Das Kongressprogramm? Bei aller Bescheidenheit "best of the best"! - Springer Link
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Mitteilungen der DGN Redaktion Prof. Dr. Gereon Nelles, Schriftführer, nelles@dgn.org (v. i. S. d. P.) Neuromed-Campus Hohenlind, Werthmannstr. 1c, 50935 Köln Prof. Dr. med. Peter Berlit, Generalsekretär, berlit@dgn.org Dr. phil. Bettina Albers, Dr. med. Martina Berthold, presse@dgn.org Prof. Dr. Christian Gerloff, Präsident, praesident@dgn.org Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter, Geschäftsführer, thiekoetter@dgn.org © DGN Sie haben das Motto „Neurologie zwischen Systemmedizin und Prä- Das Kongressprogramm? Bei zisionsmedizin“ für den diesjährigen Kongress gewählt. Inwiefern tut sich hier ein Spannungsfeld auf, das der Kongress beleuchten wird? aller Bescheidenheit „best of Prof. Bähr: Ich würde hier weniger von einem Spannungs- als von einem Entwicklungsfeld sprechen. Die Neurologie ist schon tradi- the best“! tionell ein Konsiliarfach, das sich mehr und mehr zu einem thera- peutischen Fach entwickelt hat, deshalb ist uns vielleicht die enge Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen besonders wichtig. Wir Es sind nur noch wenige Wochen bis zum DGN-Kongress. Wir arbeiten interdisziplinär und denken vernetzt. Kardiovaskuläre Ri- sprachen mit dem Kongresspräsidenten, Prof. Dr. Mathias Bähr, sikofaktoren sind beispielsweise extrem relevant für die Entwick- Universitätsmedizin Göttingen, und DGN-Präsident Prof. Dr. lung von Schlaganfällen, das körpereigene Immunsystem wichtig Christian Gerloff, UKE Hamburg, über die Kongresshighlights, für viele neuroimmunologische Krankheiten. Wir glauben aber, es die Zukunft des Fachs, warum auch 2021 die Entscheidung ge- ist zukunftsweisender, neurologische Erkrankungen noch integ- gen ein Hybridformat gefällt wurde – und wieso zeremonielle rativer und systemischer zu betrachten. Was sind beispielsweise Kongresseröffnungen spätestens mit der Einführung von On- direkte Einflussgrößen von Herz auf Gehirn und umgekehrt, was line-Kongressen ausgedient haben. bestimmt die Wechselwirkungen zwischen diesen Organen? In ähnlicher Weise sollte man Gehirn und Immunsystem oder Gehirn und andere innere Organe betrachten. Die direkten pathophysio- Herr Prof. Bähr, auf welche Highlights freuen Sie sich als Kongressprä- logischen Interaktionen bedürfen detaillierterer Analysen, die mitt- sident besonders? lerweile durch eine Reihe neuer diagnostischer Verfahren möglich Prof. Bähr: Ich freue mich natürlich besonders auf die Sitzungen, sind. Wenn wir diese besser verstehen und erkennen, wie sie indi- die wir selbst zusammengestellt haben, speziell die Eröffnungs- viduell in das Krankheitsgeschehen eingreifen, können wir eine viel veranstaltung, dann natürlich auch auf das Präsidentensymposi- präzisere Medizin, bezogen auf den jeweiligen Einzelfall, anbieten. um, für das wir sehr hochrangige Sprecherinnen und Sprecher ge- Die Systemmedizin ist somit ein wichtiger Wegbereiter der perso- winnen konnten. Auch das Symposium zu C OVID-19 wird extrem nalisierten Medizin. spannend, denn es werden aktuelle Daten diskutiert und der Er- Prof. Gerloff: Auf diesem Gebiet liegt sehr viel Erkenntnispotenzial, kenntnisgewinn zu SARS-CoV-2 ist einfach rasant. Im Prinzip lassen das geborgen werden muss. Hier müssen wir unbedingt dranblei- sich aber schwer einzelne Symposien herausheben, da das gesam- ben, auch wenn der Weg nicht immer einfach ist. Große interdis- te Programm aus Highlights besteht, auch deshalb, weil wir nicht ziplinäre Projektanträge scheitern oft daran, dass die Beteiligten so viele Parallelsitzungen wie bei einem Präsenzkongress haben zu sehr auf ihr Spezialgebiet schauen, es nicht genügend reprä- und wir das Live-Programm stark kondensieren mussten. Das Er- sentiert sehen und das Große und Ganze aus den Augen verlieren. gebnis kann man nun bei aller Bescheidenheit als „best of the best“ Eine Herausforderung wird sein, integrativ tätig zu werden und alle bezeichnen. Player von diesem Ansatz zu überzeugen. Es gibt zwei parallele Live-Kanäle, „Wissenschaft“ und „Fortbil- dung“, außerdem einen dritten Kanal, den die Industrie bespielt. Darüber hinaus gibt es die mehr als 270 Webcasts, gut sortiert nach Themen, sodass man sich kompakt fortbilden kann. Kongressbe- sucherinnen und -besucher haben ein ganzes Jahr Zugang und können dieses Fort- und Weiterbildungsprogramm unbeschränkt nutzen. Abstracts werden als E-Poster zur Verfügung gestellt, oft flankiert von kurzen Vorträgen und Präsentationen. © UKE/UMG Nervenarzt 2021 · 92:1084–1107 https://doi.org/10.1007/s00115-021-01199-6 8 V. l. n. r.: DGN-Präsident Prof. Christian Gerloff, Hamburg“, Kongressprä- © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 sident Prof. Mathias Bähr, Göttingen 1084 Der Nervenarzt 10 · 2021
Wo hat die Systemmedizin bereits Einzug in den klinischen Alltag von mit den klinischen Befunden bringen zu können. Dann erst ist es Neurologinnen und Neurologen gehalten? Neurologie! Prof. Bähr: In der Neuroimmunologie ist sie bereits bei den Pa- Prof. Gerloff: Kurz gesagt: Hightech bringt nichts ohne neurolo- tientinnen/Patienten angekommen. Beispiel M S: Hier haben wir gische Skills. Das ist auch der Grund, warum die DGN SkillsLabs Therapien für verschiedene individuelle Immundispositionen, anbietet, ein ergänzendes Zusatzangebot für Neurologinnen und Verlaufstypen und Unverträglichkeiten zur Verfügung. Aber auch Neurologen in der Weiterbildung, um bestimmte Fertigkeiten in- in anderen Bereichen wird versucht, die Erkenntnisse über Erkran- tensiver zu trainieren, als es vielleicht im klinischen Alltag möglich kungsmechanismen in die individualisierte Therapie zu integrie- ist. Wir haben dieses Format vor Kurzem bei einem D GN-Facharztre- ren. Teilweise fehlen uns aber noch die Tools für eine genügend petitorium in Hamburg durchgeführt, zwei dreistündige SkillsLabs genaue Patientenphänotypisierung. Hier sind Schnittstellen zu den zu Elektrophysiologie und Ultraschall, die sehr gut ankamen. Auch Grundlagenfächern von großer Bedeutung. Ziel ist es, über Biomar- zum Kongress bieten wir parallel SkillsLabs in einzelnen Kliniken ker Subtypen, Verlaufstypen oder Interaktionskomponenten von an und werden 2022 dieses Angebot deutschlandweit ausbauen. Erkrankungen zu bestimmen, die eine spezifische Herangehens- weise möglich machen. Insbesondere neue bildgebende Verfahren Welche Bedeutung hat der Kongress für die neurologische Nach- gewinnen in diesem Kontext an Bedeutung und es gibt in diesem wuchsförderung? Und welche Bedeutung hat der neurologische Nach- Bereich eine enorme Entwicklung. Wir haben daher ein Symposi- wuchs für den Kongress? um zum „next generation imaging“ im Programm, in dem z. B. das Prof. Gerloff: Der Kongress bietet viel für junge Kolleginnen und „Echtzeit-MRT“ vorstellt wird. Wir sehen mit dieser Technologie das Kollegen, trägt aber auch ihre Handschrift. Die Jungen Neurologen Gehirn nicht als „eingefrorenes“ Bild, sondern in seiner ganzen Dy- waren bei der Programmentwicklung involviert, und zwar auf Au- namik, wie es sich bewegt, inkl. Nervenwasser und Gefäßen, was genhöhe. Sie richten außerdem ein eigenes Symposium sowie eine ganz neue Aufschlüsse über pathologische Vorgänge ermöglicht Fortbildung aus. Auch hat das Programmkomitee darauf geachtet, und woraus wir u. U. neue, personalisierte Therapieverfahren ab- dass sie, wann immer es möglich ist, bei den großen wissenschaftli- leiten können. chen Veranstaltungen aktiv mitwirken. Uns war es wichtig, die jun- gen Kolleginnen und Kollegen bei der Planung und Auswahl von Prof. Gerloff, wo verorten Sie die Neurologie heute? Wo steht das Fach Themen zu integrieren und nicht über ihre Köpfe hinweg ein wis- und wohin wird es sich entwickeln? senschaftliches Programm zu entwickeln, das dann möglicherwei- Prof. Gerloff: Die Neurologie ist eines der progressivsten Fächer se an den Bedarfen dieser Zielgruppe völlig vorbeigeht. in der Medizin – und die Entwicklung ist rasant vonstattengegan- gen. Schlagwortmäßig lässt sich sagen, vom Aderlass zur „com- Kommen wir zum Veranstaltungsformat: Auch 2021 hat die Corona- prehensive stroke care“, vom Sammeln von Kasuistiken im Bereich Pandemie einen Hybridkongress mit mehreren Hundert Vor-Ort-Teil- der neurodegenerativen Erkrankungen bis hin zur Hirnstimulation nehmenden vereitelt. Nun ist ein Online-Kongress geplant, bei dem oder Gentherapie oder von Kortison als ehemals einziger Therapie zumindest die Referierenden vor Ort sein werden. Was sind die Vorteile im Bereich der Neuroimmunologie zu einem täglich größer wer- eines solchen erweiterten Online-Konzepts? denden Armamentarium an Immuntherapeutika, die individuali- Prof. Bähr: Das neue Konzept hat mehrere Vorteile. Zum einen ist siert eingesetzt werden können. Die Neurologie wird sich weiter die Sicherheit der Teilnehmenden gewährleistet. Die maximal 200 in Richtung personalisierte Therapie und Präzisionsmedizin entwi- Referierenden vor Ort sind geimpft und/oder getestet – es gilt: ckeln und die zügige Translation von Grundlagenergebnissen in die „Safety first.“ klinische Praxis ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Ein weiterer großer Vorteil ist aber, dass es im Gegensatz zu ei- nem reinen Online-Kongress, bei dem alle Sprecher und Spreche- Andererseits sehen Sie, Prof. Gerloff, aber auch eine besondere Stärke rinnen von zu Hause aus referieren, ein Live-Programm mit einer in den neurologischen Grundfähigkeiten. echten Live-Atmosphäre geben wird. Das eröffnet viel mehr In- Prof. Gerloff: Absolut. Zwar sind wir als Neurologinnen und Neu- teraktionsmöglichkeiten, sorgt für (An-)Spannung und überträgt rologen fasziniert von den Fortschritten in Diagnostik und Thera- letztlich auch den „Kick“, den man erlebt, wenn man auf der Bühne pie, aber wir dürfen darüber unsere genuinen Skills nicht verges- steht. Auch durch die professionelle Produktion wird der Kongress sen. Um eine korrekte Diagnose stellen zu können, braucht es sehr zu einem echten Erlebnis, das mehr bietet als die Übertragung von viel Wissen über das ZNS, über die Zusammenhänge mit anderen PowerPoint-Präsentationen. Wir haben bereits sehr viele wertvol- Organsystemen – und Grundlagen dafür sind die präzise klinische le Erfahrungen im letzten Jahr gesammelt und können nun da- Untersuchung und die Elektrophysiologie, Letztere ist z. B. für die rauf aufbauen und noch eine Schippe drauflegen. Darauf freuen Differenzialdiagnose von neurodegenerativen oder immunologi- wir uns! schen Erkrankungen oft essenziell. Prof. Bähr: Das sehe ich genauso, beobachte aber, dass eher mehr Das Präsidium hat sich die Entscheidung gegen einen Hybridkongress rein organbezogene Diagnostik gemacht wird und immer weniger sicher nicht leicht gemacht, was waren die ausschlaggebenden Grün- klinische Untersuchungen, und da müssen wir gegensteuern. Die de dafür? Hightech-Geräte liefern zwar faszinierende Informationen, aber Prof. Gerloff: Es war eine der schwersten Entscheidungen für mich das Wesentliche ist, diese abstrahieren und in Zusammenhang in diesem Jahr, denn bei aller Perfektion fehlen bei einem Online- Kongress die persönlichen Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen, 1085 Der Nervenarzt 10 · 2021
Mitteilungen der DGN die sind auch durch nichts zu ersetzen. Aber die Vernunft hat ge- siegt. Wir wussten, es kommt eine vierte Welle – die nun da ist. Wir Die Kongress-Highlights im müssen die Teilnehmenden schützen und haben darüber hinaus auch eine besondere Verantwortung und Vorbildfunktion. Wir sind Überblick ja schließlich kein Sportverein oder Konzertveranstalter, sondern eine medizinische Fachgesellschaft. Wir kennen die wissenschaft- Eröffnungsveranstaltung lichen Zusammenhänge und können, wenn wir verantwortungs- voll handeln wollen, in einer Pandemiesituation keine Großevents Jörg Thadeusz spricht mit seinen Gästen über aktuelle neurologi- durchführen. sche und gesellschaftlich relevante Themen – informativ, unter- Ein weiterer Aspekt für die Entscheidung war aber letztlich auch, haltsam und journalistisch hintergründig. Die Bandbreite der Gäs- dass wir als Präsidium für die Gelder unserer Mitglieder verantwort- te steht für die Bandbreite der Themen: Der Bogen wird von COVID lich sind. Einen Präsenzkongress zu planen, der dann aufgrund der bis Kunst und von Neurologie bis Neuropsychologie geschlagen. aktuellen Pandemielage kurzfristig hätte abgesagt werden müs- Lassen Sie sich überraschen! sen, wäre mit hohen finanziellen Verlusten für die DGN einherge- Warum lieben wir lebendige Talkrunden? Weil sie informativ, gangen. unterhaltsam und manchmal auch berührend sind. Weil sie „gro- ße Themen“ leicht verdaulich präsentieren, aber durchaus mit Tief- Inwieweit hat das Online-Format auch Einfluss auf die Kongress- gang – zumindest, wenn Moderation und Gäste hochkarätig sind. gestaltung genommen? Die Eröffnungsveranstaltung als Talkshow Genau das ist bei der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses durchzuführen, war bislang nicht üblich. „Neurotalk mit Gästen“ der Fall. R BB-Moderator Jörg Thadeusz Prof. Bähr: Da hat das digitale Format tatsächlich Einfluss genom- begrüßt neben DGN-Präsident Prof. Christian Gerloff (Ham- men. Die Teilnehmenden sitzen zu Hause an den Rechnern und burg) und Kongresspräsident Prof. Mathias Bähr (Göttingen) die uns war es ein Anliegen, die Eröffnung etwas lebendiger und zeit- COVID-19-Expertin Prof. Marylyn Addo, Infektiologin am UKE in gemäßer zu gestalten. Wir haben interessante Gäste eingeladen, Hamburg, die Neuropsychologin Prof. Brigitte Röder, ebenfalls aus den Galeristen Johann König, die Infektiologin Prof. Marylyn Addo Hamburg, die bekannt ist für ihre herausragende Forschungsar- und die Neuropsychologin Prof. Dr. Brigitte Röder, und wollen die beit auf dem Gebiet der Multisensorik und Neuroplastizität. Sie Pandemiesituation beleuchten – und zwar aus diesen ganz unter- erforscht u. a., wie sich das Gehirn an den Ausfall eines Sinnes- schiedlichen Blickwinkeln. Jörg Thadeusz wird diese Runde mit Es- organs anpasst. Ganz praktisch kann zu dieser Frage der Talkgast prit und Wortwitz moderieren und die Eröffnung zu einem einma- Johann König Auskunft geben: Er verlor als Zwölfjähriger beim ligen Erlebnis machen. Ich denke, dass sich zeremonielle Formate Spielen mit einer Startschusspistole sein Augenlicht – heute, wie früher üblich, wo sich bei Eröffnungen Grußwort an Grußwort knapp 30 Jahre später, öffnet der blinde König den Menschen die reihte, ohnehin überlebt haben, und bin froh, dass wir mit dem Augen für Kunst. Kongress auch hier einen neuen Akzent setzen können. Auch im DGN-Forum wird über den Tellerrand geblickt und es werden berufs-/gesundheitspolitische, historische und interdisziplinäre The- men zur Diskussion gestellt. Wie wichtig ist es, dass eine Fachgesell- schaft auch diese Diskurse führt? Prof. Gerloff: Unsere Verantwortung umfasst viel mehr als nur die reine Neurologie und Neurowissenschaften. Beispiel: die histori- sche Aufarbeitung der Rolle der Neurologie im Nationalsozialis- mus. Die haben wir professionell von Historikerinnen/Historikern beleuchten lassen und – das ist vielleicht noch wichtiger – Konse- quenzen gezogen, wie das Umbenennen der nach Persönlichkei- ten benannten Preise. Ebenso sind Themen wie die Optimierung der Lehre in der Neurologie, die Stärkung der neurologischen Pfle- ge sowie berufspolitische Weichenstellungen, die der B DN leistet, für die Zukunft und Stärkung unseres Fachs von großer Bedeutung. Diesen Themen möchten wir ein Forum geben und sie mit unse- ren Kolleginnen und Kollegen diskutieren. Das DGN-Forum ist so- mit ein ganz wesentlicher Teil des Kongressprogramms, auf den wir uns sehr freuen. Vielen Dank für das Gespräch! Wir freuen uns mit Ihnen auf den 94. Kongress der DGN! 8 Jeweils v. l. n.r: Moderator Jörg Thadeusz spricht mit seinen Gästen Prof. Gerloff, Prof. Bähr, Prof. Addo, Prof. Röder und Galerist Johann König 1086 Der Nervenarzt 10 · 2021
Präsidentensymposium: Neurologie zwischen System- Templin aus Zürich und sein und Präzisionsmedizin Team haben nun in ihren For- schungsarbeiten diese Theo- Drei herausragende Forschende berichten auf dem diesjährigen rie bestätigt: „Es gibt im Ge- Präsidentensymposium über wegweisende Entdeckungen in der hirn von Takotsubo-Patienten Neurologie. Prof. Angela Vincent, Prof. Per Borghammer und Prof. und -Patientinnen tatsächlich Christian Templin nehmen in ihrer Forschung das komplexe Zu- eine funktionelle Veränderung. sammenspiel von Organen und Zellen in den Blick und decken Wir gehen also von einer Hirn- Fehlsteuerungen auf. Ihre Arbeit steht beispielhaft für das diesjäh- Herz-Assoziation aus“, sagt der rige Kongressmotto „Neurologie zwischen System- und Präzisions Experte. © Sam Rogers medizin“. Die britische Forscherin Prof. Angela Vincent (London) befasst COVID-19 sich schwerpunktmäßig mit klinischen und serologischen Studi- en an Patienten und Patientinnen mit Störungen der neuromus- 8 Takotsubo-Experte Prof. ChristianAuch 2021 hat uns die SARS- kulären Übertragung und erworbenen Erkrankungen des Zentral- Templin ist leitender Arzt der Klinik CoV-2-Pandemie im Griff – und nervensystems in Verbindung mit Antikörpern gegen Rezeptoren, für Kardiologie und Leiter der die Neurologie ist in besonde- Andreas-Grüntzig-Herzkatheterla- Ionenkanäle und assoziierte Proteine. In ihrem Vortrag „CNS auto- bore am Universitätsspital Zürich rer Weise gefordert. Nicht nur antibodies: what do we know of the pathophysiology?“ diskutiert im Hinblick auf die Intensiv- Prof. Vincent die Rolle von Antikörpern bei der Entstehung neuro- neurologie, die bei schwerstkranken C OVID-19-Patientinnen und logischer Erkrankungen und mögliche Formen der Therapie. Dank -Patienten gefragt ist. In diesem Kontext beleuchtet Prof. Julian ihr ist heute mehr über die Rolle gegen Muskel- und ZNS-Mem Bösel (Kassel) SARS-CoV-2-infektionsassoziierte Enzephalopa- branproteine gerichteter Antikörper bei der Entstehung Immun- thien. Doch auch darüber hinaus gibt es zahlreiche Daten und therapie-responsiver Syndrome bekannt. neue Erkenntnisse zu neurologischen C OVID-19-Manifestationen, Der dänische Nuklearmediziner und Neurowissenschaftler Prof. seien es neurovaskuläre Manifestationen, über die Prof. Götz Per Borghammer (Aarhus) beschäftigt sich mit der Pathogenese Thomalla (Hamburg) sprechen wird, oder neuromuskuläre Mani- der Parkinson-Krankheit. Er zeigte im Jahr 2020, dass zwei Subty- festationen, Gegenstand des Vortrags von Prof. Benedikt Schoser pen an verschiedenen Orten im Körper beginnen: Der eine Subtyp (München). Prof. Sven G. Meuth (Düsseldorf) wird vertiefend Ein- entsteht im Darm und breitet sich über neuronale Verbindungen blick in die Neuroimmunologie von C OVID-19 geben, Prof. Jörg in das Gehirn aus. Der zweite Subtyp – diese Erkenntnis ist neu – B. Schulz (Aachen) Komplikationen der COVID-19-Impfung dis- scheint vom Gehirn auszugehen. Das erklärt die sehr unterschied- kutieren. lichen nicht motorischen Begleitsymptome und Verlaufstypen von Von besonderem Interesse für den neurologischen Alltag sind Parkinson-Erkrankungen. darüber hinaus das Long-COVID- und das Post-COVID-Syndrom, Bis vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass sich das Takot- die mit zahlreichen neurologischen Symptomen einhergehen kön- subo-Syndrom auf das Herz beschränkt. Nach einer im Jahr 2015 nen. Einen aktuellen Überblick zur Diagnostik und Therapie wird durchgeführten Studie stand jedoch die Theorie im Raum, dass Dr. Christiana Franke (Berlin) geben. neurologische und psychiatrische Erkrankungen sehr wahrschein- Freuen Sie sich auf eine spannende Sitzung, in der neueste lich eine Rolle beim Takotsubo-Syndrom spielen. Prof. Christian Forschungsdaten präsentiert und unter der kompetenten Mo- deration von Prof. Peter Berlit (Berlin/Essen), Generalsekretär © University of Oxford © Jens Kamossa/Rainer Freese © Claus Sjoedin 8 Angela Vincent ist emeritierte 8 Per Borghammer ist Professor Professorin für Neuroimmunologie für Nuklearmedizin und an der Universität Oxford und Neurowissenschaften an der Honorarprofessorin an der medizinischen Fakultät der 8 Prof. Peter Berlit und Dr. Samuel Knauss moderieren gemeinsam das Universität London Universität Aarhus Symposium zu COVID-19 1087 Der Nervenarzt 10 · 2021
Mitteilungen der DGN der DGN und Herausgeber des zweiwöchentlich erscheinenden COVID-19-Journalclubs der DGN, und Dr. Samuel Knauss (Berlin), Sprecher der Jungen Neurologen, diskutiert werden. Spotlight: Höhepunkte des Kongresses GN-Forum: von Mittwoch bis Freitag ab 10.30 Uhr D Wie sagt man so schön – das Beste kommt zum Schluss. Unter dem auf Kanal 1 Vorsitz von DGN-Präsident Prof. Christian Gerloff (Hamburg) und Kongresspräsident Prof. Mathias Bähr (Göttingen) fassen Exper- Das DGN-Forum ergänzt das Wissenschafts- und Fortbildungspro- ten und Expertinnen des jeweiligen Fachgebiets die Höhepunk- gramm um Themen der Arbeitswelt, der Berufspolitik, der Nach- te des wissenschaftlichen Programms zusammen: Prof. Waltraud wuchsförderung und der strategischen Ausrichtung. Auch ethische Pfeilschifter (Lüneburg) spricht über aktuelle Forschung zu Schlag- Fragen der Neurologie werden im DGN-Forum diskutiert. Seit Jah- anfall, Prof. Yvonne G. Weber (Aachen) über Epilepsie. Prof. Heinz ren gehört es zu den beliebtesten Formaten des Kongresses und Reichmann (Dresden) fokussiert auf Bewegungsstörungen. Prof. auch 2021 greift es aktuelle „Hot Topics“ und Kontroversen auf. Christine von Arnim (Kiel) thematisiert Altern und demenzielle Er- krankungen und Prof. Heinz Wiendl (Münster) nimmt Multiple Skle- Mittwoch rose in den Blick. 10.30–12.00 Uhr NeurologyFirst Abendliche Talkrunde: Remains of the Day 12.15–13.45 Uhr B DN-Forum: Lernen aus der Pandemie – Wie kön- nen wir heute die gesundheitspolitischen Weichen für die gute Ver- Was vom Tage übrig bleibt: allabendliche Auswertung der in den sorgung von morgen stellen? Live-Sessions vorgestellten Daten und erfolgten Diskussionen – fundiert und gleichzeitig höchst unterhaltsam. Genießen Sie die- Donnerstag ses Edutainment-Format, bei dem ausgewählte Experten und Ex- pertinnen zusammen den Tag auswerten, die Essenz für Klinik und 10.30–12.00 Uhr S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multi- Praxis herausarbeiten und kontrovers diskutieren. plen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und Ob Sie die Veranstaltung im „Arbeitsmodus“ im Büro oder als MOG-IgG- assoziierten Erkrankungen“: zurück in die Zukunft! Feierabendevent mit einem Glas Wein auf der Couch verfolgen, 12.15–13.45 Uhr Optimierung der Lehre in der Neurologie – auch bleibt Ihnen überlassen – die Grundbedürfnisse beider Rezeptions in Pandemiezeiten formen, Informationsgewinn und Entertainment, kommen in kei- nem Fall zu kurz! Freitag Moderation: – Prof. Dr. Mathias Bähr (Kongresspräsident) 10.30–12.00 Uhr Pflege in der Neurologie – Prof. Dr. Christian Gerloff (DGN-Präsident) 12.15–13.45 Uhr Neurologie im Nationalsozialismus – die Verfol- – Prof. Dr. Martin Grond (Leiter DGN-Fortbildungsakademie) gung und Vertreibung von Neurologinnen und Neurologen (1933– 1939) Noch nicht zum Kongress angemeldet? Dann am besten gleich auf https://www.dgnkongress.org/anmel- dung anmelden! Die DGN bietet Ihnen dieses technisch hochwertige, © DGN/Claudius Pflug virtuelle Kongresserlebnis zu fairen Teilnahmegebühren an. Diese beinhalten: – alle virtuellen Veranstaltungsteile (Live-Veranstaltungen, Webcasts, E-Poster) – Zugriff auf Webcasts, E-Poster & E-Learning für ein Jahr 8 Abendliche Talkrunde auf dem DGN-Kongress 2020 1088 Der Nervenarzt 10 · 2021
Neurologie im Nationalso- Köln) von den jeweiligen Instituten für Geschichte und Ethik der Medizin dieser Universitäten haben sich dieser Aufgabe angenom- zialismus – die Verfolgung men und bereits zwei Sonderhefte des „Nervenarztes“ vorgelegt. 2016 fassten sie zunächst den aktuellen Forschungsstand zum The- und Vertreibung von Neuro- ma zusammen, das 2020 erschienene Supplement zur Zeitschrift „Der Nervenarzt“ mit dem Titel „Neurologen und Neurowissen- loginnen und Neurologen schaftler in der NS-Zeit“ gab dann umfassend Aufschluss über die Verstrickungen der Neurologie in das NS-Regime und die – z. T. oft (1933–1939) passive, durch Wegschauen geprägte – Mittäterschaft einzelner Neurologinnen und Neurologen sowie die Strategien, das eigene Im Rahmen des DGN-Forums auf dem 94. Kongress der DGN Tun nach 1945 zu rechtfertigen bzw. herunterzuspielen oder auch befasst sich eine Sitzung mit der Verfolgung und Vertreibung ganz totzuschweigen. Der dritte Projektteil, an dem derzeit gear- von Neurologinnen und Neurologen in der NS-Zeit. 2015 hat- beitet wird, beleuchtet nun die Opferseite und wird im Frühling/ te die DGN ein Forschungsprojekt angestoßen, um die Rolle Sommer 2022 publiziert werden. des Fachs zwischen 1933 und 1945 aufzuarbeiten. In den vor- Das geplante neue Sonderheft wird aus vier Teilen bestehen, hergehenden Projektteilen wurden historische Grundlagen einem einführenden Teil, der die Rahmenbedingungen absteckt und die Täterseite beleuchtet, auch Neurologen/Neurologin- – Stichworte sind hier die legalisierte Entrechtung, der Ausschluss nen waren in das System involviert. Im dritten Projektteil wird von „nicht arischen“ Kolleginnen und Kollegen und die Immigra- nun der Blick auf die Opfer von Verfolgung und Vertreibung aus tionsbedingungen. Im zweiten Teil wird es dann um Einzelschick- den Reihen des Fachs gelenkt. Das Symposium beleuchtet die sale gehen, die in Einzel- bzw. Doppelbiografien vorgestellt wer- Universitätsneurologien aus Berlin, Wien und Frankfurt a. M. den. Einige der verfolgten und vertriebenen Personen sind heute als Zentren der Verfolgung und zeigt auf, wie unterschiedlich noch bekannt, wie beispielsweise Friedrich Heinrich Lewy, bis „nicht arische“ oder politisch missliebige Neurologinnen und 1933 Chef des Neurologischen Instituts in Berlin und Entdecker Neurologen auf ihre Ausgrenzung und die vom N S-Staat aus- der Lewy-Körperchen, oder Adolf Wallenberg aus Danzig, der als gehende Gewalt gegen sie reagierten. Einige warteten ab und Erster den Verschluss der Arteria cerebelli inferior posterior (PICA) hofften auf bessere Zeiten, andere gingen ins Exil mit unge- beschrieb und namensgebend für diesen Schlaganfall-Typ wur- wisser Zukunft. de. Der dritte Teil befasst sich mit den Zentren der Verfolgung, wobei vier Städte hervorgehoben werden: Berlin, Wien, Frankfurt 2015 hat die D GN ein Forschungsprojekt angestoßen und renom- a. M. und Hamburg. Der vierte und letzte Teil erörtert übergrei- mierte Medizinhistoriker damit beauftragt, die Rolle der Neurolo- fende Aspekte, enthält beispielsweise eine Darstellung zur Ver- gie in der N S-Zeit aufzuarbeiten: Prof. Axel Karenberg (Köln), Prof. treibung von neurologischen Forscherinnen und Forschern aus Heiner Fangerau (Düsseldorf) und Dr. Michael Martin (Düsseldorf/ anderen deutschen Universitäten sowie einen Bericht zu den Ge- waltopfern, die Suizid begingen oder im einem K Z ermordet wur- den, und versucht eine historische Einordnung und abschließen- de Bewertung. „Im Symposium auf dem DGN-Kongress beleuchten wir Berlin, Wien und Frankfurt a. M. als Zentren der Vertreibung von Neuro- loginnen/Neurologen bzw. Neurowissenschaftlerinnen/Neurowis- senschaftlern“, erklärt Prof. Axel Karenberg. „An allen drei Universi- täten war der Anteil sogenannter jüdischer Hochschulangehöriger (von Assistentinnen/Assistenten bis zu Professorinnen/Professo- ren) besonders hoch. Z. T. waren dort bis zu 90 % der Hochschul- angehörigen im Fach Neurologie von Entlassungen und Vertrei- bungen betroffen.“ Gezeigt werden soll die Systematik der Entlassungen, die be- reits im April 1933 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Be- rufsbeamtentums“ ihren Anfang nahmen. Das Gesetz enthielt ei- nen „Arierparagraphen“, der schnell umgesetzt wurde. Nur ältere, „nicht arische“ Universitätsangehörige, die im Ersten Weltkrieg ge- dient hatten, durften bleiben, bis 1935 die Nürnberger Gesetze in © DGN/Claudius Pflug Kraft traten, die „nicht deutschblütigen“ Menschen die Staatszu- gehörigkeit aberkannten und in der Folge dessen alle bis dato ver- bliebenen „jüdischen“ Menschen aus dem Universitätsdienst ent- fernt wurden. 8 Der Medizinhistoriker Prof. Axel Karenberg, Köln, gab einen Ausblick „Neben den Spezifika des Hochschulorts in Sachen Entlassung, auf die Sitzung „Neurologie im Nationalsozialismus“ Diskriminierung und Vertreibung jüdischer Kolleginnen und Kol- 1089 Der Nervenarzt 10 · 2021
Mitteilungen der DGN legen werden wir im Symposium die Opferseite beleuchten und darstellen, wie unterschiedlich die Lebenswege von nicht arischen „Wir müssen das Neurologinnen und Neurologen waren“, führt Prof. Karenberg aus. Viele blieben zunächst in Deutschland, gerade die Älteren. So- Gemeinsame hervorheben, gar nach den Nürnberger Gesetzen hofften manche noch auf ein Arrangement mit den Nationalsozialisten. Der Holocaust wurde das uns verbindet: das neuro- 1941 beschlossen und eingeleitet, sodass 1935 noch viele „jüdi- logische Denken!“ sche“ Ärztinnen/Ärzte und Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftler die Hoffnung auf bessere Zeiten über mehrere Jahre aufrechter- hielten und in Deutschland blieben – für einige ein Todesurteil. Die Auf dem 94. Kongress der Jüngeren, insbesondere die mit Fremdsprachenkenntnissen und DGN findet ein gemeinsa- internationalen Kontakten, machten sich oft frühzeitig auf den mes Symposium der Schwei- Weg. Lewy beispielsweise ging direkt nach seiner Entlassung 1933 zerischen und der Deutschen nach England, dann, als er dort keine Festanstellung erhielt, ein Gesellschaft für Neurologie Jahr später in die USA. statt, unter dem Titel „Was Die USA war das wichtigste Zielland der Neurologinnen und uns schlaflose Nächte berei- Neurologen (gefolgt von Großbritannien), aber auch dort waren tet – Forschung trifft auf Ver- die Bedingungen nicht immer optimal: Die Emigranten mussten sorgungsrealität“. EAN-Präsi- erneut eine medizinische Abschlussprüfung ablegen, sich um dent Prof. Claudio L. Bassetti, eine US-amerikanische Approbation bemühen, benötigten eine © Universität Bern Bern, wird in dieser Sitzung Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und waren auch oft gezwun- zum Thema Narkolepsie spre- gen, ihren Forschungs- bzw. Tätigkeitsschwerpunkt zu verändern. chen – und wir baten ihn um Viele zuvor in der Neurologie Tätige wechselten in die Psychiatrie einen ersten Ausblick. Außer- und vice versa – je nach Bedingungen/Bedarfen und Zufälligkei- dem fragten wir ihn, welchen ten vor Ort. „Erschwerend kam hinzu, dass auch in den USA ein la- 8 EAN-Präsident Prof. Claudio Stellenwert er der internatio- tenter Antisemitismus vorherrschte“, erklärt Prof. Karenberg. „Die L. Bassetti, Bern, spricht zur nalen Zusammenarbeit in der Narkolepsie Emigration bedeutete bei Weitem nicht für alle einen Umzug in Neurologie beimisst, warum ein gelobtes Land, sondern war mit Härten und Entbehrungen das Fach mit einer Stimme verbunden – und es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich sprechen sollte und welche Ziele die EAN als europäische Fach- die Biografien der Vertriebenen sind. Einige scheiterten im Exil, gesellschaft verfolgt. andere setzten ihre erfolgreichen Karrieren nahezu ohne Zäsur fort.“ Prof. Bassetti, 2018 konnten Sie den Pathomechanismus der Zerstö- rung von Hypokretin-Neuronen beschreiben, welcher wahrscheinlich der Narkolepsie zugrunde liegt. Was genau spielt sich ab? Seit Anfang der 80er-Jahre steht die Hypothese im Raum, dass die Narkolepsie eine immunvermittelte Erkrankung sein könnte. Eine japanische Arbeitsgruppe hatte 1982 nämlich gezeigt, dass die Er- krankung sehr stark mit dem HLA-System assoziiert ist. Seitdem wurden viele Forschungsanstrengungen unternommen, um die- se Hypothese zu bestätigen. Unsere Publikation im Jahr 2018 [1] konnte dann zum ersten Mal einen möglichen Mechanismus be- schreiben: Hypokretin-synthetisierende Zellen im Hypothalamus werden von (sog. autoreaktiven) CD4+- und CD8+-T-Zell-Lympho- zyten angegriffen. Diese autoaggressive Aktivität von T-Zellen bei Patientinnen und Patienten mit Narkolepsie haben nach uns dann auch weitere Arbeitsgruppen bestätigt. Nach wie vor ist aber ungeklärt, warum sich die T-Zellen bei Nar- kolepsie gegen die eigenen Körperzellen richten [2]. Wir gehen da- von aus, dass es eine genetische Prädisposition gibt, aber auch Um- Programmhinweis weltfaktoren eine Rolle spielen und Infektionen oder Impfungen Freitag, 5. November 2021 den letzten „Trigger“ zum destruktiven Prozess darstellen. Vor Jah- 12.15–13.45 Uhr ren ging beispielsweise eine spezielle Influenza-Impfung mit einer Kanal 1 deutlichen Zunahme der Narkolepsie einher. Die T-Zellen machen Neurologie im Nationalsozialismus – Die Verfolgung und Vertreibung von Neurologinnen und Neurologen (1933–1939) den „dirty job“ also nicht von sich aus, es gibt Risikokonstellatio- nen und Auslöser. Hier liegt noch ein weites Forschungsfeld offen, 1090 Der Nervenarzt 10 · 2021
aber zumindest können wir mit einer größeren Sicherheit sagen, Welche Kriterien für die Wahl der Therapie gibt es sonst noch? dass es sich bei der Narkolepsie um eine immunvermittelte Erkran- Für das Therapiemanagement der Narkolepsie ist grundsätzlich das kung handelt. Alter ein wichtiger Faktor. Des Weiteren die Frage, welches Leit- symptom im individuellen Fall vorliegt. Ist es die Schläfrigkeit oder Welche Konsequenzen zieht man daraus für die Entwicklung von The- die Kataplexie? Hat die Patientin/der Patient viele Symptome oder rapieoptionen? Wird an zielgerichteten Ansätzen geforscht? nur eins? Liegen Komorbiditäten vor – und, wenn ja, welche? Wir Die wesentliche Konsequenz ist, dass, wenn es sich um eine im- haben versucht, wo immer es möglich war, evidenzbasierte Emp- munvermittelte Erkrankung handelt, diese ggf. auch mit Immun- fehlungen zu geben. modulatoren therapierbar ist. Es gab bereits einige Versuche, mit Leider gibt es in einigen Bereichen wenig Evidenz, wie z. B. zu Immunglobulinen, mit Steroiden oder anderen immunmodula- den nicht medikamentösen Therapien. Hier konnten wir eigentlich torischen Medikamenten zu behandeln, aber die Resultate wa- nur eine Empfehlung für kurze, regelmäßige Schläfchen geben, da ren sehr unterschiedlich. Nicht alles war erfolgreich. Allerdings sie „die Batterie“ der Betroffenen wieder aufladen. Das heißt aber weiß man von anderen Erkrankungen, dass v. a. der frühe Ein- nicht, dass alles andere nicht wirken kann. Wir betonen in der Leit- satz immunmodulatorischer Medikamente effektiv ist, und ein linie auch die Wichtigkeit der Beratung der Patientinnen und Pa- Therapieerfolg würde dann voraussetzen, dass die Narkolepsie tienten durch die Ärztinnen/Ärzte, heben aber auch hervor, wie auch früh erkannt wird. Das ist leider oft nicht der Fall. In Eu- wertvoll der Austausch mit anderen Betroffenen ist. Patientenver- ropa dauert es oft 10–15 Jahre, bis eine Narkolepsie diagnosti- bände sind hier eine wichtige Anlaufstelle. ziert wird. Dabei zeigte unsere Arbeit im Übrigen auch, dass man die Krankheit mit dem Nachweis von autoreaktiven T-Zellen früh Die Narkolepsie ist eine für die Betroffenen stark belastende, auch stig- detektieren kann. matisierende Erkrankung. Wie kann mehr „Awareness“ für die Erkran- Was die Therapie angeht, stehen wir also noch am Anfang und kung geschaffen werden? für die Entwicklung spezieller, zielgerichteter Therapien müsste der Indem man mehr darüber redet, die Öffentlichkeit darüber infor- Pathomechanismus vollständig aufgeklärt werden. Über welche Si- miert, aber auch – und vor allem – die Neurologinnen und Neu- gnalwege werden die T-Zellen aktiviert, die Hypokretin-syntheti- rologen für diese Erkrankung sensibilisiert. Schlaf ist ein aktiver sierenden Zellen anzugreifen? Wenn man das weiß, könnte man Prozess des Gehirns. Damit wir gut schlafen, muss das Gehirn gut diese Signalwege gezielt hemmen. Im Moment versuchen wir, mit funktionieren, und damit wir uns erholen, muss der Schlaf gut und immunmodulierenden Therapien einzugreifen, ohne den dahinter- genügend lang sein. Wir wissen, dass bei Patientinnen und Patien- liegenden Pathomechanismus voll entschlüsselt zu haben. Mich er- ten mit neurologischen Erkrankungen, sei es Parkinson, Alzheimer innert das ein wenig an die M S-Therapie vor 30 Jahren. Da sah man oder Schlaganfall, Schlafstörungen häufig sind, und insofern sollte Therapieerfolge mit den frühen Immuntherapeutika, ohne genau die Neurologie dieses Thema mehr ins Zentrum rücken, in der Kli- zu verstehen, warum. Bei der Narkolepsie ist das jetzt ähnlich und nik, aber gerade auch in der Forschung und Weiterbildung. wir brauchen mehr Forschung in diesem Bereich. Allerdings ist die Durchführung von Studien schwierig, da die Narkolepsie als selte- Das Symposium steht unter der Headline: „Was uns schlaflose Nächte ne Erkrankung gilt und somit allgemein weniger Forschungsmittel bereitet – Forschung trifft auf Versorgungsrealität“. Inwiefern bereitet zur Verfügung stehen. die Narkolepsie schlaflose Nächte? Und wem? Zum einen im wahrsten Sinne des Wortes den Betroffenen: Die Ganz aktuell wurden die „European Guideline and Expert Statements Narkolepsie ist nicht nur eine Krankheit mit dem Hauptsymptom on the Management of Narcolepsy in Adults and Children“ [3] publi- Tagesschläfrigkeit, sondern geht häufig mit Schlaflosigkeit in der ziert, deren Erstautor Sie sind. Was ist das Besondere an dieser Leit- Nacht einher. Die Patientinnen und Patienten können tagsüber linie? nicht gut wach sein und nachts nicht gut schlafen, haben also ein Zum einen ist es das erste Mal, dass auch Empfehlungen zur Thera- Problem über 24 Stunden. pie von Kindern publiziert wurden. Die Studienlage hat sich in den Zum anderen bereitet die Narkolepsie uns Neurologinnen und letzten Jahren verbessert, sodass evidenzbasierte Aussagen mög- Neurologen, die sich damit beschäftigen, im übertragenen Sin- lich waren. Hervorheben möchte ich auch, dass es sich um eine ne schlaflose Nächte. Die Versorgungslage ist die, dass bis zur Di- Leitlinie von drei Fachgesellschaften handelt, der European Aca- agnose dieser Erkrankung durchschnittlich zehn Jahre vergehen. demy of Neurology (EAN), der European Sleep Research Society Die Young European Sleep Neurologist Association (YESNA) der (ESRS) und dem European Narcolepsy Network (EU-NN). Besonders EAN hat zudem eine Erhebung [4] zur Fort- und Weiterbildung im innovativ ist darüber hinaus die Beteiligung von Patientinnen und Bereich Schlafmedizin von jungen Neurologinnen und Neurolo- Patienten an der Leitlinienerstellung, u. a. mit der Implementierung gen durchgeführt. Fast die Hälfte der Befragten fühlte sich nicht von „Patient Reported Outcomes“. Denn wir müssen verstehen, ausreichend darauf vorbereitet, neurologische Patientinnen/Pa- dass die Betroffenen oft eine andere Vorstellung von Therapieer- tienten mit Schlafproblemen zu behandeln. In der Schweiz haben folg haben als wir – und wir müssen diese Bedarfe und Wertigkei- wir erfreulicherweise die Schlafmedizin nun fest im ärztlichen Cur- ten kennen. Für uns Ärztinnen und Ärzte ist das Kriterium „Fahr- riculum verankert, was ein wichtiger Schritt für eine bessere Ver- tüchtigkeit“ beispielsweise wenig relevant, für die Lebensqualität sorgung der Betroffenen ist. Denn grundsätzlich ist das Interesse eines Betroffenen kann es jedoch entscheidend sein, ob er/sie Auto der Studierenden sowie auch aller in der Neurologie Tätigen enorm fahren kann oder nicht. hoch, weil viele heute um die Praxisrelevanz dieser Erkrankungen 1091 Der Nervenarzt 10 · 2021
Mitteilungen der DGN wissen. Beim EAN-Kongress haben wir das Präsidentensymposium Ausbildungsstandards zu sorgen. Ich denke, das ist ein Anliegen ausschließlich dem Thema Schlafstörungen gewidmet und es war aller europäischen Neurologie-Gesellschaften, und ich freue mich mit über 2000 Teilnehmenden die bestbesuchte Veranstaltung. über die breite Unterstützung der EAN und ihrer Ziele durch die Mitglieder. Das Symposium auf dem D GN-Kongress wird ein gemeinsames der Schweizerischen und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sein. Literatur Wie wichtig sind für Sie solche Kooperationen und der Austausch zwi- schen den Fachgesellschaften verschiedener Länder? 1. Latorre D, Kallweit U, Armentani E et al (2018) T cells in patients with nar- colepsy target self-antigens of hypocretin neurons. Nature 562:63–68 Generell ist der Austausch sehr wertvoll, da wir immer auch vonei- 2. Bassetti CLA, Adamantidis A, Burdakov D et al (2019) Narcolepsy. Clinical nander lernen können. Bei der Schweiz und Deutschland kommt features, etio-pathophysiology, diagnosis and management of a hypothalamic, noch hinzu, dass wir eine ähnliche Kultur haben, in Teilen die glei- immune-mediated disease. Nature Rev Neurol 15:519–529 3. Bassetti CLA, Kallweit U, Vignatelli L et al (2021) European guideline and expert che Sprache sprechen und uns eine gute Zusammenarbeit verbin- statements on the management of narcolepsy in adults and children. Eur det: Wir arbeiten an gemeinsamen Leitlinien – und im Übrigen hat J Neurol 28(9):2815–2830 es bereits drei solche Treffen der beiden Gesellschaften gegeben: 4. Rakusa M, Sieminski M, Rakusa S et al (2021) Awakening to sleep disorders 1960, 1982 und 1990. Ich freue mich, dass diese Tradition des bila- in Europe: Survey on education, knowledge and treatment competence of European residents and neurologists. Eur J Neurol 28(9):2863–2870 teralen Austausches nun fortgeführt wird! 5. Beghi E, Helbok R, Crean M et al (2020) The European Academy of Neurology COVID-19 registry (ENERGY): an international instrument for surveillance of Die DGN ist eine von 47 nationalen Fachgesellschaften, die Mitglied neurological complications in patients with COVID-19. Eur J Neurol. https:// doi.org/10.1111/ene.14652 der EAN sind. Wie wichtig ist für Sie als E AN-Präsident die Zusammen- führung der Neurologie auf europäischer Ebene und warum? Diese Zusammenführung ist extrem wichtig, denn ich denke, die europäische Neurologie muss mit einer Stimme sprechen und als eine starke Kraft wahrgenommen werden, wenn wir etwas gesund- heitspolitisch, aber auch in Forschung und Lehre bei der EU und DGN-Pflegepreis 2021: anderen internationalen Stakeholdern bewegen wollen. Die Finan- zierung der klinischen Neurofächer ist im Vergleich zu der anderer Prämiert werden innovative Disziplinen nicht ausreichend und wir müssen uns in der Politik besseres Gehör verschaffen. Die EAN versteht sich als übergeordne- Projekte neurologischer ter Dachverband, der auf europäischer bzw. internationaler Ebene antritt, die gemeinsamen Interessen aller 47 nationalen Fachgesell- Pflegeteams schaften durchzusetzen. Dafür ist es auch wichtig, einer Fragmen- tierung des Fachs entgegenzuwirken. Subspezialisierungen sind Beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neu- natürlich wichtig für Klinik, Forschung und Versorgung, aber eine rologie (DGN) wird der erstmals ausgeschriebene D GN-Pflege- Zersplitterung in viele kleine autarke Fächer, wie sie sich in der In- preis verliehen. Drei Projekte, die innovative Ideen und Konzep- neren Medizin vollzogen hat, würde am Ende alle schwächen. Wir te zur nachhaltigen Verbesserung der Versorgung von Menschen müssen das Gemeinsame hervorheben, das uns verbindet: das mit neurologischen Erkrankungen umsetzen, erhalten die mit neurologische Denken, die Sorge um die Gesundheit des Gehirns. 1000, 750 und 500 Euro dotierte Auszeichnung. Der erste Platz Außerdem ist die Bündelung der europäischen Neurologie wird an das Pflegeteam der Stroke Unit am Klinikum Stuttgart auch für die Forschung wichtig. Zur Erfassung von neurologischen COVID-19-Komplikationen hat die EAN z. B. das ENERGY-Projekt aufgelegt, in das Daten von mehr als 1800 Betroffenen eingeflos- sen sind und das schon mehrere Publikationen ermöglicht hat [5]. Auch im Hinblick auf die Weiterbildung ist die EAN für viele Län- der bedeutsam. Die DGN ist eine große Fachgesellschaft mit ei- genen Guidelines und einem attraktiven Kongress, der höchsten Ansprüchen gerecht wird. Viele kleinere Neurologie-Gesellschaf- ten können das ihren Mitgliedern aber selbst nicht bieten und da ist das Angebot der EAN wichtig, um europaweit für Therapie- und © Jens Komossa, Berlin Programmhinweis Freitag, 5. November 2021 19.15–20.45 Uhr Kanal 1 Joint Symposium SNG – DGN: Was uns schlaflose Nächte bereitet – Forschung trifft auf Versorgungsrealität 8 DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit betont den Stellenwert der neurologischen Pflege 1092 Der Nervenarzt 10 · 2021
für sein Delir-Präventionsprojekt vergeben, den zweiten Platz 1. Platz: Delirpräventionsprojekt auf der Stroke Unit am belegt die Station Neurologie 6 der Kopfklinik des Universitäts- Klinikum Stuttgart klinikums Heidelberg mit dem Projekt „Innovationsraum Pfle- ge“ und der dritte Platz geht an die Klinik für Neurologie des Team: Frank Alf, GKP, B. A., Juliane Spank, Pflegewissenschaftlerin, Universitätsklinikums Münster, die sich mit der Kombinierten M. A., Klaus Müller, pflegerische Zentrumsleitung für das Kopf- und Pflege- und interprofessionellen Visite für Parkinson-Patienten Neurozentrum, und Cathleen Koch, stellv. Pflegedirektorin, Dipl.-Pfle- beworben hatte. gewirtin (FH), M. A. Organisatorische und ärztliche Beratung: Prof. Dr. Wolf, ltd. Oberarzt der Neurologie Das Delir stellt aufgrund seiner Komplexität eine besondere Gute Neurologie zeichnet sich durch Teamarbeit aus! Herausforderung für das gesamte Gesundheitswesen dar. Das gilt sowohl auf der individuellen Patientenversorgungsebene als auch Erfolgreiche Behandlungsergebnisse in der Neurologie können nur wegen möglicher hoher Folgekosten unter gesundheitsökonomi- durch Teamwork erreicht werden. Die gemeinsame vertrauensvolle schen Aspekten. Durch die Notfallsituation und die erhöhte Leta- Zusammenarbeit von Neurologinnen und Neurologen mit Pflegen- lität erfordert dieses Krankheitsbild eine umgehende interdiszipli- den und Angehörigen anderer in der Neurologie tätigen Gesund- näre Betreuung und Behandlung. Die Jury des D GN-Pflegepreises heitsberufe ist demnach entscheidend für die Qualität der Patien- ist überzeugt, dass das im September 2020 auf der Stroke Unit im tenversorgung. „Pflegekräfte sind in diesem Netzwerk die zentrale Katharinenhospital des Klinikums Stuttgart implementierte Projekt Schnittstelle zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient sowie al- einen wesentlichen Beitrag zur verbesserten (Risiko-)Erkennung, len an der Versorgung Beteiligten“, beschreibt Prof. Dr. Peter Berlit, zur früheren Risikoprävention und zu einem effizienten Manage- Generalsekretär der DGN, den Stellenwert der Pflege in der Neuro- ment eines Delirs im Krankenhaus bei Schlaganfall-Patientinnen logie. Deshalb ist es Anspruch und Herausforderung zugleich, dem und -Patienten ab dem 65. Lebensjahr leisten kann. pflegerischen Bereich auch seitens der Fachgesellschaft mehr Be- Von deutschlandweit ca. 270.000 Menschen mit einem akuten achtung zu schenken, ihn zu fördern und zu stärken. Schlaganfall werden auf der Stroke Unit (SU) im Klinikum Stutt- Es ist erklärtes Ziel der D GN, die Attraktivität der Neurologie für gart, Katharinenhospital, jährlich mehr als 1000 Patientinnen und Pflegende aufzuzeigen, ambitionierte Pflegekräfte zu gewinnen Patienten behandelt. Die Relevanz des Projektziels wird dadurch und zu binden und den Teamgedanken zu stärken. Um pflegeri- unterstrichen, dass circa ein Viertel der Betroffenen ein Delir als sches Engagement zu honorieren, wurden im Rahmen der Kam- Komplikation ihres Krankenhausaufenthalts erleidet. Die Folge ist pagne „Wir sind Neurologie.“ in diesem Jahr zahlreiche Aktionen eine im Schnitt neun Tage längere Krankenhausverweildauer die- und Maßnahmen initiiert, darunter auch die erstmalige Ausschrei- ser Patientinnen und Patienten. Und sie werden häufiger in statio- bung des DGN-Pflegepreises. Perspektivisch wird die DGN zertifi- näre Pflegeeinrichtungen entlassen als jene, die nach Schlaganfall zierte Curricula und standardisierte Fortbildungsveranstaltungen kein Delir erleiden. Darüber hinaus haben Patientinnen und Patien- auflegen und so interessante Karriereperspektiven für Pflegende ten mit Schlaganfall-assoziiertem Delir eine deutlich erhöhte Wahr- schaffen. Pflegende und Angehörige anderer Gesundheitsberufe scheinlichkeit, innerhalb eines Jahres zu versterben. Aufgrund der können in der D GN außerordentliches Mitglied werden. akuten, organisch bedingten Beeinträchtigung des Gehirns erle- Mit dem D GN-Pflegepreis sollen die Leistungen all derjenigen ben Pflegende die Versorgung von Patientinnen und Patienten im anerkannt werden, die bei der Versorgung neurologischer Patien- Delir und nach einer deliranten Episode als belastender und zeit- tinnen und Patienten täglich unter z. T. schwierigsten Bedingungen aufwendiger. Dies kann zulasten anderer Patientinnen und Patien- bei schwerkranken Menschen ihr Bestes geben. „Dabei geht es da- ten gehen und soll vermieden werden, heißt es in der Beschrei- rum, den Blick auf die in der Neurologie bei der Akutbehandlung bung der Ausgangslage im Projektantrag. und in der Reha unentbehrliche, hochqualifizierte Pflege zu richten Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass eine systematische Er- und dieser Arbeit die oft fehlende Wertschätzung entgegenzubrin- kennung eines Delirs und die Umsetzung von Multikomponenten- gen“, betont Prof. Berlit. Interventionen sowohl die Inzidenz als auch die Dauer des Delirs Bewerben konnten sich Stations- oder Ambulanz-Teams, wo- sowie die Mortalität reduzieren und entsprechend das langfristige bei geeignete Projekte auch von Ärztlichen Leitungen oder Pfle- individuelle Outcome der Patienten positiv beeinflussen. Allerdings, gedienstleitungen zur Preisverleihung vorgeschlagen werden so konstatieren die Initiatoren des Projekts in der Begründung des konnten. Die vom Preiskomitee, bestehend aus Prof. Waltraud Pfeil- Bedarfs eines systematischen Delirscreenings: „Aktuell werden auf schifter, neurologische Chefärztin am Klinikum Lüneburg, Prof. Dr. der Stroke Unit am Klinikum Stuttgart keine Instrumente zur syste- Anne Christin Rahn, Professorin am Institut für Forschung und Leh- matischen Erkennung von Delirien angewendet. Daher ist davon re in der Pflege an der Universität zu Lübeck, Prof. Dr. Anne-Kathrin auszugehen, dass hierbei Delirien übersehen oder erst spät erkannt Cassier-Woidasky, Professorin für Pflegewissenschaft an der Hoch- werden. Die Erkennung eines Delirs und damit auch die Einleitung schule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken, entsprechender Maßnahmen sind aktuell unter anderem vom in- Prof. Dr. Jürgen Faiss, Geschäftsführer der Deutschen Schlaganfall- dividuellen Kenntnisstand und von der Sensibilisierung der einzel- Gesellschaft, und D GN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit, ausge- nen Pflegefachkraft abhängig.“ Das will das Team in der Stuttgarter wählten Preisträger-Projekte werden auf dem Pflegesymposium Klinik jetzt ändern. Mittels eines Algorithmus zur Erkennung eines des D GN-Kongresses 2021 vorgestellt. Delirs auf der Stoke Unit soll nun ein systematisches Screening er- folgen, damit die Pflegefachkräfte adäquat und rechtzeitig mit der 1093 Der Nervenarzt 10 · 2021
© T. Grosser Mitteilungen der DGN 8 Das Gewinnerteam aus Stuttgart Durchführung einer Multikomponenten-Intervention starten kön- Das Konzept enthält alle erforderlichen Maßnahmen, um das nen, um das Delir zu verhindern oder zu lindern. Pflegepersonal auf der Stroke Unit für die frühzeitige Erkennung Um das Pflegepersonal für das Thema Delir und kognitive Auf- eines Delir-Risikos zu schulen. So werden die Patienten direkt nach fälligkeiten zu sensibilisieren, die systematische Erfassung zu im- der Aufnahme auf die Stroke Unit gescreent und Delir-Präventions- plementieren und das Personal zu befähigen, individuell ange- maßnahmen eingeleitet. Durch die kompetente Betreuung kann passte nicht pharmakologische Maßnahmen einzuleiten, wurde nicht nur Schaden vom Patienten abgewendet werden, es können eine Pflegefachkraft der Station als Delir-Experte/Delir-Expertin auch Pflegende entlastet und Kosten gesenkt werden – ein Projekt, und Ansprechpartner/Ansprechpartnerin mit einer spezifischen das nach Ansicht der Jury deutschlandweit Schule machen sollte! Fachexpertise benannt. Des Weiteren wurde ein Expertenteam aus Pflege- und ärztlichem Personal zur Beratung und Unterstüt- 2. Platz: „Entwicklung des Innovationsraums Pflege“ zung zusammengestellt sowie auf Basis von Literatur- und Leitli- auf der Station Neurologie 6 der Kopfklinik des nienauswertungen und den Erfahrungen des hausinternen Delir- Universitätsklinikums Heidelberg Teams Screening-Instrumente eingeführt. Darüber hinaus werden regelmäßig Fortbildungen und Schulungen zur Festigung und Team: Robin Krüger, Gesundheits- und Krankenpfleger, David Erweiterung des Fachwissens zu den Themen Delir, Schlaganfall Eichstädter, stellvertretende Stations-Pflegeleitung Intensivstation, und einzuleitende nicht pharmakologische Maßnahmen sowie zur Jan-Hendrik Träger, Fachkrankenpfleger für Anästhesie- und Intensiv Handhabung des neu eingeführten Delir-Screening-Instruments pflege Delirium Observation Screening Scale (DOSS) angeboten. Zusätz- Wie können wir Arbeitsprozesse auf der Station stärker an Pa- lich wurde umfangreiches, jederzeit griffbereites Infomaterial er- tienten und Patientinnen ausrichten, neue Ideen und intelligente arbeitet, wie beispielsweise eine „Pocket-Card“ (siehe Abbildung). Lösungen schneller in die Praxis umsetzen, flexible Arbeitszeitmo- Von 35 Pflegefachkräften auf der Stroke Unit wurden bislang delle in der Pflege anbieten und gleichzeitig die Patienten- und mehr als 65 % zum Thema Delir und Screening in zwei Schulungs- Mitarbeiterzufriedenheit erhöhen, fragten sich Pflegekräfte der sitzungen geschult. Diese Schulungen wurden für das multipro- Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg und begannen fessionelle Team der Stroke Unit angeboten. Zusätzlich erfolgten auf eigene Initiative, Veränderungen zu planen. Eine Arbeitsgrup- im Rahmen der regelmäßigen Stationsbesprechungen Kurzunter- pe sammelte Ideen, arbeitete nach Feierabend an Lösungsvor- weisungen. schlägen und goss das Ganze in ein praktikables Konzept. 2020 1094 Der Nervenarzt 10 · 2021
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