Fairchild, K.: Reactions to Counterstereotypic en auf ihrem Weg in Spitzenpositionen Bruckmüller, S. et al.: Beyond the Glass Ceiling: The Glass Behavior: The Role of Backlash in Cultural Stereotype Main- unterstützen, damit sich langfristig etwas Cliff and its Lessons for Organizational Policy. In: Social tenance. In: Journal of Personality and Social Psychology verändert, sagt Steffens. »Wenn wir keine Issues and Policy Review 8, S. 202–232, 2014 87, S. 157-176, 2004 Frauen in der Führungsetage haben, ha- Bruckmüller, S., Branscombe, N.: The Glass Cliff: When and Netchaeva, E., et al.: A Man's (Precarious) Place: Men's ben wir keine weiblichen Vorbilder. Dann why Women are Selected as Leaders in Crisis Contexts. In: Experienced Threat and Self-Assertive Reactions to Female gibt es keine Frauen, die sich für die Positi- British Journal of Social Psychology 49, S. 433-451, 2010 Superiors. In: Personality and Social Psychology Bulletin on interessieren, und so ändern sich auch Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju- 41, S. 1247-1259, 2015 die Geschlechterstereotype nicht«, fasst gend, Bundesministerium für Justiz und Verbraucher- Travis, C. et al.: Tracking the Gender Pay Gap: A Case sie die Krux zusammen. Susanne Bruck- schutz: Fragen und Antworten zu dem Gesetz für die gleich- Study. In: Psychology of Women Quarterly 33, S. 410-418, müller sieht das ähnlich. Sie hofft, dass berechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an 2009 11
Die STEREOTYPE Geniefalle von Andrei Cimpian und Sarah-Jane Leslie In manchen Fächern gilt ein überragender Intellekt als entscheidend für die Karriere. Wegen hartnäckiger Vorurteile haben Frauen an den Hochschulen dann oft das Nachsehen. UNSPL ASH / LUCREZIA CARNELOS (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL) 12
Z u Beginn der 1980er Jahre war terien. Philosophen legen größten Wert auf unter amerikanischen Philoso- das persönliche Auftreten, am besten als AUF EINEN BLICK phen oft die Rede von »The schillernder Superstar mit herausragenden Beam« – einem Strahl intellek- geistigen Fähigkeiten. Hingegen glauben Wie wichtig ist ein tueller Brillanz, der die kompli- Psychologen eher, die führenden Köpfe des brillanter Geist? ziertesten philosophischen Rätsel zu erhel- Fachs hätten ihren Status durch harte Ar- 1 In Studienfächern, deren Vertreter eine len vermochte. Nur wenige Denker seien beit und Erfahrung erworben. herausragende intellektuelle Begabung mit dieser Gabe ausgestattet, und ihr Werk Zunächst sahen wir in der Geniebeses- oft für notwendig erachten, promovieren repräsentiere den Maßstab für geistiges Ge- senheit der Philosophen nur eine Marotte, in den USA besonders wenige Frauen und lingen. Wem der Glanz fehle, der sei auf ewig ein bisschen seltsam, aber harmlos. Für Afroamerikaner. dazu verdammt, im Schatten zu stehen. Leslie stand vielmehr im Vordergrund, dass Das Thema kam jedes Mal zur Sprache, ihr Fach keine Anziehung auf Frauen und 2 O bwohl angeborene kognitive Fähigkeiten wenn wir beide uns bei einer Konferenz tra- Minderheiten auszuüben schien. Trotz al- nachweislich nicht von Geschlecht oder Ethnie abhängen, schreibt man diesen fen. Wir hatten zwar unterschiedliche Fä- ler Versuche, das Blatt zu wenden, waren in zwei Gruppen seltener außerordentliche cher studiert (Leslie Philosophie, Cimpian den Vereinigten Staaten bloß 30 Prozent Intelligenz zu. Psychologie), bearbeiteten aber ähnliche aller anno 2015 in Philosophie promovier- Themen. Also tauschten wir uns regelmä- ten Personen weiblich, und Afroamerika- 3 V orurteile entmutigen offenbar sowohl ßig über unsere Erfahrungen im jeweiligen ner beiderlei Geschlechts stellten sogar nur Frauen als auch Schwarze, eine akademi- Fachgebiet aus. Psychologie und Philoso- ein Prozent der promovierten Philoso- sche Karriere in Fächern wie Mathematik oder Physik anzustreben, die als Voraus- phie haben dieselben Wurzeln; bis ins 19. phen. Ganz anders die im selben Jahr ver- setzung einen scharfen Geist betonen. Jahrhundert war die Psychologie eine phi- liehenen Doktorgrade in Psychologie: 72 losophische Teildisziplin. Dennoch galten Prozent Frauen und immerhin sechs Pro- unseren Eindrücken nach in beiden Fä- zent Afroamerikaner – womit Letztere je- chern höchst unterschiedliche Erfolgskri- doch noch immer stark unterrepräsentiert waren. Aus der Diskrepanz wurden wir einfach Andrei Cimpian ist Assistenzprofessor für Psychologie nicht schlau. Unsere Fächer haben so viel an der New York University. Sarah-Jane Leslie lehrt als Professorin für Philosophie an der Princeton University gemeinsam – beide fragen, wie Menschen im US-Bundesstaat New Jersey. die Welt wahrnehmen und begreifen, wie 13
sie zwischen richtig und falsch unterschei- Gebiet praktisch gleichbedeutend mit ei- nen hohen Stellenwert genießt. Außerdem den, wie sie Sprache lernen und gebrau- nem Verbotsschild für jeden Neuling, der dürften die bereits etablierten Mitglieder chen, und so weiter. Selbst die wenigen Un- anders aussieht als die drinnen? eines solchen Felds Männer und Frauen terschiede, beispielsweise die Anwendung Auf den ersten Blick wirkt die Betonung unterschiedlich einschätzen und sie des- von Statistik und randomisierten Experi- der Intelligenz nicht diskriminierend, denn halb nicht gleichermaßen unterstützen. menten in der Psychologie, verwischen nach wissenschaftlichem Kenntnisstand Dasselbe gilt für die ethnische Zugehörig- sich, seit die so genannte experimentelle hängen kognitive Fähigkeiten weder von keit: In den USA haben Afroamerikaner seit Philosophie ebenfalls Befragungen und sexueller noch von ethnischer Zugehörig- jeher als intellektuell unterlegen gegolten, Versuchsanordnungen verwendet, um keit ab. Philosophen erstreben eine be- was sich natürlich verstärkt in einem Be- Themen wie Moral und Willensfreiheit zu stimmte Geisteshaltung, unabhängig da- reich auswirkt, der großen Wert auf geisti- erforschen. Wie können derart eng ver- von, wem der Geist gehört. Diese scheinbar ges Brillieren legt. Angesichts dieser Ste- wandte Gebiete so unterschiedliche Perso- selbstverständliche Präferenz wird aller- reotype, für die es keine wissenschaftliche nenkreise anziehen? dings sofort zum Problem, wenn bestimm- Begründung gibt, lag der Verdacht nahe, te Stereotype ins Spiel kommen, die einen dass der unter Philosophen verbreitete Ge- Scharfer Intellekt als Eintrittskriterium überlegenen Intellekt fälschlicherweise pri- niekult die sexuelle und ethnische Vielfalt Unser gemeinsames Aha-Erlebnis hatten mär mit gewissen Gruppen assoziieren – der ganzen Disziplin negativ beeinflusst. wir vor einigen Jahren. Am Rand einer Kon- zum Beispiel mit männlichen Weißen. Wir überlegten dann, ob das auch für ferenz aßen wir mit einer Gruppe von Phi- Selbst unter den an jenem Abend anwe- andere Fachgebiete gilt. Unter Akademi- losophen und Psychologen zu Abend, und senden Akademikern war zu hören, dass kern ist generell viel von Brillanz die Rede, zufällig kamen kurz hintereinander der Männer und Frauen einfach verschieden vor allem in Fächern wie Naturwissen- Geniekult der Philosophen und der unter dächten. Frauen seien praktischer und rea- schaft, Technik, Ingenieurwissenschaft ihnen herrschende Frauenmangel zur listischer, während Männer eher zu jenem und Mathematik, in denen die Diversität Sprache. Das brachte uns erstmals auf die spekulativen, abstrakten Räsonieren neig- ebenfalls zu wünschen übrig lässt. Verriet Idee, zwischen beidem bestehe ein Zusam- ten, das nun einmal als Zeichen philoso- unser eher zufälliger Vergleich von Philo- menhang. Wir fragten uns, ob geistige Be- phischer Brillanz gelte. Wir begannen uns sophie und Psychologie gar etwas über gabungen bei Frauen und Afroamerika- zu fragen, ob die Gleichsetzung von bril- den Mangel an Frauen und Minoritäten in nern leichter übersehen werden. Ist das lantem Geist mit Männlichkeit Frauen da- bestimmten Disziplinen? Beharren auf einem scharfen Intellekt als von abschreckt, ein wissenschaftliches Ge- Vielleicht konnte unsere Brillanz-Hypo- Eintrittsvoraussetzung in ein spezielles biet zu betreten, in dem diese Qualität ei- these ja erklären, warum die geschlechtli- 14
Wie akademische Stereotype Frauen und Minderheiten diskriminieren 80 Kunstgeschichte promovierte Frauen Psychologie Sozial- und Geisteswissenschaften Pädagogik JEN CHRISTIANSEN, NACH: LESLIE, S.-J. E T AL.: E XPECTATIONS OF BRILLIANCE UNDERLIE GENDER DISTRIBUTIONS ACROSS ACADEMIC DISCIPLINES. IN: SCIENCE 347, Naturwissenschaften, Mathematik, 70 Technik Kommunikationsforschung Prozentsatz aller Promotionen pro Fach in den USA 2011 Soziologie Spanisch Literaturwissenschaft 60 Anthropologie Komparatistik Linguistik Linguistics Molekularbiologie vorwiegend Frauen Archäologie 50 Neurowissenschaft Evolutionsbiologie Gleichstand Geschichte Biochemie vorwiegend Männer Statistik Altphilologie 40 Politologie Orientalistik Chemie Geologie Wirtschaft Philosophie 30 promovierte Afroamerikaner (beiderlei Geschlechts) Astronomie Mathematik Sozial- und Geisteswissenschaften Technik 20 Naturwissenschaften, Mathematik, Technik Informatik Neuro- Molekular- Physik Kompositionslehre S. 262-265, 2015 / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2017 wissenschaft biologie Statistik 10 Pädagogik Chemie Biochemie Psychologie Technik Physik Mathematik Philosophie Geologie 0 Evolutionsbiologie Astronomie Informatik geringere Betonung brillanter Begabung stärkere Betonung brillanter Begabung 3,2 3,7 4,2 4,7 5,2 fachspezifisches Brillanz-Betonungsmaß 15
che und ethnische Diskriminierung so Grenzen ihrer Begabung sichtbar machen man Fehler und Mängel bevorzugt dort deutlich variiert, wenn man unterschiedli- würden. Wer hingegen einen »wachstums- wahr, wo man sie von vornherein erwartet. che akademische Fächer betrachtet. Bei- orientierten Denkstil« (growth mindset) spielsweise gibt es fast 50 Prozent weibli- vertritt, sieht seine aktuelle Fähigkeit als Karriere aus der Binnenperspektive che Promovierte in Biochemie, aber in or- eine formbare Größe, die sich im Prinzip Gemeinsam entwickelten wir einen Plan, ganischer Chemie nur etwas mehr als 30 durch Anstrengung und geschickten Ein- um unsere Ideen zu testen. Wir wollten Prozent. Die Differenz lässt sich weder satz steigern lässt. Für eine solche Person Akademiker aus vielen verschiedenen Dis- durch die recht ähnlichen Forschungsin- sind Fehler kein Verhängnis, sondern wert- ziplinen fragen, ob der Erfolg in ihrem Fach halte erklären noch durch die Geschichte, volle Signale, die anzeigen, an welchen Fer- ein außerordentliches intellektuelles Ta- denn die Biochemie trennte sich von der tigkeiten sie noch arbeiten muss. lent erfordere. Dann würden wir Statisti- organischen Chemie ungefähr so spät wie Ursprünglich untersuchte Dweck Indi- ken der National Science Foundation kon- die Psychologie von der Philosophie. Also viduen; kürzlich jedoch stellte sie zusam- sultieren, die über die geschlechtliche und fragten wir uns, ob die demografischen Un- men mit Mary Murphy, die jetzt an der In- ethnische Zusammensetzung der in die- terschiede zwischen so eng verwandten diana University in Bloomington forscht, sen Disziplinen promovierten Personen Feldern etwas damit zu tun haben, wie sehr die These auf, dass auch organisierte Grup- Auskunft geben. Falls wir mit unserer Ver- sie herausragendes intellektuelles Talent pen wie Firmen oder Klubs derartige Denk- mutung Recht hätten, gäbe es in den Fä- als Schlüssel zum Erfolg betonen. stile pflegen. Wir trieben die Idee noch ein chern, die gesteigerten Wert auf Brillanz le- Bei diesen Überlegungen fielen uns die Stück weiter und überlegten, ob diese wo- gen, weniger promovierte Frauen und Af- umfangreichen Arbeiten der Psychologin möglich ganze Fachgebiete beherrschen. roamerikaner. Das sollte nicht nur im Carol Dweck von der Stanford University Der in Philosophie und anderen Fächern Großen und Ganzen beim Vergleich zwi- in Kalifornien ein. Wie Dweck gezeigt hat, übliche Geniekult erzeugt offenbar eine schen Natur- und Geisteswissenschaften wirkt sich die Einstellung zur eigenen Fä- Atmosphäre, in der das Zurschaustellen gelten, sondern auch im Kleinen für eng higkeit stark auf den Erfolg aus, den man seines Intellekts belohnt wird und Unzu- benachbarte Felder wie Philosophie und schließlich erringt. Eine Person, die Talent länglichkeiten um jeden Preis verheim- Psychologie. für eine unveränderliche Charaktereigen- licht werden. In Kombination mit gängigen Nach mehr als einem Jahr und Tausen- schaft hält, vertritt gemäß Dwecks Termi- Vorurteilen über die geringere geistige Be- den von E-Mails besaßen wir gemeinsam nologie einen »starren Denkstil« (fixed gabung ganzer Menschengruppen kann mit Meredith Meyer von der Otterbein mindset): Die Person will ihr Talent bewei- dies Frauen und Afroamerikanern leicht University in Ohio und Edward Freeland sen und keine Fehler machen, welche die zum Nachteil geraten. Immerhin nimmt von der Princeton University Antworten 16
von fast 2000 Akademikern aus 30 For- mit Hausfrauen verheiratete Männer bes- schungsfeldern. Sie bestätigten unsere An- ser zurechtkämen. Oder: Frauen hätten nahme: Je stärker die Fixierung auf Bril- eine natürliche Vorliebe, sich mit lebenden lanz, desto weniger Doktorgrade wurden Organismen zu beschäftigen statt mit leb- an Frauen und Afroamerikaner verliehen. Deren jeweiliger Anteil war zum Beispiel in losen Objekten. Wir mussten herausfin- den, ob unsere Hypothese wirklich etwas Der Geniekult sagte den Psychologie größer als in Philosophie, Ma- Neues brachte; vielleicht war sie nur eine Frauenanteil in allen 30 untersuchten Disziplinen thematik oder Physik. alte Erklärung in neuem Gewand. Dann analysierten wir die Antworten Sorgfältig prüften wir die gängigsten aus den physikalischen und biologischen Alternativen. Gab unser Maß für Brillanz besser voraus als andere Wissenschaften getrennt von denjenigen, beispielsweise bloß die unterschiedlich die von Geistes- und Sozialwissenschaft- große Rolle der Mathematik in verschiede- mögliche Erklärungen lern stammten. Wie sich ergab, traf unsere nen Forschungsgebieten wieder? Wir be- Annahme auch dann zu, wenn wir Unter- trachteten den Mathematikanteil in den gruppen bildeten und etwa Physik mit Bio- Zulassungsprüfungen für Doktoranden: logie verglichen oder Philosophie mit So- Die Betonung des brillanten Geistes sagte ziologie. Anscheinend gilt die Brillanz-Hy- den Frauenanteil viel besser voraus als an- pothese ganz allgemein für das gesamte dere mögliche Erklärungen. Ebenso wenig akademische Spektrum. fanden wir einen Beleg für die verbreitete Allerdings hatten wir damit zunächst Meinung, in »fordernden« Fächern seien nur einen statistischen Zusammenhang Frauen unterrepräsentiert, weil sie sich zwischen Geniekult und Diskriminierung mehr Zeit für die Familie wünschten. Wir in bestimmten Bereichen hergestellt, aber fragten die Akademiker unserer Stichpro- nicht Ursache und Wirkung bewiesen. Man be, wie viele Stunden pro Woche sie arbei- hat im Lauf der Jahre viele andere Erklä- teten. Doch selbst bei Berücksichtigung rungen für akademischen Frauenmangel unterschiedlicher Arbeitsbelastung sagte vorgeschlagen. Beispielsweise herrsche in der Geniekult den Frauenanteil in allen 30 dem betreffenden Fach eine besondere Ar- untersuchten Disziplinen am besten vor- beitsbelastung, mit der Junggesellen sowie aus. Wir untersuchten auch die vorherr- 17
EIN HÖRSAAL VOLLER MÄNNER Mathematik, Physik, Philosophie: Hier beherr- schen Männer die Hörsäle besonders deutlich. Nicht weil Frauen sich weniger für abstrakte Formeln und Gedanken interessierten, sondern weil es ihnen – so das gängige Vorurteil – qua Geschlecht an geistiger Brillanz fehle. schende Meinung, dass Frauen lieber mit Menschen arbeiten und sie intuitiv besser verstehen, während Männer unbelebte Systeme bevorzugen. Dagegen sprechen aber unter anderem die vielen Zweige der Philosophie, die vom Menschen handeln und dennoch von Männern dominiert werden. Mehr Bewunderung für männliche Professoren Nun wollten wir wissen, ob die Einstellung zur Brillanz schon in frühen Phasen des Stu- diengangs den Anteil von Frauen und Mino- K ASTO80 / GE T T Y IMAGES / ISTOCK ritäten prägt. Wir testeten unsere Idee bei Studenten, die einen Bachelor-Abschluss hatten. Beeinflussen Aussagen über die Wichtigkeit intellektueller Begabung die Wahl des Fachs, in dem junge Frauen und Afroamerikaner ihr Studium fortsetzen? 18
Die Antwort ist Ja. In einer im Jahr 2016 Wann beginnen in unserer Kultur Heran- Schränken diese kindlichen Stereotype publizierten Arbeit analysierten wir ano- wachsende zu glauben, dass es in manchen die Interessen von Kindern ein? Wir stell- nyme Bewertungen von Dozenten durch Gruppen gehäuft brillante Leute gibt? Einer- ten eine andere Gruppe von Fünf-, Sechs- ihre Studenten auf der Website »RateMy- seits könnte diese Meinung erst relativ spät und Siebenjährigen vor ungewohnte spie- Professors.com«. Die Vorlesungskritiken durch nachhaltige Beeinflussung etwa durch lerische Aufgaben, die nur etwas für »wirk- beschrieben männliche Professoren fast entsprechende Darstellung in den Medien lich, wirklich schlaue Kinder« seien. Dann doppelt so häufig als »brillant« oder »geni- entstehen. Andererseits legen entwicklungs- verglichen wir das Interesse von Jungs und al« wie weibliche. Hingegen gebrauchten psychologische Befunde nahe, dass bereits Mädchen an diesen Aufgaben. Bei Fünfjäh- die Studenten Ausdrücke wie »hervorra- kleine Kinder begierig die kulturellen Ein- rigen fanden wir keinen Geschlechtsunter- gend« oder »toll« gleich oft für Männer flüsse ihrer Umgebung aufsaugen. Tatsäch- schied, aber ein deutlich größeres Interes- und Frauen. Wie wir feststellten, hing die lich haben offenbar schon Grundschulkin- se bei sechs- und siebenjährigen Jungen. Häufigkeit, mit der in den Vorlesungskriti- der die Stereotype absorbiert, die Rechnen Die kindlichen Stereotype bedingen somit ken von Brillanz und Genialität die Rede mit Jungen und Lesen mit Mädchen assozi- unmittelbar das Interesse an neuartigen war, eng mit mangelnder Diversität am ieren. Demnach könnten auch Brillanz-Ste- Aufgaben. Ende des Studiums zusammen. reotype früh verinnerlicht werden. Je mehr ein Kind im Test Genialität mit Um das zu klären, befragten wir Hun- dem anderen Geschlecht assoziierte, desto Vorurteile entstehen schon derte von Fünf-, Sechs- und Siebenjähri- weniger Lust hatte es, an unseren Spielen im Kindesalter gen, ob sie das Etikett »wirklich, wirklich für »wirklich, wirklich schlaue Kinder« teil- Weitere Untersuchungen ergaben, dass schlau« – unsere kindgerechte Überset- zunehmen. Dieser Befund spricht für eine auch Nichtakademiker ähnlich voreinge- zung von »brillant« – mit ihrem Geschlecht frühe Verbindung zwischen Brillanz-Ste- nommen sind in Bezug auf die Frage, wel- assoziierten. Unsere im Januar 2017 im reotypen und kindlichem Ehrgeiz. Das che Fächer Brillanz erfordern. Diese Mei- Fachjournal »Science« publizierten Resul- dürfte viele begabte Mädchen schon in der nungen können potenzielle Wissenschaft- tate belegen die frühe Übernahme ge- Kindheit von Fächern abbringen, die sich ler oder Ingenieure entmutigen, eine schlechtsspezifischer Stereotype: Im Alter nach gängiger Meinung vor allem für über- bestimmte Laufbahn einzuschlagen, lange von fünf Jahren unterschieden sich die durchschnittlich intelligente Leute eignen. bevor sie den Fuß in eine Universität set- Kinder in ihrer Selbsteinschätzung noch Was kann man dagegen unternehmen? zen. Deshalb mussten wir ergründen, wie nicht, doch schon sechsjährige Mädchen Relativ einfach und wirksam wäre es solche Stereotype überhaupt erworben meinten seltener als Jungen, dass ihr Ge- schon, gegenüber Schülern und Studen- werden. schlecht »wirklich, wirklich schlau« sei. ten möglichst wenig von Brillanz und Ge- 19
nialität zu reden. Angesichts der herr- schenden Vorurteile können Aussagen, KOMPAKT die diese Eigenschaften als Vorausset- zung für den beruflichen Erfolg darstel- len, talentierte Mitglieder sozial benach- teiligter Gruppen entmutigen. Doch wie unsere Forschungen zeigen, beginnt die Prägung der Stereotype bereits in der Grundschule. Deshalb wäre es falsch, mit Gegenmaßnahmen bis zur Hochschulrei- fe zu warten. Wir sollten die Heranwach- senden möglichst früh zu einem wachs- tumsorientierten Denkstil ermuntern, damit sie nicht fatalistisch in der starren INTELLIGENZ Denkweise verharren, die gängige Vorur- teile bestätigt. (Gehirn&Geist, 4/2018) Kington, R. S.: On Being an »African American Scientist«. In: The Scientist 27, Mai 2013 Online unter: www.the-scien- Was kluge Köpfe auszeichnet tist.com/?articles.view/articleNo/35251/title/ On-being-an-African-American-Scientist > Versteckspiel im Genom Leslie, S.-J. et al.: Expectations of Brilliance Underlie Gen- > Anlage kontra Umwelt – ein unsinniger Streit FÜR NUR der Distribution across Academic Disciplines. In: Science > Kann man Intelligenz trainieren? € 4,99 347, S. 262–265, 2015 Storage, D. et al.: The Frequency of »Brilliant« and »Genius« in Teaching Evaluations Predicts the Representation of HIER DOWNLOADEN ISTOCK / MAXIPHOTO Women and African Americans across Fields. In: PLoS One 11, e0150194, 2016 20
PEOPLEIMAGES / GE T T Y IMAGES / ISTOCK MISSBRAUCH IN DER THERAPIE »Er wirkte wie ein gütiger alter Herr« von Jana Hausschild Sexuelle Beziehungen zwischen Psychotherapeuten und ihren Patienten sind verboten. Dennoch gibt es jedes Jahr allein in Deutschland mehrere Hundert solcher Fälle, schätzen Experten. Selten handelt es sich um einmalige Übergriffe – manche Betroffene brauchen Jahre, bis sie sich von ihrem Therapeuten lossagen. 21
I na Wegener* wollte ihre Ehe retten. Eines Tages fragte der Psychotherapeut Sie und ihr Mann stritten oft, auch sie, ob sie jetzt nicht die gemeinsamen Fan- AUF EINEN BLICK sexuell stimmte das Miteinander tasien ausleben wollten. Wegener war ver- nicht mehr. Die Schuld an der Situa- wirrt und schockiert. Den schriftlichen Zum Schutz tion suchte die Mittdreißigerin vor Austausch hatte sie nicht als ernsthafte se- befohlen allem bei sich selbst und begab sich des- xuelle Annäherung empfunden. Ander- 1 J edes Jahr gibt es laut Expertenschätzun- halb bei einem Psychotherapeuten in Be- seits mochte sie ihn ja, wollte ihn nicht ent- gen 300 bis 600 Fälle von sexuellem handlung. Heute, viele Jahre später, liegt täuschen. Im Verlauf der Sitzung übte der Missbrauch durch Psychotherapeuten. ihr Leben in Trümmern. Ihr Psychothera- Therapeut weiter Druck auf sie aus; am peut hat es zerstört. Ende der Stunde sei sie in Tränen ausge- 2 D ie betroffenen Patienten sind in der Er hatte leichtes Spiel. Ina war von Kin- brochen. Kraftlos und mit der Situation Regel weiblich, die Therapeuten männlich, desbeinen an daran gewöhnt, andere über überfordert gab sie nach. An diesem Tag deutlich älter und Wiederholungstäter. Die ihr Leben bestimmen zu lassen. Von Ver- hatte sie das erste Mal Sex mit ihrem Psy- Initiative geht meist von Letzteren aus. wandten wurde sie regelmäßig geschlagen. chotherapeuten. 3 D ie Opfer leiden häufig noch jahrelang unter Sie fand sich mit der Rolle des Opfers ab: Mehr als ein Dutzend Sitzungen bestan- Ängsten, Albträumen und anderen Spätfol- sich ducken, stillhalten, nicht rebellieren. den danach nur noch aus Geschlechtsver- gen ihrer traumatischen Erfahrungen. Diese Haltung und die sexuellen Probleme kehr. Statt ins Behandlungszimmer lenkte in der Ehe waren die Schwächen, die der der Psychotherapeut Wegener in sein Therapeut auszunutzen wusste. Schlafzimmer. Sie ekelte sich vor dem Getarnt als Teil der Therapie forschte er Mann, zweifelte daran, dass dieses Verhält- zunächst eindringlich nach ihren sexuel- nis ihr helfen würde. Ihr Körper sträubte len Vorlieben. Er begann einen Briefwech- sich dagegen: Sobald sie in die Praxis kam, sel mit der Patientin, in denen es um Ge- entwickelte sie Atemnot und Angstzustän- schlechtsverkehr zwischen ihm und ihr de, schließlich sogar Verfolgungswahn. ging – eine therapeutische Übung, wie er behauptete. Wegener machte mit, hoffte, es würde ihre Eheprobleme lösen. Doch Jana Hauschild ist Psychologin und arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Sie hat sich schon öfter mit der immer wieder beschlich sie das Gefühl, dunklen Seite von Psychotherapie beschäftigt und über eine Therapie dürfe so nicht sein. ihre Nebenwirkungen sowie Fehlbehandlungen berichtet. *Name von der Redaktion geändert 22
Doch jedes Mal, wenn sie dem Therapeu- ten davon berichtete, beschwichtigte er sie: PERFIDER MACHTMISSBRAUCH Mit dem Sex befreie sie sich von ihrem Wenn ein Psychotherapeut seine Patientin Mann, von der Bevormundung. Ina Wege- sexuell bedrängt, bringt er sie in eine Zwick- ner fühlte sich zu schwach und hilflos, um mühle: Oft fühlt sie sich von dem Mann ab- Widerstand zu leisten. hängig, ekelt sich aber gleichzeitig vor ihm, Experten schätzen, dass jedes Jahr zwi- weil er ihre Situation ausnutzt. schen 300 und 600 Patienten von ihren Psychotherapeuten missbraucht werden – mit fatalen Folgen. Die Betroffenen verlie- ren nicht nur das Vertrauen in die Behand- lung, sondern häufig auch in andere Men- schen. Die Beschwerden, deretwegen sie die Therapie aufnahmen, festigen oder ver- schlimmern sich gar. Viele sind traumati- siert, denken an Suizid. »Bereits anzügliche Kommentare oder Fragen zu sexuellen Vorlieben sind ein Missbrauch«, erklärt die Psychotherapeu- tin Christiane Eichenberg von der Univer- sität zu Köln. Auch Kontakte über die Be- handlung hinaus gehören nicht zur Thera- pie, und dennoch kommen sie vor. Berühren verboten »Ich habe schon von Patienten gehört, die NEUFFER-DESIGN mit ihrer Therapeutin in den Urlaub gefah- ren sind oder deren Praxis geputzt haben. Das geht nicht«, berichtet die Vorsitzende 23
des Deutschen Instituts für Psychotrauma- Regel blind. Ebenso müssen Patienten sich tologie, Monika Becker- Fischer. Sie hat sich auf den Therapeuten einlassen und darauf Hilfe für Patienten auf die Behandlung von Missbrauchsop- vertrauen, dass er die richtigen Methoden fern spezialisiert. Weder sollten sich Pati- anwendet und seine eigenen Bedürfnisse Der Verein »Ethik in der Psychotherapie« ent und Therapeut außerhalb der Praxis zurückstellt, um ihnen zu helfen. rät Patienten zu prüfen, ob sie dem Psy- chotherapeuten vertrauen und sich bei zum Kaffee treffen noch über das Privatle- Nicht selten verlieben sich Patienten in ihm wohlfühlen. Etwaige Zweifel oder ben des Therapeuten plauschen, sagt sie. ihre Therapeuten. Die spezielle Situation unangenehme Gefühle sollten sie ihm Berührungen gehören ebenfalls nicht zur trägt dazu bei: Der Behandler hört aufmerk- gegenüber offen ansprechen. Lassen sich Behandlung – außer in der Körpertherapie. sam zu, nimmt Probleme ernst, fängt Sor- die Probleme nicht klären, sollten sich Solche Verhaltensweisen können ein frü- gen auf. Das tut gut und kann eine Schwär- Patienten professionellen Rat holen. Eine hes Warnzeichen dafür sein, dass der Psy- merei auslösen. Doch der Therapeut darf solche Beratung bietet der Ethikverein kos- chotherapeut auf intime Kontakte hin- sich nicht darauf einlassen. Denn außer- tenlos und anonym an. Auch wer unsicher ist, ob ein Therapeut seine Grenzen über- steuert. halb des Praxiszimmers wäre ihm diese Zu- schreitet, kann hier nachfragen. Schon seit Freuds Zeiten ist ein sexuel- neigung wohl kaum zuteilgeworden. les Verhältnis zwischen Patient und Thera- »Natürlich kann es sein, dass sich die Wer sexuelle Übergriffe in der Psychothe- peut tabu. Heute findet sich dazu in jeder beiden wirklich ineinander verlieben«, sagt rapie erlebt hat, kann sich außerdem an Ethikrichtlinie von helfenden Berufen ein Psychotherapeutin Becker-Fischer. Patient die regionale Psychotherapeuten- oder entsprechender Passus. Auch im hippokra- und Therapeut sollten die Behandlung Ärztekammer, seine Krankenkasse oder tischen Eid, den Psychiater ablegen, ist das dann sofort abbrechen und eine Weile kei- den Berufsverband der Psychotherapeuten wenden. Abstinenzgebot verankert. Denn: Patient nen Kontakt haben, bevor sie sich privat und Psychotherapeut begegnen sich nicht wiedersehen. »Meine Erfahrung sagt, dass Mehr Informationen im Internet: auf Augenhöhe, sondern der eine erhofft die Patienten nach einigen Monaten kein www.ethikverein.de sich vom anderen Hilfe, und deshalb gibt Interesse mehr an einem Kontakt haben.« es ein Machtgefälle zwischen den beiden. »Am besten lässt sich das Verhältnis zwi- Strafbarer Kunstfehler schen Patient und Psychotherapeut mit Trotz des allseits bekannten Abstinenzge- dem eines Kindes zu seinen Eltern verglei- bots galten sexuelle Kontakte zwischen Pa- chen«, sagt Eichenberg. Kinder sind abhän- tient und Psychotherapeut lange Zeit nicht gig von ihren Eltern, vertrauen ihnen in der als verwerflich: Da begegnen sich schließ- 24
Sie können auch lesen