Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst

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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
Informationen für evangelische
                          Religionslehrerinnen und -lehrer
                          in Westfalen und Lippe

50. Jahrgang   1 | 2021
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
Inklusion in der Schule
Über 10 Jahre ist es her, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland eingeführt wurde – Zeit für eine kleine Zwischenbilanz.
Wie haben sich Schulen auf die neuen Herausforderungen eingestellt, welche Probleme kann man benennen? ru intern hat sich umgehört.
Und spannende Ideen gesammelt für den Alltag im Klassenzimmer und Religionsunterricht.

In dieser Ausgabe

   Aus Schüler*innen-Sicht | S. 3                     Freies Lernen | S. 31                              Emmaus-Jünger | S. 45
Maria sitzt im Rollstuhl. Sie besucht die 12.      Anhand des Praxisbeispieles einer Wegbe-           Mit Jesus auf dem Weg nach Emmaus - diese
Klasse des Berufskollegs in Halle/W. Und           schreibung zur neuen Schule erläutern Nadja        tröstende Geschichte wird für Schüler*innen
erzählt für ru intern von ihren Erfahrungen.       Nauroschat und Linde Kaiser, Gelsenkir-            der Grund- und Förderschulen mit Hilfe eines
                                                   chen-Bismarck, wie sich Inklusion und Freies       Bodenbildes leichter erlebbar - praktischer
   Geduld, Freude und viel Schlaf | S. 5           Lernen miteinander verschränken lassen.            Religionsunterricht von Sabine Grünschlä-
Inklusions-Alltag an einer Realschule in Hat-                                                         ger-Brenneke
tingen. Erste Erfahrungen und drei Wünsche            Inklusions-Konzepte für RU | S. 35
für die Zukunft. Sabine Grünschläger-Bren-         Um heterogenen Lerngruppen im Religions-              bagbook story | S. 50
neke, Villigst, berichtet.                         unterricht gerecht zu werden, bedarf es einer      Wie lässt sich die Weihnachtsgeschichte für
                                                   guten Planung. Sabine Grünschläger-Bren-           Kinder mit Förderbedarf anschaulich erzäh-
   Eine coolere Inklusion | S. 7                   neke, Redaktionskreis ru intern, stellt unter-     len? Dazu braucht es eine Kiste, verschiedene
Jeder Mensch ist anders. Und jeder ist behin-      schiedliche Modelle vor.                           Gegenstände zum Greifen, Fühlen, Riechen
dert – aus biblischer Perspektive. Inklusion                                                          und eine „Leichte Sprache“. Präsentiert von
darf daher nicht als Gleichmacherei verstan-          An der richtigen Stelle? | S. 42                Marion Burscheidt, Hamm.
den werden, meint Bernd Beuscher, Bochum.          Britta Berentzen, Mönchengladbach, greift
                                                   den Wunsch vieler Eltern nach „Normali-                Inklusion - und jetzt? | S. 54
   Religiöse Bildung für alle | S. 17              tät“ für ihr Kind auf, betont aber gleichzeitig,   Wer sich über den aktuellen Stand der Inklu-
Inklusiver Religionsunterricht? Es fehlt an vie-   dass Förderschulen genau der richtige Ort für      sion informieren möchte, findet am Ende des
lem, diagnostiziert Wolfhard Schweiker, Tübin-     manche Schüler*innen und ihren Unterstüt-          Heftes zusammenfassende Tipps. Und zahl-
gen: besonders in der Aus- und Fortbildung.        zungsbedarf sein können.                           reiche praktische Internet-Seiten zur Inklusion.

                                                                                                                                              ru intern
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Schul-Inklusion aus Sicht einer Schülerin

Soll ich helfen?
Interview mit der Schülerin Maria B. aus dem     stützung sind ganz selbst-
Beruflichen Gymnasium für Gesundheit und         verständlich. Es gibt viele
Soziales in Halle / Westfalen, Jahrgangsstufe    AGs und Projekte gegen
12, zum Thema: Meine Erfahrungen mit Inklu-      Rassismus und Aus-
sion an Schulen                                  grenzung, wie z.B. „Wir
                                                 sind bunt!“, „Erasmus +“,
K.-L.: Hallo Maria! Schön, dass Du Zeit hast     oder auch die regelmä-
  und für das Interview bereit bist. Meine       ßigen Veranstaltungen
  erste Frage an Dich: Hast Du Deinen Roll-      zur „gesunden Schule“.
  stuhl von Anfang an benötigt oder hat ein
  späteres Ereignis dazu geführt?                K.-L.: Da fehlt uns noch die
M. B.: Nein, den Rollstuhl benötige ich nur in     Inklusions-AG oder ein
bestimmten Phasen, habe ihn aber schon             Inklusionstag an unserer
sehr lange. Seit Mitte der 8. Klasse bin ich       Schule, in der Schüler*innen
regelmäßig auf den Rollstuhl angewiesen.           oder auch Kolleg*innen Erfah-
                                                   rungen sammeln und ausprobie-
K.-L.: Hast Du in Deiner Schulzeit schlechte       ren können, wie es ist, im Rollstuhl
   Erfahrungen damit gemacht, dass Du an           oder mit Einschränkungen zu leben – oft
   den Rollstuhl gebunden bist?                    auf unterschiedlichen Höhen und Blick-
M. B.: Ich will keine meiner bisherigen Schu-      winkeln miteinander zu kommunizieren.
len schlecht reden, aber hier am Berufskolleg      Hier könnten nicht nur Schüler*innen z.B.
Halle (BKH) ticken alle anders, im positiven       an einem unserer Gesundheitstage zum
Sinne. Das gilt sowohl für die Schüler*innen,      Nachdenken angeregt werden. Kannst          Maria berichtet von einem rücksichtsvollen Mit­
als auch für Lehrkräfte und Schulleitung. Das      Du Dir vorstellen, das Thema an unserer     einander in der Schule. Doch selbstverständlich
finde ich besonders schön. Hilfe und Unter-        Schule weiter voranzubringen!?              ist das nicht.                  Foto: pixabay - rewind

1 / 2021                                                                                                                                                3
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
M. B.: Ja, ich wünsche mir sehr, dass das         Kontakt zu anderen oftmals fehlte. Das finde    M. B.: Ja, das stimmt. Es gibt aber Situationen,
    Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt.                ich ziemlich schade.                            in denen ich mich nicht immer integriert fühle.
                                                                                                      Und andere denken, dass es schwierig sein
    K.-L.: Es ist an der Zeit, nicht nur darüber zu   K.-L.: Das kann ich gut verstehen. Welche       könnte, etwas mit mir im Rollstuhl zu unter-
       reden oder zu schreiben, sondern auch            Erfahrungen hast Du an unserer Schule in      nehmen … Für ganz persönliche Gespräche
       praktische Erfahrungen und Anregungen            Deiner Klassengemeinschaft gemacht?           habe ich zwei sehr gute Freundinnen.
      auszuprobieren, zu sammeln und weiter-          M. B.: Anfangs spürte ich Unsicherheit, aber
      zugeben. Wo wünschst Du Dir ganz kon-           es war von vornherein anders als an den vor-    K.-L.: Ich habe noch eine letzte Frage: Für wel-
       krete Unterstützung im Alltag?                 herigen Schulen. Alle haben gut reagiert und      ches Ziel brennst Du momentan besonders?
    M. B.: Hilfe ist hier und da nötig, aber eben     immer nachgefragt, wo sie mir behilflich sein   M. B.: Ich möchte mein Abitur machen und
    nicht ständig. Oft besteht eine große Unsi-       können oder sogar müssen. Es gab keine          langfristig ganz ohne Rollstuhl leben kön-
    cherheit, wie man mit Menschen mit Ein-           unschönen Situationen.                          nen. Zunächst möchte ich aber selbstständig
    schränkungen umgeht.                                                                              Auto fahren, da ich gerade meinen Führer-
    Mein Tipp: Einfach nachfragen: „Soll ich          K.-L.: Ich habe auch den Eindruck, dass Du in   schein gemacht habe.
    helfen?“ Oder wenn ich mit meinem Roll-              Deiner Klasse sehr gut aufgehoben bist und
    stuhl vor einer unüberwindbaren Türschwelle,         Dich wohl fühlst.                            K.-L.: Das sind sehr schöne Perspektiven. Ich
    Schwungtür, Treppenstufe oder einem hohen         M. B.: Ja, das klappt richtig gut. Als es um      bedanke mich sehr bei Dir für dieses Inter-
    Bordstein stehe, einfach mal die Tür offen-       unsere Klassenfahrt ging und eine Skifreizeit     view und wünsche Dir weiterhin ein gesun-
    halten oder den Rollstuhl vorsichtig (nach        als Möglichkeit angeboten wurde, hat meine        des Selbstbewusstsein, Fröhlichkeit und
    vorheriger Ansage) über die Hürde schieben …      Klasse ganz klar Stellung bezogen und gesagt,     eine gute Portion Zuversichtlichkeit.
    Ich versuche trotzdem, sehr selbstständig zu      dass sie wegen mir auf das Skifahren verzich-
    sein. Es gibt aber Momente, in denen es ohne      ten und lieber ein anderes Ziel mit anderen     Das Interview führte
    Hilfe nicht geht.                                 Unternehmungen bevorzugen, bei denen ich        		Christiane Karp-Lange­
                                                                                                                             jürgen,
                                                      alles mitmachen kann.                              Redaktionskreis ru intern, noch vor dem Lock­
    K.-L.: Gibt es Erlebnisse, die Dich traurig                                                          down im März 2020.
       gemacht oder enttäuscht haben?                 K.-L.: Das finde ich großartig. Wenn ich
    M.B.: Ja, z.B. wenn Operationen stattfanden         durch die Pausenhalle komme, nehme            (Im Interview wird ganz bewusst auf einen Krank­­heits­
                                                                                                      report seitens der Schülerin verzichtet!)
    oder ich aus gesundheitlichen Gründen nicht         ich wahr, dass Du immer mittendrin bist
    zur Schule gehen konnte. In solchen Situa-          und alle gern miteinander reden und sich
    tionen wurde deutlich, dass der gebrauchte          austauschen.

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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
Alles wie immer?                                                                                        dings war der Religionsunterricht aber auch
                                                                                                        eins der Fächer, in dem Inklusion am besten

Inklusiver Schulalltag
                                                                                                        funktionierte. Ich hatte einfach mehr Mög-
                                                                                                        lichkeiten frei zu arbeiten und mehr Zeit.“
                                                                                                        Doch trotz mancher Schwierigkeit gibt es vie-
Es ist 7.30 Uhr, die Schulglocke läutet, der       den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung.          les was gut gelungen ist. Für alle war die Zeit
Unterricht beginnt. Alles wie immer? Vor sechs     Meine Schüler*innen konnten ja nur einzelne          in der gemeinsamen Klasse eine gute Erfah-
Jahren nicht so ganz. Seit dem Schuljahr 2013/14   Worte lesen und nachschreiben. Und je älter          rung. Alle haben sich wohl gefühlt und vonei-
gibt es an der Realschule Grünstraße in Hattin-    die Schülerinnen und Schüler wurden, desto           nander gelernt: sozial, emotional und fachlich.
gen offiziell „Inklusion“ – also das gemeinsame    größer wurde der Spagat zwischen Anschau-            Auch die Klassenlehrerin und ihre Kolleg*in-
Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf.      lichkeit und Abstraktionsvermögen. Aller-            nen sprechen davon, dass sie immer wieder
Schon vorher hatten die Lehrerinnen und Leh-
rer der Realschule einzelne Erfahrungen mit
Jugendlichen gemacht, die besondere För-
derung brauchten. Aber bisher unterrichtete
man „zielgleich“, das heißt da­hingehend, dass
alle Schülerinnen und Schüler den Realschul-
abschluss erreichen sollten.
Vor sechs Jahren stand die Klassenlehrerin
der ersten Inklusionsklasse vor der Heraus-
forderung, Jugendliche mit unterschiedlichen
Fähigkeiten zu einer Klassengemeinschaft
zu formen und sie alle individuell so zu för-
dern, dass sie in ihrem eigenen Tempo ler-
nen konnten. Das Spektrum in der Klasse war
groß und so wurde gleichzeitig nach verschie-
denen Lehrplänen unterrichtet. „Mein Mate-
rial musste ich mir selbst zusammenbasteln“,
berichtete die Klassenlehrerin. „Insbeson-         Aller Anfang war schwer: Ideen und Material für einen inklusiven Unterricht musste man sich selbst
dere in Religion fand ich kaum Material für        zusammenschustern.                                                                 Foto: pixabay - maxmann

1 / 2021                                                                                                                                                        5
Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
Wenn also alle Beteiligten drei Wünsche frei
                                                                                                                hätten, dann würden sie wohl lauten:
                                                                                                                   mehr und vor allem ganze Stellen von
                                                                                                                   Son­d erpädagog*innen unterschiedli-
                                                                                                                   cher Förderschwerpunkte an der Schule
                                                                                                                   (ent­sprechend der Förderbedarfe der
                                                                                                                   Schü­ler*innen),
                                                                                                                   mehr Zeit, um gemeinsam zu planen und
                                                                                                                   zu unterrichten,
                                                                                                                   kleinere Klassen.

                                                                                                                Da die Fee aber gerade schulfrei hat, machen
                                                                                                                sich die Schulleitung und die Lehrkräfte der
                                                                                                                Realschule Grünstraße schon mal selbst auf
    Leider fehlt die Wunderlampe: drei Wünsche frei für eine bessere Inklusion           Foto: pixabay - 7854   den Weg und versuchen die Ressourcen, die
                                                                                                                vorhanden sind, möglichst gut einzusetzen.
    Beeindruckendes erlebt haben. So wurden               arbeitet ein Sonderpädagoge mit voller Stelle         Als Tipp für alle, die sich dieser Herausfor-
    sowohl bei den Schüler*innen Potenziale ent-          an der Schule. Natürlich ist damit der Förder-        derung stellen, geben die Lehrer*innen mit:
    deckt, die mancher vielleicht nicht für mög-          bedarf nicht abgedeckt und so werden von              Geduld, Gelassenheit, Freude und „viel Schlaf“,
    lich gehalten hätte, aber auch auf die Leh-           anderen Förderschulen weitere Lehrkräfte in           damit man im Unterricht, wach und aufmerk-
    rer*innen traf das zu: „Ich habe an mir selbst        die Schule abgeordnet. Insgesamt kommen               sam agieren kann.
    Fähigkeiten wieder entdeckt, die lange im             dann 2,7 Stunden pro Kind an sonderpäda-
    Verborgenen lagen.“ Doch der Weg der Hal-             gogischer Förderung zusammen. Das ist nicht           Sabine Grünschläger-Brenneke
    tungsänderung ist noch lang. Daran will die           einmal ein Zehntel des Unterrichts. Leider ist           Dozentin und Pfarrerin am Pädagogischen
    Schulgemeinschaft weiter arbeiten: „Was               damit das Unterrichten im Team kaum mög-                 Institut, Villigst
    können wir tun, um die Schüler*innen best-            lich und so ist es um so wichtiger, sich gegen-
    möglich zu fördern?“                                  seitig gut abzusprechen und zu beraten. Doch          Vielen Dank an die Schulleitung, die Religionslehrkräfte
    Insgesamt gibt es ab dem Schuljahr 2019/              dazu fehlt oft die Zeit, obwohl die Schullei-         und den Sonderpädagogen der Realschule Grünstraße,
    2020 nunmehr 25 Schüler*innen mit son-                tung versucht, im Stundenplan Freiräume               Hattingen, für die Bereitschaft, mir Einblick in ihre
    derpädagogischen Förderbedarf. Mittlerweile           einzubauen und Fortbildungen ermöglicht.              Arbeit zu geben.

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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
Ansätze zu einer Systematischen Theologie der Inklusion oder ...

Provokationen zu einer
bescheideneren Inklusion
Eröffnung                                       die Dialektik von Moralisie-
                                                rung („Gutgewissenpolitik“)
Es geht mir im Folgenden um einen theologi-     hingewiesen.
schen Beitrag zur weiteren Vervollständigung    Ich setze hier noch einmal
gesellschaftlicher Koexistenz von Menschen,     theologisch an und themati-
also von Lebewesen mit mehr oder weniger        siere einige weitere Fallstricke
sowie verschiedener Behinderungen.              und Denkfehler.
Meine verehrte Kollegin Theresa Dege-           Uwe Becker sagte, es genüge
ner war als Juristin maßgeblich an der Aus-     nicht, „einen leichten zivil-
arbeitung der UN-Konvention über Rechte         gesellschaftlichen Duft von          Plakatausschnitt einer Inklusions-Kampagne der Aktion Mensch
von Menschen mit Behinderungen beteiligt        Inklusion auf alle politischen                                                       Foto: Aktion Mensch

und wurde dafür 2005 mit dem Bundesver-         Handlungsfelder zu wedeln“.
dienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 2012        Seine Position könnte man entsprechend kurz         tierende Mädchen auf einem Werbeplakat für
wurde die UN-Behindertenkonvention auch        zusammenfassen mit „Inklusion ist dufte,             die „Aktion Mensch“. Als ob Sympathie und
als NRW-Aktionsplan umgesetzt.                  kostet aber viel Geld“. Ich geselle mich zu ihm     Abneigung eine Frage der Erlaubnis wären.
Mein avisierter diakoniewissenschaftlicher      und sage: „Inklusion ist dufte, vernebelt aber      Nicht erst die möglichen Antworten, schon
Kollege Uwe Becker hat in Vorträgen und         leicht das Grenzbewusstsein“.                       die Frage ist falsch, führt die Menschen in
Aufsätzen nachgefragt, ob „Inklusion“ nun                                                           Sackgassen und verrät den moralischen Hori-
eigentlich hinderlich oder förderlich war      1. Darf man Jungs doof finden?                       zont, in dem man hier unterwegs ist.
und ist. Er sprach von „Inklusionslüge“ und                                                         Ist denn etwa mit „Inklusion“ das neue mora-
hat auf Mängel im politischen Gestaltungs-     „Darf man Jungs doof finden, auch wenn sie           lische Himmelreich auf Erden als Topmo-
und Umsetzungswillen sowie bereits auf          im Rollstuhl sitzen?“ fragen sich zwei puber-       del einer Sozietät von betörender künstli-

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cher Schönheit angebrochen? Sollen denn          werden können durch das Gleichmaß einer           licher Ausdruck. Das Gute an der Verwen-
    die elementaren gruppendynamischen Pro-          gesetzlich geregelten Mindestnähe? Kein           dung des Begriffes „Integration“ war, dass
    zesse des Hereinholens und Ausgrenzens, des      Wunder, dass im Land der egalisierten Bunt-       klar war, dass da immer etwas zu tun bleibt.
    Aufnehmens und Abstoßens, die das Soziale
    humaner Kulturen ausmachen und Bildung
    und Erziehung ja gerade erst nötig machen,
    ersetzt sein durch eine geschmeidige Gleich-
    verteilung? Schluss mit dem nervigen Sozial-
    leben? „Bio“ wäre das nicht.
    Zur sinnfälligen Veranschaulichung von Inklu-
    sion hat sich die Abbildung dreier Kreise ein-
    gebürgert: „Exklusion“ zeigt innen viele graue
    Punkte und außen ein paar bunte, „Integra-
    tion“ zeigt innen eine deutliche Mehrheit
    grauer Punkte, in einem Bereich knubbeln
    sich ein paar bunte und außen ist niemand,
    und „Inklusion“ zeigt ebenfalls außen nie-       karierten die „Normalos“ immer kribbeliger                                 Grafik: Aktion Mensch
    mand und innen ist eine gleichmäßig durch-       werden. Das normale individuelle Behinderte
    mischte bunte Punktegruppe. Was ist da           – sozusagen der 3,3-Durchschnitt – meldet          Integration ist in diesem Leben in dieser
    eigentlich mit den vielen grauen Punkten         sich mit seinem ungestillten Hunger nach           Welt als Prozess eine Dauerbaustelle. „Inte-
    passiert? Sind sie einfach eliminiert worden?    Aufmerksamkeit und sucht den Streit und            gration“ führt als unsichtbares Indexstern-
    Sind sie übertüncht worden?                      die Reibungsflächen, die für die Bildung einer     chen mit sich, dass es um Beziehungsarbeit,
    Hier zeigt sich ein Nachteil der einschlägigen   menschlichen Persönlichkeit unabdingbar            um Beziehungsprozesse geht. Hat Inklu-
    Mengenbilder: sie sind statisch, das Leben       sind, jenseits moralpädagogisch durchkon-          sion nicht immer schon zu kurzen Prozess
    jedoch ist organisch sozialdynamisch. Von        struierter und politisch korrekter Spielplätze.    gemacht? Alle sind eingeschlossen. Türe zu,
    wegen „freilaufende Hühner“ – gehen Sie          Könnte also die flächendeckende Etablierung        Riegel vor – Schluss, aus, fertig. Man ist es
    doch mal wieder für eine große Pause zur         des Inklusionsbegriffs ein Pyrrhussieg sein,       leid mit dem Leid.
    Beobachtung auf einen beliebigen Schul-          ein zu teuer erkaufter Erfolg? Eine irgend-       „Integration“ ist Wort für eine Anstrengung,
    hof: Dies Wechselspiel der Macht, der Tanz       wie abgeschlossene Integration ist schwer          für Übung und Prozess, „Inklusion“ ist selbst-
    von Annähern und Distanzieren soll beendet       zu denken und „Integriertheit“ ein unüb-           erfüllende Prophezeiung. Beides ist möglich

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unter der Frage, wie wir noch besser werden       Aber Moral allein lässt das Leben nicht gelin-      Geschichten zeigt: Für Glauben und Gott gilt
können. Gefährlich wäre es, wenn selbster-        gen. Die christliche Religion vertritt entschie-    im Kontext der christlichen Religion nicht nur
füllende Prophezeiung anstrengende Übun-          den die Auffassung, dass Ordnung allein dem         das Wortfeld: Trost, Halt, Geborgenheit, Hei-
gen abgelöst haben sollten. Hans Wocken           Leben nicht gerecht wird. Das bemerkt man           mat, Grund, Beruhigung, sondern mindestens
sprach von Inklusion als „die ultimative Inte-    allerdings erst, wenn man versucht, Ordnung         ebenso: Fremdsein, Heimatlosigkeit, Suche,
gration“. Die „Projektion einer solchen utopi-    zu halten. Leistungen wie Moral, Gesetz und         Verunsicherung, Aufbruch, Unruhe, Geduld,
schen Größe mit magnetischer Anziehungs-          Werte machen ordentlich, aber nicht leben-          Passion. Außerdem muten die biblischen
kraft“ (Uwe Becker) kann kontraproduktiv          dig. Ordnung ist das halbe Leben. Dies führt        Lebensgeschichten vielerlei paradoxe Logi-
sein, weil sie entmutigt und unsere behinder-     zu einer großen Gelassenheit.                       ken zu: die Stärke der Schwäche (schwacher
ten Versuche, Behinderungen zu akzeptieren,       Während sich hier bei einem nichtkirchlichen       Trost tröstet besser!), die kosmische Schön-
diskreditiert und schlecht macht.                 Publikum oft schon ein Raunen bemerkbar             heit des menschlichen Antlizes als Spiegelbild
                                                  macht, wird dies von einem kirchlichen Pub-         des unbekannten, vielfach schwerstbehin-
2. „Die große Störung“ (Karl Barth)               likum meist abgenickt. Evangelium, ja klar, –       derten Gottes (statt die kosmetische Falten-
                                                  aber war da was?                                    und Makellosigkeit der schönen großartigen
Im Kontext von Moral galten und gelten            In der christlichen Religion bezeichnet Gott        Nirvana-Nivea-Götter), Verwechselbarkeit
Behinderung als Strafe und Prüfung Gottes.        nicht die Instanz moralischer Instruktion,          und Anfechtung als Echtheitssiegel, gute
Da lobe ich mir Hiob, der tapfer auf dem Motto    sondern Gott ist die kürzeste Form für die          Identität durch Sich-verlieren-und-an-den-
beharrte: Wenn das die Lösung ist – kann ich      Erzählung meines Lebensbezugspunktes. Es            Nächsten-vergessen, Mehrgewinn durch Tei-
dann bitte mein Problem wieder haben?             geht darum, wem ich meine Hoffnung, meine           len u.v.m.
Zur Erinnerung: Evangelium ist die revoluti-      Ängste, mein Geschick, mein Leben, den Tag          Die wichtigste paradoxe Theo-Logik der
onärste Umwertung aller Werte aller Zeiten.       und den Moment widme. Gott ist nicht der            christlichen Religion ist aber der Glaube des
Mit dem christlichen Evangelium verlässt          mütterliche Schürzenrock, in den ich mich          Zweifels: Zweifelnder Glaube ist stärker und
Religion die Galaxie der Moral. Ich setze alles   beim Fremdeln verkrieche, sondern wie Mut-         „getrostes Verzweifeln an sich und seinen
darauf, dass ich, so wie ich bin, Ansehen vor     ter und Vater, die mich in Ruhe lassen und in       Werken“ (Martin Luther1) ist selbstbewuss-
Gott genieße. Ich kann mein Ändern leben.         deren Nähe ich lerne, dass der andere (und          ter als jedes Gottgeprotze. Kurz: Die christ-
Sicher, das weiß jedes Kind: Die Einhaltung       das Andere, Fremde, Irritierende) mich nicht        liche Frömmigkeit selbst ist auch behindert!
von Regeln und das Erbringen von Leistung         auffrisst. Dementsprechend meint Glauben            Na und? Lobt den Herrn! – Das nennt man
sind wichtig und gut. Ohne Recht und Ord-         nicht das Wunschkonzert unserer Bedürf-            „Gospel“. Das Christentum ist die behinderte
nung ginge alles noch mehr drunter und            nisse und Gott nicht das Klavier, auf dem die-      Religion unter den Religionen. Und das ist
drüber. Wir alle wollen ja auch etwas leisten!    ses gespielt wird. Ein Blick in die biblischen      auch gut so.

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In gut gemeinter Interreligiosität wird heute     bisschen Bluna und behindert?“, was eine          „Sund“ heißt: Das ganze Leben ist nicht nor-
     alles Religiöse nur über den moralischen Leis-   zynische Bemerkung wäre. Das ist aber hier          mal. Das ganze Leben ist deviant. Zum Bei-
     ten geschlagen. Damit es nicht überhört wird,     nicht gesagt. Ja, es gibt gewaltige Unter-         spiel sind Mann und Frau in der Tat verschie-
     darf man es darum ruhig laut sagen: Das           schiede: zwischen Milliardär und völlig ver-       den, – verschieden gestört nämlich. Sie
     Christentum zeichnet sich nicht durch Recht-      armt, zwischen Intelligenzbestie und schwer        haben spezifisch verschieden Teil an der glei-
     oder Strenggläubigkeit aus, sondern durch         von Kapee, zwischen Hochleistungssport-            chen Grundstörung, sind verschieden behin-
     vielfache Behinderungen und die Annahme           ler und motorischer Katastrophe, und „ein          dert und gut beraten, sich zusammenzutun
     von Schwachgläubigkeit und Schwachsinnig-         hübsches Kind ist anders als ein hässliches        und sich miteinander als Verschiedene zu
     keit. Ich wünschte, es würde in diesem Zusam-    zu erziehen“ wagte Janusz Korczak pädago-           solidarisieren, mitzunehmen, zu schützen
     menhang auf den Predigtkanzeln und Kon-           gisch zu bedenken. Aber vor Gott und im Ver­       und zu unterstützen.
     fi-Camps mehr gelehrt, was „Erbsünde“ heißt.      gleich mit dem neuen Reich der Himmel – so die     Ich bin eben nicht wie du. „Menschen sind
     Das fänden die Menschen richtig spannend.         jetzt hier vertretene These – sind wir alle und    unterschiedlich. Und wenn man sie zwingt,
     Der moralische Sündenbegriff mit seinen           ist alles elementar behindert.                     gleich zu sein, bleibt ihnen nur noch eine
     Tatsünden (also Lügen, Stehlen, Geschwin-         Sören Kierkegaard sprach von einem „Grund-         Möglichkeit, anders zu sein als die anderen,
     digkeits- und Kalorienüberschreitung u.Ä.)        schaden“, der Theologe Karl Barth von einer        nämlich die anderen zu überwältigen … Wenn
     ist der christlichen Theologie viel zu läp-      „großen Störung“ („Die große Störung ist            man die Menschen dagegen unterschiedlich
     pisch. Wofür haben wir schließlich die Poli-      nicht mehr gut zu machen, sie betrifft die         sein lässt, ja ihre heterogene Individualität
     zei und den wachsamen Nachbarn? Martin            Heiligen und die Schweine“) und Adorno vom         sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer
     Luther betonte, dass die eigentliche Sünde       „beschädigten Leben“. So dass als christli-         Interaktivität. Gleichheit erzeugt Konflikt,
     die Erbsünde ist. Dieser mit heutigem gene-       che Grundkoordinate für alles menschliche          Ungleichheit ermöglicht Kooperation.“3
     tischen Wissen sehr missverständliche Begriff     Wollen, Tun und Vollbringen in dieser Welt         Im Blick auf besonders und außergewöhnlich
     sollte zum Ausdruck bringen, dass Sünde eine      die ernüchternde These gilt: Das Leben ist         behinderte Menschen treffen die Problem-
     das menschliche Sein bestimmende Macht            behindert. Der Theologe Paul Tillich nannte        kreise Kontingenz und Koexistenz zusam-
     ist. So erzählt die Urgeschichte mit dem Fall     das den „transmoralischen Sündenbegriff“ –         men. In Jesus Christus verlieren Gott, Diversi-
     Sünde nicht, dass Adam und Eva unanständig        ein wesentlicher und entscheidender theo-          tät und Disharmonie ihren Schrecken – nicht
     waren, sondern dass die ganze Kreatur bei         logischer Parameter im Kontext christlicher        ganz, aber wesentlich. Nicht Sozialroman-
     aller Begabung eigentümlich behindert ist.       Traditionen2 im Gegensatz z.B. zum Islam            tik, sondern Schluss mit den Lebenslügen ist
     Bitte an dieser Stelle nicht reflexartig ab­      oder zum theologisch unaufgeklärten Huma-          der Grund, warum die biblischen Traditionen
     schalten! Der letzte Satz klingt zwar so ähn-     nismus, die wohl moralische menschliche            voll sind mit den üblichen Verdächtigen: Hin-
     lich wie „Sind wir nicht alle irgendwie ein       Schwächen kennen, aber keinen Sund.                kende, Lahme, Schwache, Arme, Ängstliche,

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Verblendete, Betrogene, Enttäuschte, Irrende,      ren, dass es mit mir durchgeht, dass ich oft      Schildchen angebracht. Darauf steht: „Du bist
 Fremde, Orientierungslose, Abhängige, Ver-        keine Wahl habe, dass das Gedächtnis immer        unbegrenzt.“4 Und schon bin ich in Gefahr,
 lassene geben das Bild ab für das Verdrängte      schon ausgewählt hat und man stets nach-          den Tag mit einer Lüge zu beginnen ...
 und Ausgegrenzte, das Ungewohnte und
 Ungewöhnliche, dem wir uns doch nicht ent-
ziehen können, weil es in uns selbst existiert.
 Gerne würden wir etwas ändern wollen: uns
 (nicht mehr so schüchtern sein!), unseren
 Partner (angebrochenen Käse richtig ver-
 packen!), die Welt (verbessern!), die Schü-
 ler (bilden!), die Patienten (gesund machen!),
 die Kirche (Mentalitätswandel!). Doch unsere
 Lebensskripte sind wie ein Bumerang: umso
 heftiger wir sie wegwerfen, desto genauer
 fallen sie wieder auf uns zurück. Es ist zum
Aus-der-Haut-Fahren, aber keiner kann aus
 seiner Haut. So manches würden wir uns
 gerne aus dem Kopf schlagen. Statt „Das
 wächst sich aus“ – noch mehr Auswüchse!
 Kein Tapetenwechsel ändert unsere Lebens-
 muster. Wir haben einen Hang, eine Neigung:
„Das hat er / hat sie so an sich.“ Was bleibt an                                                                             Foto: pixabay - congerdesign

 uns kleben?
                                                   träglich anfängt, sich etwas zurechtzule-         Verholzte Gedanken, versteinerte Herzen,
Befremdend ist zum Beispiel, merken zu             gen, dass jahrzehntealte Geschichten noch         verknöchertes Wesen: Nein, wir wollen nicht
müssen, dass mir im Leben mitgespielt wird,        immer starke Resonanz in mir finden. Dass         behindert sein. Und doch sind wir alle voll
dass ich betroffen bin, wenn mein Nächs-           ich manchmal morgens schlecht gelaunt             behindert, die bösen Kinder haben ja mehr
ter (Nachbar, Partner, Kollege, Mitmensch)         bin. Vielleicht hilft ein Tee? Ich entnehme der   Recht!, als sie denken. Oft sind wir uns selbst
irgendetwas macht, mich dann im Bann mei-          Packung aus dem Bio-Markt einen Beutel.           ein Rätsel. Wir würden gerne dahinterkom-
ner eigenen Gefühle zu erleben, zu erfah-          Riecht sehr gut. Am Aufhängefaden ist ein         men, was uns dazu bringt, dies und jenes

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immer wieder (nicht) zu tun. „Was hast du dir     Wie lautet nun eingedenk dieser elementaren      Sie können Ansehen, Anerkennung, Respekt
     eigentlich dabei gedacht?“ „Sag mal, was ist      theo-logischen Behinderungsphänomene die         auch geben. Das muss nicht unbedingt ein
     eigentlich in dich gefahren?“ Wir zerbrechen      Option im Kontext christlicher Traditionen?      zärtlich-liebevoller, bewundernder Blick sein.
     uns den Kopf, aber nicht unsere Muster. Lau-      Nach dem Motto „Du hast keine Chance, also       Das kann auch ein kritischer Gruß sein, eine
     fend passieren Dinge, die keiner gewollt hat!     nutze sie“ setzen die christlichen Traditio-     Auseinandersetzung.
     Ich kann nicht machen, was ich will. Ich kann     nen zwischen Allmachts- und Ohnmachts-           Ich muss mich nicht länger ständig verglei-
     auch nicht nicht machen, was ich nicht will       fantasien darauf, es gut sein zu lassen. Diese   chen und auch nicht immer alle und alles
     (vgl. Römer 7,15–19). Wir sind verhaftet und      Lebenseinstellung kann man sich weder            gleich machen (und sei es gleich schlecht:
     gefangen: „Ich elender Mensch! Wer wird           basteln noch kaufen, sondern sie fällt je und    nivellieren), sondern kann mir und ande-
     mich erlösen?“ (Römer 7,24). Voll behindert!      je bedingungslos von woanders zu. Diesen         ren differenziert und individuell etwas gön-

      Oder nehmen wir die Jünger mit ihrer Frage       Zu-Fall bezeichnet man in der Theologie mit      nen und zumuten. Weil mir Würde, Anerken-
      nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang:               den Fachbegriffen „Gnade“ und „Rechtferti-       nung und Respekt grundsätzlich sicher sind
     „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine    gung“. Was bedeutet dies nun konkret für die     und mein Seelenfrieden nicht länger von
      Eltern, dass er ist blind geboren?“ (Johannes    Frage nach der Inklusion?                        meiner Lebensleistungsfähigkeit abhängt,
     9,2). Glauben die doch im Ernst, am Schick-       Wenn ich bedingungsloses Ansehen vor Gott        darum habe ich fortan auch wieder Ener-
      sal der Leute einen Pegel der Rechtschaffen-     genieße, bin ich alle Bedingungen für meine      gie frei, meine Möglichkeiten abzuchecken
      heit ablesen zu können. Voll behindert! Oder     Würde und mein Selbstbewusstsein los. Glei-      und im Rahmen meiner Möglichkeiten das
      der reiche Kornbauer (Lukas 12,13–21), der       ches gilt natürlich auch für die Anerkennung     Maximum herauszuholen: ein anständige-
      noch eine und noch eine und noch eine Vor-       der anderen. Und wenn meine Seligkeit nicht      rer Mensch zu sein, ein fleißigerer Student
      ratsscheune baut und sich so von Mal zu Mal      mehr an meine Zeugnisse, an mein Geldver-        zu sein, ein rücksichtsvollerer Rollifahrer usw.
      stärker und sicherer fühlt und plötzlich – tot   mögen, Aussehen, Status und Image gebun-         Leben heißt, sich ständig mit Unvollkom-
      im Bett liegt. Voll behindert, oder? Oder der    den ist, brauche ich mir und anderen auch        menheiten auseinanderzusetzen. Es eröff-
      Reiche Jüngling (Markus 9,17–27), der meint,     nicht länger etwas vorzumachen. Menschen,        net sich die Chance, die eigenen Grenzen zu
      Können, Leistung, Fleiß und Anstand garan-       die derartig unbedingtes Ansehen genießen,       erkennen, Wirklichkeitssinn zu bekommen
      tierten ein gelingendes Leben: Wie kann man      sehen sich selbst und den anderen anders         und zu selbstbewusster Bescheidenheit zu
      nur so dumm sein?                                an. Man spürt es, dass sie Ansehen genießen.     finden:

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„Leben heißt verwundbar sein. Wer also zeit-    schön, alle sind (irgendwo) begabt, alle sind     3. Schone die Differenzen!7
 lebens verwundbar zu bleiben hat, kann         (irgendwo) Sieger, alle sind (irgendwo) gleich.
 nicht im alltäglichen Sinne sicher zu sein     Aber das Himmelreich ist nicht „irgendwo“!        Der Theologe Ulrich Bach, der mit einund-
 oder glücklich zu werden erwarten. Falls er    Sind in der christlichen Religion im Him-         zwanzig Jahren während seines Theologie-
 nicht seine Wunden selber sein Glück zu nen-   mel wie auf Erden alle Ungleichen gleich          studiums an Kinderlähmung erkrankte und
 nen willens ist, muss er zwischen lebendiger   vor Gott, so müssen in Moralreligionen auf        auf einen Rollstuhl angewiesen ist, fragte und
 Gebrechlichkeit und Konservenbüchsenglück      Erden zwar alle ausgesprochen gleich sein,        sagte: „Reden wir autobiografisch, wenn wir
 wählen.“5                                      sind es aber unausgesprochen in Gedanken          von Behinderten reden? ... Bin ich der ‚Nor-
 Die Stellungnahme der Evangelischen Kir-       doch sicher bitte nicht vor Gott und später       male‘ und der andere ist ‚auch‘ ein Mensch ...
 che im Rheinland „Auf dem Weg zu einem         im Himmel. Wer will schon mit Verbrechern,        oder leben wir gemeinsam in unserer verwor-

 inklusiven Bildungsverständnis“ spricht von    Lügnern, Kleingläubigen, Schwachen, Chole-        renen Welt, in der wir uns miteinander durch-
„Realitäten innerhalb eines ‚Patientenkollek-   rikern, Aussätzigen, Neidern, Hassern, Verrä-     schlagen sollen? ...
 tivs‘, dem alle Menschen angehören“. Wenn      tern, Huren, Besatzern und Mördern an einem       Unser heutiges ‚Trainingsprogramm‘ müsste
 man so will, ist der uns nachparadiesisch      Tisch sitzen, geschweige denn den Paradies-       nach alledem wohl so aussehen: Nicht nur
 bzw. nachsintflutig zugewiesene Lebens-        garten teilen?                                    unsere ‚Klienten‘, die wir dazu seit jeher anlei-
 raum eine Sonderwelt für Behinderte. Nach      Peter Sloterdijk hat dagegen im Sinne der         ten, müssen lernen, mutig die folgenden
 christlicher Weltanschauung sind wie gesagt    christlichen Religion an den Stolz und die        Sätze zu sagen, sondern auch die Mitarbeiter
 alle Menschen, ja ist die ganze Kreatur ele-   Würde des Devianten und das prophetische          und Leiter in Diakonie und Caritas, ebenso
 mentar behindert, und es geht in Evange-       Potenzial besonders und außergewöhnlich           die Bischöfe und Professoren, desgleichen
 lium und Heilsgeschichte um die Emanzipa-      behinderter Menschen erinnert: „Indem sie es      alle politisch Verantwortlichen: Ich kann das
 tion der behinderten Schöpfung. Die heute      schaffen, die Paradoxien ihrer Daseinsweise       nicht, und: Ich weiß das nicht. Und das heißt
 proklamierte Inklusion klingt dagegen oft      zu entfalten, können Behinderte zu überzeu-       dann: Ich kenne keine glatte Lösung; ich weiß
 nach hypersozialistischer Vereinnahmung.       genden Dozenten der conditio humana wer-          keinen Weg, auf dem wir nicht schuldig wür-
 Unser Fremdeln in der Welt, wo wir die Ver-    den – übende Wesen einer besonderen Kate-         den. Damit ist aber gesagt: Ein ehrliches sozi-
 antwortung scheuen wie die Pest (Adam und      gorie mit einer Botschaft für übende Wesen        ales Tun wird sich begreifen müssen als ein
 Eva!), wird überspielt: Alle sind (irgendwo)   im Allgemeinen.“6                                 behindertes soziales Tun, als ein Tun, in dem

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keiner der große Könner ist, in dem vielmehr       nicht zu mehr Gleichheit führt, sondern zu       Jeder prüfe also sich selbst, inwiefern mit
     jeder seine eigene Schwäche und sein Ver-          mehr Ungleichheit. Alle sind gleich anders?      „Inklusion“ moralische Perfektionsfantasien
     sagen sieht, in dem jeder auf das Mittragen        Nein: Alle sind anders anders. Es ist normal,     verbunden sind statt gewagte Glaubenspra-
     anderer angewiesen bleibt.“8                       anders zu sein? Nein: Es ist anders, normal zu    xis. Letztere „umfasst nicht nur die Träume
     Das Leben ist wie Straßenverkehr: Mit Behin-       sein: „Jeder verwirklicht seinen Unterschied      nervenschwacher Personen, sondern auch
     derungen muss gerechnet werden. Es wird           ... Jeder ist sein Unterschied.“ Im Gegensatz      die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“10
     immer doofe Jungs und Mädchen geben – das          dazu steht der Versuch, „Gleichheit durch den    Soeben hieß es bereits: „Weil mir Würde,
     hat mit Rollstuhl nichts zu tun, sondern mit      Zugang aller zur Gleichförmigkeit zu errei-       Anerkennung und Respekt grundsätzlich
     dieser Welt. Aber niemand ist dazu verdammt,       chen ... Zwischen den Unterschieden waltet        sicher sind und mein Seelenfrieden nicht
     ewig doof zu bleiben – und das hat mit Evan-       dagegen Dialog und nicht Reduzierung auf          länger von meiner Lebensleistungsfähigkeit
     gelium zu tun.                                     Einheitlichkeit.“9                                abhängt, darum habe ich fortan auch wieder
     Die ganze Geschichte mit dem beschädig-            Die politische Forderung nach garantier-          Energie frei, meine Möglichkeiten abzuche-
     ten Leben löst sich nicht durch Umetiket-          ter Teilhabe führt nur dann nicht garantiert      cken und im Rahmen meiner Möglichkeiten
     tieren oder Beweihräuchern, sondern durch         zu Teilnahmslosigkeit, wenn die Frage nach         das Maximum herauszuholen: ein anständi-
     Überwindung lohnmoralischen Denkens. Das           dem beschädigten Leben geklärt ist. Hier          gerer Mensch zu sein, ein fleißigerer Student
     Plakat von Aktion Mensch zeigt: Solange man        hat die Kirche einen gesellschaftlichen Bil-     zu sein, ein rücksichtsvollerer Rollifahrer usw.“
     noch im moralischen Muster unterwegs ist           dungsauftrag. Bei „Inklusion“ zeigt sich der      Das ist auch auf politisches und juristisches
     und „darf man?“ fragt, ist nichts gewonnen.        Fluch von Moral besonders deutlich, besser        Engagement zu beziehen, womit ich mich
     Es geht um ein neues Muster, einen neuen           und vernünftiger denken und wissen und            abschließend mit gebotenem Respekt noch
     Rahmen, wie es in unübertroffener Lakonie          wollen zu können, als tatsächlich zu voll-        einmal an die Fachadressen meiner verehrten
     in 1. Korinther 13 zum Ausdruck kommt: Wenn        bringen. Der blinde Fleck von Inklusion ist       Kollegin Theresa Degener und des verehrten
     du alles hast und alles bringst im Register der    ihre moralische Motivation. Auch Inklusion        Kollegen Uwe Becker wende. Es ist erstaunlich
     Lohnmoral und nicht im Register der Liebe          bleibt vorläufig Sünde! Inklusion als mora-       und anerkennenswürdig, was diese im juristi-
     (Agape), dann kannst du es vergessen.              lisches Gebot ist Stress. Inklusion als Kür-      schen und politischen Bereich durch Klugheit,
     Im moralischen Leistungsregister ist Un­gleich-   zel für die Morgenröte des angebrochenen           Diplomatie und Beharrlichkeit bisher erreicht
     heit gleich Ungerechtigkeit. Weil Moral allein    „neuen Reiches der Himmel“ ist allerdings          haben. Es wäre meines Erachtens jedoch kon-
     dem Leben nicht gerecht wird, verstrickt           eine Option. In Offenbarung 21 wie in des-        traproduktiv, wenn der Eindruck entstünde,
     sie sich in Widersprüche. Es muss klar sein,       sen alttestamentlichen Leittext Jesaja 65         hier würde die Gerechtigkeit Gottes realisiert.
     dass die optimale, differenzierte Förderung        geht es um nicht weniger als einen neuen          Die irdische Gerechtigkeit und die Gerech-
     eines jeden Individuums („gleiche Chancen“)        Himmel und eine neue Erde.                        tigkeit Gottes werden jedenfalls in der Bibel

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Behinderungen im Leben - jede und jeder Einzelne muss lernen, sich damit auseinanderzusetzen.                                      Foto: pixabay - pexels

 unterschiedlich bezeichnet. Eine Überhöhung         gen schon jetzt ein wenig wie ein überhitz-    im sozialen Gefüge alles richtig machen. Und
 irdischer Gerechtigkeitsbemühungen würde            ter Motor.                                     das führt zu einem schrecklichen Krampf,
 die nötigen vielen kleinen juristischen, poli-                                                     dem wir heute auf Schritt und Tritt begeg-
 tischen, strukturellen Schritte bald ins Stol-      Fazit:                                         nen ... Christen sind keine Engel; vielmehr
 pern bringen und ihnen die Puste ausgehen           Es wird darauf ankommen, sich mit Behin-       sind Christen die einzigen, die es sich leisten
 lassen. Jeglicher Rigorismus und Triumpha-          derungen anzufreunden, sich dazu zu ver-       können, keine Engel zu sein.“11
 lismus scheint mir hier eher lähmend.               stehen, sich und den Nächsten als behinder-
Theologisch aufgeklärte Politik, Jurisprudenz,       ter Mensch leiden zu können, Verantwortung     Wie weiland Rammstein sangen, diese
 Kirche und Diakonie lassen dagegen zu wün-          für sich und den Nächsten als Behinderter zu   Kunst­performance-Fremdpropheten au­ßer­
 schen übrig, was sie gerade so belastbar und        übernehmen:                                    halb der Kirchenmauern: „Engel haben
 ausdauernd macht. Dieser zentrale Index            „Wenn ich das Schuldig-Werden nicht bei mir     Angst und sind allein, Gott weiß, ich will kein
 scheint mir bei der alten Kategorie der „Inte-      selbst integriere, wenn ich für mich selbst    Engel sein ... Engel müssen sich an Sterne
 gration“ besser im Horizont gewesen zu sein.        dem Ideal des Engels nachjage, werde ich       krallen (ganz fest), damit sie nicht vom
„Inklusion“ riecht meines Erachtens dage-            großen Wert darauf legen müssen, dass wir      Himmel fallen ...“

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Fazit:                                             Endnoten:                                                        5 Eugen Rosenstock-Huessy, Des Christen Zukunft,
     „Integration“? „Inklusion“? Es bringt nichts,       1   Luther schreibt am 8. April 1516 in einem seel-                 Moers 1985, S. 166.
      sich über Begriffe zu streiten. Es ist ein             sorgerlichen Brief an seinen Klosterbruder, den              6 Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Frankfurt
      Segen, dass sich auch politisch und juristisch         Augustinereremiten August Spenlein: „Denn heut-                 2009, S. 69, 78.
      begabte Menschen im Sinne des Lebens                   zutage brennt die Versuchung der Vermessenheit in            7 Norbert Bolz fordert als „kategorischen Imperativ“ das
      für das Leben einsetzen. Es ist etwas im               vielen Menschen und in denen besonders, die mit allen           Motto „Schone die Differenzen! ... Die Schonung der
      Schwange. Nichts, was ist, wird so bleiben.            Kräften gerecht und gut sein wollen. Sie ... trachten in        Differenzen wäre Ausdruck einer Kultiviertheit, die
      Was ist, kann noch werden. Schließlich ist             sich selber so lange gut zu tun, bis sie die Zuversicht         nicht nur auf entschiedene Distanz zu den düsteren
      noch nicht erschienen, was wir sein werden“            haben, vor Gott bestehen zu können, gleichsam                  ‚rechten‘ Visionen eines clash of civilisations geht, son-
      (1. Johannes 3,2).                                     bekränzt mit ihren Tugenden und Verdiensten, was                dern auch das ‚linke‘ Angebot des Multikulturalismus
     Aber Inklusion darf sich nicht wie Gleich-              doch unmöglich sein kann. Du lebtest hier bei uns               als Intellektuellenillusion durchschaut, in der der
      schaltung anfühlen. Inklusion als Gleich-              auch in dieser Meinung, vielmehr, diesem Irrtum; und            Geist des Tourismus die Welt in einen Basar des
      macherei ist Lebenslüge. Die einzige Inklu-            auch ich bin darin gewesen, ja, noch jetzt kämpfe ich           Exotischen verwandeln möchte“ (Norbert Bolz,
      sion, die lebensbelastbar ist und die trägt, ist       gegen diesen Wahn und habe noch nicht ausgekämpft               Weltkommunikation, München 2001, S. 55).
      Inklusion als Frucht vom Baum der Erkennt-             ... Sei auf der Hut, dass Du Dir gar nicht als Sünder vor-   8 Ulrich Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“. Gegen
      nis, dass Christus keine exklusive Veranstal-          kommen, ja gar keiner mehr sein willst. Christus aber           das Apartheitsdenken in Kirche und Gesellschaft,
      tung ist. Meines Erachtens muss deutlicher             wohnt nur in den Sündern ... Darum wirst Du nur in ihm          Gütersloh 1994, 59, S. 76.
      gepredigt werden und darf nicht missver-               durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken         9 José Comblin, Das Bild vom Menschen, Düsseldorf 1987,
      ständlich in Schwebe bleiben, dass das ange-           Frieden finden.“                                                S. 23.
      brochene neue Reich der Himmel nicht etwa          2 Vgl. dazu Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der              10 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg
      reinrassig ist wie bei den Deutschen Christen,         Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christ-            1981, S. 16.
      sondern voll ist mit Leuten, die froh sind, dass       lichen Glaubens, Tübingen 1998, S. 98–100.                   11 Ulrich Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“. Gegen
      sie nicht bekommen, was sie verdient haben.        3 Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, München              das Apartheitsdenken in Kirche und Gesellschaft,
      Nur so wäre Inklusion nicht die neue Exklu-            2009.                                                           Gütersloh 1994, S. 75.
      sivität. Inklusiv wäre vielleicht eher das neue    4 Weitere Teebeuteltexte lauten zum Beispiel: „Nur
      Ökumenisch?                                            du selbst kannst dich vervollkommnen“, „Deine                Prof. Dr. Bernd Beuscher
                                                             Selbstdisziplin ist dein einziger Freund“, „Lass nur gute        ist Dozent an der Ev. Fachhochschule Rheinland-
     Ich meine, in diesem Sinne führt der theo-              Gedanken in dir sein“, „Bewusstheit lässt uns niemals            Westfalen-Lippe in Bochum
     logische Bescheid zu einer bescheideneren,              schlecht sprechen“ usw. – Können vor Lachen, wenn
     cooleren, gelasseneren Inklusion.                       es nicht so traurig wäre.

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Religiöse Bildung in Förderschule und Inklusion
Bedingungen und Perspektiven1

Noch immer entscheiden in Deutschland die        Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie die-
soziale, ethnische und regionale Herkunft        ses Menschenrecht für alle Schüler*innen in
oder eine Behinderung maßgeblich über            der religiösen Bildung des konfessionellen
den Zugang zur Bildung und damit über die        Religionsunterrichts eingelöst werden kann.
Zukunftschancen. Menschen werden behin-          Er reflektiert zunächst, wie (1) zureichend die
dert, weil ihre Teilhabe an Bildung, insbe-      Bedingungen des Bildungsanspruchs an den
sondere an der gemeinsamen Bildung, ein-         Förderschulen und in der Inklusion sind, (2)
geschränkt wird.                                 bestimmt das Verhältnis von Religionspäda-
Weltweit bildet die Gruppe der Menschen          gogik und Sonderpädagogik, (3) analysiert die
mit Behinderungen mit 15,6 % der Welt-           Situation des Religionsunterrichts in Förder-
bevölkerung die größte, diskriminierte           schulen und Inklusion und (4) zeigt Perspek-
Minderheit.2                                     tiven der Weiterentwicklung auf.
Darum ist die Ratifizierung der UN-­Behinder­
tenrechtskonvention (UN­BRK) aktuell in 179      1. Bedingungen der Bildung:
Ländern für die gesellschaftlichen Verhält-      Förderschule und Inklusion
nisse und die Gleichberechtigung von Men-
schen mit Behinderungen in globaler Pers-        Seit dem Ausbau des Sonderschulsys-
pektive von revolutionärer Bedeutung. Die        tems in den 1960er­-Jahren erhalten junge
Umsetzung der menschenrechtlichen Forde-         Menschen mit Behinderungen in Deutsch-
rung nach voller und effektiver Partizipation    land eine gute, hoch spezialisierte Schul-
und Inklusion (UN­BRK, Art. 3) im Bildungs-      bildung. Ab Mitte der 1980er­-Jahre haben
system wird jedoch in vielen Ländern nicht       ausnahmslos alle Kinder und Jugendlichen
oder unzureichend realisiert (Art. 24).3 Diese   mit Behinderungen mit Rechten und Schul-          Schon 179 Länder haben die UN-Behinderten­
Defizitanzeige trifft auch auf die Bundesre-     pflichten Anteil an der schulischen Bildung,      rechtskovention unterzeichnet.
publik Deutschland zu.                           auch diejenigen mit komplexer Behinde-                                   Foto: pixabay - hammaadyousaf0

1 / 2021                                                                                                                                                   17
rung. Sie profitieren in Deutschland vom        Die spezifische Herausforderung, vor der das         zehn Jahren UN­BRK mit einer Verringerung
     weltweit am besten ausdifferenzierten und       Unterzeichnerland Deutschland steht, ist,            der Exklusionsquote um nur 0,6 % nicht
     hoch professionalisierten Fördersystem.         die weltweit hoch professionalisierte Bildung        deutlich vorankam und in den Bundeslän-
     Nach 10 Jahren Ratifizierung der UN­BRK in      und Förderung von Menschen mit Behinde-              dern des Südens sogar Rückschritte zu ver-
     Deutschland fällt die Bilanz höchst ambiva-     rungen auch in der allgemeinen Schule zu             zeichnen sind? Der Inklusionspädagoge Hans
     lent aus, denn das differenzierteste ist auch   gewährleisten.                                       Wocken8 benennt das Phänomen pointiert
     das am meisten separierende Schulsystem         Rückblickend ist die Frage zu klären, wie es         als „Stabile Fehlentwicklungen“ und stellt
     weltweit.                                       kommen konnte, dass die Inklusion nach               die Diagnose „Etikettierungsschwemme und
     In der Bildung ist die sogenannte Exklusi-
     onsquote, die den Anteil der Schüler*­innen
     außerhalb des allgemeinen Schulsystems
     erfasst, im Bundesdurchschnitt nicht nen-
     nenswert von 4,9 % auf 4,3 % gesunken und
     in Rheinland­-Pfalz, Baden­-Württemberg
     und Bayern in den letzten acht Jahren sogar
     jeweils um 0,2 % gestiegen.4 „Die Förderung
     von Schüler*innen mit Förderbedarf findet
     also fast unvermindert in Sondereinrichtun-
     gen statt. Auch das ist mit der UN­BRK nicht
     in Einklang zu bringen.“5 Dies bestätigt der
     UN-­Ausschuss. Er empfiehlt Deutschland
     in seiner Staatenprüfung 2015 unter ande-
     rem, „im Interesse der Inklusion das segre-
     gierte Schulwesen zurückzubauen“6. Denn
     die UN­BRK klagt nicht nur das Grundrecht
     auf Bildung für alle Menschen ein, sondern
     auch das Recht auf gemeinsame Bildung in
     einem inklusiven Schulsystem, und zwar „on
     an equal basis with others in the community
     in which they live“7.                           Die Exklusionsquote hat sich nur leicht gebessert.                        Foto: pixabay - AngelikaGraczyk

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Separationsstillstand auf hohem Niveau“.         zialismus zurück und beruft sich dabei auf        werde hier das Elternwahlrecht genutzt, um
Wird die Inklusionsquote betrachtet, ent-         historische Studien von Dagmar Hänsel11 als      die Separation zu legitimieren und aufrecht
steht der Eindruck einer dynamischen inklu-       Gewährsfrau. Sie fordert u.a. von der Kul-       zu erhalten. Die Logik ist: Wer ein Recht auf
siven Entwicklung. Bei näherer Betrachtung        tusministerkonferenz (KMK), dass die son-        Wahl hat, muss auch die Sonderschule wählen
wird jedoch deutlich, dass die steigende Zahl     derpädagogische Geschichte im National-          können. Die Sonderschulen müssen folglich
von ‚Inklusionsschülerinnen‘ und ‚Inklusions-     sozialismus politisch aufgearbeitet wird und     weiter existieren, um eine Option zu haben.
schülern‘ mit der vermehrten Feststellung        „die Aussonderung unter dem Label ‚lernbe-        Auf diese Weise lässt sich mit dem Wahlrecht
des sonderpädagogischen Förderbedarfs             hindert‘ als Unrecht gegenüber Schüler*in-       über eine mangelhafte Ausstattung der all-
erkauft wird. Diese ergibt sich insbesondere      nen der Hilfsschule, der Sonderschule für        gemeinen Schule sowie eine entsprechende
durch eine zunehmende Diagnostizierung            Lernbehinderte und der Förderschule Lernen       Elternberatung das bisherige Systems ver-
im Förderbereich der sozial­   -emotionalen       anerkannt wird und diese rehabilitiert wer-      lässlich steuern und erhalten. Denn welche
Entwicklung.                                      den.“12 Denn mit der Kategorie der Lernbe-       Eltern würden ihr Kind in eine Schule geben,
Einen möglichen Erklärungsversuch, warum          hinderung wird im internationalen Vergleich      die nicht auf seine Bedürfnisse vorbereitet
die Inklusion nicht voranging, bietet Brigitte    ein deutscher Sonderweg beschritten und          ist, oder es dort lassen, wenn es nicht ent-
Schumann in ihrer „Streitschrift Inklusion“9.     damit eine Kontinuität aus der NS­-Zeit selbst   sprechend gefördert wird? Der katholische
Bereits im Vorwort resümiert die UN­-Bot-         in Zeiten des Menschenrechts auf Inklu-          Theologe Matthias Pfeufer weist hier auf den
schafterin Theresa Degener, dass in Deutsch-      sion aufrecht erhalten.13 Die KMK halte ihre     ethischen Grundsatz hin, „dass aus christ-
land „Inklusion im Bildungsbereich politisch      Hand schützend über das Sonderschulsys-          licher Sicht jede Instrumentalisierung von
nicht gewollt ist.“10 Schumann spricht von        tem und die aus ihr hervorgegangene Son-         betroffenen Kindern und Jugendlichen für die
einer Allianz des Verschweigens von Son-          derpädagogik und verteidigt die Separation       Durchsetzung struktureller Interessen abzu-
derpädagogik (Verband deutscher Sonder-           gegenüber der UN, indem sie versucht, sie        lehnen ist.“15
schulen) und Bildungspolitik (KMK) für das        im sog. „German Statement“ neu zu definie-       Schumann16 kommt zu dem Fazit, dass die
Sonderschulsystem gegen Inklusion und             ren. „Auf das deutsche ‚Förderschulwesen‘ sei    sonderpädagogisch­-bildungspolitische Alli-
ihre internationalen Vorgaben der UN­BRK          der negativ konnotierte Begriff Segregation      anz in Deutschland gegen das UN­      -Recht
bzw. des UN­-Fachausschusses. Schumann            nicht anwendbar. Das deutsche Bildungssys-       verstößt und im deutschen Bildungssystem
begründet ihre These mit umfangreichen            tem sei auf dem natürlichen Recht der Eltern     bis dato kein Paradigmenwechsel vollzo-
und gründlich recherchierten Nachwei-             aufgebaut. […] Von Segregation könne nur         gen wurde. Dies bestätigt auch der UN-Aus-
sen. Sie führt die Allianz gegen die Inklusion    gesprochen werden, wenn gegen den Willen         schuss zum Schutz der Rechte von Menschen
nicht zuletzt auf das Verschweigen gemein-        der Eltern Separierung erfolge.“14 Von die-      mit Behinderungen und weist Deutschland in
samer Schuldverstrickungen im Nationalso-         ser historischen Fehldarstellung abgesehen,      der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 darauf hin:

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vation auch sehr niedrig, etwas am beste-       gemeinen Pädagogik und Inklusionspädago-
       „Das Recht auf Nichtdiskriminierung schließt     henden Modell zu ändern.“19 Krauthausens       gik autonom für sich stehen könnte. Dabei gilt
        das Recht mit ein, nicht abgesondert zu        Meinung nach ist der Paradigmenwech-            es jedoch, Anspruch und Wirklichkeit sorgsam
        werden und angemessene Vorkehrungen            sel von der Charity zum Recht im kirchlich­     auseinander zu halten. Denn die Sonderpäda-
        zu erhalten. Es muss im Kontext der Ver­       -diakonischen Denken (auch) noch lange          gogik agiert nicht selten wie ein selbststän-
        pflichtung, zugängliche Lernumgebungen          nicht vollzogen. Menschen mit Behinderun-      diges, in sich weitgehend abgeschlossenes
        und angemessene Vorkehrungen bereitzu­          gen werden nach wie vor häufig als Fürsorge-   Wissenschaftsfeld mit einer eigenen, zum
        stellen, verstanden werden.“17                  objekte wahrgenommen, anstatt ihnen den        Teil auch räumlich und kooperativ getrennten
                                                       Status von Rechts- und Handlungssubjekten       Fakultät. Umgekehrt wird schon früh fest-
                                                       zu gewähren.20                                  gestellt, dass es in „der Allgemeinpädago-
     An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob diese   Welche spezifischen Gründe gibt es für den      gik wenig Ansätze gibt, die Ausgrenzung der
     Kritik nicht auch auf die separierten Lern-       Separationsstillstand und müsste die Forde-     Sonderpädagogik aufzuheben.“22 Die Abgren-
     und Lebensräume der Kirche und ihrer Dia-          rung Schumanns nach einer geschichtlichen      zung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
     konie bzw. Caritas bezogen werden müsste?         Aufarbeitung nicht auch auf die Kirche, Dia-    Wie aber ist nun das Verhältnis der Sonder-
     Der Kommunikationswirt und Inklusionsak-           konie und Caritas übertragen werden?           pädagogik zur Religionspädagogik zu bestim-
     tivist mit Selbsterfahrung, Raul Krauthau­                                                        men und vice versa? Friedrich Schweitzer
     sen, beobachtet mit Sorge, „dass in kirchli-      2. Verhältnis von Sonderpädagogik               spricht von einer „im 20. Jahrhundert weit-
     chen Kontexten das Thema Inklusion noch           und Religionspädagogik in historischer          hin eingetretenen wechselseitigen Isolation
     sehr paternalistisch behandelt wird. Beim         Perspektive                                     zwischen Religionspädagogik einerseits und
     Gemeindefest darf dann die Kindergruppe                                                           diakonisch­-sozialpädagogischen Ansätzen
     mit Downsyndrom eine kleine Musik­-Perfor­        Die Sonderpädagogik ist nach der Ständi-        andererseits“23. Diese wechselseitige Isola-
     mance machen, und im Anschluss reden wie-         gen Konferenz der Kultusministerkonferenz       tion lässt sich auf vergleichbare Weise auch
     der Pastor und die Politiker über Inklusion.      (KMK 1994, 3) eine subsidiäre Funktion als      im Verhältnis der Religionspädagogik zur
     Behinderung darf aber kein schmücken-             eine „notwendige Ergänzung und Schwer-          Sonder- und Heilpädagogik erkennen. Auch in
     des Beiwerk sein.“18 Hier sieht Krauthausen       punktsetzung der allgemeinen Pädagogik“21.      der katholischen Religionspädagogik beklagt
     noch nicht viele Fortschritte und gibt kri-       Ihr Anliegen ist die Ausdifferenzierung und     Roland Kollmann, dass die Kirchen „viel zu
     tisch zu bedenken, dass gerade Kirchen und        Spezialisierung der Bemühung um die Bildung     lange die sonderpädagogischen Fragestel-
     diakonische Einrichtungen von Menschen            von Menschen mit Behinderung. Sonderpä-         lungen aus ihrem Lebensorientierungsange-
     mit Behinderungen leben: „Sie erhalten viel       dagogik ist ihrem Anspruch gemäß keine          bot an junge Menschen mit Behinderung aus-
     Geld dafür, daher ist ihre intrinsische Moti-     abgesonderte Pädagogik, die neben der All-      geklammert“24 haben.

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