Das Verstärkermodell der Suizidalität: Chronische Suizidalität bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung verstehen und behandeln
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Review Article / Übersichtsarbeit Verhaltenstherapie Received: February 24, 2021 Accepted: July 1, 2021 DOI: 10.1159/000518239 Published online: July 26, 2021 Das Verstärkermodell der Suizidalität: Chronische Suizidalität bei der Borderline- Persönlichkeitsstörung verstehen und behandeln Johannes M. Hennings Einheit für dialektisch-behaviorale Therapie, kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost, Haar/München, Deutschland Schlüsselwörter integriert, von dem verhaltenstherapeutische Interventio- Borderline-Persönlichkeitsstörung · Dialektisch-behaviorale nen abgeleitet werden, die Therapeuten in ihrer Arbeit mit Therapie · Nichtsuizidale Selbstverletzung · Suizidalität · chronisch suizidalen Patienten unterstützen können. Verstärkung © 2021 The Author(s) Published by S. Karger AG, Basel Zusammenfassung The Reinforcement Model of Suicidality: Trotz großer Fortschritte in der evidenzbasierten Psychothe- Understanding and Psychotherapy of Chronic rapie wird unser Versorgungssystem durch chronisch suizi- Suicidality in Borderline Personality Disorder dale Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) weiterhin stark herausgefordert. Die BPS ist mit einem hohen Suizidrisiko von 5–10% sowie einem hohen Selbstver- Keywords letzungsrisiko von bis zu 80% behaftet. Therapeuten wie An- Borderline personality disorder · Dialectic-behavioral gehörige fühlen sich oft überfordert und hilflos, wenn sie mit therapy · Non-suicidal self-injury · Suicidality · der Suizidalität der Patienten konfrontiert sind. Immer wie- Reinforcement der kommt es so zu Therapieabbrüchen, Vorstellungen in Notaufnahmen oder akut-psychiatrischen Einweisungen. Bei der nichtsuizidalen Selbstverletzung (NSSV) – einem Ver- Abstract haltensmuster, das gehäuft zusammen mit chronischer Sui- In spite of great advancements in evidence-based thera- zidalität bei BPS auftritt – tragen Verstärkermechanismen pies, chronic suicidal patients with borderline personality (z.B. Nachlassen von Anspannung) dazu bei, dass sich Bor- disorder (BPD) still challenge our mental health system. derline-Patienten trotz längerfristig unangenehmen Folgen BPD is afflicted with a high suicide risk of 5–10% and a immer wieder selbst verletzen. Die Motive für NSSV und su- high risk for self-mutilation (up to 80%). Therapists as well izidales Verhalten können sehr unterschiedlich sein. Es as relatives feel often stunned and helpless when con- spricht jedoch einiges dafür, dass die zugrunde liegenden fronted with suicidality resulting in interruption of thera- Mechanismen ähnlich sind und sich hieraus wichtige thera- pies, repeated presentations to emergency rooms and re- peutische Interventionsmöglichkeiten ableiten lassen. In ferrals to hospitals. Reinforcement mechanisms turned dieser Übersichtsarbeit werden die Hintergründe und Unter- out to play an important role in the maintenance of re- schiede von NSSV, Suizidideationen sowie Suizidversuchen peated non-suicidal self-injury (NSSI). While individual bei chronisch suizidalen Borderline-Patienten dargestellt. motives for NSSI and suicidal behavior including suicidal Neuere Erkenntnisse der modernen Neuro- und Verhaltens- ideations can differ, the principal mechanisms appear to wissenschaft werden in ein Verstärkermodell der Suizidalität be transferrable. This article aims to give a better idea of karger@karger.com © 2021 The Author(s) Korrespondenz an: www.karger.com/ver Published by S. Karger AG, Basel Johannes M. Hennings, johannes.hennings @ kbo.de This is an Open Access article licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-4.0 International License (CC BY-NC) (http://www.karger.com/Services/OpenAccessLicense), applicable to the online version of the article only. Usage and distribution for com- mercial purposes requires written permission.
what is behind and what are the differences between kenhauseinweisungen oder geschlossene Unterbringun- non-suicidal self-injury, suicidal ideations and suicide at- gen Suizidalität überhaupt senken [Linehan et al., 2012]. tempts. It further integrates recent developments of be- Es fehlt uns außerdem an evidenzbasierten pharmakolo- havioral science in a reinforcement model of suicidality gischen Behandlungsmöglichkeiten für Borderline-Pati- that can provide therapists a practical armamentarium in enten [Lieb et al., 2004]. Hierzu passt wiederum, dass Pa- their work with chronic suicidal clients. tienten mit einer BPS oft wiederholte psychiatrische Kran- © 2021 The Author(s) kenhausaufenthalte und Therapieabbrüche aufweisen, Published by S. Karger AG, Basel und weiterhin zu denjenigen mit der höchsten Rate an Suizidideationen, NSSV und wiederholten SV gehören Einleitung [Linehan et al., 1983; Linehan, 1993]. Diese Übersicht beschäftigt sich daher mit der Frage, Suizidalität ist eine der schwerwiegendsten Symptome was die Hintergründe chronischer Suizidalität sind und psychischer Störungen. Sie umfasst psychopathologische welche psychologischen Mechanismen sie aufrechterhal- Phänomene, die von Lebensüberdruss, Suizidideationen ten. Sind die Modelle, die für das Verstehen von NSSV (Gedanken an und Vorstellungen vom eigenen Tod, aber entwickelt wurden, auf suizidales Verhalten übertragbar? auch Abwägen und Planen eines Suizides), ambivalenten Können oder sollten wir überhaupt mit suizidalen Pati- Suizidversuchen, Suizidversuchen (SV) bis hin zum voll- enten Psychotherapie machen? Und wenn ja, welche In- endeten Suizid reichen [Linehan, 1986; Klonsky et al., terventionen sind hilfreich? 2016]. Patienten mit einer emotional instabilen Persön- lichkeitsstörung (BPS) haben ein besonders hohes Risiko Hintergründe von NSSV bei der BPS für Suizide (5–10%), SV, sowie Selbstverletzungen (bis zu NSSV (z.B. Schneiden, Ritzen, Kopf Anschlagen, Ver- 80%), die mitunter klinisch schwer von einem SV zu dif- brennen) ist ein weltweites Phänomen, das nicht nur, ferenzieren sind [Klonsky, 2007; Klonsky et al., 2013]. Zu- aber besonders häufig bei BPS vorkommt [Plener et al., dem liegt bei BPS oft eine sogenannte chronische Suizida- 2009]. Sie ist definiert als eine selbstintendierte, sozial un- lität vor. Auch wenn dieser Begriff zur Einschätzung der angemessene Verletzung der Körperoberfläche ohne su- Suizidalität wegen seiner Unschärfe psychopathologisch izidale Absicht [Linehan et al., 2006]. Um das Phänomen nicht gebraucht werden soll [Wolfersdorf, 2008], be- in Studien besser untersuchen zu können, hat sich diese schreibt er sehr treffend, wie Klienten oft über viele Jahre einheitliche Definition mittlerweile durchgesetzt und ist immer wieder oder anhaltend unterschiedliche Formen in der 5. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual der Suizidalität erleben [Oumaya et al., 2008]. Diagnose- of Mental Disorders sogar als eine neue diagnostische En- übergreifend sind mittlerweile robuste Risikofaktoren für tität gewürdigt worden [American Psychiatric Associati- suizidales Verhalten herausgearbeitet worden, insbeson- on, 2013]. In der kürzlich erschienen Meta-Analyse von dere Missbrauch in der Kindheit, nichtsuizidale Selbstver- Taylor et al. [2018] zu NSSV wurde eine Reihe unter- letzung (NSSV) sowie frühere SV [Klonsky et al., 2013; schiedlicher psychologischer Funktionen von NSSV zu- Franklin et al., 2017]. Allerdings entstammen diese Risi- sammengestellt. Zu den häufigeren, sogenannten intra- kofaktoren vorwiegend aus Fall-Kontroll-Studien und psychischen Funktionen zählen Emotionsregulation und helfen dem Kliniker wenig, das individuelle Suizidrisiko Selbstbestrafung, wobei es darum geht, (aversive) innere zu einem bestimmten Zeitpunkt zuverlässig zu bestim- Zustände zu beenden oder zu verhindern. Weniger häu- men [Linehan et al., 2012; Miller et al., 2017; Teismann et fig sind sogenannte interpersonelle Funktionen wie z.B. al., 2019]. Auch, wenn der Großteil der Betroffenen ihren Einflussnahme auf andere oder Zugehörigkeit zu Peers Suizidideationen nicht nachgehen werden [Joiner, 2005], [Klonsky, 2007; Klonsky et al., 2013; Taylor et al., 2018]. können wir “Suizidideatoren” und spätere “Suizidversu- In ähnlicher Weise unterscheiden Nock und Prinstein cher” anhand selbst der besten Indikatoren (z.B. Angst vor [2004] in ihrem 4-Funktionen-Modell im Sinne der kog- dem Tod, subjektive Schmerztoleranz, objektiv anhalten- nitiven Verhaltenstherapie positive (i.e., Zuführen eines der Schmerz) nicht zuverlässig voneinander trennen angenehmen Stimulus) versus negative (i.e., Wegnahme [Paashaus et al., 2019]. Und tatsächlich sind die Suizidra- eines aversiven Stimulus) sowie automatische (i.e., intra- ten in bestimmten Populationen, wie z.B. bei jugendlichen personelle; z.B. Emotionsregulation wie oben) versus so- Mädchen, in den letzten Jahren wieder angestiegen [Cur- ziale (i.e., interpersonelle; e.g., Aufmerksamkeit, Vermei- tin et al., 2016; Miller et al., 2017]. Auf der anderen Seite dung, Flucht) Verstärker (Tab. 1). Durch diesen Erklä- ist es für chronisch suizidale Borderline-Klienten oft sehr rungsansatz ist es leichter nachzuvollziehen, warum schwer, einen Therapieplatz zu bekommen oder zu behal- einige Patienten sich immer wieder selbst verletzen und ten. Stattdessen werden sie immer wieder wegen ihrer Su- dabei in Kauf nehmen, sich in chirurgischen Notaufnah- izidalität in Kliniken eingewiesen, wobei wenig Evidenz men vorstellen zu müssen (was oft sehr schambesetzt ist), vorliegt, dass die Unterbrechung von Therapien, Kran- dass Konflikte mit Angehörigen entstehen (was erneute 2 Verhaltenstherapie Hennings DOI: 10.1159/000518239
Tabelle 1. Vier-Funktionen-Modell der NSSV (modifiziert nach Nock und Prinstein [2004]) Positive Verstärkung Negative Verstärkung Automatisch-positive Verstärkerfunktion von NSSV: Automatisch-negative Verstärkerfunktion von NSSV: → Um einen gewünschten physiologischen Zustand → Um Anspannung oder andere aversive Affektzustände herzustellen (i.e., Emotionen hervorrufen, Emotionen nicht abzuschwächen, z.B.: abzuschwächen), z.B.: – Abschwächen von aversiven Gefühlen – Selbstbestrafung – Anspannungsreduktion – Sensationslust – Antidissoziativ – Identitätsgefühl (“das gehört zu mir”) – Symptome anderer psychischer Störungen reduzieren – Sexuelle Befriedigung (z.B. Zwangsgedanken, Stimmenhören) – Kontrolle/Handlungsfähigkeit Sozial-positive Verstärkerfunktion von NSSV: Sozial-negative Verstärkerfunktion von NSSV: → Als eine Form der Kommunikation mit und/oder ohne → Um Verantwortungen abzugeben, Konsequenzen oder Einflussnahme auf andere, z.B.: zwischenmenschliche Herausforderungen zu – Kommunikation von Leiden vermeiden, z.B.: – Erhalten von Zuwendung und Aufmerksamkeit – Sich selbst stellvertretend für andere verletzen – Veranlassen bestimmter Maßnahmen (z.B. Medikation – Sich selbst verletzen, bevor man durch andere verletzt erhalten; nicht nach Hause entlassen werden) wird Krisen provoziert) und dass stigmatisierende Narben zu- Insgesamt helfen diese Erkenntnisse aus der Verhal- rückbleiben. tensforschung in der Therapie von Patienten mit NSSV: Zu diesem psychologischen Verstärkermodell passen Zum Beispiel kann in einer Verhaltensanalyse wie dem gut neuere neurobiologische Beobachtungen, die im Be- Stimulus-Organismus-Response-(Konsequenz)-Contin- reich des limbischen Systems gemacht wurden: In einer genz-(SORKC- oder SORC-) Modell [Kanfer und Saslow, fMRT-Studie reduziert NSSV die Aktivität der Amygdala 1965] dem Klienten im Sinne einer Psychoedukation ver- bei Borderline-Patienten und verbessert gleichzeitig die deutlicht werden, wie die Selbstverletzung als negativer Konnektivität zum Gyrus frontalis superior [Reitz et al., Verstärker wirkt und so die Wahrscheinlichkeit erhöht, 2015]. Klinisch zeigt sich durch die NSSV eine sofortige dass man sich in der nächsten Stresssituation wieder ver- Abnahme aversiver Anspannung und die Betroffenen letzen wird. Da der erleichternde Effekt der NSSV beim können wieder klarer denken. Darüber hinaus aktiviert Klienten oft so stark ist, sollte der Therapeut immer wie- NSSV das Belohnungssystem, wobei Strukturen des Opi- der verdeutlichen, dass es notwendig ist, Selbstverletzun- oid- und wahrscheinlich auch Endocannabinoid-Sys- gen abzubauen und alternative Fertigkeiten zur Span- tems beteiligt sind [Kirtley et al., 2015]. In einer prospek- nungsreduktion (“Skills” in der dialektisch-behavioralen tiven Studie mit Borderline-Patienten, die sich mit einer Therapie) aufzubauen [Linehan, 1993]. Denn nur so hohen Frequenz selbst verletzten, erfassten Houben et al. kann die Kontingenz des Belohnungsreizes der NSSV [2017] über Palmtop-Geräte kontinuierlich die emotio- aufgebrochen werden. nalen Zustände über mehrere Tage. Hier zeigte sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Auftreten von aver- Kann Suizidalität bei Borderline ähnlich verstanden siven Gefühlszuständen mit einer darauffolgenden werden wie NSSV? Selbstverletzung. Erstaunlicherweise konnte so nicht nur Brown et al. [2002] waren bei den ersten, die die Hin- die NSSV mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorherge- tergründe von NSSV und SV miteinander verglichen ha- sagt werden, sondern auch ein darauffolgender, aversiver ben. In beiden Fällen fanden sie, dass Emotionsregulation Gefühlszustand nach einer NSSV (z.B. Scham, “weil ich eine bedeutende Rolle spielt. Im Vergleich zu SV wurde mich wieder verletzt habe”; “versagt habe, anders mit NSSV allerdings häufiger eingesetzt, um bestimmte Ge- dem Stress umzugehen”) sowie eine weitere NSSV als fühle herzustellen, sich selbst zu bestrafen, Ärger zum Folge auf diese unangenehme Emotion (Abb. 1). Aus die- Ausdruck zu bringen oder sich abzulenken. SV hingegen ser kontingenten Abfolge aus (kurzfristiger) Erleichte- wurden signifikant häufiger durchgeführt, damit es ande- rung (negative Verstärkung) und Aktivierung selbstab- ren besser geht. Tabelle 2 gibt nach dem aktuellen Stand wertender Gedanken kann man sich gut vorstellen, wie es der Literatur eine Übersicht zu den Gemeinsamkeiten bei unseren Patienten zu einem Teufelskreis mit wieder- und Unterschieden von NSSV und SV. holten Selbstverletzungen (mitunter an nur einem Tag) Nichtsdestotrotz sind SV nur ein Symptom von Suizi- kommen kann [Houben et al., 2017]. dalität. Auch wenn Borderline-Patienten keine SV unter- Das Verstärkermodell der Suizidalität Verhaltenstherapie 3 DOI: 10.1159/000518239
Abb. 1. Kontingenz von NSSV. A NSSV tritt bei BPS in der Folge auf eine (meist) aversive Emotion auf. B Auf das NSSV folgt (nach einer kurzfristigen Erleichter- ung) jedoch wiederum eine aversive Emo- tion (z.B. Scham, Selbsthass). C Die sich so einstellende, kontingente Abfolge von Emotion, NSSV und Emotion macht es möglich, mit einer hohen Wahrscheinlich- keit sogar die anschließende aversive Emo- tion nach einer nächsten NSSV vorhersa- gen zu können. Modifiziert nach Houben et al. [2017]. nehmen, leiden sie oft unter wiederkehrenden Suizidide- wegen Krisen oder NSSV noch häufig in Notaufnahmen ationen, beschäftigen sich mit dem Tod und Suizid im und geschützten Stationen behandelt werden, sondern Internet oder tauschen Suizidmethoden in sozialen Me- eher nach Jahren erfolgloser Therapien in einem fortwäh- dien aus [Forsthoff et al., 2006]. Tatsächlich finden ge- renden Zustand chronischer Suizidalität [Paris, 2019]. Es häufte NSSV und SV typischerweise in einer umschriebe- spricht daher Einiges dafür, neben dem klinischen Ma- nen, relativ frühen Krankheitsphase der BPS statt [Zana- nagement von NSSV und SV, frühzeitig in der Psychothe- rini et al., 2008], Suizidideationen hingegen sind häufig rapie wiederkehrende Suizidgedanken gezielt zu behan- über viele Jahre vorhanden [Paris, 2019]. Nicht selten deln, um spätere Suizide zu verhindern. An dieser Stelle werden letztere als “nicht akute” Suizidalität auch im pro- kommt jetzt die Frage auf, ob wir das bei NSSV hilfreiche fessionellen Umfeld abgetan. Brisanterweise kommt es Verstärkermodell auch auf chronische Suizidalität über- aber dann tatsächlich bei diesen Patienten vor allem im tragen und ähnliche Konsequenz-Kontingenz-Abfolgen späteren Krankheitsverlauf zu vollendeten Suiziden [Pa- für das Auftreten von Suizidgedanken als Antwort auf ris und Zweig-Frank, 2001]. D.h., Borderline-Patienten aversive Gefühlszustände angenommen werden können. haben – statistisch gesehen – nicht ihr höchstes Suizidri- Mit anderen Worten: siko im jungen Alter und in der Krankheitsphase, wo sie 4 Verhaltenstherapie Hennings DOI: 10.1159/000518239
Abb. 2. Das Problemlöse-Modell der Suizidalität. In einer als un- zid eine Lösung jeglicher Problemsituationen darstellt und dass erträglich, unendlich oder unausweichlich erlebten Situation (eng- andere Strategien nicht zur Verfügung stehen oder nicht erfolgs- lisch: “The Three Is”: intolerable, interminable and inescapable) versprechend sind. Als antisuizidale Intervention geht es nach die- werden Problemlösestrategien benötigt, um das Leiden zu been- sem Modell einerseits darum, das Leid zu reduzieren (z.B. durch den. Theoretisch steht am Ende einer Kette von möglichen Maß- eine Medikation) und andererseits Fertigkeiten aufzubauen, mit nahmen, wenn sie erfolglos waren, immer auch der Suizid. Men- einer Situation umzugehen oder sie zu verändern. Modifiziert schen mit wiederholten suizidalen Krisen sind überzeugt, dass Sui- nach Chiles und Strosahl [2004] und Bilsker und Forster [2003]. Tabelle 2. Funktionen von nichtsuizidaler Selbstverletzung und Suizidversuchen1 Nichtsuizidale Selbstverletzung Suizidversuch Regulation negativer Affekte, Emotionsregulation (häufigste Emotionale Erleichterung, Nachlassen von psychischen Nennung (63–78% in Taylor et al. [2018]) Schmerzen (von den meisten Patienten in Brown et al. [2002] angegeben) Selbstbestrafung Interpersonelle Einflussnahme (wahrscheinlich weniger bedeutsam als bei NSSV) Antidissoziativ (z.B. Schmerzreize stoppen Taubheitsgefühl) Damit es anderen besser geht/keine Last mehr für andere zu sein (stärker als bei NSSV) Interpersonelle Einflussnahme (z.B. Not/Leiden kommunizieren; Gefühl von Kontrolle das Verhalten anderer beeinflussen; aktiv andere bestrafen/ Schmerz zufügen; insgesamt weniger bedeutsam als Affektregulation; 33–56% in Taylor et al. [2018]) Antisuizidal (z.B. Stoppen von Suizidgedanken/-impulsen) Sensationslust, Ablenkung (“etwas Aufregendes tun“) Zugehörigkeit (z.B. Teil einer Peer-Gruppe werden, mit anderen ähnlich (nicht anders) sein) 1 Bitte beachten Sie, dass die Daten [Tullis, 1998; Brown et al., 2002; Klonsky, 2007; Klonsky et al., 2013; Taylor et al., 2018] aus un- terschiedlichen Erhebungsformen mit unterschiedlichen Definitionen entstammen (validierte, strukturierte Fragebögen, klinische In- terviews und Fallberichte). Aus diesem Grund sind Faktoren, die wahrscheinlich zusammenhängen oder ähnlich sind, in einer Zelle dargestellt. Können Gedanken ähnlich wie ein Verhalten in ein können diese Konsequenzen mich dahingehend verstär- Verstärkermodell gefasst werden? ken, dass ich in einer vergleichbaren Situation nächstes Wenn wir in der Psychotherapie mit Verhaltensanaly- Mal ähnlich handeln werde. Zum Beispiel, wenn ich in sen arbeiten, fokussieren wir uns üblicherweise auf ein einer als ausweglos empfundenen Situation mit hoher (meist) dysfunktionales Verhalten – also Dinge, die wir Anspannung erfahren habe, dass Schneiden unmittelbar getan haben, die gewisse angenehme oder unangenehme zu einer Erleichterung führt (negative Verstärkung) oder Konsequenzen nach sich ziehen. Wie oben beschrieben, mir sogar das Gefühl gibt, ich habe mich/die Situation Das Verstärkermodell der Suizidalität Verhaltenstherapie 5 DOI: 10.1159/000518239
unter Kontrolle (positive Verstärkung). Ist es aber wirk- für Suizidassoziationen in einer ähnlichen aversiven Situ- lich etwas anderes, wenn ich mich stattdessen gedanklich ation erhöht (Abb. 3). mit Suizid beschäftige, und ich dadurch eine Erleichte- Der (negativ) verstärkende Effekt, den jemand durch rung erfahre, weil ich eine Vorstellung entwickle, dass ich die Erleichterung in einer solchen Situation erfährt, in aus der Situation herauskommen kann? Chiles und Stro- dem er an den Tod denkt, mag sogar noch größer sein, sahl [2004] haben beobachtet, dass Jugendliche, die durch wenn er sich genau vorstellt, wann, wo und wie er Suizid Auslöser von innen (z.B. Denken an eigene Unzuläng- begeht [Chiles und Strosahl, 2004]. So kann es zu einer lichkeit) oder außen (z.B. durch Mobbing) starken seeli- Gewohnheit werden, im Internet nach Suizidmethoden schen Schmerz empfinden, Erleichterung erfahren, wenn zu recherchieren, Suizid auf entsprechenden Online- sie in der Situation an Suizid denken. Kürzlich konnte in Plattformen zu diskutieren oder den Suizid vorzubereiten einer Echtzeit-Untersuchung über 28 Tage mit Smart- (z.B., indem Tabletten gesammelt, Orte zum Erhängen phones (ähnlich wie bei der oben erwähnten Studie von oder eine Brücke zum Springen ausgesucht werden). Je- Houben) dargestellt werden, dass bei Patienten mit einer mand, der Suizidideationen hat, erfährt von dieser Pers- Vorgeschichte von SV sich der Affekt immer dann ver- pektive aus die “ultimative Verstärkung” – einen Weg, besserte und Traurigkeit abnahm, wenn Suizidgedanken der es ihm erlaubt, dauerhaft und vollständig schwierige auftraten [Kleiman et al., 2018]. Die Autoren stellten da- emotionale Erfahrungen zu kontrollieren [Chiles und her die Frage, ob hier Suizidgedanken als Verstärker fun- Strosahl, 2004]. gieren können. Ähnlich wie verschiedene Verhaltens- muster (wie z.B. NSSV, Essstörung, Substanzkonsum) im Süchtig machende und ansteckende Suizidalität? Sinne der von Hayes [2004] beschriebenen Erfahrungs- Tullis [1998] hat in seiner Theorie der Suizid-Abhän- vermeidung verstanden werden können (Verlassen, Ver- gigkeit (A theory of suicide addiction, 1998) die hier er- meiden oder Ändern einer unangenehmen Erfahrung), wähnten Verstärkermechanismen an seinen Patienten kann die gedankliche Beschäftigung mit Suizid die Funk- eindrucksvoll beschrieben: “Über Suizid nachzusinnen tion haben, Emotionen zu unterdrücken und seelisches kann bei einigen Menschen durchaus angenehm sein, Leiden zu kontrollieren [Murrell et al., 2014]. In der Be- oder es stoppt zumindest psychisches Leiden. Suizidale zugsrahmentheorie [Hayes et al., 2001] und der Akzep- Gedanken oder Verhalten kann eine Form der Selbstme- tanz-Commitment-Therapie (ACT) [Hayes, 2004] geht dikation bei diesen Menschen sein; das erneute Durchle- Hayes davon aus, dass menschliches Verhalten immer ben früherer Suizidversuche in Gedanken oder die bildli- eine Funktion hat. So kann auch die gedankliche Beschäf- che Vorstellung des eigenen Tods kann zu einem Ritual tigung (eine Form von “Verhalten”) mit Suizid als eine (oder gar Trance-ähnlichem Rauschzustand) werden, das gelernte und verstärkte Art des Problemlösens betrachtet ein Gefühl von Kontrolle und einen möglichen Ausweg werden, z.B. indem intensive negative Emotionen abge- aus dem Leiden vermittelt.” Tullis selbst beobachtete bei schaltet oder vermieden werden[Chiles und Strosahl, seinen Patienten diesen Beruhigungseffekt von Suizidge- 2004] (Abb. 2). Nach Hayes ist die Erleichterung (relief) danken, der bis hin zu rauschähnlichen oder euphori- in solchen Situationen nicht direkt konditioniert (d.h., schen Zuständen reichte (rush, high, thrill, exhilaration). die Person hat nicht bereits erlebt, dass der Tod von see- Er stellte auch einen Toleranzeffekt dieser Wirkung über lischen Schmerzen befreit), wie es bei der klassischen die Zeit fest, so dass Patienten – ähnlich wie es bei Subs- Konditionierung der Fall ist (z.B. Vermeiden geschlosse- tanzabhängigkeiten beobachtet wird – zwangsähnliche ner Räume bei der Agoraphobie oder dem Nachlassen Rituale und Verhaltensmuster entwickelten, wenn sie z.B. von Zwangsgedanken (z.B. Kontamination) beim Aus- Tabletten oder allerhand Paraphernalien für den Suizid führen von Zwangshandlungen (z.B. exzessivem Hände- sammeln und horten. Tullis Beobachtungen unterstützen waschen)). Stattdessen werden sogenannte verbale also die Hypothese, dass bei manchen Menschen die Be- “wenn…, dann”-Assoziationen konstruiert (z.B.: ”Wenn schäftigung mit Suizidgedanken angenehm ist, seelische ich sterbe, werde ich nicht mehr von meinen Klassenka- Schmerzen reduziert und eine Art “Way of life” werden meraden gemobbt”) [Hayes, 1992]. Dieses “verbale Ver- kann [Paris, 2004] – psychologisch gesprochen: eine Be- halten” unterliegt Langzeit-Konditionierungsprozessen schäftigung, die Verstärker- und Kontingenzmechanis- und kann aversive (negative) oder appetitive (positive) men unterliegt. Konsequenzen beinhalten (zur Übersicht: Murrell et al. Es wird (z.B. in akut-psychiatrischen Stationen) nicht [2014]). selten beobachtet, dass Borderline-Patienten dysfunktio- Wendet man nun dieses Modell auf die chronische Su- nale Verhaltensweisen von anderen Borderline-Mitpati- izidalität bei der BPS an, können Suizidideationen (das enten “abgucken” und übernehmen. So fängt z.B. eine Pa- “verbale Verhalten”) Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit tientin an, sich zu ritzen, obwohl sie es nie zuvor getan und unerträgliche Wut reduzieren und gleichzeitig als ein hatte, was wiederum nahelegt, dass es (zumindest kurz- negativer Verstärker wirken, der die Wahrscheinlichkeit fristig) eine deutlich positive Konsequenz beinhaltet: He- 6 Verhaltenstherapie Hennings DOI: 10.1159/000518239
Abb. 3. Kettenanalyse und SORKC-Modell von Suizidalität. Jes- chenden Internetseiten beruhigt Jessica und lässt in ihr ein Gefühl sicas Verhaltens-(Ketten-) Analyse von suizidalen Symptomen von Hoffnung und Kontrolle entstehen (“Ich kann da immer noch (hier: Suizidgedanken, Internetrecherche, Suizidvorbereitung), rauskommen”, “Es gibt einen Ausweg”, “Ich muss nicht weiter die auftraten, nachdem ihr Freund die Beziehung in Frage gestellt leiden”). Die Kontingenz zwischen psychischem Schmerz und der hat (Auslöser, S). Jessica ist zunächst perplex und hat Angst, Peter Erleichterung (K/C) wirkt als ein negativer Verstärker (¢-), der die zu verlieren (primäre Emotionen; Traurigkeit wäre hier z.B. auch Wahrscheinlichkeit erhöht, dass in der nächsten Anspannungssit- denkbar). Die ersten Gefühle verschwinden rasch, nachdem Jes- uation ebenfalls Suizidalität auftritt. Andererseits folgen langfris- sicas maladaptive kognitive Schemata (O) aktiviert sind (ihre In- tig (beinhaltet hier alles direkt nach “kurzfristig”) auch aversive terpretation der Situation vor dem Hintergrund ihrer Kindheitser- Emotionen wie Insuffizienzgefühle, Scham, Einsamkeit (“Ich ge- fahrungen). Diese Bewertungen wiederum aktivieren sogenannte höre einfach nicht in diese Welt”, “Ich bin beziehungsunfähig”, sekundäre Emotionen (wie z.B. Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, “Ich bin alleine, der Tod ist mein einziger Freund”), die wiederum Panik) und verursachen zusätzliches seelisches Leid und Anspan- die dysfunktionalen Grundannahmen bestärken und bestätigen. nung. Es sei darauf hingewiesen, dass der Übergang von primären So entsteht ein Teufelskreis aus der Verstärkung der Suizidalität zu sekundären Emotionen vor allem bei BPS sehr schnell gehen und der wiederholten Bestätigung zentraler kognitiv-emotionaler kann. Oft sogar so schnell, dass die primäre Emotion überhaupt Schemata, die letztendlich zu wiederkehrender, anhaltender und nicht wahrgenommen wird [Linehan, 1993]. Gedanken an den ei- schließlich chronischer Suizidalität führen. genen Suizid, der Austausch mit Peers oder im Chat auf entspre- rausfinden, was im Moment am besten hilft, Spannung zu lich existenziell. In der Sprache der Verhaltensanalyse be- reduzieren; mit Peers verbunden fühlen, die mich verste- stimmt die Organismus-Variable, wie wir einen Stimulus hen [Taiminen et al., 1998; Prinstein et al., 2010]. Jetzt verarbeiten und letztendlich darauf reagieren [Ellis, können wir spekulieren, dass der Austausch von Sui- 1969]. Neben rein biologischen Faktoren (z.B. Wachheit, zidthemen über soziale Medien ein ähnliches Phänomen genetische Disposition, andere körperliche Einflussfak- darstellt: Patienten “testen” verschiedene Suizidassoziati- toren) ist die Organismus-Variable wesentlich durch un- onen an, während sie untereinander darüber diskutieren sere eigenen Erfahrungen beeinflusst – Botschaften, die und erfahren in dieser Konditionierung eine (erstmalige) wir als Kind erhalten haben, oder Verhaltensmodelle, die Verstärkung. wir vor uns hatten [Young et al., 2003]. Ähnlich wie in dem klinischen Beispiel in Abbildung 1 haben suizidale Bewertungen und Glaubenssätze sind die toxischen Jugendliche und Borderline-Patienten nach ihren frühen Zutaten des Verstärkermodells der Suizidalität Erfahrungen von Invalidierung oder Traumatisierung Wenn wir nach einem geeigneten Ansatz suchen, Sui- häufig Vorstellungen, wertlos, unangemessen, zurückge- zidalität bei BPS anzugehen, wird die Auseinanderset- wiesen oder schuldig zu sein [Young et al., 2003; Murrell zung mit den Hintergründen und Motiven sprichwört- et al., 2014]. Typische Beispiele hierfür sind Gedanken, Das Verstärkermodell der Suizidalität Verhaltenstherapie 7 DOI: 10.1159/000518239
wie “Ich kann nicht alleine leben”, “Ich bin falsch”, “Ich hafte Gedanken, sich das Leben zu nehmen – das ist nicht habe keinen Platz in der Welt”, “Ich bin ein schlechter so ungewöhnlich oder komisch”) kann Scham (mit den An- Mensch”, “Das schaffe ich nicht”. Diese automatischen forderungen des Lebens nicht zurecht zu kommen) abbau- Gedanken sind sehr robuste Überzeugungen von sich en [Murrell et al., 2014]. In dem so geschaffenen von Ak- und der Welt um einen herum (“Glaubenssätze” in der zeptanz getragenen Behandlungsrahmen kann Suizidalität dialektisch-behavioralen Therapie), die durch Signale aufrichtig und ehrlich diskutiert werden. von innen oder außen aktiviert (bewusst) werden [Beck, Die Arbeit mit dysfunktionalen Grundannahmen und 1976], z.B., jedes Mal, wenn man sich beleidigt, ent- Überzeugungen ist wahrscheinlich einer der herausfor- täuscht, zurückgewiesen, einsam (…) fühlt. Es konnte derndsten aber langfristig unausweichlichen Schritte in kürzlich gezeigt werden, dass aversive Gefühlszustände in der Psychotherapie der chronischen Suizidalität. Um an Abhängigkeit der Schwere der BPS hoch kontingent mit dieser Stelle eine kognitiv-emotionale Neubewertung zu spezifischen dysfunktionalen Verhaltensmustern ver- erreichen, kommen sowohl kognitive als auch emotiona- knüpft werden (z.B. heftige Wut nach Beleidigung, NSSV le Expositionstechniken zum Einsatz [Linehan, 1993; nach Enttäuschung) [Miskewicz et al., 2015]. Young et al., 2003]. Auch können sogenannte Defusions- Mit Hilfe der Verhaltensanalyse kann der Therapeut Techniken der ACT (Distanzierungs- und Trennungs- nun diese Verstärkerkontingenzen innerhalb des Teufels- techniken von Gedanken und Gefühlen) negative Urteile kreises aus Schlüsselreizen, aktivierten Glaubenssätzen und Glaubenssätze abschwächen [Murrell et al., 2014]. und darauffolgenden Suizidgedanken aufdecken. Er kann Vor dem Hintergrund hoher Raten von Traumatisie- nun adaptivere Verhaltensalternativen erarbeiten und rung und tiefgreifender Invalidierungserfahrungen bei Hindernisse (z.B. intensive Gefühle, Angst, Scham, Schuld chronisch suizidalen Patienten hat insbesondere die ex- oder falsche Annahmen wie “Ich bin ein Versager”, “Ich positionsbasierte Traumatherapie einen hohen Stellen- habe kein Recht dazu”) identifizieren, die die Anwendung wert in der Behandlung suizidaler Symptome. Wie die funktionalen Verhaltens verhindern [Linehan, 1993]. neusten Entwicklungen bei der dialektisch-behavioralen Ähnlich wie im Verstärkermodell von NSSV können Therapie für die posttraumatische Belastungsstörung wir annehmen, dass die Verstärkerfunktion von Suizid- zeigen, kann (und wahrscheinlich sollte) diese Konfron- gedanken und -handlungen zentrale Grundannahmen tation frühzeitig im Rahmen eines spezialisierten Be- bestätigt und so das dysfunktionale System der chroni- handlungsrahmens erfolgen [Bohus et al., 2013, 2019]. schen Suizidalität stabilisiert und aufrechterhält. In die- Aus der ACT und der mitgefühlsorientierten Therapie sem Punkt der langfristigen Dynamik verhält es sich bei (compassion-focussed therapy) nach Gilbert kommen NSSV anders: Das schnelle Auftreten einer erneuten Techniken, die den anschließend notwendigen Trauer- aversiven Emotion als Antwort auf das NSSV wie oben prozess und schließlich die Akzeptanz dessen, was in der beschrieben [Houben et al., 2017] kann hier als Bestra- Vergangenheit passiert ist, unterstützen [Hayes, 2004; fung im behavioralen Sinne wirken und trägt möglicher- Gilbert, 2010]. weise dazu bei, dass von dem selbstverletzenden Verhal- Parallel ist es wichtig, alternative nicht suizidale Ver- ten mit der Zeit abgelassen wird (eine häufige klinische haltensweisen aufzubauen, die zumindest anfänglich Beobachtung im Verlauf der BPS). Bei der chronischen durch den Therapeuten verstärkt werden. Langfristig ist Suizidalität fehlt dieser ungewünschte Effekt, so dass sie das Ziel, ein natürliches Verstärkersystem einzurichten, oft über viele Jahre bestehen bleibt. z.B. indem die Werte des Patienten genutzt werden: Auf- bau und Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis, Gefühl Therapeutische Interventionen, die aus dem von Verbundensein, indem man sich sozial integriert und Verstärkermodell der Suizidalität abgeleitet werden Verantwortung übernimmt (ehrenamtliche Tätigkeit, können sich ein Haustier halten, …). Werteorientierung oder Die situationsspezifischen Motive und psychischen werteorientiertes Handeln kann man als eine Form von Funktionen hinter suizidalem Verhalten anzusprechen Hayes “verbalem Verhalten” auffassen und davon ausge- mag ein erster, aber sehr wirkungsvoller Schritt in der the- hen, dass es ebenso langfristig konditioniert werden rapeutischen Arbeit mit suizidalen Borderline-Klienten kann: “Wenn ich lebe/am Leben bleibe, werden meine sein. Der Klient kann eine substantielle Validierung erfah- Eltern vielleicht sehen, wie ich eines Tages einen Schul- ren, indem er seine eigene Verhaltensanalyse mit dem The- abschluss erreiche” oder “Wenn ich Suizid begehe, wird rapeuten bespricht und beide Seiten die aufrechterhalten- es meinen Eltern sehr weh tun, zu meiner Beerdigung zu den Verstärkermechanismen verstehen (Abb. 3). Die Nor- gehen” [Murrell et al., 2014]. malisierung von Suizidgedanken und -verhalten aus der Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll die Tabelle im Perspektive des Betroffenen (“Wenn ich in dieser Situation Anhang eine Übersicht über mögliche Interventionen ge- gewesen wäre, hätte ich ähnlich gehandelt/gefühlt”) und im ben, die aus einem individuellen Verstärkermodell der Vergleich zu anderen (“Viele in deinem Alter haben ernst- Suizidalität abgeleitet werden können (online suppl. Zu- 8 Verhaltenstherapie Hennings DOI: 10.1159/000518239
Tabelle 3. Therapeutische Begriffe ACT Akzeptanz-Commitment-Therapie CFT Mitgefühlsorientierte Therapie (compassion-focussed therapy) Commitment Bereitschaft; Umfassendes Einlassen auf die Therapie/einen therapeutischen Schritt. Geht über Therapiemotivation hinaus Der neue Weg Werte- und zielorientierter Weg unter Einsatz funktionaler Strategien zur Problembewältigung (in Abgrenzung zum “alten Weg”) DBT Dialektisch-behaviorale Therapie Glaubenssatz Automatische Gedanken, dysfunktionale Überzeugungen von sich und der Welt Hochstress Psychische Anspannung, die in der DBT im Bereich von 70–100% definiert wird; typische Symptome sind: Tunnelblick, Gedankenkreisen, starke muskuläre Anspannung, verminderter Realitätsbezug bis hin zur Dissoziation Kettenanalyse Form der Verhaltensanalyse, bei der Emotionen, Kognitionen und sichtbares Verhalten in aufeinanderfolgenden Kettenelementen dargestellt werden Primäre Emotion Emotion, die direkt mit der Situation zu tun hat und in der Regel auch als erste Emotion wahrgenommen wird; bei BPS kann sie vor dem Hintergrund schwieriger Erfahrungen sehr kurz oder gar nicht wahrgenommen werden, da rasch oder sofort sekundäre Emotionen präsent sind Sekundäre Emotion Emotion, die nach Bewertung/Interpretation eines Auslösers auftritt; im Gegensatz zur primären Emotion kann sie keinen Bezug zur aktuellen Situation aufweisen oder aber unangemessen stark sein Skill Fertigkeit. Im Sinne der DBT eine alltagstaugliche, selbstinstruierte Selbstregulation (auf mentaler oder Handlungsebene), die weder für mich noch andere kurz- oder langfristig schädlich ist – oder zumindest deutlich weniger schädlich als das ursprüngliche Problemverhalten (z.B. Riechen an Ammoniak statt Selbstverletzung) Telefoncoaching Form der therapeutischen Unterstützung in Krisensituationen; der Therapeut coacht den Klienten am Telefon während einer Krise Validierung Durch Mimik, Gestik, Körperhaltung oder Sprache verdeutlichen, dass man die subjektive Sicht des Gegenübers für stimmig und nachvollziehbar hält; wiederholte und intensive Erlebnisse von Invalidierungen (“Du spinnst doch”, “Kannst du nicht einfach so sein wie ein normales Kind”, “Warum weinst du schon wieder”, Gewalterfahrungen, Mobbing …) spielen im Genesemodell der Borderline-Störung eine zentrale Rolle satztab. 1; für das ganze online suppl. Material, siehe den Betroffenen dazu, dass seelische Schmerzen abneh- www.karger.com/doi/10.1159/000518239). Es handelt men, sei es durch die Reduktion aversiver Spannung, sei sich hierbei um Standardtechniken der Verhaltensthera- es, indem sie einen möglichen Ausweg aufzeigen, oder pie, wie sie auch in der dialektisch-behavioralen Thera- indem sie ein Gefühl von Kontrolle über schwierige Ge- pie, ACT oder der mitgefühlsorientierten Therapie zur fühle wie Schuld und Scham geben. Es ist also gut nach- Anwendung kommen: Validierungstechniken, Psycho- vollziehbar, dass Verstärkermechanismen auch bei der edukation, kognitive Techniken, Techniken der Emoti- chronischen Suizidalität eine Rolle spielen. Tatsächlich onsregulation und -exposition, Aufbau alternativer Ver- konnte dieses Konzept in einer kürzlich erschienen Stu- haltensweisen und Fertigkeiten (therapeutische Begriffe die neurobiologisch erhärtet werden: Mittels autobiogra- in Tab. 3). Sie beziehen sich auf das klinische Beispiel in fischer Transkripte und Imaginationen wurden frühere Abbildung 1, können aber auch auf andere Klienten mit suizidale Episoden während einer funktionellen Kern- chronischer Suizidalität übertragen werden. spin-Tomografie wiedererlebt. Hierbei zeigte sich, dass der seelische Schmerz, der suizidales Verhalten getrig- gert hatte, mit einer Abnahme präfrontaler Hirnaktivität Diskussion verbunden war, das Planen und Ausführen von suizida- len Impulsen (in der gedanklichen Vorstellung) als Ant- Ähnlich wie bei der NSSV können suizidale Gedan- wort auf den seelischen Schmerz aber mit einer Zunah- ken und Verhaltensweisen verschiedene Hintergründe me der Hirnaktivität im medialen präfrontalen Kortex, und Funktionen haben. Im Wesentlichen führen sie bei dem anterioren Cingulum sowie dem Hippocampus – Das Verstärkermodell der Suizidalität Verhaltenstherapie 9 DOI: 10.1159/000518239
was nach Einschätzung der Autoren nahelegt, dass ziel- früher bereits den Verlust physischer Integrität und Un- gerichtetes suizidales Verhalten (in der Vorstellung) zu verletztheit erfahren zu haben (z.B. NSSV, früherer SV, einer Abnahme von seelischem Schmerz führt [Reisch et Kindesmissbrauch). Auf der anderen Seite steht das Ge- al., 2010]. fühl von Verbundensein als eines der stärksten suizid- Immer noch besteht eine große Lücke in der Literatur, protektiven Faktoren [Klonsky und May, 2015]. Nichts- was die psychologischen Funktionen der einzelnen suizi- destotrotz mag die Zuverlässigkeit selbst der besten Prä- dalen Symptome betrifft. Lebensüberdruss, passive To- diktoren (d.h. der negativ-prädiktive Wert in diesem deswünsche, die gedankliche Vorstellung des eigenen Fall) zu gering sein, um es dem Therapeuten zu erlauben, Todes oder die Durchführung eines SV können mögli- einen Suizid auszuschließen – mit anderen Worten: Der cherweise sehr unterschiedliche Funktionen und neuro- klinische Nutzen von Prädiktoren in der konkreten Situ- biologische Effekte haben – und zwar zwischen den Be- ation, wo es um eine Risikoeinschätzung geht, ist be- troffenen, aber auch innerhalb einer Person in Abhängig- schränkt [Burke et al., 2018; Paashaus et al., 2019; Ren et keit der Situation. In einer vergleichenden Untersuchung al., 2019]. Und es bleibt natürlich die Frage, was man der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren (HPA)- dann mit einem Borderline-Patienten in der Psychothe- Achse bei depressiven Patienten zeigte sich z.B., dass nach rapie macht, der Suizidrisikofaktoren trägt? Wie soll der einem Suizidversuch die Stresshormon-Antwort stark Therapeut anhand dieser Informationen vorgehen, was herunterreguliert ist im Vergleich zu Patienten, die “nur” soll er unterlassen? Ohne Zweifel sollte die chronische Suizidgedanken hatten [Pfennig et al., 2005]. In einer Suizidalität gerade bei diesen Patienten psychotherapeu- prospektiven Studie über 18 Monate war induzierter tisch angegangen werden. Nach einem allgemeinen Ver- Peer-Stress prädiktiv für das Auftreten von Suizidgedan- ständnis in der dritten Welle der Verhaltenstherapie ken unabhängig von der HPA-Achsen-Regulation, für kann unser Gehirn ein neues Verhalten nur lernen, bzw. das Auftreten eines Suizidversuches jedoch nur bei Pati- eine korrigierende Erfahrung machen, wenn wir uns in enten mit einer herunterregulierten HPA-Achse [Eisen derselben oder einer ähnlichen Situation befinden, die lohr-Moul et al., 2018]. Epigenetische Mechanismen sonst das alte (dysfunktionale) Verhalten ausgelöst hat scheinen bei der Pathophysiologie der Suizidalität, insbe- (diskutiert bei Young et al. [2003]). Mit anderen Worten sondere auch der Regulation der HPA-Achse, eine Rolle muss der Patient in einer Situation alternativ handeln zu spielen [Roy und Dwivedi, 2017]. Sie könnten einige (oder denken), in der er bisher suizidal wurde. An dieser zeitlich überdauernde Effekte (z.B. die Hyporeaktivität Stelle würde er nun wahrscheinlich keine neuen Erfah- der HPA-Achse), wie sie bei wiederholten Suizidversu- rungen machen, wenn er in ein Krankenhaus eingewie- chen beobachtet werden, erklären. Die Bedeutung dieser sen und somit die ambulante Therapie unterbrochen Befunde und deren Zuordnung in psychologische Mo- würde. Es würden vielmehr alte Grundannahmen bestä- delle der Suizidalität müssen sicher weiter erforscht wer- tigt werden (“Ich habe wieder versagt”, “Ich bekomme es den. Die Herausforderung hierbei wird sein, anspruchs- alleine einfach nicht hin”, “Ich gehöre bestraft, weil ich volle neurobiologische und psychologische Untersu- mich schlecht verhalte”, “Suizid ist noch die beste Opti- chungsmethoden miteinander zu kombinieren und eine on”). Im Gegenteil sollte der Therapeut dem Patienten klare Abgrenzung einzelner suizidaler Symptome vorzu- gerade in dieser Zeit aktiv zur Seite stehen. Das könnte nehmen. z.B. in einer Krise oder in einem Zustand aktivierter kri- Auch aus der klinischen Sicht ist eine genaue Erhe- tischer Emotionen (von denen der Therapeut weiß, dass bung des Schweregrades der Suizidalität anhand der li- sie mit suizidalem Verhalten bei dem Patienten ver- nearen Symptomatologie (Lebensüberdruß, passive To- knüpft sind) so aussehen, dass der Therapeut den Pati- deswünsche, handlungsweisende Suizidideationen und enten anleitet, seine Emotionen zu regulieren, mit ihm suizidvorbereitende Handlungen sowie Suizidversuch) die Situation reflektiert (Metaperspektive) und ihn kon- wichtig, um eine zuverlässige Risikoeinschätzung für die kret unterstützt, alternatives Verhalten anzuwenden. Te- Suizidgefahr beim Patienten vorzunehmen. Der Thera- lefon- und Online-Coaching, Techniken der Emotions- peut möchte an dieser Stelle auch wissen, welche Fakto- regulation und Stresstoleranz sowie eine eingehende ren den Patienten von einem Suizidideator zu einem Su- Verhaltensanalyse von suizidalem Verhalten und Den- izidversucher werden lassen. In verschiedenen Modellen ken sind therapeutische Werkzeuge, die hier hilfreich zur Suizidalität kommen Furchtlosigkeit vor dem Tod sein können. und Schmerztoleranz bei dieser Frage eine besondere Be- Die intensive Arbeit an der Seite suizidaler Patienten deutung zu [Joiner, 2005; O’Connor, 2011; Klonsky et al., ist oft herausfordernd und braucht auch für den Thera- 2013; Klonsky und May, 2015; Franklin et al., 2017]. Sehr peuten einen sicheren Rahmen. Neben einem Commit- wahrscheinlich stehen die robustesten Prädiktoren für ment auf beiden Seiten (“den neuen Weg zu gehen”, “ei- einen späteren SV mit diesen beiden Faktoren in engem nen Weg zu finden, am Leben zu bleiben”, “bereit zu sein Zusammenhang, weil sie die Tatsache widerspiegeln, für die Konfrontation”) werden folgende Bedingungen 10 Verhaltenstherapie Hennings DOI: 10.1159/000518239
für eine Psychotherapie der chronischen Suizidalität bei meinsames Commitment zu finden, gezielte therapeuti- Borderline empfohlen [Linehan, 1993]: Ein Non-Suizid- sche Interventionen zu planen, die die bisherigen vertrag mit möglichst konkreten und individuell zutref- suizidalen Kontingenzen hilft aufzulösen. fenden Formulierungen (“Ich werde keinen Suizidver- such unternehmen”, “Ich werde keine Tabletten für ei- Hinweis nen Suizid sammeln”, “Ich lege Suizidpläne gegenüber meinem Therapeuten offen”…), ein funktionierender Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige und eingeübter (!) Krisenplan (Skillskette mit Hoch- Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers stress-Skills, Fertigkeiten zur Emotionsregulation und (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten Krisenkontakten mit Prioritätenreihenfolge) sowie klare gleichermaßen für alle Geschlechter. Kontingenzvereinbarungen (was passiert nach NSSV, ei- nem Suizidversuch, die Therapie schädigendem Verhal- ten, …). Acknowledgement Es besteht weiterhin ein großer Bedarf, validierte anti- Der Autor dankt Frau Cordula Leutenbauer und Frau Julia suizidale Interventionen einer größeren Zahl Betroffener Mayer für den hervorragenden fachlichen Austausch. zugänglich zu machen. Neuere Suizidpräventionspro- gramme über das Internet und soziale Medien sollen nie- derschwellig Risikopopulationen erreichen und das Wis- Statement of Ethics sen über Suizidprävention verbreiten [Wasserman et al., 2015; Robinson et al., 2018]. Es braucht in der Therapie Bei den im Artikel berichteten klinischen Beispielen handelt es aber oft Zeit, eine vertrauensvolle Therapeut-Patienten- sich um typische, jedoch fiktive Fälle. Etwaige Gemeinsamkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig. Beziehung sowie eine nichtwertende Haltung des Thera- peuten, um den individuellen Hintergrund von Suizida- lität zu verstehen und Funktionalitäten herauszuarbeiten. Conflict of Interest Statement Das hier vorgestellte Verstärkermodell der Suizidalität wendet klassische verhaltenstherapeutische Techniken Der Autor erklärt hiermit, dass kein Interessenkonflikt besteht. bei chronisch suizidalen Borderline-Patienten an und ist insofern nicht neu. Es integriert theoretische Konzepte, die sich bereits für das Verständnis verwandter Phäno- Funding Sources mene wie NSSV oder SV als hilfreich erwiesen haben. Es beinhaltet bekannte Interventionen, die in der Behand- Es besteht keine finanzielle Unterstützung für die Erstellung oder Veröffentlichung des Manuskripts. lung von Suizidalität und der BPS wirkungsvoll sind, wie z.B. die dialektisch-behaviorale Therapie und ACT. Be- sonders (und insofern neu) ist in diesem Modell jedoch Author Contributions die Betonung von Verstärkermechanismen für die Ent- stehung und Aufrechterhaltung von chronischer Suizida- Der Autor bestätigt, der alleinige Autor der Arbeit zu sein und lität. Es unterstützt uns dabei, mit dem Patienten ein ge- einer Veröffentlichung zugestimmt zu haben. Literatur American Psychiatric Association. Diagnostic Bohus M, Schmahl C, Fydrich T, Steil R, Müller- [Internet]. Washington: American Psychi- and statistical manual of mental disorders Engelmann M, Herzog J, et al. A research pro- atric Publishing, 2004 [cited 2019 Dec 1]. [Internet]. 5th ed. Washington: American gramme to evaluate DBT-PTSD, a modular Available from: https://www.scribd.com/ Psychiatric Association; 2013. https://doi. treatment approach for Complex PTSD after document/345714964/John-A-Chiles-Kirk- org/10.1176/appi.books.9780890425596. childhood abuse. 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