Das magazin zumjazzfest bonn - 2023 Ausgabe 7
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[2023] Ausgabe 7
das magazin zum jazzfest
Vielfalt und bonn
C a t e g o r y
Hybridität
Bunt, bewegt, global:
Jazz heute
Grenzgänge
zwischen Klassik
und Jazz
Mensch und
Maschine
Elektroakustik
B e y o n d
beim Jazzfest
Bonn
Vermächtnis
Prince
inspirierte
den Jazz
Bobby
Sparks
3 Vorwort Liebe Beyond Category – mit diesem geflügelten Wort
Peter Materna Freund*innen pflegte der große Komponist Duke Ellington
des Jazzfest Menschen zu bezeichnen, die ihn besonders beeindruckt
4 Intro Bonn, haben. Und das waren zumeist Musiker*innen, die sich
einer einfachen Kategorisierung, eines In-die-Schublade-
Axel Grundhöfer
Steckens, entzogen haben.
10 Gute Zeiten für Jazz-Enthusiast*innen Beyond Category ist auch das Leitthema der 7. Ausgabe
Der Jazz ist so vielfältig wie in seinem goldenen Jahr 1959 unseres Magazins zettbe:, die Sie gerade in den Händen
Frédéric Döhl halten. Grenzgänge, Hybridität und Vielfalt sind die Themen,
denen wir uns widmen. Denn der Jazz ist nicht statisch,
14 Musikarchäologie im Mikroformat sondern ständig in Bewegung. Er ist ein Gemisch aus Stilen
Bobby Sparks’ hybrides Gesamtkunstwerk und Geschichten, die die Vielfalt Schwarzer Erfahrungen
Christian Werthschulte abbilden. Und nicht nur das: Jazz ist heute eine globale
us
er nha Kunstform, die sich von allen erdenklichen Musik-
Op
im 18 Zwischenraumfetischismus traditionen inspirieren lässt – ganz ohne
Berührungsängste. Der Bruch mit Konven-
ai
Ist Musik grenzenlos? tionen und Kategorien setzt kreative Kräfte
M
1.
Sophie Emilie Beha frei und schafft Platz für Neues.
D & The KBCS a m
22 Logik und Intuition: In diesem Heft tauchen wir ein in
Inhalt
Von Bach bis Weber die Geschichte der Grenzgänge
Fabian Junge interviewt Florian Weber zwischen klassischer europäischer
Musiktradition und erfahren von einer
24
m as
brandaktuellen Manifestation dieser
Alles offen: das Spielfeld Klavier
Spielart: Florian Webers Projekt
o
Th
Ralf Dombrowski Bach Comprovised. Wir erschließen uns die
Hybridität zwischen Maschinen wie Samplern
28Elektro wie? Akustik wo? Jazz was? und Synthesizern und den Menschen, die mit
Über Sampler und Synthesizer ihnen Musik machen, wie dem Fuchsthone Orchestra
Tobias Hartmann und Mariá Portugal. Und wir beleuchten, auf welch unter-
schiedliche Art und Weise die Pianist*innen des Jazzfest Bonn
32 Von Risiken und Wagnissen ihr Instrument behandeln.
Lars Fleischmann sprach mit Mariá Portugal
Apropos Hybridität: Wer könnte sie besser verkörpern als
35 Jazzfest digital die vielschichtige Künstlerpersona Prince, dessen Geist im
Programm des Jazzfest Bonn 2023 immer wieder durch-
scheint. Für Miles Davis war Prince übrigens so etwas wie
36 „Der Duke Ellington unserer Zeit“ „der Duke Ellington unserer Zeit“. Vince Mendoza hat Musik
Wie sprengst du Grenzen? Von Minneapolis bis Bonn: Prince inspirierte die Jazzwelt der Pop-Ikone aus Minneapolis für die WDR Big Band adaptiert
Vladyslav Sendecki 13 Dylan Cem Akalin und erzählt uns davon im Interview.
Thomas D 17
Johanna Summer 19 40 Energie. Groove. Herkunft. Mein Dank geht an unsere Autor*innen und an die zahl-
reichen, oft langjährigen Unterstützer*innen, die dieses
Julia Hülsmann 25 Fabian Junge im Gespräch mit Vince Mendoza
Kit Downes 27 Magazin und das Jazzfest Bonn ermöglichen. Und natürlich
Christina Fuchs und 43 Musik zum Mitnehmen
an Sie, liebe Leser*innen und Konzertbesucher*innen.
Caroline Thon 31 Aktuelle Alben der Musiker*innen des Jazzfest Bonn Genießen Sie mit uns kulturelle Vielfalt und authentische
Nicolai Thärichen 35 Fabian Junge Live-Momente, denn nach wie vor ist der Hunger auf echte,
Ida Nielsen 39 zwischenmenschliche Begegnungen ungesättigt. Und die gibt
Atom String Quartet 41 44 Hinweise und Impressum es mit Musik nur, wenn Menschen zusammenkommen und
Delvon Lamarr 44 gemeinsam die Energie im Konzertsaal erleben. Wie beim
45 Wir sagen Danke! Jazzfest Bonn 2023.
Unsere Sponsoren und Partner
Mit dem zettbe:-Magazin können Sie sich die Zeit bis dahin
Programmübersicht
verkürzen. Ich wünsche vergnügliche Lektüre!
46-57 Programm mit Kurzinfos Herzliche Grüße
58 Rätselhafter Jazz Ihr
Birgit Einert
Peter Materna
Künstlerischer Leiter
Zertifiziert klimaneutral
gedruckt nach den
Richtlinien des
Bundesverbands
Druck und Medien.
A Kategorie
Einerseits hatte John Cage zwar
recht, als er meinte, Jazz, auch der
Free Jazz, sei mit der Neuen Musik
unter Avantgarde-Aspekten kei-
neswegs auf Augenhöhe. Es dauere
ja nie lange, bis die ganze Freiheit
Avantgarde
der tonalen bzw. atonalen Pracht-
entfaltung von dem taktzählenden
Dauergedengel des Schlagzeugers
zunichte gemacht werde. Anderer-
seits fühlten sich möglicherweise
viele Cage-Zuhörer*innen durch-
aus intellektuell berührt, aber
emotional etwas unterfordert.
4 5
Musik habe viel mit Mathema-
tik zu tun, heißt es. Vielleicht
auch mit Physik, denn da liegen
doch die musikalischen Asso-
ziationen näher: zum Beispiel
Mehrdimensionalität (Johann
Sebastian Bach?), Raum-Zeit-
Krümmung (Miles Davis?) oder
das endlich gefundene Higgs-
Teilchen (ganz sicher: Thelonious
Monk). Man müsse viel üben, bis
man halbwegs so spielen kann wie
die drei Genannten. Wird wohl
stimmen! Aber wer Tonleitern
F
übt, ohne dabei Musik zu ma-
chen, kommt ins schwarze Loch.
Kategorie Form und Struktur
6 7
G Das Überschreiten künstlerischer
Grenzen gilt als fortschrittlich.
Und mutig. Gibt es eine imaginäre
Linie, hinter der das Produzieren
von Klängen gefährlich wird?
Kategorie Grenzüberschreitung
8 9
t
Als Ken Burns, der wohl bekannteste Doku- tig sind all dies künstlerische Meisterleistun- gebracht worden waren. Es überrascht daher
Frédéric Döhl mentarverfilmer uramerikanischer Stoffe der gen des Genres, die bis heute ob ihrer intel- nicht, dass dieser Jahrgang auch bei Burns
vergangenen 40 Jahre, im Jahr 2001 seine lektuellen, klanglichen und kreativen Qualität derart hervorgehoben wird. Er hat es gewiss
Gu e
zehnteilige, über elfeinhalb Stunden Spielzeit faszinieren und zelebriert werden. Das ist verdient. Was weithin provozierte, ist etwas
starke Hochglanz-TV-Serie Jazz samt Begleit- wichtig. Jazz ist 1959 alles zugleich: Main- anderes: Faktisch endet die Serie mit diesem
medien wie einem opulenten, abbildungsrei- stream Popkultur und Avantgarde Kunstmusik. goldenen Jahr. Eine offene Brüskierung prak-
chen Buch und einer vielteiligen CD-Edition Hochkommerziell und hochintellektuell. Retro tisch aller bei Erstausstrahlung 2001 wichti-
vorlegte, fand diese überwältigende Reso- traditionalistisch und experimentierfreudig gen lebenden Jazzmusiker*innen. Über ihre
nanz. Positiv oder negativ oder ambivalent – futuristisch. Working Class Street Culture und Zeit folgt bei Burns nur noch wenig, als kom-
gefühlt alle, die mit Jazz zu tun haben, ob als akademische Reflexion. Tanzmusik und Zu- primierter Nachklapp in der zehnten und letz-
Musiker*in, Journalist*in, Wissenschaftler*in, hörmusik. Und vor allem stilistisch unfassbar ten Episode. Diese konzentriert sich jedoch
Pädagog*in oder Fan, hatten eine Meinung zu vielseitig, wenn man sich aufmacht und sys- nicht nur vor allem auf die 1960er Jahre. Sie
Z eiten
diesem Mammutprojekt. Und taten sie kund. tematisch durch die Produktionen dieses be- hat die Aufgabe, für 40 Jahre Jazzgeschichte
der Jazz ist heute so vielfältig
Davor hatte es nichts Vergleichbares gegeben. sonderen Jahres hört, in dem alles zusammen- zu stehen, während der etwa gleichlangen Ära
Bunt, bewegt, global –
Und das hiernach jemand dergleichen
nochmal mit demselben Aufwand in
dieser Qualität auf sich nehmen wür-
de, damit rechnete niemand. Und so
kam es auch. Alle nahmen dieses Pro-
jekt daher sehr ernst. Allen war klar:
Hier wird Geschichte gemacht, im
für Jazz-
doppelten Sinne des Wortes. Und mit
einer für Jazz jener Tage außer-
gewöhnlichen Reichweite.
Beraten wurde Burns von Co-Pro-
duzent Wynton Marsalis, seines
Zeichens Meistertrompeter, Chef
von Jazz at Lincoln Center in New York
und Gallionsfigur aller Konservativen
und Puristen. Ganz in seinem Sinne
Enthusiast
erzählt Burns‘ Serie die Geschichte
des Jazz vor allem als afroamerikani-
wie zuletzt in seinem goldenen Jahr 1959.
sche Schöpfungs- und Emanzipations-
geschichte, geprägt von der Fusion
von Blues und Swing, akustischen In-
strumenten, Tonalität und improvisa-
torischer Virtuosität. All das ist Jazz.
Aber Jazz war schon immer viel mehr.
innen
Die Grenze dieses ebenso eingängigen wie zukommen scheint, was Jazz ausmacht. Die 1917 bis 1960 acht Episoden gewidmet waren.
gängigen Narratives zeigt sich in der Gewich- Plattenankündigungen und -kritiken in zeit- Die Aussage, die das Narrativ von Jazz hier
Bonn
tung von Burns‘ legendärer Serie selbst. 2001 genössischen Magazinen wie DownBeat und stillschweigend macht, ist dennoch laut und
veröffentlicht, endet sie faktisch mit dem Billboard sind hierfür zum Beispiel ein guter deutlich: Was nach 1959 kommt, ist nur noch
Das Jazzfest macht
„goldenen Jahr“ des Jazz 1959, dem das Gros Startpunkt. in Einzelfällen relevant. Die große Zeit dieser
der neunten Episode gewidmet ist. Das war Musik ist nicht heute, im Jahr 2001. Und ge-
die Diversität auch von 2001 aus gesehen schon ziemlich Dass 1959 so wurde, ist ein umso faszinie- nau so wurde und wird die Gewichtung der Se-
lange her. renderer Befund, wenn man bedenkt, dass an rie allgemein wahrgenommen, von ihren Fans
erlebbar. weithin sichtbarer Stelle angekündigt wor- wie ihren Kritiker*innen.
1959 ist deswegen ständiger Referenzpunkt in den war, dass es so kommt: Das damals weit
der Jazzhistoriographie und -mythologie, weil verbreitete Magazin Esquire besang in seiner In der Rückschau auf Burns’ TV-Dokumentation
kein Jahrgang so viele kanonische Alben hin- Januarausgabe ein „Golden Age of Jazz“. Ne- gut zwei Jahrzehnte nach Erstausstrahlung
terlassen hat. Moanin‘, Porgy and Bess, Kind ben ausführlichen Texten zur Geschichte und dieses Prestigeprojekts muss man zugeste-
PD Dr. Dr. Frédéric Döhl
ist Strategiereferent der of Blue, The Shape of Jazz to Come, Mingus Ah Gegenwart des Jazz finden sich hier Interviews hen, dass in ihrer damaligen Zuspitzung ein
Deutschen Nationalbibliothek Um, Time Out, Giant Steps, Sketches of Spain, mit Szenegrößen darüber, wie es weitergehen wahrer Kern steckt. Die Jazzkultur liebt seit
und Privatdozent für Musik- Portrait in Jazz – alles Platten, die 1959 er- mag. Und doppelseitig das vielleicht berühm- jeher Bestenlisten von Musiker*innen und
wissenschaft an der Freien schienen und/oder aufgenommen wurden. Das teste Foto der Jazzgeschichte überhaupt, A Alben. Das war 1959 nicht anders als im In-
Universität Berlin. 2023
erscheint sein neues Buch
meistverkaufte Album (Kind of Blue) und die Great Day in Harlem, für das im August 1958 ternetzeitalter des Jahres 2023, in dem sich
Jazz 1959 bei transcript meistverkaufte Single (Take Five von Time Out) gleich 57 Jazzmusiker*innen vom Schlage ei- lediglich viele dieser Debatten und Zusam-
in Bielefeld. des Jazz erschienen im selben Jahr. Gleichzei- nes Count Basie und Sonny Rollins zusammen- menstellungen ins Netz verlagert haben. ➜
Bunt, vielfältig, jung:
die Jazzrausch Bigband
beim Jazzfest Bonn
2022.
10 11
Und bei aller Ungerechtigkeit im das wieder ausnehmend heterogene Wie sprengst du Grenzen,
Einzelfall hat es tatsächlich frustrie- Programm des diesjährigen Jazzfest Vladyslav Sendecki?
rend wenig, das zwischen 1970 und Bonn. Von Kleinstbesetzung bis zur
2000 veröffentlicht wurde, in diese Bigband. Vom Jazz auf klassisch akus-
Bestenlisten geschafft und bleiben- tischen Instrumenten bis zu Jazz mit
de größere Aufmerksamkeit gefun- Synthesizern und Samples. Von tradi-
den. Ein wenig Fusion. Ein bisschen Jazz-Rap. tionell das Genre prägenden Instrumenten wie
Etwas Acid Jazz. Manch Projekt von Ausnah- Saxophon und Trompete bis zum Streichquar-
mefiguren wie Keith Jarrett oder Pat Metheny, tett. Vom Retro-Pastiche-Projekt bis zur Ver-
Herbie Hancock oder Michael Brecker. Aber bindung von Avantgarde und Groove. Selbst
es ist am Ende doch einfach schlicht wenig, auf dem vergleichsweisen engen Raum von
was sich ganz nach vorne schieben konnte, im nur zwei Festivalwochen ist jene Diversität zu
Vergleich dazu, was allein nur aus diesem ei- erleben, die Jazz heute mehr als alles andere
nen Jahr 1959 kanonisiert und immortalisiert ausmacht.
worden ist. Und was ansonsten vor allem blieb
– Smooth Jazz – ist eine stilistische Errungen- Wenig symbolisiert diese Charakteristik dabei
schaft, die die Gemüter bis heute nicht weniger mehr als das Œuvre des Festivalhöhepunkts,
entzweit als Burns’ Jazz. des Auftritts von Brad Mehldau, der mit sei-
nem Trio kommt. Neben diesem seit 1994 lau-
Der Blick auf diese Ära, an der Burns‘ Serie so fenden fulminanten Langzeitprojekt in einer
wenig gelegen war, fällt auch in Jazz Studies der ganz klassischen Besetzungen des Jazz
und Jazz Criticism anno 2023 nicht wesentlich lotet Mehldau die Grenzen des Genres in jede
anders aus als bei Burns im Jahr 2001. Es gibt denkbare Richtung aus, von Auseinanderset- Grenzen zu überschreiten ist ein
Enthusiast*innen dafür, was zwischen 1970 zungen mit Drum’n’Bass (Mehlania), Blue- Instinkt eines jeden Menschen.
und 2000 im Jazz passiert ist. Etwa für den oft grass (Chris Thile & Brad Mehldau), Progrock
meditativen, klassiknahen Jazz der ECM-Tradi- (Jacob’s Ladder), Beatles (Your Mother Should Ich fühle keine stilistischen Grenzen.
tion. Oder die politisch engagierte Verbindung Know) und legendären Indiegrößen wie Nick Jede sogenannte Stilistik verinner-
von Hip-Hop und Jazz, die auch heute wieder Drake und Radiohead über diverse klassiknahe
S AV E
liche ich so, als ob ich sie selbst
U N I 2 0 2 3 | B O N N1 9 . – 2 0 . J U N I 2 0 2 3 | B O N N vom Pulitzer-Preis-Gewinner Kendrick Lamar Projekte wie After Bach bis zu Jazz-Orchester- erfunden hätte, ich interpretiere
E D ATE
HA V E
E
bis zu Robert Glaspers Black-Radio-Projekten Alben von kinematographischer Weite wie nicht, ich erfinde sie neu …
TS
19.–20. JUNI 202 3 | BONN
ercoming
Overcoming
reüssiert. Aber es ist unter dem Strich doch Highway Rider oder dem alles aufsaugenden
AT vergleichsweise viel Special Interest geblie- Jazz-Pop-Almanach Finding Gabriel, für das
Overcoming
THE D
Natürlich ist für mich die musikwissen-
ben, was in jener Zeit geschaffen wurde. Alle Mehldau 2019 den Grammy für das beste in- schaftliche Bildung und Erfahrung
seit der Jahrtausendwende veröffentlichten strumentale Jazzalbum des Jahres gewann. eine grundlegende Plattform und
isions divisions
Standardbücher zur Jazzgeschichte folgen Eines von Chinens zwölf Kapiteln ist Mehldau Instrumentenkenntnis durch lang-
im Großen und Ganzen Burns’ Gewichtung, gewidmet. Völlig zurecht. Eine Schlüsselfigur jähriges, intensives „Kennenlernen“
divisions
von Jazz von Gary Giddins und Scott DeVeaux für Jazz heute, gerade in der ihm eigenen Ver- unverzichtbar.
(2009) bis The History of Jazz von Ted Gioia bindung von Virtuosität und Neugierde.
(3. Auflg. 2021). Es wäre schön gewesen, hät- Ich überschreite jedes Mal meine
te Burns noch fünf Episoden für die Ära nach Im Vergleich mit 1959 sieht man daher vor persönlichen Grenzen im Sinne eines
1960 rangehangen. Grundsätzlich falsch lag er allem im Festivalprogramm, wie sehr Jazz in „höheren Ichs“. In jedem Konzert
nicht. Vom Verlauf der Debatte seit 2001 dürfte Bewegung geblieben ist. Oder genauer: Seit versuche ich, ihm aufs Neue zu
bal Media Forum ist seit Das
2008DWdieGlobal
interdisziplinäre
Media Forum ist seit 2008 die interdisziplinäre er sich bestätigt fühlen. der Jahrtausendwende wieder in Bewegung begegnen. Nicht „ausgeklugt“,
r Medienschaffende und Plattform
Entscheidungsträger*innen
Das für Medienschaff
DW Global Media Forum ende und2008
ist seit Entscheidungsträger*innen
die interdisziplinäre gekommen ist. Anders, als es Burns noch sondern absolut intuitiv … da die
Es ist ein anderer Grund, warum etwas wie 2001 wahrzunehmen vermochte. Die aktive Intuition voll ihre Pforten öffnet,
Zivilgesellschaft und Wirtschaft
aus Politik,
aus
Plattform Zivilgesellschaft
aller
für Welt.
Medienschaff und Wirtschaft
ende aus aller Welt.
und Entscheidungsträger*innen die Fernsehserie Jazz mit diesem Narrativ Teilnahme an dieser Musikkultur hat sich zum muss ich es unbefangen und bewaff-
aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus aller Welt. von 2001 heutzutage so nicht mehr reali- Beispiel immer weiter globalisiert. Wichtige net mit allen Sensoren angehen und
r im Fokus: Narrative aufbrechen,
Dabei immerPerspektiven
im Fokus: Narrative aufbrechen, Perspektiven siert werden könnte wie damals und dennoch Platten kommen heutzutage genauso selbst- … loslassen. Die Intuition führt. So
hoffen dürfte, in der Weise ernstgenommen verständlich aus Skandinavien, Japan, Polen beseitige ich auch die Routinen, die
n und Innovationen weiterentwickeln.
hinterfragen
Dabei immer und Innovationen
im Fokus: Narrativeweiterentwickeln.
aufbrechen, Perspektiven zu werden, wie es Burns‘ Projekt trotz seiner oder Südafrika wie aus New York. Zugleich hat schnell versuchen, mir ihre Ketten
hinterfragen und Innovationen weiterentwickeln. polarisierenden Anlage zu seiner Zeit noch
wurde. Und das führt mitten in das vielfäl-
sich die Szene stetig weiter liberalisiert. Das
meint nicht nur die stetig wachsende Offen-
anzulegen.
tige Programm des Jazzfest Bonn. Denn die heit gegenüber anderen Formen von Musik, Das sind die Grenzen, die ich
SLETTER NEWSLETTER Lage hat sich verändert. Wir befinden uns die heutzutage von klassischer Avantgarde jeden Tag überschreite. Die kreative
em Laufenden bleiben: Alle Infos rund umAuf
NEW dem
S L Laufenden
ETTER bleiben: Alle Infos rund um seit der Jahrtausendwende in einer Renais- über jedwede Form von World Music bis Hip- Intuition bringt mich auf die Suche
ernationale Medienkonferenz der DW in die
Bonn.
internationale Medienkonferenz der DW in Bonn. sance dieser Musik. Einem goldenen Zeitalter Hop und EDM keine Berührungsängste in wel- nach Erlebnissen, in neue, uner-
Auf dem Laufenden bleiben: Alle Infos rund um des Jazz ganz eigener Art. Es sind gute Zei- che Richtung auch immer zu kennen scheint. forschte oder unerwartete Welten
die internationale Medienkonferenz der DW in Bonn. ten, Jazz-Enthusiast*in zu sein. Lange gab es Es gilt auch für die Vielfalt der Akteur*innen … da fühle ich mich immer wohl und
nicht mehr so viele so gute und so spannende selbst. Was lange vor allem vom Platzhirschge- gestalte sie … dann,
Künstler*innen und Alben in einer derart gro- rangel zwischen schwarzer und weißer Macho-
DW_GMF
dw.com/gmf DWGlobalMediaForum
#dw_gmf dw.gmf DW
DW_GMF
Global MediaDWGlobalMediaForum
Forum DW Global Media Forum ßen stilistischen Bandbreite, mit der selbst heterosexualität gekennzeichnet war, offene ist es ein guter Tag.
das insoweit schon verblüffende goldene Jahr LGBTQIA+-Feindlichkeit zelebrierte und Frauen
dw.com/gmf #dw_gmf dw.gmf DW_GMF DWGlobalMediaForum DW Global Media Forum 1959 nicht mithalten kann. abseits des Mikrophons nur selten duldete, ist
heute offener, bunter und gleichberechtigter,
Wer einen Einstieg in diese reiche Gegenwart ebenso wie es unsere Gesellschaften selbst
MA IN PARTNER S CO-HOSTED BY CO-HOSTED BY
sucht, ist bestens bedient mit Nate Chinens geworden sind. Wir sind weit gekommen seit
MA IN PARTNER S CO-HOSTED BY Buch Playing Changes. Jazz for the New 1959. Auch hierfür steht das diesjährige Festi- Sendecki & Spiegel
Century von 2018. Oder hört sich quer durch valprogramm. n spielen am 3. Mai im
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Christian
Musikarchäologie
Christian Werthschulte arbeitet als Redakteur
Werthschulte bei der Kölner Stadtrevue und spricht und
schreibt gerne über Musik bei WDR Cosmo,
Von Gospel
im Mikroformat bei Deutschlandfunk Kultur und in
verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.
zu Grime
und zurück:
Bobby Sparks
remixt die
Schwarze
Musik- Der Jazz sei für ihn „eine Stimme gewesen, in der ich hören
geschichte zu
einem konnte, wie sie an eine ganze historische Erfahrung von Un-
hybriden
Gesamt- terdrückung und Leiden anknüpft, die Schon als Jugendlicher konnte Sparks Kontak-
kunstwerk. te in die Musikszene von Texas aufbauen und
sich im Klang Bahn bricht“, hat der nach der Highschool wurde er schnell ein ge-
fragter Sessionmusiker, der unter anderem mit
Kulturwissenschaftler Stuart Hall ein- Herbie Hancock oder Tower of Power gespielt
hat. Vielen Menschen fiel sein Name erstmals
mal geschrieben. Für Hall drückte sich auf, als er bei der Band The RH Factor von
Trompeter Roy Hargrove mitspielte. Hargrove
im Jazz eine Schwarze Populärkultur war Teil der Soulquarians, die um die Jahr-
tausendwende daran interessiert waren, die
aus, die die Reinheit westlicher Musik „verwirft oder zurück- spirituellen und musikalischen Gemeinsam-
keiten zwischen Soul, Jazz, R&B und Hip-Hop
weist. Man könnte auch sagen: Sie verbiegt und verdreckt sie.“ auszuloten. Den Großteil seiner Karriere lebte
Bobby Sparks ein, wie er selbst sagt, „privile-
Jazz ist eine hybride Kunstform, ein Gemisch giertes Leben“ als Tour- und Sessionmusiker,
aus Stilen und Geschichten, die nicht länger bis er sich entschied, mit der damals noch un-
getrennt voneinander betrachtet werden kön- bekannten texanischen Band Snarky Puppy auf
nen und so die Vielfalt Schwarzer Erfahrungen Tour zu gehen: „Ich war Fünf-Sterne-Hotels
abbilden. Bei Bobby Sparks verdichtet sich und ein großes Publikum gewohnt, aber bei
diese Hybridität in seiner Musik wie in seiner Snarky Puppy waren wir oft mehr Menschen
Biographie. „In der Musik gibt es Einflüsse von auf der Bühne als davor.“ Der Erfolg stellte
allen Stilen und Kulturen“, sagt der Keyboar- sich trotzdem ein: Seit Mitte der Zehnerjahre
der. „Wir haben Zugang zu Musik aus der gan- haben Snarky Puppy und Bobby Sparks mehrere
zen Welt und das ermöglicht uns eine neue, Grammys gewonnen. Die Zeit in der Band habe
spannende Vision, die keine Grenzen kennt.“ ihm das nötige Selbstvertrauen gegeben, seine
Soloalben zu produzieren, so Bobby Sparks.
Bobby Sparks II kam 1973 in einem Vorort
von Dallas, Texas zur Welt. Seine Mutter Im Sommer 2022 ist das zweite davon
war Kirchenmusikerin, sein Vater war Jazz- erschienen: Paranoia. Es ist eine Zeitkapsel,
trompeter und machte ihn mit der Musik von die mit Schwarzer Musikgeschichte gefüllt ist.
Dizzy Gillespie oder Miles Davis bekannt. Aber Bobby Sparks beginnt sie mit einer Verneigung
vor dem Jazz stand die Kirchengemeinde. Hier vor dem Zeitalter der Bigbands und lässt in
lernte er, welche Bedeutung Musik für die Prelude die großen Bandleader von Cannonball
Schwarze Community haben kann. Im Alter Adderley bis Count Basie ihre Aufwartung
von fünf Jahren fing Bobby Sparks an, an machen. Es ist der passende Auftakt für ein
der Orgel seiner Mutter seine musikalischen Album, das wie ein Geschichtsbuch die vielen
Fähigkeiten zu entdecken. Der Sound habe ihn Musikstile dokumentiert, die von Schwarzen
daran fasziniert, so Sparks in einem Interview. Musiker*innen geprägt worden sind.
Auch sein Vater unterstützte die Ambitionen Immer präsent ist dabei der Minimoog von
seines Sohnes und kaufte ihm Mitte der Acht- Bobby Sparks, den er so gekonnt moduliert
ziger einen digitalen Synthesizer. In diesem wie Parliament-Keyboarder Bernie Worrell,
waren verschiedene Sounds gespeichert, die der Erfinder des P-Funk. Die Funkiness seines
nach alten, analogen Synthies benannt waren. Keyboard-Spiels ist der Signature Sound, mit
Also machte Sparks sich auf eine Tour durch dem uns Sparks durch seine Reise durch die
die Musikgeschäfte seiner Umgebung – es war Musikgeschichte führt. Dabei ist es egal, ob
vor dem Internet – und entdeckte dort die Sparks über einem Boom-Bap-Beat improvisiert
Keyboards, die heute sein Markenzeichen sind: (Wutang) oder wie in Good Morning America den
das Hohner Clavinet D6 und den Minimoog. Funk der 70er zitiert – sein Synthesizerspiel
„Analoge Instrumente besitzen eine Wärme prägt auch dann noch den Sound von Paranoia,
und ein Gefühl, das digitale nicht haben“, be- wenn er anderen Instrumenten den Platz im
schreibt Sparks seine Vorliebe. Rampenlicht überlässt. ➜
14 15
Wie sprengst du Grenzen,
Thomas D?
Paranoia ist Musikarchäologie im Mini- Auf seinem Album covert Sparks Sometimes it
format. Sparks zitiert in seinen Hommagen Snows in April, die große Ballade über Leben
oft die vermeintlichen Nebensächlichkeiten und Sterben, in der Prince sein Identitätsspiel
blue sky anderer Stile, die erst bei genauem Hinhören aus Popstar-Persona und Intimität zur Per-
auffallen. Die kurzen Spoken-Word-Interludes fektion getrieben hat. Von allen Stücken von
sind eine Hommage an die Skits auf frühen Prince sei dies sein Lieblingssong gewesen
Hip-Hop-Alben. sagt Sparks und überführt das minimalistische
Arrangement des Originals in ein dezent-opu-
Die neonfarbenen 16-Bit-Synths von Eventual lentes Streicherfest.
verneigen sich dagegen vor Grime, dem Hip-
Hop-Stil aus dem Londoner Osten. Und die Auch an anderen Stellen verneigt sich Sparks
harten Rockgitarren von Mayday scheinen ein vor seinem Idol. Die digitale Retro-Funkiness
Licht auf ein oft übersehenes Kapitel Schwar- von Afro Nigerian Girl wirkt wie eine Hommage
zer Musikgeschichte: den Beitrag, den Bands an den Prince der mittleren 80er Jahre, der
wie Living Colour oder Fishbone geleistet ha- mit Drum-Computern und Synthesizern expe-
ben, um Rock und Metal mit Funk zu versöh- rimentierte. Und als besonderes Easter Egg für
nen. Prince-Fans hat Sparks einen Song nach Jaime
Starr benannt, einem Twitter-Account, der die
In Negro National Anthem (Lift every voice) Lyrics von Prince liebevoll parodiert hat.
kehrt Sparks am Ende des Albums schließlich
zurück in die Kirchengemeinde, wo er einst das In diesen Details zeigt sich die besondere Wie sprenge ich Grenzen?
Musikmachen gelernt hat. Zu Beginn erzählt Qualität von Bobby Sparks’ Blick auf die Mu- Ganz einfach mit Köpfchen!
eine Frauenstimme die Geschichte der afrika- sikgeschichte. Anstatt sich postmodern durch
blue sea nischen Königreiche, die durch die Sklaverei Musikstile und -epochen zu zappen, studiert
zerstört wurden und deren Nachkommen noch er ihre Eigenheiten und ihre Rolle, die sie für
heute, „in einem fremden Land“ für Freiheit die Schwarze Community gespielt haben.
In einer
Band zu spielen, ist wie ein
für mich. Bobby Sparks
und Gerechtigkeit kämpfen müssen. Ihr La- Auch in Interviews lenkt er immer wieder den
mento geht in ein zehnminütiges Gospelstück Fokus weg von seiner Person, um vergessene
über, in dem eine Vielzahl von Stimmen in Gott Musiker*innen zu würdigen und auf ihre Be-
die Versöhnung finden, die ihnen auf Erden deutung aufmerksam zu machen. Identität sei
nicht vergönnt ist. ein „unvollendetes Gespräch“ hat Stuart Hall
einmal gesagt. „In einer Band zu spielen, ist
Den Ehrenplatz in dieser Zeitkapsel namens wie ein Gespräch für mich“, sagt Bobby Sparks.
blue notes Paranoia nimmt jedoch die Musik von Prince
ein. „Prince war der musikalische Held meiner
Seine Musik ist ein Dialog mit der Geschichte
seiner Community, in dem sich Sparks als guter
Kindheit“, sagt Bobby Sparks. „Seitdem ich Zuhörer erweist. So gelingt ihm, was nur We-
ihn das erste Mal im Radio gehört habe, habe nigen gelingt: ein Dialog auf Augenhöhe. n
ich mich total in seine Musik reingefuchst.“
Ende der Nullerjahre hat Sparks mit dem Multi-
talent aus Minneapolis zusammengearbeitet,
wenige Tage vor Prince’ Tod haben sich die
beiden noch getroffen.
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spielen am 1. Mai
im Opernhaus
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Sophie Emilie Beha
Wie sprengst du Grenzen,
ist multimediale Musik- Johanna Summer?
journalistin. Spricht in
öffentlich-rechtlichen
Sendern. Schreibt für
Fachzeitschriften und
die taz. Moderiert
Festivals, Konzert-
einführungen, Podcasts
und Podiumsdiskussionen.
Improvisation. Eines, wenn nicht sogar das Le jazz in Paris
wichtigste Merkmal des Jazz. Zumindest das Vielleicht liegen die beiden Ufer ja gar nicht
auffälligste. Dabei improvisieren Menschen so weit entfernt. Im rauschenden Paris Anfang
seit jeher. Bevor Notationssysteme entwickelt des 20. Jahrhunderts tanzten sie sicher Arm
wurden, überlieferte man Musik mündlich und in Arm. Die erste große Modewelle namens „le Ich versuche in meiner Arbeit zu-
sie entstand ad hoc. Der Notendruck entstand jazz“ fegte durch die Stadt und Claude Debussy allererst musikalische Grenzen zu
um das Jahr 1500, kurze Zeit nach Erfindung komponierte Golliwog’s Cakewalk, in dem er sprengen – in meinem Fall sind es
des Buchdrucks, aber notiert wurde lange Zeit einen Ragrhythmus mit einem ironischen die der Klassik. Und da ich zu Beginn
Zwischenraum
nur Vokalmusik – auf Instrumenten musste Zitat aus Tristan und Isolde verknüpfte. eines Konzertes nicht weiß, wohin
man bis ins 15. Jahrhundert hinein improvisie- 1917 brachten amerikanische Truppen Louis mich die Reise führt, versuche ich
ren, da es keine weitverbreiteten Tabulaturen Mitchell’s Jazz Kings in die Stadt und ein Jahr auch immer wieder aufs Neue, meine
fetischismus
gab. Noch im Barock war angesehen, wer später stellte Francis Poulenc seine Rhapsodie Komfortzone zu verlassen und Risiken
Sophie Emilie Beha improvisieren konnte. Bach konnte sogar n*** vor. Nicht zu vergessen: „Le Jazz“ hatte einzugehen. Denn außerhalb dieser
Fugen aus dem Stegreif spielen – aus einer ein rassistisches und herablassendes Verhältnis Komfortzone passieren meistens die
solchen Improvisation entstand beispielsweise zu seinen afroamerikanischen Wurzeln. Die spannendsten Dinge.
sein sechsstimmiges Musikalisches Opfer. Er komplizierten Rhythmen und tanzenden
und Zeitgenossen wie Händel oder Scarlatti Muster faszinierten auch den jungen Darius
forderten sich sogar gegenseitig in Impro- Milhaud, der nach einigen jazzbasierten
visationswettstreiten heraus. Kompositionen schließlich 1923 nach Amerika
reiste. Mitten in Harlem saß er nachts in einer
Musik kennt keine Grenzen. Bar, in der bald auch schon Duke Ellington
Und auch die Komponist*innen der Wiener
Klassik waren Improvisator*innen: Mozart solierte. Voller Eindrücke verband Milhaud in
Wie oft haben Sie diesen improvisierte in seinen Klavierkonzerten jede seinen Kompositionen danach elegant Jazz
Kadenz, jede Fermate. Vielleicht hat er auch mit Bach – wie zum Beispiel die Balletmusik
deshalb nur für etwa die Hälfte seiner Klavier- La Création du monde, die 1923 in Paris
Slogan schon gehört? konzerte Kadenzen hinterlassen. Beethoven uraufgeführt wurde. Damit gab er den Anstoß
dagegen improvisierte nicht im Konzert, für eine lange Reihe an Musiker*innen, die
sondern für sich allein und am liebsten stun- diese Idee aufgriffen: beispielsweise Dave
Aus unterschiedlichsten denlang. Er notierte alle Kadenzen für seine Brubeck (der bei Milhaud studiert hatte),
Dieser Essay will an den Klavierkonzerte aus – für einige komponierte John und Mirjana Lewis, Jaques Loussier, Ron
er sogar mehrere Kadenzen. Wenn jemand es Carter, Mini Schulz, Brad Mehldau, Dan Tepfer,
Perspektiven lässt sich
wagte in seinen Sonaten zu improvisieren, Johanna Summer oder Florian Weber und das
vielbeschworenen Grenzen wurde er fuchsteufelswild. Dogma Chamber Orchestra. Letztere loten die
hervorragend über ihn Grenzen zwischen Bach’scher Komposition
Und improvisieren im Jazz? Darüber hat sich und Improvisation beim diesjährigen Jazzfest
zwischen Klassik und Jazz Bonn neu aus.
schon der Musikwissenschaftler Björn Heile
streiten. gewundert. Er analysierte Tourneevideos des
schrappen – und in ihren Duke Ellington Orchestras von 1969 und 1971 Auch Igor Strawinsky ließ sich von „le jazz“
und stellte fest: Da passiert wenig Spontanes. inspirieren. 1918 schrieb er Histoire du soldat
Daher sei es umso merkwürdiger, dass der Jazz für Puppentheater. Das Werk beeinflusste
Zwischenräumen. „Improvisation in den Rang einer Ideologie Komponisten in Frankreich, Deutschland und
gehoben“ habe. Natürlich: Es gibt Jazz auch den USA enorm. Strawinsky erzählte, dass er
ohne Improvisation. Wenn aber nun die sich die Instrumentierung bei Jazzensembles
Klassik auch improvisiert und der Jazz auch abgekupfert habe. Und tatsächlich: Die
nicht-improvisiert – wo verlaufen dann die Besetzung erinnert an die der Creole Band,
Genregrenzen? populäre Pioniere des New Orleans Jazz. ➜
Johanna Summer
& Jakob Manz
spielen am 10. Mai
im Volksbank-Haus
18 19Paul Hindemith: ernsten Studien über aktuelle Stilformen
Nimm keine Rücksicht wie zum Beispiel in Einspielungen von Otto
Vier Jahre später ließ Paul Hindemith Einflüsse Klemperer und Mitgliedern der Staatsoper Berlin
aus dem Jazz in die Satzbezeichnungen unter dem Obertitel Kleine Dreigroschenmusik
(Ragtime oder Boston) seiner Suite 1922 für Blasorchester.
für Soloklavier einfließen. Sogar seine
Spielanweisungen klingen nach Jazz: „Nimm Vielleicht strömen die Klassik- und Jazz-Ge-
keine Rücksichten auf das, was Du in der wässer ja irgendwann zusammen. Das prophe-
Klavierstunde gelernt hast. Überlege nicht zeite zumindest Gunther Schuller und gründe-
lange, ob Du Dis mit dem vierten oder te zusammen mit John Lewis,
sechsten Finger anschlagen musst. Spiele dem Pianisten des Modern Jazz
dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm Quartets, 1955 die Modern
im Rhythmus, wie eine Maschine. Betrachte Jazz Society: ein loser Zusam-
hier das Klavier als eine interessante Art menschluss von Musikern, die
Schlagzeug und handele dementsprechend.“ den Zwischenraum zwischen
Im Vorfeld hatte Hindemith seinem Verleger zeitgenössischer Musik und
angeboten „Foxtrotts, Bostons, Rags und Jazz ausloteten und sich ein
anderen Kitsch“ zu komponieren. Denn damit Jahr später in Jazz and Classi-
könne man „mehr Geschäfte machen als cal Music Society umbenann-
mit meiner besten Kammermusik“. Zwanzig ten. Aber schon davor, kurz vor
Jahre später hielt er seine Suite 1922 für eine Ende des Zweiten Weltkriegs,
Kompositionssünde. veranstaltete der Impresario
Norman Granz im damals größ-
NG
BUILDI
Als „Höhepunkt der Jazzrezeption in der klas- ten Auditorium in Los Angeles
S ’23
sischen Musikszene Deutschlands“ beschrieb das erste Konzert seiner Reihe
BRIDGE
Wolfram Knauer die Oper Jonny spielt auf von Jazz at the Philharmonic. Er wollte sich damit
Ernst Krenek, die erst im vergangenen Jahr gegen die Verurteilung von einundzwanzig
jazza am Münchner Gärtnerplatztheater zu heftigen jungen Mexikaner*innen einsetzen und bezog
head
GERM ! meets Diskursen geführt hat. Uraufgeführt wurde sie dafür das Philharmonic Audito-
1927 in Leipzig. Die Geschichte handelt von rium, in dem bis dato nur klas-
ANY einem Streit zwischen zwei Musikern, der dar-
in gipfelt, dass der Schwarze Jazzgeiger Jonny
sische Konzerte stattfanden.
Erst nannte er sein Konzert
auf der Geige des klassischen Musikers Daniello Jazz Concert at the Philharmo-
spielen will. Krenek verwendete in seiner so- nic, aber die von ihm gewähl-
genannten Jazzoper (diese Bezeichnung lehnte te Schriftgröße ließ so viele
der Komponist übrigens ab) kompositorische Buchstaben nicht zu – und so
Elemente oder Instrumente, die mit Jazz as- war der finale Titel geboren.
soziiert wurden.
What is Jazz?
Jazz und Sinfonik Im Jahr 1956 hielt der
Im selben Jahr schaffte es der amerikanische Komponist und Dirigent
Komponist George Antheil in die Carnegie Leonard Bernstein seinen
Hall und verblüffte mit einem Programm, das legendären Vortrag What Is
gleichzeitig ultramodern und jazzbeeinflusst Jazz, der übrigens auch auf LP
war. Erst wurde A Jazz Symphony aufgeführt, festgehalten wurde. Und wenig später tourte
dann wurden unter anderem zehn Klaviere, Joachim-Ernst Berendt durch Deutschland
27 – 30
Fabrikventilatoren und eine Sirene auf die und referierte über Jazz und Alte Musik. Da
Bühne manövriert, um das Ballet mécanique wären wir wieder beim Anfang.
aufzuführen, eines der Schlüsselwerke des Wo verlaufen nun die Grenzen
20. Jahrhunderts. Und George Gershwin zwischen Jazz und Klassik? Wo
APRIL
komponierte seine Rhapsody in Blue mit treffen sie sich, verschmelzen
ihrem berühmten Klarinettentriller, den miteinander? Pauschal lässt
trägen Synkopen und der Blue Note für Paul sich das nicht beantworten,
Whiteman, der sich der Verschränkung von sondern je nach Klangfarbe,
Klassik und Jazz verschrieben hatte. Bereits Cluster, Akkordfolge oder Aus-
1922 floppte seine Jazzoper Blue Monday am drucksform. Der Sozialphilosoph
JAZZ-HIGHLIGHT DES JAHRES 2023 Broadway, trotzdem gilt sie als Blaupause für
viele spätere Kompositionen von Gershwin und
wird oft als erstes Werk des sinfonischen Jazz
Alfred Schütz meinte: „Es gibt
keinen prinzipiellen Unterschied
zwischen der Performance
FACHMESSE • SHOWCASES • CLUBNIGHT bezeichnet. eines Streichquartetts und
den Improvisationen bei
In Leipzig engagierte Kurt Weill einige Jahre einer Jazz-Session.“ Stimmt
SAVE THE DATE TICKETS IM VERKAUF ODER ZUR MESSE REGISTRIEREN später für seine Oper Aufstieg und Fall das? Zumindest bei einem
Infos unter jazzahead.de der Stadt Mahagonny die 65 Musiker des Konzert des Atom String Quartet, das beide Das Dogma Chamber
Berliner Sinfonieorchesters und dazu eine Welten miteinander vereint. Auch schon Keith Orchestra unter der
Jazzband. Auch 1928 bei der Uraufführung Jarrett wusste: „Ich bin im Wesentlichen ein Leitung von Mikhail
der Dreigroschenoper jazzte unter anderem die Improvisator. Das habe ich durch das Spielen Gurewitsch (mittleres
Foto) spielt mit
Lewis Ruth Band unter der Leitung von Theo klassischer Musik gelernt.“ Die gegenseitige Florian Weber am
Organizer Funded by Partner Mackeben. Die Oper war erfolgreich – unter Inspiration ist der Nährboden für all die 1. Mai im Opernhaus
Main Media Partners
Showcase-Festival anderem wegen ihrer zahlreichen musikalischen Zwischenräume, wo verschiedenfarbige Klänge
Bezüge auf den Jazz. Einzelne Nummern und Konzepte miteinander verwachsen können
avancierten entweder zu Gassenhauern oder und Schubladenloses entstehen kann. n
21Fabian Junge hat zuerst Politik-
wissenschaft, dann Musik an der
Hochschule für Musik und Tanz Köln
studiert und leitet als Saxophonist
sein eigenes Quartett.
Seit 2022 ist er für die Kommunikation
des Jazzfest Bonn verantwortlich.
Fabian Junge Du bist in einer Musikerfamilie aufgewach- Dadurch bewegt sich die Musik in unerwartete phonen Improvisieren in einen hochkonzent-
sen, deine Mutter war Opernsängerin, dein Richtungen. Am Ende müssen wir uns dann rierten Zustand, der nicht bewertet, sondern
Vater Pianist und Professor für deutsches auf etwas einigen, um weiterzukommen. Einen einfach dem Fluss der Musik folgt. Ich hoffe
Lied. Wie bist du von dort zum Jazz gekom- Kompromiss finden. Das Schöne dabei ist, dass sehr, dass die Menschen diesen Fluss beim Zu-
men? alle gleichberechtigt beteiligt sind. hören spüren und er sie mitreißt.
Ganz klar über die Improvisation. Als Kind
saß ich oft am Klavier und habe darauf her- Steckt der Kompromiss auch hinter Bach Jemand, der Verbindung von Jazz und Klas-
umgespielt. Irgendwann habe ich angefangen, Comprovised, dem Titel des Projekts, das du sik als programmatisches Ziel verfolgt und
Logik und
dies als „Third Stream“ bezeichnet hat, war
Intuition
Florian Weber überschreitet die Stücke, die mein Vater beim Jazzfest Bonn 2023 uraufführen wirst?
die Grenze zwischen Jazz unterrichtet hat – vor al- Der Kompromiss ist mit drin. Aber auch Kom- der US-amerikanische Komponist Gunther
und Klassik. Auch in lem Lieder von Hugo Wolf ponieren und Improvisieren, zwei Pole mit Schuller. Siehst du dich in dieser Tradition?
Bach
seinem neuen Projekt – nachzuspielen. Ich konnte einer offenen, fließenden Grenze. Es gibt in Interessant, dass du das ansprichst, denn
Bach Comprovised, das keine Noten lesen und habe Bach Comprovised Passagen, die auskompo- dazu gibt es eine Anekdote: Ich habe lange im
er beim Jazzfest Bonn am
versucht, Melodien und niert sind, wir versuchen aber trotzdem, uns Quartett von Lee Konitz gespielt, zusammen
1. Mai 2023 uraufführt.
Im Gespräch mit dem Akkorde aus dem Gedächt- von jedem neuen Ton überraschen zu lassen. mit dem Drummer George Schuller, dem Sohn
nis zu rekonstruieren. Das Beim Improvisieren denken wir kompositorisch von Gunther Schuller. Und als sein Vater starb,
Von
Pianisten spürt man die
Hingabe und Demut, die klang bestimmt schrecklich, in dem Sinne, dass nicht jeder Ton für sich im hat George dessen Haus ausgeräumt. Er hatte
Weber
bis
seine Musik ausmachen. war für mich aber der Be- Raum steht, sondern mit dem Ton vorher und dann bei den Touren mit Lee Konitz die ganzen
Wie verbindet man Logik ginn der Improvisation. Ein mit dem Klang danach einen Bogen bildet. Original-Partituren seines Vaters dabei. Auf
und Intuition? Was hat
Freund meines Vaters hat Tour verbringt man ja wahnsinnig viel Zeit mit
Kollektiv-Improvisation mit
Demokratie zu tun? Und dann zu mir gesagt ‚Impro- Außerdem möchte ich Logik und Intuition Reisen und Warten, und da haben wir uns die-
wieso hat Johann Sebastian visation, das ist ja Jazz!‘ Da- verbinden. Das erkenne ich auch bei Bach, in se Partituren oft angeschaut.
Bach Generationen von raufhin habe ich mich durch seinen Fugen, bei denen es zwar einen stren-
Jazzmusiker*innen so die Platten meines Vaters gen kompositorischen Rahmen, andererseits Was mir daran aufgefallen ist: Gunther Schuller
fasziniert? Fabian Junge gehört, Oscar Peterson oder aber auch Improvisationsanteile gibt, die man hat versucht, eine Brücke zwischen Jazz und
interviewt Florian Weber.
Miles Davis zum Beispiel. in den Präludien nachvollziehen kann. Bachs Klassik zu bauen, aber damals waren die Grä-
Dass Improvisation eine Form der Kommunika- Improvisationen schließen sich für mich ganz ben noch sehr breit. Da spielten dann erst
tion in einer Gruppe sein kann, war für mich logisch und selbstverständlich an den formal die klassischen Musiker*innen die auskom-
wie Magie. festgelegten Teil seiner Werke an. Logik und ponierten Passagen, und danach kamen die
Intuition sind dort keine Widersprüche, son- Jazzmusiker*innen, die darüber improvisiert
Ist „Jazzmusiker“ eine Kategorie, die du für dern gehen Hand in Hand. haben. Beides wurde gegenübergestellt, wie
dich annimmst? in einer Art Patchwork. Heute sind wir weiter.
Ich bin sehr dankbar, dass es den Jazz gibt Wie wirkt die Musik von Bach Comprovised Bei Bach Comprovised etwa stellen wir nicht
und vor allem bin ich den vielen Schwarzen auf die Zuhörenden? zwei musikalische Herangehensweisen einan-
Musiker*innen dankbar, die ihn unter schwie- Sie werden sicher viele Melodien, Rhythmen der gegenüber, sondern schaffen einen neuen
rigsten Bedingungen entwickelt haben. Die und Zusammenhänge der Bach’schen Musik er- Begriff. Es ist eine wirkliche Begegnung, wir
Bedeutung dieses Erbes kann man nicht un- kennen. Ich beleuchte bestimmte Momente in interpretieren und improvisieren die Musik ge-
terschätzen. Ich selbst habe meine klassischen seinen Werken, vor allem die Rhythmik, denn meinsam.
Wurzeln mit der Improvisation verbunden, be- ich finde, sie wurde bei Bach bisher unter-
wege mich aber in den letzten Jahren vom tra- schätzt. Bei ihm werden zum Beispiel in den Bach Comprovised wirst du in Bonn nicht al-
ditionellen Jazz weg. Das hat sich verstärkt, Gegenstimmen auf einmal die Off-Beats stark lein, sondern mit dem 16-köpfigen Dogma
als ich 2020 den Belmont-Preis für zeitgenös- betont, und der Körper wird beim Zuhören in Chamber Orchestra aufführen. Was schätzt
sische Musik erhalten habe. Hierdurch konnte Bewegung versetzt. Das möchte ich mit Bach du an diesem Klangkörper?
ich für das Ensemble Modern komponieren, Comprovised nachvollziehbar und spürbar Für mich bringt dieses Ensemble den Sound
und habe dabei das Konzept der polyphonen machen. eines Streichorchesters auf eine neue Ebene.
Intuition entwickelt. Seine Interpretationen klingen extrem frisch,
Vor dir haben sich schon viele Jazz- gerade was die Rhythmik und das Klangliche
Was genau verbirgt sich hinter dem Konzept musiker*innen mit Bach beschäftigt und betrifft. Die Mitglieder bringen diverse Ein-
der polyphonen Intuition? sich auf ihn bezogen. Woher kommt diese flüsse und Hintergründe mit. Zum Beispiel
Das Konzept dient dazu, mit größeren, klas- Faszination? sind Konzertmeister Mikhail Gurewitsch und
sischen Ensembles zu improvisieren. Es gibt Bach ist ein Grundpfeiler der westlichen Mu- ich große Led Zeppelin-Fans. Außerdem ist
ein Set von Regeln, zum Beispiel: Die leiseste sik. Er hat geprägt, was wir heute als schön das Orchester international besetzt, hier spie-
Stimme im Raum ist die Wichtigste! Ich sehe da und richtig empfinden. Was macht zum Bei- len unter anderem ukrainische und russische
Parallelen zu den Regeln des demokratischen spiel eine starke Melodie aus? Da gelten von Musiker*innen zusammen. Sie versuchen,
Zusammenlebens, die etwa dazu da sind, Min- Bach bis zum Jazz-Standard die gleichen Prin- kulturelle und musikalische Grenzen zu über-
derheiten zu schützen. Die Regeln schaffen zipien. Was viele Jazzmusiker*innen – mich winden und werfen einen modernen Blick auf
einen Rahmen für Konversationen, bei denen eingeschlossen – auch fasziniert, ist die schon klassische Musik, frei von alten Dogmen. n
viele Stimmen und Meinungen möglich sind. genannte Polyphonie. Ich gerate beim poly-
22 23Ralf Dombrowski, Journalist, Fotograf, Buchautor aus Pianist*innen haben das, was ihnen auf die Wie sprengst du Grenzen,
Aus der Ausstellung Sound And Silence (2021) Kunstmuseum Bonn; © (2010) Tatiana Blass / Foto: Everton Ballardin
München, schreibt und sendet seit 1994 über Musik und Bühne gestellt wird, und müssen sich dazu in
Kunstverwandtes für Tageszeitungen, Fachzeitschriften, Julia Hülsmann?
Rundfunk und online.
Beziehung setzen. Wohltemperiert bietet ihr
Instrument ein zwar großes und im Idealfall
materialtechnisch optimiertes, aber auch klar
begrenztes Spektrum der Gestaltungsbreite.
Vladyslav Sendecki,
Simon Nabatov,
Johanna Summer
Historisch-bürgerlich wurden die pianistischen
Möglichkeiten mit dem Typus des Virtuosen
Brad Mehldau und
Kit Downes,
sportlich zirzensisch ausgereizt, außerdem
Jacob Karlzon,
formal in der kompositorischen Feinjustage
gehen mit ihren des Tonmaterials bis hin zur geclusterten
Programmen Verweigerung des Wohlklangs.
über Grenzen
So gesehen ist das Klavier
ästhetisch vollendet und
fertig mit der Welt. Lediglich
biographische Abweichungen
einzelner Künstler*innen von
der universitär standardisier-
ten Genienorm bedienen
noch das Kreativitäts-
dispositiv erlebnisechter
Gestaltung für ein Publi-
kum, das vor allem im Jazz
allabendlich Überraschung
erwartet.
Aura, Nähe, Tradition
Was also tun, wenn man es trotzdem mit
dem Anspruch spielen will, mehr als nur
sich selbst zu bewegen? Man begibt sich auf den
Marktplatz der Singularitäten und versucht, der
Zwei, drei Gedanken zum Klavier. egalitären Tendenz des allgemein Besonderen
durch die Konzentration auf einzelne Aspekte
Unter funktionalen Aspekten gehört es zu den der eigenen Geschichte entgegenzuwirken.
Das System Mehldau beispielsweise fokussiert
Verlierern des postindustriellen Kulturbe- empathische Nostalgie, sei es durch Verar-
beitung klassischer, jazztraditioneller und pop-
triebs. Denn es ist ein mechanisches Präzisions- kultureller Vorlagen, sei es auch durch
die Ausweitung des Musikalischen auf
werkzeug der technisch organisierten philosophische, religiöse Inspirationen. Die
Musik harmoniert im langjährigen Zusam-
Moderne, das seine Künstler*innen auf Distanz menspiel des Trios und in der Fähigkeit, den
Moment der Äußerung durch die Kombination
hält und dem daher schnell die Geschichten der Elemente zu auratisieren. Jacob Karlzon
wiederum wählt den Weg des Populären. Seine
des Authentischen ausgehen. Wer Geige, Musik setzt auf geschmackvolle Zugänglichkeit,
die in verschiedenen Erfahrungswelten des
Saxophon, Gitarre spielt, liebt und benützt Publikums von der dezenten synthetischen
Klangveredelung bis hin zu einer melodischen
sein solitäres Instrument, seine Guarneri, sein Nahbarkeit des improvisierenden Inventars
ankert. Johanna Summer hingegen sucht das
Selmer, seine Gibson. Besondere in der Verbindung von Persönlichkeit
und Tradition, wobei sie die Referenzpunkte
bei aller Freiheit der eigenen Tongebung in der
europäischen Klangsprache ihres Instruments
setzt. Das ist auch deshalb ungewöhnlich
Alles Tatiana Blass:
stimmig, weil sie sich von der künstlerischen
Autorität der Ahnen zwar beeindrucken, auch
offen:
Half On The Speech
beeinflussen, aber nicht dominieren lässt. ➜
On The Ground –
Ralf Dombrowski Deaf Piano
das
Klavier
Spielfeld
Julia Hülsmanns
Heaven Steps To Seven
spielen am 11. Mai
im Post Tower
24 25Wie sprengst du Grenzen,
Kit Downes?
Der Opulente ebenso beinhaltet wie das kulturkoloniale
Simon Nabatov geht einen anderen Weg und Erbe potentieller Ausdrucksvielfalt, hieß
gibt sich nicht mit linearen Modellen zufrieden. das für Kit Downes, dass er Progrockiges
Das mag mit seiner Künstlerbiographie zu- ebenso ausprobierte wie Fusionsounds, freie
sammenhängen. Jahrgang 1959, geboren in Moderne ebenso wie Kirchenorgel, komplexes
Moskau, aufgewachsen in einer Musikerfamilie, Schreddern von Hörgewohnheiten ebenso
begleitet ihn das Klavier von Kindesbeinen an. wie kammerjazzige Verbeugungen vor dem
Es ist ein Leben rund um das Instrument, in schönen Klang.
der Emigration, lange in New York, inzwischen
in Köln. Virtuosität hat Simon Nabatov Sein Trio ENEMY mit dem Schlagzeuger James
in frühen Jahren als Option abgehakt, Maddren und dem Kontrabassisten Petter Eldh
Komplexität erlebte er ebenfalls als junger ist dabei trotz des kämpferischen Titels eher
Mann, als Sideman und Solist in Spielarten ein Ensemble des Rückgriffs. Im klassischen
des improvisierenden und komponierenden Format betont es den akustischen Aspekt
Pioniergeistes, von der freien Szene über der Musik, melodisch über weite Passagen
den Minimalismus bis zur Neuen Musik. hinweg zugewandt, wenn auch energetisch
Seine Projekte korrespondieren mit Literatur, steigerungsfähig durch die aufmerksame
dem Wort als Sinn- und Soundträger, im Zusammenarbeit der Beteiligten. Es scheint, ▪ Listening to and playing with
Bandformat, als Kammermusik und in größeren dass es überhaupt um dieses Phänomen musicians that are challenging,
Ensembles. Simon Nabatov gräbt tief, will der gemeinsamen Resonanz geht, losgelöst in many different ways
Klänge und Zusammenhänge von innen heraus von Stilfragen in der Konzentration auf ▪ Not becoming too attached to
verstehen, mehr Netzwerk der Vielstimmigkeit das möglichst Gegenwärtige, das selbst im a fixed idea about myself − sound,
als Eindeutigkeit der Interpretation. Da liegt Maximum der Präsenz das Harmonische nicht process, aesthetic
es nahe, im Duo mit Persönlichkeiten zu verliert. ▪ Trusting musicians I‘m playing with,
kommunizieren, die verknüpfbare Erfahrungen familiar and unfamiliar, in different
und genügend gestaltende Eigenheit Der Nahbare situations
mitbringen, um künstlerisch Gemeinsamkeit Und da wiederum gibt es Schnittmengen ▪ Not worrying too much about
entwickeln zu können. zu Vladyslav Sendecki. Man kennt ihn whether it works out or not … any
nicht als Revolutionär, im Gegenteil. An of it.
Der Saxophonist Matthias Schubert hat zahl- sich ähnlichen generationalen Zeitläuften
reiche Spielformen der europäisch freien entsprungen wie Simon Nabatov, hat der aus
Schule durchlaufen, Avantgarde im Sinne dem polnischen Gorlice stammende Pianist
des Aufstands, aber auch der Reaktion auf andere künstlerische Schlüsse gezogen als
die Vorgaben der Jazzahnen. Der Trompeter sein experimentalistischer Kollege. Zunächst
Ralph Alessi bringt Impulse der urbanen klassisch ausgebildet, dann im Rockjazz der
amerikanischen Experimentalszene mit, weit Siebziger sozialisiert, wählte er den Mittelweg
offen im Ton und in der Anlage seiner der Sicherheit gestalterischer Perfektion
Gestaltungen. Beide Musiker fordern in ihrer und landete über verschiedene europäische
künstlerischen Klarheit und Präsenz heraus, Stationen in den Neunzigern in Hamburg.
Simon Nabatov genießt das Kompetitive, Der feste Platz am Klavier der NDR Bigband
womöglich nur als Option, vielleicht auch als hielt ihm ein knappes Vierteljahrhundert den
Feuerwerk der Gegenseitigkeit. Rücken frei, um eine Vielzahl musikalischer
Kooperationen zu verwirklichen und einen
Der Gegenwärtige Erfahrungsschatz zu sammeln, der ihm Zugriff
Kit Downes geht mit dem Erwartungsdruck an auf nahezu jede stilistische Ausdrucksform der
das Kreative anders um. Eine gute Generation jazzenden Gegenwart ermöglicht.
jünger als Nabatov sind für ihn spätbürgerliche
Polaritäten, auch ästhetische Widerstände Tatsächlich aber interessiert ihn inzwischen
längst Vergangenheit des Künstlerdiskurses. das Kleine, Direkte, Persönliche. Daher spielt
Das Klavier hatte sich in seiner Jugend – Vladislav Sendecki im Duo mit Jürgen Spiegel.
im Jazz zwischenzeitlich beerdigt, danach Klangopulenz und Interpretationsgeschichte
posttraditionell exhumiert und auch aus dem des Klaviers treffen in alter Freundschaft
Geiste des Pop reanimiert – wieder erholt auf die rhythmische Varianz und Wucht des
und dabei die hochkulturellen ebenso wie Schlagzeugs. Kontrast ohne Konflikt, vielleicht
WIR IN BONN FÜR BONN
dekonstruktivistische Wertungen abgelegt. Aus eine Lösung. In jedem Fall ist es ein Angebot
britischer Perspektive, die Independent Music für das Klavier der Gegenwart. n
Wir unterstützen ein vielfältiges Angebot an regionalen
Kultur-, Musik- und Sportveranstaltungen. ENEMY –
Downes/Eldh/Maddren
spielen am 3. Mai im
LVR-LandesMuseum
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