Der Bote - Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel
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:: Zeitschrift des Historischen Vereins Herne / Wanne-Eickel e. V. :: Der Bote September 2021 Schutzgebühr: 4,50 € 4. Jahrgang - Nummer 15 September 2021 Bummel über die alte Bahnhofstraße 125 Jahre St. Joseph Herne-Horsthausen 100 Jahre Schwimm-Club Wiking 1921 e. V.
Die 15. Ausgabe Editorial Nun liebe Leser*innen, vor euch liegt die 15. Ausgabe des Boten. Wir werden uns in dieser Ausgabe mit der Bahnhofstraße beschäftigen. Das Titelfoto stimmt bereits auf den historischen Prachtboulevard ein. Schon ein Vorgeschmack auf die kommende Weihnachtszeit. Wir werden auch an zwei Jubiläen erinnern, die in diesem Jahr gefeiert werden: 125 Jahre St. Joseph Kirche in Herne Horsthausen und 100 Jahre Schwimm-Club Wiking. Auf Seite 20 finden Sie eine Collage von Fassadenausschnitten der Bahnhofstraße. Die Fotos hat Dr. Hans Klett gemacht. Wir haben bewusst nicht beigeschrieben, an welchem Haus der jeweilige Ausschnitt entstanden ist und möchten Sie einladen, auf Entdeckungsreise zu gehen. Willi Thomczyk hat uns einen Ausschnitt aus seinem Buch »Kalischewski«, das wir in der letzten Ausgabe vorgestellt haben, geschickt. Er fand den Artikel über die Herner Kinos interessant und hat dazu den passenden Artikel über die Wanne-Eickeler Kinos beigesteuert. Vielen Dank dafür. Den Historische Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. gibt es nun auch als Podcast. Ihr könnt euch bequem zurücklehnen und Artikel des Boten, oder viele weitere Artikel als Hörbeitrag anhören. Ihr findet unseren Podcast auf unserer Homepage und auf allen gängigen Podcast- Plattformen, wie zum Beispiel: Google, Apple, Spotify und vielen anderen. Nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen, Blättern und Entdecken. Kontakt: Thorsten Schmidt und Marcus Schubert redaktion@hv-her-wan.de Schillerstraße 18 44623 Herne Fon: (0 23 23) 1 89 81 87 Fax: (0 23 23) 1 89 31 45 Foto: Carola Quickels Heinrich Daniel Jupp Andreas Ingeborg Gerhard Anna-Maria Behrendt Brückner Gesing Janik Müller-Schuitz Ostkamp Penitzka ✞ Barbara Marcus Gerd E. Willi Friedhelm Rohde Schubert Schug Thomczyk Wessel 2 Der Bote im September 2021
Redaktion: Daniel Brückner, Josef Dorlöchter †, Inhalt Andreas Janik, Dr. Hans Klett, Ingeborg Müller- Schuitz, Anna-Maria Penitzka, Dr. Peter Piasecki, Thorsten Schmidt, Marcus Schubert, Gerd E. Schug, Bummel über die alte Bahnhofstraße 4 Willi Thomczyk, Michael Tippmann, Friedhelm Wessel. Kress – Kaufhaus mit langer Geschichte 6 Lektorat: Anna-Maria Penitzka 125 Jahre St. Joseph Herne-Horsthausen 7 Verantwortlich für den Inhalt: Thorsten Die Flucht aus Schlesien - Teil 1 12 Schmidt 100 Jahre Schwimm-Club Wiking Herne 1921 e. V. 16 Titelbild: Bahnhofstraße, Sammlung Friedhelm Wessel »Mutter, erzähl mal von früher« 18 Fotos: Seite 4-5: Sammlung Friedhelm Wessel - Sei- Fassaden-Impressionen 20 te 6: Sammlung Edith Schmidt - Seite 7 - 11: Archiv St. Joseph Gemeinde Horsthausen - Seite 12 - 15: Aufnahmeantrag zum Heraustrennen 21 Sammlung Helene Edwards - Seite 16 - 17: Archiv Schwimm-Club Wiking Herne - Seite 18 - 19: Samm- Schatten an der Wand 23 lung Jutta Schmitz - Seite 20: Dr. Hans Klett - Seite 23: Atompilz von „Little Boy“ über Hiroshima, Quel- Ein Herner in Japan – vor 60 Jahren! 24 le: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ato- mic_cloud_over_Hiroshima_-_NARA_542192_- Neues von Elisabeth Hoffmann 28 _Edit.jpg - Von Charles Levy - U.S. National Archi- ves and Records Administration, Gemeinfrei, https:/ Pfingsten 1937 Herbornseelbach - Herne 28 /c ommons.w ikime d ia.org /w /ind e x.p hp ?c u - rid=56719 - Seite 24 - 26: Heinrich Behrendt - Seite All die schönen Kinos 29 28: Thorsten Schmidt, HGV Herbornseelbach - Seite 31: Daniel Brückner. Friedhelm Wessel - Seite 32 - Ahnenforschung für Einsteiger 30 33: Walter Müller - Seite 36: Jupp Gesing »Kosmos Transparent« im Hallenbad 31 (Etliche Fotos sind oftmals nicht mit dem Namen des Fotografen gekennzeichnet, sodass eine Recher- Das Hallenbad in Wanne-Süd 32 che der Bildrechte in vielen Fällen nicht möglich war. Grundsätzlich haben wir uns darum bemüht, Von C&A zum Robert Brauner Platz 34 alle Urheberrechte an den veröffentlichten Fotos und Dokumenten zu klären. Sollte dies in Einzelfäl- Teile der westlichen Bahnhofstraße 36 len nicht gelungen sein, bitten wir, sich mit uns in Verbindung zu setzen.) Wir weisen darauf hin, dass das Urheberrecht an den Artikeln bei den jeweiligen AutorInnen liegt. Ver- wendung und Abdruck in anderen Medien, auch auszugsweise, ist nur mit deren ausdrücklicher Zu- stimmung gestattet. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion. Druck: Foto: Frank Dieper, Stadt Herne Industriehstraße 17, 44628 Herne Auf dem Bild sind Gerd E. Schug, 2. Vorsitzender unseres Vereins, Dr. Frank Dudda, Oberbürgermeister der Stadt Herne und Mathias Grunert, Bezirksbürgermeister Sodingen (v.l.n.r.) zu sehen. Nach der Eintragung in die »Stifterurkunde Corona-Linde« verlieh der Oberbürgermeister, Dr. Frank Dudda, dem Heimatforscher, Gerd E. Schug die »Goldene Ehrennadel der Stadt Herne«. Der Bote im September 2021 3
Titel Bummel über die a »Komm wir gehen in die Stadt...« Seltsam, schloss sich ein langer Flachbau an. Hier gab es denn wir wohnten ja früher quasi in der Stadt- einst das bekannte Fahrradgeschäft Neumann. mitte, auf der Goethestraße. Aber mit »Stadt« Anfang der 1960er-Jahre konnte ich hier mein war wie immer die Bahnhofstraße gemeint. erstes neues Rennrad, der Marke Rixe, abho- Dort konnte man entweder Einkaufen, Bum- len. Klasse. meln, Verweilen und sogar in eine der unzähli- Gegenüber, an der Ecke gen Kneipen und Kinos schlüpfen. Doch nun Mont-Cenis-Straße, das Sport- von Anfang an. Ich lade zu einem Spaziergang geschäft Padberg. Inhaber Willi ein. Dabei streife ich Gebäude und Geschäfte Padberg kannte ich als guten und erinnere mich an Begebenheiten, die auf Sportler; er war Handballer und dieser langen Straße, zwischen Kreuzkirche (ei- Hobbykegler. Ich stellte man- gentlich sogar noch ein paar Meter weiter, ches Mal für seinen Club die Ke- Richtung Bochum) und Kanalbrücke abspielten gel auf. Gegenüber die Astoria. und für ewig haften geblieben sind. Hier gab es mal in den 1950er- Beginnen möchte ich an der Schauburg mit Jahren ein wenig Randale, als der Bar, in der ich damals als junger Zeitungs- dort ein Film mit Bill Haley, Journalist mal über den Auftritt eines Künst- dem King of Rock’n’Roll lief. Es lers berichten durfte. Weiter vorbei an den fallen mir aber auch Namen wie mächtigen Bauten von Möbel Heiland. Ach- Ritter und Lesener ein. Dann tung, Straßenbahn. Weiter bis zum Buch- und das berühmte CC (habe ich aber Schreibwarengeschäft Schulte-Kornack, Auf nie von innen gesehen). Die der Mauer, die hier in Richtung Kreuzkirche Lichtburg, unser Vorzeigekino. verlief, saß ich oft, wenn wir mal auf die Stra- Zwischendurch die schönen ßenbahn warteten, die meine autolose Familie Fassaden aus den verschiede- nach Bochum brachte. Gegenüber die alte Gast- nen Epochen, wie Gründerzeit stätte Hirdes (nicht Hirdes Ostentor). Auf der und Jugendstil, ein wenig linken Seite dominierte der wuchtige und im- Beachtung geschenkt. Auf der posante Bau, in dem die Bücherei des Deut- anderen Seite die Gloria. Ein wenig weiter die schen Ostens untergebracht war. Dahinter Gaststätte Schemberg. Auf der Westseite, an 4 Der Bote im September 2021
alte Bahnhofstraße der Ecke Behrensstraße, das Geschäft Kress. man sich von Kopf bis Fuß, mit allem was Herz Hier gab es im 1. Stock sogar ein Café. Manch- und Magen begehrte, eindecken. In der dorti- mal sorgten ein paar Musiker am Nachmittag gen Sportabteilung erwarb ich 1962 sogar mei- für Stimmung, damit Torte und Bohnenkaffee ne ersten Skier. Im weiteren Verlauf meiner besser mundeten. Die mächtige Bonifatius- Bahnhofstraße-Tour erreiche ich die Schau- Kirche dominierte diesen burg. Sehe immer noch die Menschenmassen Abschnitt. Es folgten die vor dem Kinos stehen, als hier Ingmar Berg- Westfalenschenke und das manns-Skandal-Film »Das Schweigen« lief. gegenüberliegende Textil- Woolworth, Kepa und das Kaufhaus Nagel lu- kaufhaus Sinn. Hier gab es den ebenfalls zu Einkäufen ein. Kurz vor der sogar eine kleine Passage Brücke, die die Bahnhofstraße überquert, steht und als die Westfalia 1959 ein Mann, der einen gelblichweißen Pullover Westdeutscher Fußballmeis- trägt, vor der Tür seines Fischlokals. Damals in ter wurde, erinnerte dort ein Herne wohl eine Institution. Langsam endet überlebensgroßes Mann- mein historischer Erinnerungsgang, vorbei an schaftsbild an den Erfolg von ein historischen Bau aus der Gründerzeit, in Tilkowski, Wandolek, So- dem über Jahrzehnte eine bekannte Kneipe be- part, Pyka, Clement und Co. heimatet war und zuletzt mit »Wiener Back- Und weiter: Schnell ein Eis hendl-Charme« überzeugte, strebe ich den al- bei Campo. Hier drängten ten Kammerlichtspielen entgegen; muss aber sich nicht nur junge Herner aufpassen, denn hier im Bereich der »mittle- um die eiskalten Spezialitä- ren« Bahnhofstraße, kreuzen Bahnen und Bus- ten zu erhaschen. Gegenüber se ‒ es ist nämlich Hernes Verkehrszentrale je- der »Trutzbau« des legendä- ner Zeit ‒ mit Verbindungen in alle Ortsteile ren Hotels Schlenkhoff, das und die umliegenden Städte. Hier endet mein später einem nüchternen, heutiger, nicht ganz chronologischer Spazier- modernen Hochhaus wei- gang über unsere alte, einst sogar gepflasterte chen musste. Das Kaufhaus Althoff, später Kar- Bahnhofstraße. stadt zog alle Herner magisch an. Hier konnte Friedhelm Wessel Der Bote im September 2021 5
Titel Kress – Kaufhaus mit langer Geschichte N eben Althoff und Sinn konn- ten Herner früher, wenn es um Textilien ging, ihren Be- darf auch im Kaufhaus Kress an der Ecke Bahnhof-/Behrensstraße decken. Später übernahm das Unternehmen Dieler dieses Haus. Edith Schmidt, ge- borene de Verdin, arbeitete dort von 1954 bis 1964. Sie erinnert sich gerne an ihre »Kress-Zeit«. Die 1939 im Rheinland geborene Hernerin absol- vierte dort zunächst eine Ausbildung zur Verkäuferin. Auch an ihr erstes »Jahresgehalt« erinnert sich Edith Schmidt mit einem Schmunzeln: 349 Mark. Im dritten Ausbildungsjahr kam sie immerhin auf 900 Mark. Spä- ter, als Fachverkäuferin in der Mieder- warenabteilung stieg ihres Jahresge- halt bis 1959 auf 2825 Mark. Kress 1954 Im Erdgeschoss des Kaufhauses waren da- Schug, stellvertretender Vorsitzender des His- mals, so Edith Schmidt, folgende Abteilungen torischen Vereins, kann sich ebenfalls noch gut untergebracht: Kurzwaren, Schürzen, Bettwä- an dieses legendäre Café erinnern: »Wenn man sche, Stoffe, Babybekleidung, Herren-Ober- damals, nachmittags das Café betrat, sah man hemden und Strümpfe. meist nur Hüte, denn keine Frau ging in jenen Tagen unbehütet aus dem Haus.« Im Stockwerk darüber gab es Oberbeklei- dung – Kleider, Mäntel und Gardinen. Die Be- Die Leitung des Cafés, so Edith Schmidt wei- sonderheit des Hauses Kress: Ein Café, das sich ter, lag in den Händen von Frau Kainzik. Ihr ebenfalls im ersten Obergeschoss befand. Hier Mann war damals auch der Hausmeister in die- unterhielt zeitweise ein Musiker die überwie- sem historischen Herner Kaufhaus. Lager und gend weiblichen Nachmittagsgäste. Gerd E. Büro waren im 2. Obergeschoss untergebracht. In jenen Tage, so erzählt die ehemalige Kress- Mitarbeiterin weiter, gab es im Haus noch eine weitere Besonderheit: Es wurden Strumpfho- sen repariert, die Laufmaschen aufgenommen. Heute kaum mehr vorstellbar. Friedhelm Wessel Betriebsausflug nach Holland 1957 6 Der Bote im September 2021
Titel 125 Jahre St. Joseph Herne-Horsthausen E in Blick zurück mit Hilfe der »Fest- schrift zum 2. Jahrestag der Kirchwei- he am 24.11.1986« – also vor 35 Jah- ren! Zu diesem Zeitpunkt war die Gemeinde 90 Jahre alt. Ursprünglich zählte Horsthausen, wie auch Börnig, Sodingen und Holthausen, zum Kirch- spiel St. Lambertus in Castrop. Nach einer Ur- kunde soll das schon in der Zeit Karls des Gro- ßen, etwa um 800 n. Chr. so gewesen sein. Auf Druck des Grafen von Strünkede sind seine Un- tertanen der Reformation im 16. Jh. »zum Op- fer gefallen.« Demnach sind nur wenige Famili- en »dem Glauben der Väter treu geblieben«. Zum Ende des 19. Jh. wuchs die Zahl der Ka- tholiken wieder deutlich an. Daher reichte auch eine Erweiterung der Lambertus-Kirche bald nicht mehr aus. Ab 1892 gehörten die Horsthauser zur »Fili- ale Börnig-Sodingen-Gysenberg«. Der für die Filiale zuständige Kaplan Wolff begann, für die Gläubigen Horsthausens Geld zu sammeln und gründete 1895 einen Kirchbauverein. Schon am 24. Juli 1895 konnte für 3.100 Mark ein 200 Ruten großes Grundstück gekauft werden (nördliche Begrenzung Roonstraße und südli- che Luisenstraße). Die Zahl der Katholiken stieg insbesondere durch den Zuzug vieler Polen stark an. 1896 waren es bereits 1.400. Die Zeche Friedrich der St. Joseph Kirche im Jahr 1909 Große zog viele Arbeiter an. Daraufhin ließ »Herr Landdechant Pfarrer Keweloh, Hoch- die Anzahl der Messen erhöht werden. würden zu Castrop«, eine Notkirche bauen. Sie Am 21. April 1908 begannen die Bauarbeiten war 20 Meter lang und 14 Meter breit. Am 20. der neuen Kirche und am 5. Juli 1908 wurde die September 1896 wurde die erste heilige Messe Grundsteinlegung unter großem Jubel gefeiert! gefeiert. Die Geburtsstunde der Gemeinde! Am 6. Juni 1909 konnte mit großer Freude Am 30. März 1900 war es dann soweit. 1900 der erste Gottesdienst in der neuen Kirche, die wurde die Gemeinde von der Muttergemeinde jedoch erstmal nur mit dem Notwendigsten in Castrop nach einigem Widerstand abge- ausgestattet war, gefeiert werden. Bis zur Wei- pfarrt. Danach entstand »mit verstärktem Eifer he der Kirche, am 22. April 1913, sollten aber eine große Sammelleidenschaft« für eine neue noch fast 4 Jahre vergehen. Es heißt: »In den Kirche. Altar wurden Reliquien der Heiligen Märtyrer Bis 1904 kamen rd. 33.000 Mark zusam- Simplicius und Mansuetus gesenkt.« men. Nachdem die Gewerkschaft Friedrich der Noch 1909/1910 konnten der Kreuzweg, das Große 250.000 Steine gestiftet hatte, konnte Missionskreuz sowie das aus Rom beschaffte dem Architekten der Auftrag erteilt werden. Marien-Bild aufgehängt werden. 1911 folgte Die Notkirche war auch viel zu klein. 1906 zähl- eine 30-registrige Orgel, eine »gediegene« Sa- te die Gemeinde 3.200 Seelen. Darum musste kristei-Einrichtung. Seit November 1912 Der Bote im September 2021 7
sches Geläut anzuschaffen. Dem derzeitigen Pfarrer lag die Einrichtung einer Schwesternstation sehr am Herzen. Nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten wur- de sie an der Ecke Scharnhorststraße/Zieten- straße als Bewahrschule für 60 Kinder und Nähschule gebaut. Leider musste sie 1932, we- gen hoher Kosten, schweren Herzens schon wieder geschlossen werden. Die Menschen litten, wegen hoher Arbeitslo- sigkeit, viel Not. Das nächste besondere katastrophale Ereig- nis war ab 1939 der 2. Weltkrieg. Im selben Jahr wurden mehrere polnische Vereine durch die Gestapo aufgelöst. Bis Weihnachten 1939 waren bereits zwei Söhne der Gemeinde gefal- len. Seit Dezember 1940 war der Religionsun- terricht aus der Schule verbannt und auf die Kirche beschränkt. Am 17. Dezember traf die Gemeinde abermals der Verlust des Bronzege- läutes schwer. Und dann kam Samstag, der 11. November 1944. Kirche und Pfarrhaus sanken durch Treffer von Luftminen in Trümmer. Das Gewöl- Alte St. Joseph Kirche, Innenansicht ca. Jahr 1909 be der Kirche stürzte ab. Die Orgel wurde zer- stört. Altar und Tabernakel blieben unversehrt. brannte in ihr auch elektrisches Licht. Drei Es heißt: »Das war der traurigste Tag im Leben Jahre später wurde ein Beichtstuhl aufgestellt. der Gemeinde.« 5 von 100 im Luftschutzraum Volkszählungen zu diesem Zeitpunkt erga- weilenden Personen hatten den Tod gefunden. ben, dass von rd. 5.000 Katholiken etwa 2/3 Die Kirche erlitt weitere Schäden, bevor die Polen waren. Dadurch war es notwendig, viele Amerikaner 1945 kamen und endlich Ruhe und Veranstaltungen für Deutsche und Polen ge- Frieden einkehrte. Dann konnten die Gottes- trennt abzuhalten. Der neue Vikar Franz Men- dienste wieder im von der Gewerkschaft Fried- ke verbrachte 1907 extra 2 ½ Monate in Polen, rich der Große, im Volksmund Piepenfritz ge- um die polnische Sprache zu lernen. nannt, zur Verfügung gestellten Saal Kasino Dann kam 1914 der 1. Weltkrieg. In der Friedrichseck, schräg gegenüber auf der Roon- Chronik steht lobend, dass die Josephs-Ge- straße, stattfinden. meinde die Angehörigen der im Felde stehen- Pfarrhaus und Vikarie wurden 1946 eingeeb- den Soldaten gut betreut hat. Bitter empfunden net und das Kirchendach 1947 abgebrochen. wurde die Wegnahme der unter schwersten Bis wieder die erste heilige Messe in der Kirche Opfern angeschafften Bronzeglocken. Das gehalten werden konnte, dauerte es bis zum 2. Kriegsende wurde sehnlichst erwartet. Er dau- Juli 1950! Wieder waren größte finanzielle An- erte ja bekanntlich bis 1918. strengungen nötig. 1948 wurde ein Kirchbau- Von 1922 bis 1926 dauerte das Sammeln und verein gegründet. Die St.-Bonifatius-Gemeinde Sparen für neue Glocken, die 11.600 Mark kos- schenkte 6.000 DM und die Herz-Jesu-Ge- teten. Nachdem es immer schwieriger wurde, meinde unterstützte mit 2.000 DM. Die St.- jemanden für das Läuten der Glocken anzustel- Marien-Gemeinde hatte leihweise einen Pro- len, sah man sich 1928 gezwungen, ein elektri- zessionsaltar zur Verfügung gestellt. Die Bänke 8 Der Bote im September 2021
hatte die Stadt Herne vom Flüchtlingsamt geborgt. Die bis 1950 zusammengekommene Wiederaufbaukollekte betrug 13.000 DM, die Schulden beliefen sich auf 50.000 DM. Es fehlte auch immer noch an allen Enden Geld. Am 14. Dezember 1952 konnten die Glo- cken geweiht werden und am 1. März 1953 ertönte erstmals eine Leihorgel, die jedoch durch die nur notdürf- tig gedeckte Kirche bis 1959 beschädigt wurde. Am 19. Juli konsekrier- Notkirche vor der neuen Kirche 1909. Rechts: Das alte Pastorat. te Erzbischof Dr. Lo- renz Jaeger den Hochaltar. wurden Pfarrbriefe erstellt. Auch ab 1971 hat Der damalige Pfarrer Stier konnte erst 1956 sich die Gemeinde an den Sternsingeraktionen ins neue Pfarrhaus einziehen, starb jedoch ganz beteiligt. Seit 1972 gibt es jedes Jahr ein großes kurz danach. Ihm folgte Pfarrer Woytas, ein ge- Pfarrfest (aktuell 2020 und 2021 coronabe- borener Herner. dingt nicht). Durch die hohen Flüchtlingszahlen und die 1975 war ein weiterer Priesterwechsel. Bevor kriegszerstörten Wohnungen, war die Woh- Pfarrer Woytas am 1. Mai in den Ruhestand nungsnot immer drückender geworden. So be- ging, feierte er, am 5. April, sein 40-jähriges gann in Horsthausen ein großes Bauvorhaben Priesterjubiläum und damit auch seinen Ab- das andere abzulösen. Insbesondere entstan- schied. Schon am 29. Juni wurde Pfarrer Joa- den zwei neue Siedlungen: Pantringshof und chim Krämer, geb. 1936, als Nachfolge-Pfarrer Elpeshof. Die Aufzeichnungen klingen so, als eingeführt. Am 1. August desselben Jahres er- wenn sehr bald klar war, dass in beiden Sied- hielt er Verstärkung durch den jungen Gemein- lungen neue Kirchenbauten als notwendig er- dereferenten Josef Becker. Unter ihm blühte achtet wurden. insbesondere die Kinder- und Jugendarbeit So entstanden Ende der 50er Jahre eigene neu auf. Regelmäßige Treffen in Altersgruppen Seelsorgebezirke als Pfarrvikarien in Pant- mit jährlichem Zeltlager, Wochenendausflü- ringshof/Pöppinghausen und Elpeshof mit der gen, sozialen Aktionen und später auch Rom- späteren Errichtung der St. Pius- und der St. reisen für Messdiener brachten guten Zusam- Barbara-Kirche. menhalt. Unabhängig davon entstand in den folgen- 1977 musste über eine Renovierung der Kir- den Jahren, in der verkleinerten St.-Joseph- che und Umbauten nachgedacht werden. Nach Gemeinde, ein sehr vielseitiges, umfangreiches Antrag des Kirchenvorstands kamen Baufach- Gemeindeleben. Die erste Pfarrgemeinderats- leute aus Paderborn, im August 1978, zum Ge- Wahl fand in St. Joseph, am 6. August 1967 spräch. Das Ergebnis war, dass die Kirche statt. Viele Gruppen und Vereine waren sehr gründlich renoviert und das Pfarrhaus sowie engagiert christlich und sozial tätig. Ab 1971 die Vikarie zu einem Pfarrheim umgebaut wer- Der Bote im September 2021 9
chenbehörde wurden die Kosten auf 3 Mio. DM begrenzt. Wieder einmal, in der Geschichte der Gemeinde, wurde große Spendenfreudigkeit ‒ mit Erfolg ‒ erbeten. Als Ausweichmöglichkeit für Gottesdienste wurde noch einmal der Saal Casino Friedrichs- eck aufwendig hergerichtet. Dann wurde es ernst! Die letzte Messe in der alten Josephs-Kirche wurde am 24. April 1983, gefeiert. Danach wurde das Allerheiligste in langer Prozession in die »Notkirche« gebracht; ebenso alle Gegenstände, die man tragen konn- te. Es war eine besondere Stimmung der vielen Gläubigen, die mitgegangen sind. Es gab Trä- nen des Abschieds, denn viele haben wichtige Ereignisse ihres Lebens, wie Taufe, Kommuni- on, Firmung und Eheschließung in der Kirche gefeiert. Aber die Hoffnung auf die neue Kirche Abbruch der alten St. Joseph Kirche am gab sicher auch Trost. 15. August 1983 Am nächsten Tag wurde die Kirche geschlos- sen und das Ausräumen begann. Besonders das den sollten. Der Plan der Umgestaltung zum Reliquien-Kästchen und der Grundstein wur- Pfarrheim wurde im Nachhinein als »unsinnige den sichergestellt. Vom 10. bis 12. Juni 1983 Idee« bezeichnet und man »bearbeitete«, bei wurde um die alte Kirche noch das Pfarrfest ge- einer Firmung, erfolgreich den Erzbischof, feiert, und am 20. Juni 1983 begannen die Ab- davon Abstand zu nehmen. Weitere Planungen rissarbeiten. Am 29. Juli 1983 wurde die Turm- führten auch zu keinem Ergebnis. Dadurch spitze abgehoben und am 15. August 1983 der kam die Idee zum Abbruch und Neubau der »schiefe Turm von Horsthausen« gesprengt. Kirche in, kleinerer Form, mit Pfarrheim-An- Am 20. August 1983 wurde der erste Spaten- bau. Bei einem Ortstermin der Experten am 26. stich für die neue Kirche vorgenommen, und Januar 1981 fiel die Entscheidung, dass die alte am 29. Januar 1984 wurde der Grundstein ge- Kirche abgerissen wird. 1977 war sie noch unter legt. Jedoch dann zur späteren Einmauerung, Denkmalschutz gestellt worden. Die Kirche war in die Turmwand im Pfarrheim aufbewahrt. inzwischen einen Meter und der Turm über Das Richtfest konnte am 8. Juni 1984 gefeiert zwei Meter durch Bergschäden in Schieflage. werden. Die letzten Wochen waren bis zum Nach Besprechungen in den Gremien und In- Morgen des Kirchweihtages gefüllt mit ehren- formation sowie Zustimmung von der Gemein- amtlicher Arbeit von vielen Frauen und Män- de in einer Pfarrversammlung zzgl. des Erhalts nern, Putzen, Aufarbeiten von Bänken, etc. des Bescheids der Stadt Herne, begann direkt Und dann war endlich der Tag der Kirchwei- die Planung der neuen Kirche und der Finan- he! Der 24. November 1984 wird in der Fest- zierung. Außerdem musste eine Übergangsre- schrift als ein »großer Tag in der Geschichte der gelung gefunden werden. katholischen Kirchengemeinde St. Joseph in Am 31. Januar 1983 kam die Abbruchgeneh- Horsthausen« bezeichnet. Wieder setzt sich ein migung der Stadt Herne und am 24. März 1983 langer Prozessionszug von der Notunterkunft, die vom Generalvikariat Paderborn. in Bewegung zur neuen Kirche. Alle Gegenstän- Bei den Neubauplänen mussten nachträg- de, einschließlich der Heiligen-Reliquien, wer- lich, aus finanziellen Gründen, noch Verkleine- den zurück getragen. Weihbischof Drewes er- rungen vorgenommen werden. Von der Kir- hält vom Bauunternehmer den Schlüssel. 10 Der Bote im September 2021
Trotzdem gibt es die Zeremonie, dass er drei- mal mit dem Bischofsstab an das Portal klopft und ihm dann aufgetan wird. Der feierlichen Weihe wohnen sehr viele Gäste bei und machen sie zu einem ganz besonderen unvergesslichen Erlebnis, wie auch der Abriss der alten Kirche eines war. Die Gemeinde war mit der neuen Kirche und mit dem verbundenen Pfarrheim sehr glück- lich. Das Gemeindeleben blühte. 1991 wechsel- te Pfarrer Joachim Krämer nach Lünen. Für ihn kam Pfarrer Norbert Johannes Walter, wieder ein gebürtiger Herner. Trotz der Gründung der beiden Gemeinden St. Barbara und St. Pius und der damit verbun- denen Trennung, gab es auch Zusammenarbeit. So wurden z. B. gemeinsame Fronleichnamsfei- ern und Karfreitagsbußgänge begangen und die Chöre unterstützten sich gegenseitig. Zum 1. Oktober 1984 wurde sogar ein dem Erzbischof vorgeschlagener offizieller Pfarrverband für Zu- Montage des 8 Tonnen schweren Turmhelms der neuen St. Joseph Kirche am 7. Juni 1984 sammenarbeit errichtet. Dazu gehörten, außer den drei Horsthauser Gemeinden St. Joseph, eine neue Großpfarrei. Diese wurde am 1. Janu- St. Barbara und St. Pius, auch die Gemeinde St. ar 2017, unter dem Namen St. Dionysius, ge- Marien in Baukau. gründet. Seitdem sind die Einzelgemeinden Soweit aus der Festschrift. nicht mehr selbständig. Da zurzeit kein Stopp, Aus den Jahren danach ist nichts Besonde- bzw. keine Umkehr der rückläufigen Tendenz res bekannt. Es gab neben den Gottesdiensten der Gläubigen- und Priesterzahlen geschieht, viele religiöse, soziale und auch Vergnügungs- ist zu befürchten, dass in absehbarer Zeit ein- angebote der verschiedenen kirchlichen Grup- zelne Kirchen geschlossen werden müssen, wie pen, Vereine und Verbände; u. a. sogar eine Is- es im Nachbar-Bistum Essen schon vielfach raelreise und weitere Reisen. praktiziert wurde. Ein neues trauriges Kapitel Zum 1. Mai 2001 wurden gemäß den Vorga- der katholischen Kirche! ben des Erzbistums Pastoralverbünde gegrün- det. In Herne (im Gebiet des alten Herne vor Anmerkungen: Wie schon zu Beginn er- dem Zusammenschluss mit Wanne-Eickel) gab wähnt, wurden diese Ausführungen der Fest- es vier. Dem Pastoralverbund Herne-Nord ge- schrift von 1986 – bis zu diesem Zeitpunkt - in hörten die vier Gemeinden an, die sich schon Absprache mit einem der Verfasser, dem Ge- zum Pfarrverband zusammengeschlossen hat- meindereferenten i. R. Josef Becker, entnom- ten. Die Zusammenarbeit machte nach und men. Er hat auch ermöglicht, die Fotos aus den nach Fortschritte und wurde enger. Die Ge- Chroniken zu kopieren. Ihm sei dafür herzlich meinden waren aber noch rechtlich selbstän- gedankt. Erwähnen möchte ich noch, dass die dig. Der allgemeine Rückgang der Katholiken- Gemeinde ihren Namen Josef über viele Jahre zahlen und der Priester machte es dann aber mit »f« geschrieben hat. Inzwischen wird er notwendig, weitere Zusammenschlüsse zu so wieder mit »ph«, wie bei der Gründung, ge- genannten »Pastoralen Räumen« vorzuneh- schrieben, also Joseph. Ich habe ihn daher, men. Die vier Herner Pastoralverbünde, mit auch dann, wenn in der Festschrift Josef steht, ihren 10 Einzelgemeinden, entschieden sich für Joseph geschrieben. Barbara Rohde Der Bote im September 2021 11
Erinnerungen Die Flucht aus Schlesien - Teil 1 Für meine Schwester, die mich anregte die Geschichte unserer langen Heimreise nach Herne aufzuschreiben. Sie war damals erst vier Jahre alt und kann sich an diese Zeit in ihrem Leben nicht erinnern. Vorwort: I ch glaube, unser Vater bekam eine Auszeichnung und die Belohnung war Beförderung auf der Zeche. Aber das bedeutete, dass die Familie nach Schlesien ziehen musste. Unser Umzug nach Chwallowitz, 4 km süd- lich von Rybnik in Oberschlesien, fand im Ja- nuar 1941 statt. Unsere Reise ging über Ber- lin. Meine kleine Schwester Traudel war 11 Wochen alt. Wir waren eigentlich froh, von den Luftan- griffen wegzukommen. Unser Ruhrgebiet war häufig das Ziel. Zu der Zeit kamen die An- Traudel mit Mutter Ende 1940 griffe oft bei Nacht. Unsere Wohnung war im zweiten Stock der Hiberniastraße 45 und le Schulkinder nach Thüringen und Sachsen Mutter hatte viel zu tun mit dem neuen Baby. evakuiert worden, wo man sie vor Fliegeratta- Oma kam immer die Treppen heraufgeeilt cken sicherer wähnte. Cousin Werner wurde und half uns Kindern, in den Keller zu gelan- nach Naumburg verschickt und meine Grup- gen. pe zuerst nach Schraplau und dann in die Stützbalken aus der Grube waren ange- Nähe von Merseburg, nach Blösien bei den bracht worden, um der Kellerdecke extra Halt Leuna Werken. zu geben. Im Sommer 1940 waren schon vie- Chwallowitz, unser Zuhause für die nächs- ten vier Jahre, war ein kleines Dorf mit einer Zeche, die entweder nach Fürst Donnersmark benannt war, oder in seinem Besitz war. Traudel verbrachte ihren ersten Geburts- tag Ende Oktober 1941 im Krankenhaus in Rybnik. Sie war mit einem sehr großem, aber gutartigen Geschwür unter ihrem linken Arm geboren. Man hatte sie schon wie einen klei- nen Engel angezogen, aus Angst, dass sie die Operation nicht überleben würde. Während wir in Chwallowitz wohnten be- kamen wir mehrmals Besuch aus Herne. Un- ser ältester Bruder Helmut erinnert sich, dass er beim Umzug der Familie, wegen Schule oder Lehre, zurückgeblieben war. Er reiste im Sommer 1941, in Begleitung von Opa Ost- kamp (Ostrowski), der auf dem Weg war, sei- Traudel und Gerd im Sommer 1943 ne alte Heimat in Ostpreußen zu besuchen, zu 12 Der Bote im September 2021
uns zurück. Der Zug wäre so überfüllt gewe- sen, sagte Helmut, dass Soldaten den Opa mit dem Kopf zuerst ins Abteil geschoben hätten. Und als sie ankamen, sagte er, war sein Koffer verloren gegangen. Er hat ihn aber nach eini- gem Hin und Her wiederbekommen. Bis zum Januar 1943 wohnte er bei uns in Chwallowi- tz, als er eingezogen wurde. Im Frühjahr 1944 konnte er uns einmal besuchen. Da Vater nach seiner Beförderung Verwal- ter auf der Zeche war, wurde uns eine große Wohnung mit recht großen Zimmern zuge- teilt. Mutter bekam ein Kindermädchen zur Hilfe. Wir waren nicht besonders nett zu ihr, machten ihr extra Arbeit, indem wir darauf bestanden, den Nachttopf oder Eimer zu be- nutzen. Es gab keine Toilette in der Woh- nung. Die draußen war direkt über der Jau- chegrube und furchtbar stinkig. Davon abge- sehen, hatten wir ein leichtes und angeneh- Weihnachten in Chwallowitz 1941 Gerd mit Schlitt- mes Leben. schuhen ganz rechts Hugo und ich hatten unser eigenes Schlaf- zimmer mit einem dritten Bett für Helmut, eine Kohlengrube in der Ukraine zu leiten. wenn er auf Armeeurlaub kam. Ich bekam die Mit der Versetzung hatte er wirklich einen Schuld dafür, dass das Haus beinahe abge- Dusel gehabt. Er passte sich gut ein, lernte ein brannt wäre. Aber es war Helmut, der in ei- bißchen russisch und kam sehr gut mit den nem kalten Winter den elektrischen Heizkör- einheimischen Arbeitern aus. Die im Büro per zu nahe ans Fußende des Bettes gescho- halfen ihm dabei, für uns Esspakete zu pa- ben hatte, um die Laken zu wärmen. cken. Wir bekamen sogar frische Eier per Für Traudel war Helmut wahrscheinlich Post. Alles kam in kleinen Päckchen von ein ein großer Fremder. Als er sich beim Wieder- oder zwei Pfund, gemäss Feldpost-Bestim- sehen so freute, dass er sie hoch in die Luft mungen für Briefpost und wir bekamen eine hob und auf den Schrank setzte, erstarrte sie Menge Post. Mehrmals mussten wir mit un- vor Furcht. serem riesigen Waschkorb zu unserem Post- Die Winter waren mit viel Schnee und Eis amt laufen, um unsere Päckchen abzuholen. sehr kalt. Mein Weg zur Schule in Rybnik war Wenn man einen Zug verpasst hatte, war problematisch. Die Zeche hatte ihren eigenen es gewöhnlich schneller, zu Fuß zu gehen, Pferde-Postwagen, der aber nur begrenzt statt auf den nächsten Zug zu warten. Im Passagiere mitnehmen konnte. Alle anderen Winter fand ich es schneller, mit Schlittschu- mussten den kleinen Zug nehmen. Ein Son- hen zu laufen; wenn auch nur bis zu dem klei- derzug der Grube, mit nur zwei Wagen, der nen Bahnhof. Helmut hatte ein viel besseres über für Kohlenzüge bestimmte Seitenschie- Paar Schlittschuhe als ich, die mir eigentlich nen zur Eisenbahnkreuzung Niedobschütz verboten waren. Ich versuchte sie aber zu führten, wo wir zur Hauptstrecke umstiegen. nehmen, wenn ich meinte, dass niemand es Wir hatten unseren eigenen Haltepunkt mit sah. Einmal wurde ich dabei entdeckt und Warteschuppen. das Kindermädchen jagte mir nach. Noch et- Ich glaube es muss 1942 gewesen sein, als was, was dem großen Bruder gehörte und Vater von der Armee aufgerufen wurde, um mich in Versuchung brachte, war sein Klein- Der Bote im September 2021 13
kaliber Gewehr, das so zweckdienlich im dementsprechend Schlafzimmerschrank stand. Ich nehme an, indoktriniert, was dass ich als Entschuldigung vorgab es nur wir von den blut- ausprobieren zu wollen, als ich auf Spatzen in rünstigen Bolsche- unserem Garten schoss. Unser Nachbar wiken und Kosaken meinte, ich hätte in seinen Kirschbaum hin- zu erwarten hätten! ein geschossen und schimpfte mich aus. Was wir nicht wuss- Der Krieg schien bis 1944 sehr weit weg ten war, dass die von uns. Dann hörten wir schwere Front am 11. Januar Kampfflugzeuge und sahen die Kondensstrei- 1945 schon bei Tar- fen am Himmel. now war; 200 km Partisanen wurden aktiv in der Gegend östlich von uns. Und und Leute wurden durch Überfälle aus dem das die Russen, nach Hinterhalt getötet. Ich erinnere mich daran, einem großen Vor- die Schlagzeile »Invasion« zu sehen. Es war stoß am 17. Januar, Fritz Nowotny, der uns die Zeitung auf dem Krakow (125 km ent- Weg zur Schule zeigte. fernt) erreicht hat- Spät im Jahr 1944 war es, als der Krieg uns ten. Ende Januar nah kam. Unser Cousin Heinz war zu Besuch hatten sie unsere Ge- bei uns und Tante Hulda wollte, dass er nach gend durchquert; Hause kam. Mutter versuchte ihr Bestes am wir waren nur gera- Postamt und am Bahnhof auch, um sein riesi- de eben noch wegge- ges Daunenbett mitzuschicken. Aber es ging kommen. nicht. Vater und Helmut waren nicht da und Ich nehme an, alleine schaffte sie es nicht, dies zu versen- dass Mutter schon den. früher Vorbereitun- gen für unsere Abrei- Mutter, Traudel und Gerd ca. 1 Die Reise: se getroffen hatte. Als die Zeit kam hatten wir zwei riesige Ruck- G anz früh im Januar 1945 war ich in säcke, in denen wir wenige Dinge unseres Rybnik und sah Tausende von Hab und Guts zu tragen hatten. Man hatte Kriegsgefangenen, die durch die uns zugeredet, nicht zu viele Sachen zu pa- Stadt auf den Weg nach Westen transportiert cken, weil wir nur kurze Zeit wegsein würden. wurden; weg von den vorstoßenden Russen. Ich glaube, wir durften jeder ein Spielzeug Jemand aus unserem Dorf sah mich und sag- mitnehmen. In einer vagen Erinnerung kann te, ich sollte Eile machen das ich nach Hause ich mich vor einem Schrank sitzen sehen, als käme, weil noch and diesem Abend ein ich versuchte, mich zu entscheiden, welches Transport unser Dorf verlassen sollte. Ich eil- aus einer großen Auswahl ich mitnehmen te zurück und sah, dass im Dorf überall Leute sollte? Alles von Wert, das wir nicht tragen beschäftigt waren und sich für die Abreise konnten, versuchten wir im Keller, unter ei- fertig machten. Meine Schule in Rybnik war nem Holzstoß zu verstecken. Alles war in gro- seit Mitte Dezember geschlossen. Aber das ßer Eile getan. Zwei Tage nach unserer plötz- hätte auch wegen der normalen Weihnachts- lichen Abfahrt kam unser Vater auf Urlaub ferien sein können. Es hatte wohl ein paar nach Hause und fand, dass Wohnung und frühe Warnungen gegeben, dass wir eventuell Keller schon durchsucht worden waren. für kurze Zeit unser Heim verlassen müssten; Unser Transport bestand aus mehreren, nur bis unsere Armee die Russen zurücktrieb. von Pferden gezogenen, offenen Bauernwa- Die Propaganda Maschine hatte uns schon gen, die mit Stroh ausgelegt waren. Die Ent- 14 Der Bote im September 2021
fernung, die wir Es war eine sehr ausgedehnte Zugreise. Oft hinter uns bringen wurde gehalten, um anderem Bahnverkehr mussten waren 30 die Vorfahrt zu lassen, oder es mussten Bäu- km. Es schien, es me gefällt werden, um den Dampfkessel zu dauerte die ganze heizen. Diese vielen Verzögerungen haben Nacht. Ich bin mir wahrscheinlich unseren Zug davor gerettet, nicht ganz sicher, dass er über Dresden geleitet wurde. Dresden warum wir über wurde am 14. Februar 1945 durch Feuerbom- Nacht fahren muss- ben zerstört. ten. Es hätte sein Wir zogen weiter zur westlichen Seite der können, dass die Tschechoslowakei, an Eger (jetzt Cheb) vor- Gefahr eines Luft- bei, im Sudetenland und kamen schließlich angriffs bestand. an unser Ziel. Dem Dorf Fleissen im Elsterge- Aber es war viel birge. Vielleicht 20 km nördlich von Cheb an wahrscheinlicher, der deutschen Grenze. Wir wussten es zwar dass wir uns sputen nicht, aber 30 km weiter nördlich in Oelsnitz mussten, um den lag unser Vater im Lazarett mit Granatsplit- letzten Evakuie- tern im Bein. rungszug zu errei- Wir waren jetzt in einer größeren Gruppe, chen. Wir hatten die hauptsächlich aus Frauen und Kindern bewaffnete Wachen bestand. Wir wurden in einer fest gebauten bei uns, die uns vor Schule untergebracht. Die Klassenzimmer den Partisanen be- waren zu Schlafsälen mit Etagenbetten umge- schützen sollten. baut worden. Manche hatten Decken als Vor- Es war eine kalte hänge und Strohmatratzen auf Holzplatten. Nacht und die Fel- Hugo und ich waren auf dem oberen Bett und 1942 der waren schnee- Mutter und Traudel unter uns. Strom, Was- bedeckt. Wir wa- ser und Toiletten funktionierten und ich glau- ren gut eingepackt in unseren Wintersachen be, wir hatten auch den Gebrauch einer Kü- mit Handschuhen und Ohrenschützern. Mut- che. ter hatte uns angehalten uns doppelt einzu- Eine Weile lang schien alles gut zu laufen, moppeln. Es war eine sehr ungemütliche und außer Mangel an Lebensmitteln und Infor- unebene Fahrt. Ab und zu stieg ich ab und mationen. Wir kamen in Kontakt mit Einhei- ging neben dem Fuhrwerk her. mischen. Ich glaube, wir freundeten uns mit In Ratibor kam unsere Gruppe in einen einer Lehrerin aus der Schule an. Wir über- übervollen Zug nach Westen. Es war ein rich- legten sogar, ob wir nicht aus der Schule aus- tiger Passagierzug. Die Viehwaggons kamen ziehen und eine Privatwohnung mieten soll- später. Ich konnte aus dem Fenster gucken ten, um dort auf Vaters Rettung zu warten? als wir durch die Gegend reisten, wo ich im Fortsetzung folgt. Adlergebirge einmal auf Skiferien war. Die schöne Landschaft des bewaldeten Vorgebir- Gerhard Ernst Ostkamp †, im Herbst 1994. ges machte aber keinen Eindruck auf mich. Ich kann mich schlecht daran erinnern, was Weiter Informationen zum Thema finden Sie auf wir zu essen hatten. Ausgenommen, dass an der Seite des Dokumentationszentrums Flucht, Bahnstationen Rote Kreuz Leute standen, die Vertreibung, Versöhnung − ein einzigartiger Lern- Brot und Suppen austeilten. Ich nehme an, und Erinnerungsort zu Flucht, Vertreibung und dass man über den Verlauf unserer Reise Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart. wusste und für Verpflegung sorgte. https://www.hv-her-wan.de/sfvv Der Bote im September 2021 15
100 Jahre Schwimm-Club Wiking Herne 1921 e. V. Ältester Herner Schwimmverein feiert Geburtstag D ie erste Vereinsgründung eines Nach der sehr erfolgreichen Gründung er- Schwimmvereins in der Stadt Herne, folgte die Planung und Realisierung einer ers- erfolgte am 17. September 1921, un- ten Wettkampf-Großveranstaltung. (Am 20. ter dem Namen: »1. Schwimmverein Herne«. August 1922 auf dem Rhein-Herne-Kanal, vor Nach einem Aufruf zur Vereinsgründung in der 10.000 zahlenden Besuchern). In der Stadt Herner Presse, im Mai 1921 übernahm zu- Herne verfügte man über kein Schwimmbad. nächst Paul Rottmann den Vorsitz. Die erste Der Rhein-Herne-Kanal wurde deshalb auch Satzung wurde, am 10. Juli 1921, beim Amtsge- für Schwimmwettkämpfe genutzt. richt eingereicht. In der Gründungsversamm- lung wurde Josef Blade zum Vorsitzenden ge- Der Stellenwert des gewachsenen Schwimm- wählt. Zur Gründungsversammlung erschienen sports in Herne führte schließlich 1928 zur Er- 75 Personen, die als Mitglieder dem Verein bei- öffnung des ersten Herner Sommerbades, mit traten. Bereits 1925 änderte der Verein seinen Sprungbecken und 50-Meter-Bahnen. In der Namen in SC Wiking Herne e.V. Das Training Eröffnungsveranstaltung am 3. Juni 1928, die fand in der Hafenbadeanstalt in Recklinghau- von der Stadt Herne, in Verbindung mit dem sen-Süd statt. SC Wiking, dem SV Neptun und den Freien Schwimmern ausgerichtet wurde, erreichte das neue Freibad einen nicht mehr überbotenen Besucherrekord von 7.000 Zuschauern. Im Verlauf des 2. Weltkrieges wurde es im- mer schwerer, einen Trainingsbetrieb aufrecht zu erhalten. 1943 wurde der Übungsbetrieb eingestellt. Zu dieser Zeit leiteten Rudolf He- ring und Adalbert Kunze den Verein. Trotz aller Schwierigkeiten, Beschlagnahme des Sommerbades durch die Besatzungstrup- pen und erforderliche Veranstaltungsgenehmi- gungen durch die Militärregierung, fand am 28. Juni 1946, durch eine Versammlung mit 28 Teilnehmern, der Wiedereinstieg in das Ver- eins- und Trainingsgeschehen statt. Der Neu- start erfolgte nach dem Krieg, mit der Beteili- gung an Wettkämpfen durch unsere Schwim- merinnen und Schwimmer und durch die Was- serballmannschaft des SC Wiking. Im Schwimmsport gewann Helga Mülder (spätere Reich) über 400 Meter Freistil, 1954 in Köln eine Goldmedaille, bei den Westdeut- schen VOW-Meisterschaften (Vereine ohne Winterbetrieb). Bei den im gleichen Jahr statt- findenden VOW-Bezirksmeisterschaften, am 03.07.1954, erkämpfte sich die Damenmann- schaft des SC Wiking in der Gesamtwertung Westdeutsche VOW-Meisterschaften 1954 in Köln. Von links: Herta Herzog (SC Wiking), Helga den 1. Platz. Es waren insgesamt erfolgreiche Mülder (Reich, seit 1955, im SC Wiking), Irmgard Jahre. Radowski (Quelle: Helga Reich). Der Bote im September 2021 16
Titel Die erfolgreichen Wettkämpfe – hier 1952 - im Wasserball, mit der Mannschaft des SC Wiking lockten viele Zuschauer ins alte Sommerbad in Herne (SC Wiking Herne). Aktuell ist besonders die Mastersabteilung, Der Schwimm-Club Wiking Herne 1921 e.V. mit der mehrmaligen Welt- und Europameiste- dominierte 2019, bei den NRW Masters »Kurze rin Helga Reich immer noch sehr erfolgreich. Strecken«, in Kamen. Hier gewannen die Wichtig im Verein ist aber auch unsere Jugend- Schwimmerinnen und Schwimmer unter ihrem arbeit und die Förderung der Inklusion, das Trainer, Andreas Behnke, in den Altersklassen Nichtschwimmerprogramm - auch für Erwach- 20 bis 80, mit 25 Goldmedaillen in den Einzel- sene und Erwachsene Menschen mit Behinde- läufen und bei den Staffeln, mehr Goldmedail- rungen, die Aquagymnastik und vieles mehr. len, als alle anderen Vereine aus NRW. Auch auf diesem Bild ist Helga Reich ‒ 65 Jahre nach dem Sieg im Jahr 1954 ‒ dabei: Auf dem Foto stehend, 4. von links (SC Wiking Herne). Dr. Peter Piasecki, Michael Tippmann 17
Erinnerungen Herta Krefft als Schulmädchen
Herta Krefft und ihre große Schwester
20 Der Bote im September 2021
Historischen Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. www.hv-her-wan.de Hiermit beantrage ich / beantragen wir die Aufnahme in den Historischen Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. Name: Vorname: Straße/Hausnummer: PLZ / Ort: Telefon: E-Mail Grundlage der Mitgliedschaft ist die Satzung des Vereins in der jeweils letzten von der Mitgliederversammlung beschlossenen Fassung. Die Satzung kann auf https://hv-her-wan.de und in der Geschäftsstelle eingesehen werden. Aufnahmeantrag zum Heraustrennen ⃝ 18,00 € Einzelmitglied ⃝ 28,00 € Familientarif Den jährlich fälligen Beitrag zahle ich / zahlen wir: ⬜ per SEPA-Lastschriftmandat (siehe Rückseite) ⬜ per Überweisung ⬜ Ich/wir möchte(n) meinen/unseren Jahresbeitrag um _______ Euro erhöhen. ⬜ Ich / wir willige/n ein, dass mich / uns der Historische Verein Herne / Wanne- Eickel e. V. per E-Mail über alle Belange des Vereins informiert. Meine / Unsere Daten werden ausschließlich zu diesem Zweck genutzt. Eine Weitergabe an Drit‐ te erfolgt nicht. Ich kann / wir können die Einwilligung jederzeit per E-Mail an in‐ fo@hv-her-wan.de, per Brief an die Geschäftsstelle, oder durch Nutzung des in den E-Mails enthaltenen Abmeldelink widerrufen. Ort, Datum Unterschrift Der Mitgliedsbeitrag wird zum 15. Februar eines jeden Jahres fällig. Satzung: h�ps://hv-her-wan.de/kwt7 Datenschutzsatzung: h�ps://hv-her-wan/kwa7 Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel e.V.- Schillerstraße 18 – 44623 Herne Herner Sparkasse: IBAN: DE10 4325 0030 0003 3202 64 BIC: WELADED1HRN Der Bote im September 2021 21
Historischen Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. www.hv-her-wan.de Zahlungsempfänger Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. Schillerstraße 18 – 44623 Herne Fon: (02323) - 1 89 81 87 Fax: (02323) 1 89 31 45 Gläubiger-Identifikationsnummer: DE38ZZZ00001792815 Mandatsreferenz: ______________________________ (wird vom Verein ausgefüllt) Ich ermächtige den Historischen Verein Herne / Wanne-Eickel e.V., Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Historischen Verein Herne / Wanne-Eickel e. V. auf mein Konto gezoge‐ nen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kre‐ ditinstitut vereinbarten Bedingungen. Wenn das Konto nicht die erforderliche Deckung aufweist, besteht seitens des kontoführenden Geldinstituts keine Verpflichtung zur Einlösung. Bei Nichteinlösung gehen die entstehenden Gebühren zu meinen Lasten. Vor- und Nachname KontoinhaberIn Straße und Hausnummer PLZ und Wohnort Kreditinstitut (Name und IBAN) DE _ _ | _ _ _ _ | _ _ _ _ | _ _ _ _ | _ _ _ _ | _ _ Ort, Datum Unterschrift Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel e.V.- Schillerstraße 18 – 44623 Herne Herner Sparkasse: IBAN: DE10 4325 0030 0003 3202 64 BIC: WELADED1HRN 22 Der Bote im September 2021
Schatten an der Wand Ein warmer Tag im Sommer. Der Krieg geführt von Macht. Im ahnungslosen Schlummer. Die Leinen los gemacht! „Mutter“ Der Pilot (Paul Tibbets), gab seinem Flugzeug den Das Wasser wiegt und schaukelt, Namen seiner Mutter, den kleinen Jungen sacht. „Enola Gay“. Oh könnt‘ er mich nur hören, ich wünscht ihm ew‘ge Nacht. „kleiner Junge“ Die Atombombe, die auf Die Nacht mutiert zum Tage. Hiroshima abgeworfen wurde, hatte den Namen Doch kein Gewissen ruft! Little Boy Der selbst ernannte „Richter“, (3 m lang, 4 t schwer). Ein warmer Tag im Sommer. mit „Mutter“ in der Luft. Gerade fünf nach Sieben. „Richter“ Die Sonne strahlt ins Zimmer „Der Richter geht an die Beim Frühstück alle Lieben. Arbeit“, hieß es, als Morris Jepson die Zündzapfen Trotz aller dunklen Zeiten. tauschte und die Zünder Und an dem Tag im Sommer, einsetzte, um die Atom- Am Tisch wird viel gelacht. es ist schon kurz vor Acht. bombe scharf zu machen. Wer wird nun wen begleiten. Ein Späher prüft das Wetter. Die Pläne sind gemacht. Alarm wird nicht gemacht. Der Vater mit der Tasche, Im Schlepptau folgt die „Mutter,“ die Mutter und das Kind, der „Richter“ und der Jung‘. sind alle auf der Straße Der Mensch: Kanonenfutter! das Haar spielt mit dem Wind. Denn Harry will ein: „Bumm“ … Es glüht die „Silberplatte“. „dicker Mann“ Die Körper werden Dampf. Die Atombombe, die auf Die Reaktion der Kette, Nagasaki abgeworfen wur- … Uran bestimmt den Kampf. de, hatte den Namen Fat Man. Es sind die ew’gen Schatten, „Bedienungstafel“ am Tag und auch bei Nacht, Der Atombombenabwurf die keine Chance hatten, auf Hiroshima lautete der sie wurden umgebracht. Arbeitstitel „Operation Centerboard“. Und schon drei Tage später, fliegen US Attentäter! „Wir kämpfen für den Frieden.“ Atom wird zur Routine. Der „dicke Mann“ wird siegen. Plutonium zur „Mine“. Und auch dabei die „Mutter“. Der Mensch, … „Kanonenfutter“ … Nur Harry lächelt stumm, er freut sich auf sein „Bumm“ Drum merkt euch gut, ihr Lieben: Bis heute fehlt noch jede Spur, Ein Krieg schafft niemals Frieden. einer Entschuldigungs-Kultur. Statt Leben zu zerstören, nutzt die Zeit, euch zuzuhören … … und aufeinander zuzugehen, von Mensch zu Mensch sich zu verstehn‘. Gebt Gutes weiter in die Welt, denn das ist, was im Leben zählt. von Anna-Maria Penitzka – 06.08.2021 Der Bote im September 2021 www.anne-p.de 23
Erinnerungen Ein Herner in Japan – vor 60 Jahren! L aut aufheulend stob eine Düsenma- als wäre sie in den Wolken eingebettet. schine die Piste des Frankfurter Flug- hafens entlang, um sich leicht und Sand, Sand, nichts als Sand und mitten darin majestätisch in die Luft zu erheben. Im Blitz- Häuser, eine Häuseransammlung in der Wüste, tempo wurden die zurückbleibenden Menschen so erschien uns KAIRO aus der Luft. Der Tran- zu Punkten, die Häuser zu Streichholzschach- sitraum des Flugplatzes wäre in Deutschland teln, Autos zu langsam kriechenden Insekten, ein Lokal fünfter Klasse. Im daneben liegenden und schon war alles unter der watteartigen Andenkenladen kaufte ich Ansichtskarten. Als Wolkendecke verschwunden. In 12 000 m »German« bekam unser Sohn ein nettes Höhe flog die Boeing 707 mit 960 Stundenkilo- Spielzeugkamel geschenkt. meter dahin. Es handelte sich 1961 um den zweiten Flug der Lufthansa nach dem Krieg. Und wieder Sand, Berge, Bodenwellen und Und nicht um einen Non-Stop-Flug, wie heut- Flussläufe ohne Wasser, alles aus Sand! Eine zutage, sondern Stopp in vielen Ländern. verwüstete Wüste konnte man es nennen. Im Nachtflug überquerten wir den PERSISCHEN Unter den Passagieren befanden sich vier GOLF und den GOLF VON OMAN. Die häufi- Neulinge, für die diese Reise einen neuen gen Landungen waren nicht wegen Passagier- Lebensabschnitt darstellte. Hinter ihnen lagen wechsel, sondern wegen erneuten tanken von Monate banger Erwartung, der Freude und Treibstoff nötig. Aber weder in DHARAN noch eines letzten Zauderns. Erwartung, ob die Reise in KARATSCHI verließen wir die Maschine. nach Japan Wirklichkeit würde. Freude, als die Erst in KALKUTTA verließen wir das Flugzeug. Bestätigung kam; jedoch nach Erkennen aller Tropische Landschaft und feuchte Hitze Schwierigkeiten und umfangreichen Vorberei- empfingen uns. Beim Anblick der Palmen tungen, noch ein letztes schnell überwundenes erwartete man durch die Luft fliegende Kokos- Zaudern. Weiß man doch nie, was eine Reise in nüsse als Wurfgeschosse der Affen. Aber, wenn ein derart fernes Land alles mit sich bringt. es die hier gab, dann waren sie wohl vor dem Und in der Tat wird sich die Wirklichkeit von Düsenlärm längst geflüchtet. Die Besatzung allen gehörten und gelesenen Berichten stark musste gewechselt werden, weil die Flugzeit unterscheiden. nach Japan zu lang war. Doch zurück zur Reise. Nun sah der Bericht- Nach dem Start überflogen wir das weit erstatter, um ihn und seine Familie handelte es verzweigte Gangesdelta. Ein Gewirr von Flus- sich hier, zunächst die Alpen und damit das sarmen mit angeschwemmtem Erdreich dazwi- letzte Stück Heimat unter sich liegen. Die Berge schen. Die Landschaft ließ erkennen, dass der sahen aus wie im Schaukasten dargestellt, nur Ganges zur Regenzeit an der Mündung dass ihre Formen noch bizarrer waren. Es war mehrere hundert Kilometer breit ist. Genauer ein herrlicher Anblick, wie die höchsten Berg- gesagt vereinen sich hier im GOLF VON spitzen in kleine Wattewölkchen gehüllt, mit BENGALEN mehrere Flüsse. Die größten ihren Nasen, wie neugierige Kinder zu uns davon sind GANGES und BRAHMAPUTRA. wiesen. Dazwischen die bezaubernden Berg- seen der Alpenwelt. So konnte man den Zweck Auf dem Flug kümmerte sich die Mannschaft der Reise vergessen. rührend um die Fluggäste. Wir erhielten Geschenke; unter anderem eine schöne Porzel- Nun überflogen wir schon die Po-Ebene und landose und durften auch das Cockpit besichti- kurz darauf hatten wir bereits die Apenninen gen. Schließlich handelte es sich erst um den im Blickfeld. Obwohl die Landschaft ständig zweiten Flug der Lufthansa nach Tokyo. Beson- wechselte, hatte man kein Gefühl für die ders kümmerte sich der Steward um die enorme Geschwindigkeit. Um 14:30 Uhr hatten Kinder. Unsere Tochter hatte praktisch freie wir ROM und ITALIEN schon hinter uns gelas- Hand. Sie war mehr unterwegs als auf ihrem sen. Vom typischen Charakter dieses Landes Sitz. Was sollen Kinder auch bei einem Flug war auf dem internationalen Flugplatz von von über 24 Stunden anfangen? Rom PARAFFINO nicht viel zu bemerken. Die ruhige Stimme des Flugkapitäns lenkte unsere Um 10:00 Uhr Ortszeit; meine Uhr zeigte Aufmerksamkeit auf die Insel Kreta, welche wir erst 03:45 Uhr an, befanden wir uns über soeben überquerten. Die Maschine lag so ruhig, SIAM. Wir sahen die Berge und Wälder. Nur 24 Der Bote im September 2021
ganz vereinzelt zeigte sich eine Ortschaft. Weit sind die Entfernungen. Kaum sah man einen Weg, denn eine Straße in dieser Landschaft. Nun wurde es flacher und sandiger, die Ansiedlungen nahmen entlang von Flüssen und Kanälen ständig zu. Dann hieß es: »Anschnallen zur Landung«, die übliche Anweisung des Chefpilo- ten. Der herzliche Empfang durch einen Kameraden in BANGKOK verhin- Japan am besten kennen, wenn man in eine derte, trotz einstündiger Aufenthaltsverlänge- rein japanische Gegend zieht. In einem abgele- rung, die Eintragungen in meinem Tagebuch. genen Stadtteil waren Handwerker bei Arbei- Auf dem Flug nach HONGKONG lassen wir in ten an einem neuen Haus. Die Maklerin fragte Gedanken noch mal alles ablaufen. Durch diese den Besitzer, der eigentlich dieses Haus für freundliche Aufnahme konnten wir die dort seine Familie gebaut hatte. herrschende Treibhausluft besser überwinden. Unser Sohn litt mit seinen eineinhalb Jahren Als der hörte, was man von Ausländern an besonders darunter. Lustwandelnd wurden Miete bekommen kann, war er einverstanden Ratschläge gegeben. Zwei Stunden brauchten das Haus für eine Miete von 160.000 Yen wir um uns wieder einigermaßen von dem (1.760 DM) zu vermieten. Ich hatte 1961 in »Treibhaus Bangkok« zu erholen. Deutschland etwa 800 DM Monatslohn und zahlte eine Miete von 100 DM. Das war nun Der Flugkapitän teilte uns überraschend mit, wirklich ein großer Sprung nach oben. Aber es dass wir wegen Nebel nicht in HONGKONG gab einen Teil davon als Ausgleich. landen könnten. Über TAIPEH (Formosa) ging es direkt nach Tokyo. Um 19:02 Uhr Ortszeit Beim Einzug standen auf der Straße vor dem (etwa 11:00 Uhr MEZ), landeten wir in Tor viele japanische Kinder. Die blonden Köpfe HANEDA, dem Flughafen von TOKYO. Nach unsere Kinder waren doch die Attraktion dieser 24 ½ Stunden Flugzeit war das Ziel unserer Gegend. Unsere Tochter ging hin und suchte Reise erreicht. Wir waren froh, es geschafft zu sich ein Mädchen in ihrem Alter, die sie mit ins haben. Wir waren selbst fast geschafft. Nun Haus nahm. Mit den Händen verständigten sie warteten wir auf die Dinge die da kamen. sich und so lernten unsere Kinder Japanisch. Wir wurden schon in der Maschine von In der ersten Zeit musste ich mit meiner meinem Vorgänger begrüßt. Noch einige Frau einkaufen gehen, denn sie konnte noch Kontrollstellen durchlaufen an denen mit wich- kein Japanisch. Das war ein schönes Erlebnis. tigen Gesichtern Papiere geprüft wurden und dann konnten wir unsere Gepäckstücke wieder in Empfang nehmen. Die höfliche Bedienung des Hotels vermittelte den ersten Eindruck des lächelnden Japans und immer noch erwar- tungsvoll sanken wir in den wohlverdienten ersten Schlaf. Der Staat zahlte das Hotel für zwei Wochen. In dieser Zeit sucht man sich ein kleines Haus, freie Wohnungen gab es kaum. Unsere Makle- rin zeigte uns verschiedene Häuser. Man lernt Der Bote im September 2021
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