Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe - Jahrgang 1 | 2021 - PI Villigst
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Informationen für evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer in Westfalen und Lippe 50. Jahrgang 1 | 2021
Inklusion in der Schule Über 10 Jahre ist es her, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland eingeführt wurde – Zeit für eine kleine Zwischenbilanz. Wie haben sich Schulen auf die neuen Herausforderungen eingestellt, welche Probleme kann man benennen? ru intern hat sich umgehört. Und spannende Ideen gesammelt für den Alltag im Klassenzimmer und Religionsunterricht. In dieser Ausgabe Aus Schüler*innen-Sicht | S. 3 Freies Lernen | S. 31 Emmaus-Jünger | S. 45 Maria sitzt im Rollstuhl. Sie besucht die 12. Anhand des Praxisbeispieles einer Wegbe- Mit Jesus auf dem Weg nach Emmaus - diese Klasse des Berufskollegs in Halle/W. Und schreibung zur neuen Schule erläutern Nadja tröstende Geschichte wird für Schüler*innen erzählt für ru intern von ihren Erfahrungen. Nauroschat und Linde Kaiser, Gelsenkir- der Grund- und Förderschulen mit Hilfe eines chen-Bismarck, wie sich Inklusion und Freies Bodenbildes leichter erlebbar - praktischer Geduld, Freude und viel Schlaf | S. 5 Lernen miteinander verschränken lassen. Religionsunterricht von Sabine Grünschlä- Inklusions-Alltag an einer Realschule in Hat- ger-Brenneke tingen. Erste Erfahrungen und drei Wünsche Inklusions-Konzepte für RU | S. 35 für die Zukunft. Sabine Grünschläger-Bren- Um heterogenen Lerngruppen im Religions- bagbook story | S. 50 neke, Villigst, berichtet. unterricht gerecht zu werden, bedarf es einer Wie lässt sich die Weihnachtsgeschichte für guten Planung. Sabine Grünschläger-Bren- Kinder mit Förderbedarf anschaulich erzäh- Eine coolere Inklusion | S. 7 neke, Redaktionskreis ru intern, stellt unter- len? Dazu braucht es eine Kiste, verschiedene Jeder Mensch ist anders. Und jeder ist behin- schiedliche Modelle vor. Gegenstände zum Greifen, Fühlen, Riechen dert – aus biblischer Perspektive. Inklusion und eine „Leichte Sprache“. Präsentiert von darf daher nicht als Gleichmacherei verstan- An der richtigen Stelle? | S. 42 Marion Burscheidt, Hamm. den werden, meint Bernd Beuscher, Bochum. Britta Berentzen, Mönchengladbach, greift den Wunsch vieler Eltern nach „Normali- Inklusion - und jetzt? | S. 54 Religiöse Bildung für alle | S. 17 tät“ für ihr Kind auf, betont aber gleichzeitig, Wer sich über den aktuellen Stand der Inklu- Inklusiver Religionsunterricht? Es fehlt an vie- dass Förderschulen genau der richtige Ort für sion informieren möchte, findet am Ende des lem, diagnostiziert Wolfhard Schweiker, Tübin- manche Schüler*innen und ihren Unterstüt- Heftes zusammenfassende Tipps. Und zahl- gen: besonders in der Aus- und Fortbildung. zungsbedarf sein können. reiche praktische Internet-Seiten zur Inklusion. ru intern
Schul-Inklusion aus Sicht einer Schülerin Soll ich helfen? Interview mit der Schülerin Maria B. aus dem stützung sind ganz selbst- Beruflichen Gymnasium für Gesundheit und verständlich. Es gibt viele Soziales in Halle / Westfalen, Jahrgangsstufe AGs und Projekte gegen 12, zum Thema: Meine Erfahrungen mit Inklu- Rassismus und Aus- sion an Schulen grenzung, wie z.B. „Wir sind bunt!“, „Erasmus +“, K.-L.: Hallo Maria! Schön, dass Du Zeit hast oder auch die regelmä- und für das Interview bereit bist. Meine ßigen Veranstaltungen erste Frage an Dich: Hast Du Deinen Roll- zur „gesunden Schule“. stuhl von Anfang an benötigt oder hat ein späteres Ereignis dazu geführt? K.-L.: Da fehlt uns noch die M. B.: Nein, den Rollstuhl benötige ich nur in Inklusions-AG oder ein bestimmten Phasen, habe ihn aber schon Inklusionstag an unserer sehr lange. Seit Mitte der 8. Klasse bin ich Schule, in der Schüler*innen regelmäßig auf den Rollstuhl angewiesen. oder auch Kolleg*innen Erfah- rungen sammeln und ausprobie- K.-L.: Hast Du in Deiner Schulzeit schlechte ren können, wie es ist, im Rollstuhl Erfahrungen damit gemacht, dass Du an oder mit Einschränkungen zu leben – oft den Rollstuhl gebunden bist? auf unterschiedlichen Höhen und Blick- M. B.: Ich will keine meiner bisherigen Schu- winkeln miteinander zu kommunizieren. len schlecht reden, aber hier am Berufskolleg Hier könnten nicht nur Schüler*innen z.B. Halle (BKH) ticken alle anders, im positiven an einem unserer Gesundheitstage zum Sinne. Das gilt sowohl für die Schüler*innen, Nachdenken angeregt werden. Kannst Maria berichtet von einem rücksichtsvollen Mit als auch für Lehrkräfte und Schulleitung. Das Du Dir vorstellen, das Thema an unserer einander in der Schule. Doch selbstverständlich finde ich besonders schön. Hilfe und Unter- Schule weiter voranzubringen!? ist das nicht. Foto: pixabay - rewind 1 / 2021 3
M. B.: Ja, ich wünsche mir sehr, dass das Kontakt zu anderen oftmals fehlte. Das finde M. B.: Ja, das stimmt. Es gibt aber Situationen, Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. ich ziemlich schade. in denen ich mich nicht immer integriert fühle. Und andere denken, dass es schwierig sein K.-L.: Es ist an der Zeit, nicht nur darüber zu K.-L.: Das kann ich gut verstehen. Welche könnte, etwas mit mir im Rollstuhl zu unter- reden oder zu schreiben, sondern auch Erfahrungen hast Du an unserer Schule in nehmen … Für ganz persönliche Gespräche praktische Erfahrungen und Anregungen Deiner Klassengemeinschaft gemacht? habe ich zwei sehr gute Freundinnen. auszuprobieren, zu sammeln und weiter- M. B.: Anfangs spürte ich Unsicherheit, aber zugeben. Wo wünschst Du Dir ganz kon- es war von vornherein anders als an den vor- K.-L.: Ich habe noch eine letzte Frage: Für wel- krete Unterstützung im Alltag? herigen Schulen. Alle haben gut reagiert und ches Ziel brennst Du momentan besonders? M. B.: Hilfe ist hier und da nötig, aber eben immer nachgefragt, wo sie mir behilflich sein M. B.: Ich möchte mein Abitur machen und nicht ständig. Oft besteht eine große Unsi- können oder sogar müssen. Es gab keine langfristig ganz ohne Rollstuhl leben kön- cherheit, wie man mit Menschen mit Ein- unschönen Situationen. nen. Zunächst möchte ich aber selbstständig schränkungen umgeht. Auto fahren, da ich gerade meinen Führer- Mein Tipp: Einfach nachfragen: „Soll ich K.-L.: Ich habe auch den Eindruck, dass Du in schein gemacht habe. helfen?“ Oder wenn ich mit meinem Roll- Deiner Klasse sehr gut aufgehoben bist und stuhl vor einer unüberwindbaren Türschwelle, Dich wohl fühlst. K.-L.: Das sind sehr schöne Perspektiven. Ich Schwungtür, Treppenstufe oder einem hohen M. B.: Ja, das klappt richtig gut. Als es um bedanke mich sehr bei Dir für dieses Inter- Bordstein stehe, einfach mal die Tür offen- unsere Klassenfahrt ging und eine Skifreizeit view und wünsche Dir weiterhin ein gesun- halten oder den Rollstuhl vorsichtig (nach als Möglichkeit angeboten wurde, hat meine des Selbstbewusstsein, Fröhlichkeit und vorheriger Ansage) über die Hürde schieben … Klasse ganz klar Stellung bezogen und gesagt, eine gute Portion Zuversichtlichkeit. Ich versuche trotzdem, sehr selbstständig zu dass sie wegen mir auf das Skifahren verzich- sein. Es gibt aber Momente, in denen es ohne ten und lieber ein anderes Ziel mit anderen Das Interview führte Hilfe nicht geht. Unternehmungen bevorzugen, bei denen ich Christiane Karp-Lange jürgen, alles mitmachen kann. Redaktionskreis ru intern, noch vor dem Lock K.-L.: Gibt es Erlebnisse, die Dich traurig down im März 2020. gemacht oder enttäuscht haben? K.-L.: Das finde ich großartig. Wenn ich M.B.: Ja, z.B. wenn Operationen stattfanden durch die Pausenhalle komme, nehme (Im Interview wird ganz bewusst auf einen Krankheits report seitens der Schülerin verzichtet!) oder ich aus gesundheitlichen Gründen nicht ich wahr, dass Du immer mittendrin bist zur Schule gehen konnte. In solchen Situa- und alle gern miteinander reden und sich tionen wurde deutlich, dass der gebrauchte austauschen. 4 ru intern
Alles wie immer? dings war der Religionsunterricht aber auch eins der Fächer, in dem Inklusion am besten Inklusiver Schulalltag funktionierte. Ich hatte einfach mehr Mög- lichkeiten frei zu arbeiten und mehr Zeit.“ Doch trotz mancher Schwierigkeit gibt es vie- Es ist 7.30 Uhr, die Schulglocke läutet, der den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. les was gut gelungen ist. Für alle war die Zeit Unterricht beginnt. Alles wie immer? Vor sechs Meine Schüler*innen konnten ja nur einzelne in der gemeinsamen Klasse eine gute Erfah- Jahren nicht so ganz. Seit dem Schuljahr 2013/14 Worte lesen und nachschreiben. Und je älter rung. Alle haben sich wohl gefühlt und vonei- gibt es an der Realschule Grünstraße in Hattin- die Schülerinnen und Schüler wurden, desto nander gelernt: sozial, emotional und fachlich. gen offiziell „Inklusion“ – also das gemeinsame größer wurde der Spagat zwischen Anschau- Auch die Klassenlehrerin und ihre Kolleg*in- Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf. lichkeit und Abstraktionsvermögen. Aller- nen sprechen davon, dass sie immer wieder Schon vorher hatten die Lehrerinnen und Leh- rer der Realschule einzelne Erfahrungen mit Jugendlichen gemacht, die besondere För- derung brauchten. Aber bisher unterrichtete man „zielgleich“, das heißt dahingehend, dass alle Schülerinnen und Schüler den Realschul- abschluss erreichen sollten. Vor sechs Jahren stand die Klassenlehrerin der ersten Inklusionsklasse vor der Heraus- forderung, Jugendliche mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu einer Klassengemeinschaft zu formen und sie alle individuell so zu för- dern, dass sie in ihrem eigenen Tempo ler- nen konnten. Das Spektrum in der Klasse war groß und so wurde gleichzeitig nach verschie- denen Lehrplänen unterrichtet. „Mein Mate- rial musste ich mir selbst zusammenbasteln“, berichtete die Klassenlehrerin. „Insbeson- Aller Anfang war schwer: Ideen und Material für einen inklusiven Unterricht musste man sich selbst dere in Religion fand ich kaum Material für zusammenschustern. Foto: pixabay - maxmann 1 / 2021 5
Wenn also alle Beteiligten drei Wünsche frei hätten, dann würden sie wohl lauten: mehr und vor allem ganze Stellen von Sond erpädagog*innen unterschiedli- cher Förderschwerpunkte an der Schule (entsprechend der Förderbedarfe der Schüler*innen), mehr Zeit, um gemeinsam zu planen und zu unterrichten, kleinere Klassen. Da die Fee aber gerade schulfrei hat, machen sich die Schulleitung und die Lehrkräfte der Realschule Grünstraße schon mal selbst auf Leider fehlt die Wunderlampe: drei Wünsche frei für eine bessere Inklusion Foto: pixabay - 7854 den Weg und versuchen die Ressourcen, die vorhanden sind, möglichst gut einzusetzen. Beeindruckendes erlebt haben. So wurden arbeitet ein Sonderpädagoge mit voller Stelle Als Tipp für alle, die sich dieser Herausfor- sowohl bei den Schüler*innen Potenziale ent- an der Schule. Natürlich ist damit der Förder- derung stellen, geben die Lehrer*innen mit: deckt, die mancher vielleicht nicht für mög- bedarf nicht abgedeckt und so werden von Geduld, Gelassenheit, Freude und „viel Schlaf“, lich gehalten hätte, aber auch auf die Leh- anderen Förderschulen weitere Lehrkräfte in damit man im Unterricht, wach und aufmerk- rer*innen traf das zu: „Ich habe an mir selbst die Schule abgeordnet. Insgesamt kommen sam agieren kann. Fähigkeiten wieder entdeckt, die lange im dann 2,7 Stunden pro Kind an sonderpäda- Verborgenen lagen.“ Doch der Weg der Hal- gogischer Förderung zusammen. Das ist nicht Sabine Grünschläger-Brenneke tungsänderung ist noch lang. Daran will die einmal ein Zehntel des Unterrichts. Leider ist Dozentin und Pfarrerin am Pädagogischen Schulgemeinschaft weiter arbeiten: „Was damit das Unterrichten im Team kaum mög- Institut, Villigst können wir tun, um die Schüler*innen best- lich und so ist es um so wichtiger, sich gegen- möglich zu fördern?“ seitig gut abzusprechen und zu beraten. Doch Vielen Dank an die Schulleitung, die Religionslehrkräfte Insgesamt gibt es ab dem Schuljahr 2019/ dazu fehlt oft die Zeit, obwohl die Schullei- und den Sonderpädagogen der Realschule Grünstraße, 2020 nunmehr 25 Schüler*innen mit son- tung versucht, im Stundenplan Freiräume Hattingen, für die Bereitschaft, mir Einblick in ihre derpädagogischen Förderbedarf. Mittlerweile einzubauen und Fortbildungen ermöglicht. Arbeit zu geben. 6 ru intern
Ansätze zu einer Systematischen Theologie der Inklusion oder ... Provokationen zu einer bescheideneren Inklusion Eröffnung die Dialektik von Moralisie- rung („Gutgewissenpolitik“) Es geht mir im Folgenden um einen theologi- hingewiesen. schen Beitrag zur weiteren Vervollständigung Ich setze hier noch einmal gesellschaftlicher Koexistenz von Menschen, theologisch an und themati- also von Lebewesen mit mehr oder weniger siere einige weitere Fallstricke sowie verschiedener Behinderungen. und Denkfehler. Meine verehrte Kollegin Theresa Dege- Uwe Becker sagte, es genüge ner war als Juristin maßgeblich an der Aus- nicht, „einen leichten zivil- arbeitung der UN-Konvention über Rechte gesellschaftlichen Duft von Plakatausschnitt einer Inklusions-Kampagne der Aktion Mensch von Menschen mit Behinderungen beteiligt Inklusion auf alle politischen Foto: Aktion Mensch und wurde dafür 2005 mit dem Bundesver- Handlungsfelder zu wedeln“. dienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 2012 Seine Position könnte man entsprechend kurz tierende Mädchen auf einem Werbeplakat für wurde die UN-Behindertenkonvention auch zusammenfassen mit „Inklusion ist dufte, die „Aktion Mensch“. Als ob Sympathie und als NRW-Aktionsplan umgesetzt. kostet aber viel Geld“. Ich geselle mich zu ihm Abneigung eine Frage der Erlaubnis wären. Mein avisierter diakoniewissenschaftlicher und sage: „Inklusion ist dufte, vernebelt aber Nicht erst die möglichen Antworten, schon Kollege Uwe Becker hat in Vorträgen und leicht das Grenzbewusstsein“. die Frage ist falsch, führt die Menschen in Aufsätzen nachgefragt, ob „Inklusion“ nun Sackgassen und verrät den moralischen Hori- eigentlich hinderlich oder förderlich war 1. Darf man Jungs doof finden? zont, in dem man hier unterwegs ist. und ist. Er sprach von „Inklusionslüge“ und Ist denn etwa mit „Inklusion“ das neue mora- hat auf Mängel im politischen Gestaltungs- „Darf man Jungs doof finden, auch wenn sie lische Himmelreich auf Erden als Topmo- und Umsetzungswillen sowie bereits auf im Rollstuhl sitzen?“ fragen sich zwei puber- del einer Sozietät von betörender künstli- 1 / 2021 7
cher Schönheit angebrochen? Sollen denn werden können durch das Gleichmaß einer licher Ausdruck. Das Gute an der Verwen- die elementaren gruppendynamischen Pro- gesetzlich geregelten Mindestnähe? Kein dung des Begriffes „Integration“ war, dass zesse des Hereinholens und Ausgrenzens, des Wunder, dass im Land der egalisierten Bunt- klar war, dass da immer etwas zu tun bleibt. Aufnehmens und Abstoßens, die das Soziale humaner Kulturen ausmachen und Bildung und Erziehung ja gerade erst nötig machen, ersetzt sein durch eine geschmeidige Gleich- verteilung? Schluss mit dem nervigen Sozial- leben? „Bio“ wäre das nicht. Zur sinnfälligen Veranschaulichung von Inklu- sion hat sich die Abbildung dreier Kreise ein- gebürgert: „Exklusion“ zeigt innen viele graue Punkte und außen ein paar bunte, „Integra- tion“ zeigt innen eine deutliche Mehrheit grauer Punkte, in einem Bereich knubbeln sich ein paar bunte und außen ist niemand, und „Inklusion“ zeigt ebenfalls außen nie- karierten die „Normalos“ immer kribbeliger Grafik: Aktion Mensch mand und innen ist eine gleichmäßig durch- werden. Das normale individuelle Behinderte mischte bunte Punktegruppe. Was ist da – sozusagen der 3,3-Durchschnitt – meldet Integration ist in diesem Leben in dieser eigentlich mit den vielen grauen Punkten sich mit seinem ungestillten Hunger nach Welt als Prozess eine Dauerbaustelle. „Inte- passiert? Sind sie einfach eliminiert worden? Aufmerksamkeit und sucht den Streit und gration“ führt als unsichtbares Indexstern- Sind sie übertüncht worden? die Reibungsflächen, die für die Bildung einer chen mit sich, dass es um Beziehungsarbeit, Hier zeigt sich ein Nachteil der einschlägigen menschlichen Persönlichkeit unabdingbar um Beziehungsprozesse geht. Hat Inklu- Mengenbilder: sie sind statisch, das Leben sind, jenseits moralpädagogisch durchkon- sion nicht immer schon zu kurzen Prozess jedoch ist organisch sozialdynamisch. Von struierter und politisch korrekter Spielplätze. gemacht? Alle sind eingeschlossen. Türe zu, wegen „freilaufende Hühner“ – gehen Sie Könnte also die flächendeckende Etablierung Riegel vor – Schluss, aus, fertig. Man ist es doch mal wieder für eine große Pause zur des Inklusionsbegriffs ein Pyrrhussieg sein, leid mit dem Leid. Beobachtung auf einen beliebigen Schul- ein zu teuer erkaufter Erfolg? Eine irgend- „Integration“ ist Wort für eine Anstrengung, hof: Dies Wechselspiel der Macht, der Tanz wie abgeschlossene Integration ist schwer für Übung und Prozess, „Inklusion“ ist selbst- von Annähern und Distanzieren soll beendet zu denken und „Integriertheit“ ein unüb- erfüllende Prophezeiung. Beides ist möglich 8 ru intern
unter der Frage, wie wir noch besser werden Aber Moral allein lässt das Leben nicht gelin- Geschichten zeigt: Für Glauben und Gott gilt können. Gefährlich wäre es, wenn selbster- gen. Die christliche Religion vertritt entschie- im Kontext der christlichen Religion nicht nur füllende Prophezeiung anstrengende Übun- den die Auffassung, dass Ordnung allein dem das Wortfeld: Trost, Halt, Geborgenheit, Hei- gen abgelöst haben sollten. Hans Wocken Leben nicht gerecht wird. Das bemerkt man mat, Grund, Beruhigung, sondern mindestens sprach von Inklusion als „die ultimative Inte- allerdings erst, wenn man versucht, Ordnung ebenso: Fremdsein, Heimatlosigkeit, Suche, gration“. Die „Projektion einer solchen utopi- zu halten. Leistungen wie Moral, Gesetz und Verunsicherung, Aufbruch, Unruhe, Geduld, schen Größe mit magnetischer Anziehungs- Werte machen ordentlich, aber nicht leben- Passion. Außerdem muten die biblischen kraft“ (Uwe Becker) kann kontraproduktiv dig. Ordnung ist das halbe Leben. Dies führt Lebensgeschichten vielerlei paradoxe Logi- sein, weil sie entmutigt und unsere behinder- zu einer großen Gelassenheit. ken zu: die Stärke der Schwäche (schwacher ten Versuche, Behinderungen zu akzeptieren, Während sich hier bei einem nichtkirchlichen Trost tröstet besser!), die kosmische Schön- diskreditiert und schlecht macht. Publikum oft schon ein Raunen bemerkbar heit des menschlichen Antlizes als Spiegelbild macht, wird dies von einem kirchlichen Pub- des unbekannten, vielfach schwerstbehin- 2. „Die große Störung“ (Karl Barth) likum meist abgenickt. Evangelium, ja klar, – derten Gottes (statt die kosmetische Falten- aber war da was? und Makellosigkeit der schönen großartigen Im Kontext von Moral galten und gelten In der christlichen Religion bezeichnet Gott Nirvana-Nivea-Götter), Verwechselbarkeit Behinderung als Strafe und Prüfung Gottes. nicht die Instanz moralischer Instruktion, und Anfechtung als Echtheitssiegel, gute Da lobe ich mir Hiob, der tapfer auf dem Motto sondern Gott ist die kürzeste Form für die Identität durch Sich-verlieren-und-an-den- beharrte: Wenn das die Lösung ist – kann ich Erzählung meines Lebensbezugspunktes. Es Nächsten-vergessen, Mehrgewinn durch Tei- dann bitte mein Problem wieder haben? geht darum, wem ich meine Hoffnung, meine len u.v.m. Zur Erinnerung: Evangelium ist die revoluti- Ängste, mein Geschick, mein Leben, den Tag Die wichtigste paradoxe Theo-Logik der onärste Umwertung aller Werte aller Zeiten. und den Moment widme. Gott ist nicht der christlichen Religion ist aber der Glaube des Mit dem christlichen Evangelium verlässt mütterliche Schürzenrock, in den ich mich Zweifels: Zweifelnder Glaube ist stärker und Religion die Galaxie der Moral. Ich setze alles beim Fremdeln verkrieche, sondern wie Mut- „getrostes Verzweifeln an sich und seinen darauf, dass ich, so wie ich bin, Ansehen vor ter und Vater, die mich in Ruhe lassen und in Werken“ (Martin Luther1) ist selbstbewuss- Gott genieße. Ich kann mein Ändern leben. deren Nähe ich lerne, dass der andere (und ter als jedes Gottgeprotze. Kurz: Die christ- Sicher, das weiß jedes Kind: Die Einhaltung das Andere, Fremde, Irritierende) mich nicht liche Frömmigkeit selbst ist auch behindert! von Regeln und das Erbringen von Leistung auffrisst. Dementsprechend meint Glauben Na und? Lobt den Herrn! – Das nennt man sind wichtig und gut. Ohne Recht und Ord- nicht das Wunschkonzert unserer Bedürf- „Gospel“. Das Christentum ist die behinderte nung ginge alles noch mehr drunter und nisse und Gott nicht das Klavier, auf dem die- Religion unter den Religionen. Und das ist drüber. Wir alle wollen ja auch etwas leisten! ses gespielt wird. Ein Blick in die biblischen auch gut so. 1 / 2021 9
In gut gemeinter Interreligiosität wird heute bisschen Bluna und behindert?“, was eine „Sund“ heißt: Das ganze Leben ist nicht nor- alles Religiöse nur über den moralischen Leis- zynische Bemerkung wäre. Das ist aber hier mal. Das ganze Leben ist deviant. Zum Bei- ten geschlagen. Damit es nicht überhört wird, nicht gesagt. Ja, es gibt gewaltige Unter- spiel sind Mann und Frau in der Tat verschie- darf man es darum ruhig laut sagen: Das schiede: zwischen Milliardär und völlig ver- den, – verschieden gestört nämlich. Sie Christentum zeichnet sich nicht durch Recht- armt, zwischen Intelligenzbestie und schwer haben spezifisch verschieden Teil an der glei- oder Strenggläubigkeit aus, sondern durch von Kapee, zwischen Hochleistungssport- chen Grundstörung, sind verschieden behin- vielfache Behinderungen und die Annahme ler und motorischer Katastrophe, und „ein dert und gut beraten, sich zusammenzutun von Schwachgläubigkeit und Schwachsinnig- hübsches Kind ist anders als ein hässliches und sich miteinander als Verschiedene zu keit. Ich wünschte, es würde in diesem Zusam- zu erziehen“ wagte Janusz Korczak pädago- solidarisieren, mitzunehmen, zu schützen menhang auf den Predigtkanzeln und Kon- gisch zu bedenken. Aber vor Gott und im Ver und zu unterstützen. fi-Camps mehr gelehrt, was „Erbsünde“ heißt. gleich mit dem neuen Reich der Himmel – so die Ich bin eben nicht wie du. „Menschen sind Das fänden die Menschen richtig spannend. jetzt hier vertretene These – sind wir alle und unterschiedlich. Und wenn man sie zwingt, Der moralische Sündenbegriff mit seinen ist alles elementar behindert. gleich zu sein, bleibt ihnen nur noch eine Tatsünden (also Lügen, Stehlen, Geschwin- Sören Kierkegaard sprach von einem „Grund- Möglichkeit, anders zu sein als die anderen, digkeits- und Kalorienüberschreitung u.Ä.) schaden“, der Theologe Karl Barth von einer nämlich die anderen zu überwältigen … Wenn ist der christlichen Theologie viel zu läp- „großen Störung“ („Die große Störung ist man die Menschen dagegen unterschiedlich pisch. Wofür haben wir schließlich die Poli- nicht mehr gut zu machen, sie betrifft die sein lässt, ja ihre heterogene Individualität zei und den wachsamen Nachbarn? Martin Heiligen und die Schweine“) und Adorno vom sogar fördert, entsteht ein Klima kreativer Luther betonte, dass die eigentliche Sünde „beschädigten Leben“. So dass als christli- Interaktivität. Gleichheit erzeugt Konflikt, die Erbsünde ist. Dieser mit heutigem gene- che Grundkoordinate für alles menschliche Ungleichheit ermöglicht Kooperation.“3 tischen Wissen sehr missverständliche Begriff Wollen, Tun und Vollbringen in dieser Welt Im Blick auf besonders und außergewöhnlich sollte zum Ausdruck bringen, dass Sünde eine die ernüchternde These gilt: Das Leben ist behinderte Menschen treffen die Problem- das menschliche Sein bestimmende Macht behindert. Der Theologe Paul Tillich nannte kreise Kontingenz und Koexistenz zusam- ist. So erzählt die Urgeschichte mit dem Fall das den „transmoralischen Sündenbegriff“ – men. In Jesus Christus verlieren Gott, Diversi- Sünde nicht, dass Adam und Eva unanständig ein wesentlicher und entscheidender theo- tät und Disharmonie ihren Schrecken – nicht waren, sondern dass die ganze Kreatur bei logischer Parameter im Kontext christlicher ganz, aber wesentlich. Nicht Sozialroman- aller Begabung eigentümlich behindert ist. Traditionen2 im Gegensatz z.B. zum Islam tik, sondern Schluss mit den Lebenslügen ist Bitte an dieser Stelle nicht reflexartig ab oder zum theologisch unaufgeklärten Huma- der Grund, warum die biblischen Traditionen schalten! Der letzte Satz klingt zwar so ähn- nismus, die wohl moralische menschliche voll sind mit den üblichen Verdächtigen: Hin- lich wie „Sind wir nicht alle irgendwie ein Schwächen kennen, aber keinen Sund. kende, Lahme, Schwache, Arme, Ängstliche, 10 ru intern
Verblendete, Betrogene, Enttäuschte, Irrende, ren, dass es mit mir durchgeht, dass ich oft Schildchen angebracht. Darauf steht: „Du bist Fremde, Orientierungslose, Abhängige, Ver- keine Wahl habe, dass das Gedächtnis immer unbegrenzt.“4 Und schon bin ich in Gefahr, lassene geben das Bild ab für das Verdrängte schon ausgewählt hat und man stets nach- den Tag mit einer Lüge zu beginnen ... und Ausgegrenzte, das Ungewohnte und Ungewöhnliche, dem wir uns doch nicht ent- ziehen können, weil es in uns selbst existiert. Gerne würden wir etwas ändern wollen: uns (nicht mehr so schüchtern sein!), unseren Partner (angebrochenen Käse richtig ver- packen!), die Welt (verbessern!), die Schü- ler (bilden!), die Patienten (gesund machen!), die Kirche (Mentalitätswandel!). Doch unsere Lebensskripte sind wie ein Bumerang: umso heftiger wir sie wegwerfen, desto genauer fallen sie wieder auf uns zurück. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren, aber keiner kann aus seiner Haut. So manches würden wir uns gerne aus dem Kopf schlagen. Statt „Das wächst sich aus“ – noch mehr Auswüchse! Kein Tapetenwechsel ändert unsere Lebens- muster. Wir haben einen Hang, eine Neigung: „Das hat er / hat sie so an sich.“ Was bleibt an Foto: pixabay - congerdesign uns kleben? träglich anfängt, sich etwas zurechtzule- Verholzte Gedanken, versteinerte Herzen, Befremdend ist zum Beispiel, merken zu gen, dass jahrzehntealte Geschichten noch verknöchertes Wesen: Nein, wir wollen nicht müssen, dass mir im Leben mitgespielt wird, immer starke Resonanz in mir finden. Dass behindert sein. Und doch sind wir alle voll dass ich betroffen bin, wenn mein Nächs- ich manchmal morgens schlecht gelaunt behindert, die bösen Kinder haben ja mehr ter (Nachbar, Partner, Kollege, Mitmensch) bin. Vielleicht hilft ein Tee? Ich entnehme der Recht!, als sie denken. Oft sind wir uns selbst irgendetwas macht, mich dann im Bann mei- Packung aus dem Bio-Markt einen Beutel. ein Rätsel. Wir würden gerne dahinterkom- ner eigenen Gefühle zu erleben, zu erfah- Riecht sehr gut. Am Aufhängefaden ist ein men, was uns dazu bringt, dies und jenes 1 / 2021 11
immer wieder (nicht) zu tun. „Was hast du dir Wie lautet nun eingedenk dieser elementaren Sie können Ansehen, Anerkennung, Respekt eigentlich dabei gedacht?“ „Sag mal, was ist theo-logischen Behinderungsphänomene die auch geben. Das muss nicht unbedingt ein eigentlich in dich gefahren?“ Wir zerbrechen Option im Kontext christlicher Traditionen? zärtlich-liebevoller, bewundernder Blick sein. uns den Kopf, aber nicht unsere Muster. Lau- Nach dem Motto „Du hast keine Chance, also Das kann auch ein kritischer Gruß sein, eine fend passieren Dinge, die keiner gewollt hat! nutze sie“ setzen die christlichen Traditio- Auseinandersetzung. Ich kann nicht machen, was ich will. Ich kann nen zwischen Allmachts- und Ohnmachts- Ich muss mich nicht länger ständig verglei- auch nicht nicht machen, was ich nicht will fantasien darauf, es gut sein zu lassen. Diese chen und auch nicht immer alle und alles (vgl. Römer 7,15–19). Wir sind verhaftet und Lebenseinstellung kann man sich weder gleich machen (und sei es gleich schlecht: gefangen: „Ich elender Mensch! Wer wird basteln noch kaufen, sondern sie fällt je und nivellieren), sondern kann mir und ande- mich erlösen?“ (Römer 7,24). Voll behindert! je bedingungslos von woanders zu. Diesen ren differenziert und individuell etwas gön- Oder nehmen wir die Jünger mit ihrer Frage Zu-Fall bezeichnet man in der Theologie mit nen und zumuten. Weil mir Würde, Anerken- nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang: den Fachbegriffen „Gnade“ und „Rechtferti- nung und Respekt grundsätzlich sicher sind „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine gung“. Was bedeutet dies nun konkret für die und mein Seelenfrieden nicht länger von Eltern, dass er ist blind geboren?“ (Johannes Frage nach der Inklusion? meiner Lebensleistungsfähigkeit abhängt, 9,2). Glauben die doch im Ernst, am Schick- Wenn ich bedingungsloses Ansehen vor Gott darum habe ich fortan auch wieder Ener- sal der Leute einen Pegel der Rechtschaffen- genieße, bin ich alle Bedingungen für meine gie frei, meine Möglichkeiten abzuchecken heit ablesen zu können. Voll behindert! Oder Würde und mein Selbstbewusstsein los. Glei- und im Rahmen meiner Möglichkeiten das der reiche Kornbauer (Lukas 12,13–21), der ches gilt natürlich auch für die Anerkennung Maximum herauszuholen: ein anständige- noch eine und noch eine und noch eine Vor- der anderen. Und wenn meine Seligkeit nicht rer Mensch zu sein, ein fleißigerer Student ratsscheune baut und sich so von Mal zu Mal mehr an meine Zeugnisse, an mein Geldver- zu sein, ein rücksichtsvollerer Rollifahrer usw. stärker und sicherer fühlt und plötzlich – tot mögen, Aussehen, Status und Image gebun- Leben heißt, sich ständig mit Unvollkom- im Bett liegt. Voll behindert, oder? Oder der den ist, brauche ich mir und anderen auch menheiten auseinanderzusetzen. Es eröff- Reiche Jüngling (Markus 9,17–27), der meint, nicht länger etwas vorzumachen. Menschen, net sich die Chance, die eigenen Grenzen zu Können, Leistung, Fleiß und Anstand garan- die derartig unbedingtes Ansehen genießen, erkennen, Wirklichkeitssinn zu bekommen tierten ein gelingendes Leben: Wie kann man sehen sich selbst und den anderen anders und zu selbstbewusster Bescheidenheit zu nur so dumm sein? an. Man spürt es, dass sie Ansehen genießen. finden: 12 ru intern
„Leben heißt verwundbar sein. Wer also zeit- schön, alle sind (irgendwo) begabt, alle sind 3. Schone die Differenzen!7 lebens verwundbar zu bleiben hat, kann (irgendwo) Sieger, alle sind (irgendwo) gleich. nicht im alltäglichen Sinne sicher zu sein Aber das Himmelreich ist nicht „irgendwo“! Der Theologe Ulrich Bach, der mit einund- oder glücklich zu werden erwarten. Falls er Sind in der christlichen Religion im Him- zwanzig Jahren während seines Theologie- nicht seine Wunden selber sein Glück zu nen- mel wie auf Erden alle Ungleichen gleich studiums an Kinderlähmung erkrankte und nen willens ist, muss er zwischen lebendiger vor Gott, so müssen in Moralreligionen auf auf einen Rollstuhl angewiesen ist, fragte und Gebrechlichkeit und Konservenbüchsenglück Erden zwar alle ausgesprochen gleich sein, sagte: „Reden wir autobiografisch, wenn wir wählen.“5 sind es aber unausgesprochen in Gedanken von Behinderten reden? ... Bin ich der ‚Nor- Die Stellungnahme der Evangelischen Kir- doch sicher bitte nicht vor Gott und später male‘ und der andere ist ‚auch‘ ein Mensch ... che im Rheinland „Auf dem Weg zu einem im Himmel. Wer will schon mit Verbrechern, oder leben wir gemeinsam in unserer verwor- inklusiven Bildungsverständnis“ spricht von Lügnern, Kleingläubigen, Schwachen, Chole- renen Welt, in der wir uns miteinander durch- „Realitäten innerhalb eines ‚Patientenkollek- rikern, Aussätzigen, Neidern, Hassern, Verrä- schlagen sollen? ... tivs‘, dem alle Menschen angehören“. Wenn tern, Huren, Besatzern und Mördern an einem Unser heutiges ‚Trainingsprogramm‘ müsste man so will, ist der uns nachparadiesisch Tisch sitzen, geschweige denn den Paradies- nach alledem wohl so aussehen: Nicht nur bzw. nachsintflutig zugewiesene Lebens- garten teilen? unsere ‚Klienten‘, die wir dazu seit jeher anlei- raum eine Sonderwelt für Behinderte. Nach Peter Sloterdijk hat dagegen im Sinne der ten, müssen lernen, mutig die folgenden christlicher Weltanschauung sind wie gesagt christlichen Religion an den Stolz und die Sätze zu sagen, sondern auch die Mitarbeiter alle Menschen, ja ist die ganze Kreatur ele- Würde des Devianten und das prophetische und Leiter in Diakonie und Caritas, ebenso mentar behindert, und es geht in Evange- Potenzial besonders und außergewöhnlich die Bischöfe und Professoren, desgleichen lium und Heilsgeschichte um die Emanzipa- behinderter Menschen erinnert: „Indem sie es alle politisch Verantwortlichen: Ich kann das tion der behinderten Schöpfung. Die heute schaffen, die Paradoxien ihrer Daseinsweise nicht, und: Ich weiß das nicht. Und das heißt proklamierte Inklusion klingt dagegen oft zu entfalten, können Behinderte zu überzeu- dann: Ich kenne keine glatte Lösung; ich weiß nach hypersozialistischer Vereinnahmung. genden Dozenten der conditio humana wer- keinen Weg, auf dem wir nicht schuldig wür- Unser Fremdeln in der Welt, wo wir die Ver- den – übende Wesen einer besonderen Kate- den. Damit ist aber gesagt: Ein ehrliches sozi- antwortung scheuen wie die Pest (Adam und gorie mit einer Botschaft für übende Wesen ales Tun wird sich begreifen müssen als ein Eva!), wird überspielt: Alle sind (irgendwo) im Allgemeinen.“6 behindertes soziales Tun, als ein Tun, in dem 1 / 2021 13
keiner der große Könner ist, in dem vielmehr nicht zu mehr Gleichheit führt, sondern zu Jeder prüfe also sich selbst, inwiefern mit jeder seine eigene Schwäche und sein Ver- mehr Ungleichheit. Alle sind gleich anders? „Inklusion“ moralische Perfektionsfantasien sagen sieht, in dem jeder auf das Mittragen Nein: Alle sind anders anders. Es ist normal, verbunden sind statt gewagte Glaubenspra- anderer angewiesen bleibt.“8 anders zu sein? Nein: Es ist anders, normal zu xis. Letztere „umfasst nicht nur die Träume Das Leben ist wie Straßenverkehr: Mit Behin- sein: „Jeder verwirklicht seinen Unterschied nervenschwacher Personen, sondern auch derungen muss gerechnet werden. Es wird ... Jeder ist sein Unterschied.“ Im Gegensatz die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“10 immer doofe Jungs und Mädchen geben – das dazu steht der Versuch, „Gleichheit durch den Soeben hieß es bereits: „Weil mir Würde, hat mit Rollstuhl nichts zu tun, sondern mit Zugang aller zur Gleichförmigkeit zu errei- Anerkennung und Respekt grundsätzlich dieser Welt. Aber niemand ist dazu verdammt, chen ... Zwischen den Unterschieden waltet sicher sind und mein Seelenfrieden nicht ewig doof zu bleiben – und das hat mit Evan- dagegen Dialog und nicht Reduzierung auf länger von meiner Lebensleistungsfähigkeit gelium zu tun. Einheitlichkeit.“9 abhängt, darum habe ich fortan auch wieder Die ganze Geschichte mit dem beschädig- Die politische Forderung nach garantier- Energie frei, meine Möglichkeiten abzuche- ten Leben löst sich nicht durch Umetiket- ter Teilhabe führt nur dann nicht garantiert cken und im Rahmen meiner Möglichkeiten tieren oder Beweihräuchern, sondern durch zu Teilnahmslosigkeit, wenn die Frage nach das Maximum herauszuholen: ein anständi- Überwindung lohnmoralischen Denkens. Das dem beschädigten Leben geklärt ist. Hier gerer Mensch zu sein, ein fleißigerer Student Plakat von Aktion Mensch zeigt: Solange man hat die Kirche einen gesellschaftlichen Bil- zu sein, ein rücksichtsvollerer Rollifahrer usw.“ noch im moralischen Muster unterwegs ist dungsauftrag. Bei „Inklusion“ zeigt sich der Das ist auch auf politisches und juristisches und „darf man?“ fragt, ist nichts gewonnen. Fluch von Moral besonders deutlich, besser Engagement zu beziehen, womit ich mich Es geht um ein neues Muster, einen neuen und vernünftiger denken und wissen und abschließend mit gebotenem Respekt noch Rahmen, wie es in unübertroffener Lakonie wollen zu können, als tatsächlich zu voll- einmal an die Fachadressen meiner verehrten in 1. Korinther 13 zum Ausdruck kommt: Wenn bringen. Der blinde Fleck von Inklusion ist Kollegin Theresa Degener und des verehrten du alles hast und alles bringst im Register der ihre moralische Motivation. Auch Inklusion Kollegen Uwe Becker wende. Es ist erstaunlich Lohnmoral und nicht im Register der Liebe bleibt vorläufig Sünde! Inklusion als mora- und anerkennenswürdig, was diese im juristi- (Agape), dann kannst du es vergessen. lisches Gebot ist Stress. Inklusion als Kür- schen und politischen Bereich durch Klugheit, Im moralischen Leistungsregister ist Ungleich- zel für die Morgenröte des angebrochenen Diplomatie und Beharrlichkeit bisher erreicht heit gleich Ungerechtigkeit. Weil Moral allein „neuen Reiches der Himmel“ ist allerdings haben. Es wäre meines Erachtens jedoch kon- dem Leben nicht gerecht wird, verstrickt eine Option. In Offenbarung 21 wie in des- traproduktiv, wenn der Eindruck entstünde, sie sich in Widersprüche. Es muss klar sein, sen alttestamentlichen Leittext Jesaja 65 hier würde die Gerechtigkeit Gottes realisiert. dass die optimale, differenzierte Förderung geht es um nicht weniger als einen neuen Die irdische Gerechtigkeit und die Gerech- eines jeden Individuums („gleiche Chancen“) Himmel und eine neue Erde. tigkeit Gottes werden jedenfalls in der Bibel 14 ru intern
Behinderungen im Leben - jede und jeder Einzelne muss lernen, sich damit auseinanderzusetzen. Foto: pixabay - pexels unterschiedlich bezeichnet. Eine Überhöhung gen schon jetzt ein wenig wie ein überhitz- im sozialen Gefüge alles richtig machen. Und irdischer Gerechtigkeitsbemühungen würde ter Motor. das führt zu einem schrecklichen Krampf, die nötigen vielen kleinen juristischen, poli- dem wir heute auf Schritt und Tritt begeg- tischen, strukturellen Schritte bald ins Stol- Fazit: nen ... Christen sind keine Engel; vielmehr pern bringen und ihnen die Puste ausgehen Es wird darauf ankommen, sich mit Behin- sind Christen die einzigen, die es sich leisten lassen. Jeglicher Rigorismus und Triumpha- derungen anzufreunden, sich dazu zu ver- können, keine Engel zu sein.“11 lismus scheint mir hier eher lähmend. stehen, sich und den Nächsten als behinder- Theologisch aufgeklärte Politik, Jurisprudenz, ter Mensch leiden zu können, Verantwortung Wie weiland Rammstein sangen, diese Kirche und Diakonie lassen dagegen zu wün- für sich und den Nächsten als Behinderter zu Kunstperformance-Fremdpropheten außer schen übrig, was sie gerade so belastbar und übernehmen: halb der Kirchenmauern: „Engel haben ausdauernd macht. Dieser zentrale Index „Wenn ich das Schuldig-Werden nicht bei mir Angst und sind allein, Gott weiß, ich will kein scheint mir bei der alten Kategorie der „Inte- selbst integriere, wenn ich für mich selbst Engel sein ... Engel müssen sich an Sterne gration“ besser im Horizont gewesen zu sein. dem Ideal des Engels nachjage, werde ich krallen (ganz fest), damit sie nicht vom „Inklusion“ riecht meines Erachtens dage- großen Wert darauf legen müssen, dass wir Himmel fallen ...“ 1 / 2021 15
Fazit: Endnoten: 5 Eugen Rosenstock-Huessy, Des Christen Zukunft, „Integration“? „Inklusion“? Es bringt nichts, 1 Luther schreibt am 8. April 1516 in einem seel- Moers 1985, S. 166. sich über Begriffe zu streiten. Es ist ein sorgerlichen Brief an seinen Klosterbruder, den 6 Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Frankfurt Segen, dass sich auch politisch und juristisch Augustinereremiten August Spenlein: „Denn heut- 2009, S. 69, 78. begabte Menschen im Sinne des Lebens zutage brennt die Versuchung der Vermessenheit in 7 Norbert Bolz fordert als „kategorischen Imperativ“ das für das Leben einsetzen. Es ist etwas im vielen Menschen und in denen besonders, die mit allen Motto „Schone die Differenzen! ... Die Schonung der Schwange. Nichts, was ist, wird so bleiben. Kräften gerecht und gut sein wollen. Sie ... trachten in Differenzen wäre Ausdruck einer Kultiviertheit, die Was ist, kann noch werden. Schließlich ist sich selber so lange gut zu tun, bis sie die Zuversicht nicht nur auf entschiedene Distanz zu den düsteren noch nicht erschienen, was wir sein werden“ haben, vor Gott bestehen zu können, gleichsam ‚rechten‘ Visionen eines clash of civilisations geht, son- (1. Johannes 3,2). bekränzt mit ihren Tugenden und Verdiensten, was dern auch das ‚linke‘ Angebot des Multikulturalismus Aber Inklusion darf sich nicht wie Gleich- doch unmöglich sein kann. Du lebtest hier bei uns als Intellektuellenillusion durchschaut, in der der schaltung anfühlen. Inklusion als Gleich- auch in dieser Meinung, vielmehr, diesem Irrtum; und Geist des Tourismus die Welt in einen Basar des macherei ist Lebenslüge. Die einzige Inklu- auch ich bin darin gewesen, ja, noch jetzt kämpfe ich Exotischen verwandeln möchte“ (Norbert Bolz, sion, die lebensbelastbar ist und die trägt, ist gegen diesen Wahn und habe noch nicht ausgekämpft Weltkommunikation, München 2001, S. 55). Inklusion als Frucht vom Baum der Erkennt- ... Sei auf der Hut, dass Du Dir gar nicht als Sünder vor- 8 Ulrich Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“. Gegen nis, dass Christus keine exklusive Veranstal- kommen, ja gar keiner mehr sein willst. Christus aber das Apartheitsdenken in Kirche und Gesellschaft, tung ist. Meines Erachtens muss deutlicher wohnt nur in den Sündern ... Darum wirst Du nur in ihm Gütersloh 1994, 59, S. 76. gepredigt werden und darf nicht missver- durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken 9 José Comblin, Das Bild vom Menschen, Düsseldorf 1987, ständlich in Schwebe bleiben, dass das ange- Frieden finden.“ S. 23. brochene neue Reich der Himmel nicht etwa 2 Vgl. dazu Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der 10 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg reinrassig ist wie bei den Deutschen Christen, Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christ- 1981, S. 16. sondern voll ist mit Leuten, die froh sind, dass lichen Glaubens, Tübingen 1998, S. 98–100. 11 Ulrich Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“. Gegen sie nicht bekommen, was sie verdient haben. 3 Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, München das Apartheitsdenken in Kirche und Gesellschaft, Nur so wäre Inklusion nicht die neue Exklu- 2009. Gütersloh 1994, S. 75. sivität. Inklusiv wäre vielleicht eher das neue 4 Weitere Teebeuteltexte lauten zum Beispiel: „Nur Ökumenisch? du selbst kannst dich vervollkommnen“, „Deine Prof. Dr. Bernd Beuscher Selbstdisziplin ist dein einziger Freund“, „Lass nur gute ist Dozent an der Ev. Fachhochschule Rheinland- Ich meine, in diesem Sinne führt der theo- Gedanken in dir sein“, „Bewusstheit lässt uns niemals Westfalen-Lippe in Bochum logische Bescheid zu einer bescheideneren, schlecht sprechen“ usw. – Können vor Lachen, wenn cooleren, gelasseneren Inklusion. es nicht so traurig wäre. 16 ru intern
Religiöse Bildung in Förderschule und Inklusion Bedingungen und Perspektiven1 Noch immer entscheiden in Deutschland die Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie die- soziale, ethnische und regionale Herkunft ses Menschenrecht für alle Schüler*innen in oder eine Behinderung maßgeblich über der religiösen Bildung des konfessionellen den Zugang zur Bildung und damit über die Religionsunterrichts eingelöst werden kann. Zukunftschancen. Menschen werden behin- Er reflektiert zunächst, wie (1) zureichend die dert, weil ihre Teilhabe an Bildung, insbe- Bedingungen des Bildungsanspruchs an den sondere an der gemeinsamen Bildung, ein- Förderschulen und in der Inklusion sind, (2) geschränkt wird. bestimmt das Verhältnis von Religionspäda- Weltweit bildet die Gruppe der Menschen gogik und Sonderpädagogik, (3) analysiert die mit Behinderungen mit 15,6 % der Welt- Situation des Religionsunterrichts in Förder- bevölkerung die größte, diskriminierte schulen und Inklusion und (4) zeigt Perspek- Minderheit.2 tiven der Weiterentwicklung auf. Darum ist die Ratifizierung der UN-Behinder tenrechtskonvention (UNBRK) aktuell in 179 1. Bedingungen der Bildung: Ländern für die gesellschaftlichen Verhält- Förderschule und Inklusion nisse und die Gleichberechtigung von Men- schen mit Behinderungen in globaler Pers- Seit dem Ausbau des Sonderschulsys- pektive von revolutionärer Bedeutung. Die tems in den 1960er-Jahren erhalten junge Umsetzung der menschenrechtlichen Forde- Menschen mit Behinderungen in Deutsch- rung nach voller und effektiver Partizipation land eine gute, hoch spezialisierte Schul- und Inklusion (UNBRK, Art. 3) im Bildungs- bildung. Ab Mitte der 1980er-Jahre haben system wird jedoch in vielen Ländern nicht ausnahmslos alle Kinder und Jugendlichen oder unzureichend realisiert (Art. 24).3 Diese mit Behinderungen mit Rechten und Schul- Schon 179 Länder haben die UN-Behinderten Defizitanzeige trifft auch auf die Bundesre- pflichten Anteil an der schulischen Bildung, rechtskovention unterzeichnet. publik Deutschland zu. auch diejenigen mit komplexer Behinde- Foto: pixabay - hammaadyousaf0 1 / 2021 17
rung. Sie profitieren in Deutschland vom Die spezifische Herausforderung, vor der das zehn Jahren UNBRK mit einer Verringerung weltweit am besten ausdifferenzierten und Unterzeichnerland Deutschland steht, ist, der Exklusionsquote um nur 0,6 % nicht hoch professionalisierten Fördersystem. die weltweit hoch professionalisierte Bildung deutlich vorankam und in den Bundeslän- Nach 10 Jahren Ratifizierung der UNBRK in und Förderung von Menschen mit Behinde- dern des Südens sogar Rückschritte zu ver- Deutschland fällt die Bilanz höchst ambiva- rungen auch in der allgemeinen Schule zu zeichnen sind? Der Inklusionspädagoge Hans lent aus, denn das differenzierteste ist auch gewährleisten. Wocken8 benennt das Phänomen pointiert das am meisten separierende Schulsystem Rückblickend ist die Frage zu klären, wie es als „Stabile Fehlentwicklungen“ und stellt weltweit. kommen konnte, dass die Inklusion nach die Diagnose „Etikettierungsschwemme und In der Bildung ist die sogenannte Exklusi- onsquote, die den Anteil der Schüler*innen außerhalb des allgemeinen Schulsystems erfasst, im Bundesdurchschnitt nicht nen- nenswert von 4,9 % auf 4,3 % gesunken und in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern in den letzten acht Jahren sogar jeweils um 0,2 % gestiegen.4 „Die Förderung von Schüler*innen mit Förderbedarf findet also fast unvermindert in Sondereinrichtun- gen statt. Auch das ist mit der UNBRK nicht in Einklang zu bringen.“5 Dies bestätigt der UN-Ausschuss. Er empfiehlt Deutschland in seiner Staatenprüfung 2015 unter ande- rem, „im Interesse der Inklusion das segre- gierte Schulwesen zurückzubauen“6. Denn die UNBRK klagt nicht nur das Grundrecht auf Bildung für alle Menschen ein, sondern auch das Recht auf gemeinsame Bildung in einem inklusiven Schulsystem, und zwar „on an equal basis with others in the community in which they live“7. Die Exklusionsquote hat sich nur leicht gebessert. Foto: pixabay - AngelikaGraczyk 18 ru intern
Separationsstillstand auf hohem Niveau“. zialismus zurück und beruft sich dabei auf werde hier das Elternwahlrecht genutzt, um Wird die Inklusionsquote betrachtet, ent- historische Studien von Dagmar Hänsel11 als die Separation zu legitimieren und aufrecht steht der Eindruck einer dynamischen inklu- Gewährsfrau. Sie fordert u.a. von der Kul- zu erhalten. Die Logik ist: Wer ein Recht auf siven Entwicklung. Bei näherer Betrachtung tusministerkonferenz (KMK), dass die son- Wahl hat, muss auch die Sonderschule wählen wird jedoch deutlich, dass die steigende Zahl derpädagogische Geschichte im National- können. Die Sonderschulen müssen folglich von ‚Inklusionsschülerinnen‘ und ‚Inklusions- sozialismus politisch aufgearbeitet wird und weiter existieren, um eine Option zu haben. schülern‘ mit der vermehrten Feststellung „die Aussonderung unter dem Label ‚lernbe- Auf diese Weise lässt sich mit dem Wahlrecht des sonderpädagogischen Förderbedarfs hindert‘ als Unrecht gegenüber Schüler*in- über eine mangelhafte Ausstattung der all- erkauft wird. Diese ergibt sich insbesondere nen der Hilfsschule, der Sonderschule für gemeinen Schule sowie eine entsprechende durch eine zunehmende Diagnostizierung Lernbehinderte und der Förderschule Lernen Elternberatung das bisherige Systems ver- im Förderbereich der sozial -emotionalen anerkannt wird und diese rehabilitiert wer- lässlich steuern und erhalten. Denn welche Entwicklung. den.“12 Denn mit der Kategorie der Lernbe- Eltern würden ihr Kind in eine Schule geben, Einen möglichen Erklärungsversuch, warum hinderung wird im internationalen Vergleich die nicht auf seine Bedürfnisse vorbereitet die Inklusion nicht voranging, bietet Brigitte ein deutscher Sonderweg beschritten und ist, oder es dort lassen, wenn es nicht ent- Schumann in ihrer „Streitschrift Inklusion“9. damit eine Kontinuität aus der NS-Zeit selbst sprechend gefördert wird? Der katholische Bereits im Vorwort resümiert die UN-Bot- in Zeiten des Menschenrechts auf Inklu- Theologe Matthias Pfeufer weist hier auf den schafterin Theresa Degener, dass in Deutsch- sion aufrecht erhalten.13 Die KMK halte ihre ethischen Grundsatz hin, „dass aus christ- land „Inklusion im Bildungsbereich politisch Hand schützend über das Sonderschulsys- licher Sicht jede Instrumentalisierung von nicht gewollt ist.“10 Schumann spricht von tem und die aus ihr hervorgegangene Son- betroffenen Kindern und Jugendlichen für die einer Allianz des Verschweigens von Son- derpädagogik und verteidigt die Separation Durchsetzung struktureller Interessen abzu- derpädagogik (Verband deutscher Sonder- gegenüber der UN, indem sie versucht, sie lehnen ist.“15 schulen) und Bildungspolitik (KMK) für das im sog. „German Statement“ neu zu definie- Schumann16 kommt zu dem Fazit, dass die Sonderschulsystem gegen Inklusion und ren. „Auf das deutsche ‚Förderschulwesen‘ sei sonderpädagogisch-bildungspolitische Alli- ihre internationalen Vorgaben der UNBRK der negativ konnotierte Begriff Segregation anz in Deutschland gegen das UN -Recht bzw. des UN-Fachausschusses. Schumann nicht anwendbar. Das deutsche Bildungssys- verstößt und im deutschen Bildungssystem begründet ihre These mit umfangreichen tem sei auf dem natürlichen Recht der Eltern bis dato kein Paradigmenwechsel vollzo- und gründlich recherchierten Nachwei- aufgebaut. […] Von Segregation könne nur gen wurde. Dies bestätigt auch der UN-Aus- sen. Sie führt die Allianz gegen die Inklusion gesprochen werden, wenn gegen den Willen schuss zum Schutz der Rechte von Menschen nicht zuletzt auf das Verschweigen gemein- der Eltern Separierung erfolge.“14 Von die- mit Behinderungen und weist Deutschland in samer Schuldverstrickungen im Nationalso- ser historischen Fehldarstellung abgesehen, der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 darauf hin: 1 / 2021 19
vation auch sehr niedrig, etwas am beste- gemeinen Pädagogik und Inklusionspädago- „Das Recht auf Nichtdiskriminierung schließt henden Modell zu ändern.“19 Krauthausens gik autonom für sich stehen könnte. Dabei gilt das Recht mit ein, nicht abgesondert zu Meinung nach ist der Paradigmenwech- es jedoch, Anspruch und Wirklichkeit sorgsam werden und angemessene Vorkehrungen sel von der Charity zum Recht im kirchlich auseinander zu halten. Denn die Sonderpäda- zu erhalten. Es muss im Kontext der Ver -diakonischen Denken (auch) noch lange gogik agiert nicht selten wie ein selbststän- pflichtung, zugängliche Lernumgebungen nicht vollzogen. Menschen mit Behinderun- diges, in sich weitgehend abgeschlossenes und angemessene Vorkehrungen bereitzu gen werden nach wie vor häufig als Fürsorge- Wissenschaftsfeld mit einer eigenen, zum stellen, verstanden werden.“17 objekte wahrgenommen, anstatt ihnen den Teil auch räumlich und kooperativ getrennten Status von Rechts- und Handlungssubjekten Fakultät. Umgekehrt wird schon früh fest- zu gewähren.20 gestellt, dass es in „der Allgemeinpädago- An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob diese Welche spezifischen Gründe gibt es für den gik wenig Ansätze gibt, die Ausgrenzung der Kritik nicht auch auf die separierten Lern- Separationsstillstand und müsste die Forde- Sonderpädagogik aufzuheben.“22 Die Abgren- und Lebensräume der Kirche und ihrer Dia- rung Schumanns nach einer geschichtlichen zung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. konie bzw. Caritas bezogen werden müsste? Aufarbeitung nicht auch auf die Kirche, Dia- Wie aber ist nun das Verhältnis der Sonder- Der Kommunikationswirt und Inklusionsak- konie und Caritas übertragen werden? pädagogik zur Religionspädagogik zu bestim- tivist mit Selbsterfahrung, Raul Krauthau men und vice versa? Friedrich Schweitzer sen, beobachtet mit Sorge, „dass in kirchli- 2. Verhältnis von Sonderpädagogik spricht von einer „im 20. Jahrhundert weit- chen Kontexten das Thema Inklusion noch und Religionspädagogik in historischer hin eingetretenen wechselseitigen Isolation sehr paternalistisch behandelt wird. Beim Perspektive zwischen Religionspädagogik einerseits und Gemeindefest darf dann die Kindergruppe diakonisch-sozialpädagogischen Ansätzen mit Downsyndrom eine kleine Musik-Perfor Die Sonderpädagogik ist nach der Ständi- andererseits“23. Diese wechselseitige Isola- mance machen, und im Anschluss reden wie- gen Konferenz der Kultusministerkonferenz tion lässt sich auf vergleichbare Weise auch der Pastor und die Politiker über Inklusion. (KMK 1994, 3) eine subsidiäre Funktion als im Verhältnis der Religionspädagogik zur Behinderung darf aber kein schmücken- eine „notwendige Ergänzung und Schwer- Sonder- und Heilpädagogik erkennen. Auch in des Beiwerk sein.“18 Hier sieht Krauthausen punktsetzung der allgemeinen Pädagogik“21. der katholischen Religionspädagogik beklagt noch nicht viele Fortschritte und gibt kri- Ihr Anliegen ist die Ausdifferenzierung und Roland Kollmann, dass die Kirchen „viel zu tisch zu bedenken, dass gerade Kirchen und Spezialisierung der Bemühung um die Bildung lange die sonderpädagogischen Fragestel- diakonische Einrichtungen von Menschen von Menschen mit Behinderung. Sonderpä- lungen aus ihrem Lebensorientierungsange- mit Behinderungen leben: „Sie erhalten viel dagogik ist ihrem Anspruch gemäß keine bot an junge Menschen mit Behinderung aus- Geld dafür, daher ist ihre intrinsische Moti- abgesonderte Pädagogik, die neben der All- geklammert“24 haben. 20 ru intern
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