Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
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die zeitschrift für auslandschweizer August 2013 / Nr.4 Der Bundesrat verordnet die «Energiewende»: Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein junger West- schweizer auf den Weltbühnen
A U S L A N D S C H W E I Z E R - O R G A N I S AT I O N «Die Internet-Plattform SwissCommunity vernetzt Schweizer weltweit» Jean-François de Buren Grafiker und Berater für Marken- strategie, Schweizer in den Vereinigten Staaten «Faszinierend an SwissCom- munity ist, wie schnell und unkompliziert ich mich mit anderen Mitgliedern über Themen, die mich interes- sieren, austauschen kann.» Florian Baccaunaud Student Schweizer in Frankreich «SwissCommunity? Das ist Chantal Kury die neue Art, die Schweiz Diplomierte Kindergärtnerin und die Auslandschweizer Schweizerin in Ägypten zu verbinden. Das ist die Zukunft!» «SwissCommunity ist die Tür zur Heimat und öffnet die Türen zur Welt – dort finde ich hilfreiche Infor- mationen und Dienste für Auslandschweizer.» Vernetzen Sie sich mit anderen Auslandschweizern Bleiben Sie informiert über relevante News und Events Finden Sie eine Wohnung — oder das beste Fondue in der Stadt Entdecken Sie die Schweiz Jetzt gratis anmelden! www.swisscommunity.org SwissCommunity Partner
EDITORIAL I N H A LT 3 Zukunft mit vielen Unbekannten D ie schweiz wacht, langsam, auf aus einem Traum des unbekümmerten 4 Wohlstands.» Diese Feststellung war kürzlich in der deutschen Wochenzei- Briefkasten tung «Zeit» zu lesen. Da stellt sich die Frage: Stimmt diese Diagnose? Ist wahr, 5 was ein sehr aufmerksamer und wohlwollender Beobachter der Schweiz, der Journa- Gelesen: Politik im Theater list Peer Teuwsen, da geschrieben hat? Nicht alle Leserinnen und Leser der «Schwei- zer Revue» schätzen – wir erfahren das manchmal aus erzürnten Zuschriften – an die- 6 ser Stelle Hinweise auf Probleme und Konflikte, mit denen die Schweiz konfrontiert Gesehen: Die Rhätische Bahn ist, sei es im Inland, sei es mit den Nachbarstaaten oder mit dem ferneren Ausland. Trotzdem: Dass wir den «Traum vom unbekümmerten Wohlstand» überhaupt träu- 8 men konnten, hängt eng mit unserer Demokratie zusammen, mit unserer Tüchtigkeit Energiewende: Wohin führt der Weg? sicher auch und mit den stabilen Verhältnissen im Land – also auch mit unseren Ge- 12 setzen. Mit dem Bankgeheimnis zum Beispiel. Doch das Bankgeheimnis wird immer Giuliano Bignasca hat das Tessin mehr zum Problem für die Schweiz. Das zeigt die Drohkulisse, welche die USA ge- verändert genüber der Schweiz hochgezogen haben (Bericht Seite 16). Amerikanische Gerichte bereiten Klagen vor: Betrug, Dokumentenfälschung, Geldwäscherei, Insidergeschäfte, 14 Bestechung und Terrorismusfinanzierung gehören zu den mög- Abstimmungen – wird die Wehrpflicht lichen Klagepunkten. abgeschafft? Einen Albtraum hat die Welt am 11. März 2011 erlebt, als durch ein Erdbeben in Japan eine riesige Flutwelle und die Katastro- 16 phe im Atommeiler von Fukushima ausgelöst worden sind. Kurze Banken und Politik unter Druck der USA Zeit später verkündete der Bundesrat, die Schweizer Regierung 17 habe beschlossen, die Energiepolitik des Landes grundsätzlich Grundeinkommen: Ohne Arbeit besser zu ändern. Der Begriff «Energiewende» gehört seither ins Voka- leben? bular jeder Politikerin und jedes Politikers. Doch was meinte der Bundesrat damit? Was bedeutet die «Energiewende» für die Schweiz und ihre Zukunft? Wer hat ein In- 19 teresse am Wenden? Wer bremst und möchte die Richtung nicht ändern? Und wo führt Literaturserie: Blaise Cendrars uns das hin? Unser Redaktionskollege Marc Lettau liefert in seinem Schwerpunkt- 20 beitrag ab Seite 8 hierzu einige Antworten. Und er erläutert, dass die Energiewende Bastian Baker erobert die Welt kein abstraktes Szenarium ist, sondern ein Prozess, bei dem jeder Einzelne von uns herausgefordert wird. 22 Eine andere Zukunftsidee, eine höchst ungewöhnliche, wird derzeit in der Schweiz Wo Berge sich erheben: Der Alpenclub und auch in anderen europäischen Ländern diskutiert: die Idee eines «Bedingungslo- feiert den 150. Geburtstag sen Grundeinkommens». Jeder und jede soll von der Geburt bis zum Tod, auch ohne einer Arbeit nachzugehen, vom Staat genug Geld zum Leben erhalten. Befürworter 25 und Gegner dieser grundlegenden gesellschaftlichen Neuregelung gibt es im politi- ASO-Informationen schen Spektrum von ganz links bis ganz rechts. Das macht die Diskussion zu einer be- 27 sonderen Herausforderung. Da in der Schweiz die Unterschriftensammlung für eine Aus dem Bundeshaus Volksinitiative bereits im Gang ist, liefert uns Jürg Müller ab Seite 17 eine Auslege- ordnung der Argumente für und wider das Anliegen. 30 Barbara Engel Echo Titelbild: Die Rhätische Bahn in Graubünden ist eine der spektakulärsten Eisenbahnstrecken der Welt, und sie gehört zum Unesco-Welterbe. Das Bild zeigt die Strecke Davos–Filisur beim «Bärentritt». Foto: Rhätische Bahn S chweizer R evue August 2013 / Nr. 4 IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 40. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 400 000 Exemplaren (davon Online-Versand: 140 000). Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Her- ausgeberin. ■ REDAKTION: Barbara Engel (BE), Chefredaktorin; Marc Lettau (MUL); Jürg Müller (JM); Alain Wey (AW); Jean-François Lichtenstern (JFL), Auslandschweizerbeziehungen EDA, 3003 Bern, verantwortlich für «Aus dem Bundeshaus». Übersetzung: CLS Communication AG ■ GESTALTUNG: Herzog Design, Zürich ■ POSTADRESSE: Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 6110, Fax +41 31 356 6101, PC 30-6768-9. ■ E-MAIL: revue@aso.ch ■ DRUCK: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. ■ Alle bei einer Schweizer Vertretung immatrikulierten Auslandschweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch ■ Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 18. 6. 2013 ■ ADRESSÄNDERUNG: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern.
4 BRIEFKASTEN Zweitklassige Schweizer tenzial dieser Gruppe ist natür- Seltsame Bezeichnung Schweiz steht für mich nicht nur Wir Schweizer im Ausland sind lich für die Parteien nicht rele- Mit Interesse habe ich das Inter- für Schweizer Käse und Schoko- eindeutig zweitklassige Schwei- vant genug. Man setzt sich lieber view mit George Andrey gelesen. lade, sondern auch für Transpa- zer. Nicht nur für Krankenkas- mit Themen in Szene, von denen Gestutzt habe ich beim Aus- renz und Nächstenliebe. Hof- sen, sondern auch für den Füh- in der Schweiz alles spricht. Das druck «untergebene und alliierte fentlich lässt der Bundesrat rerausweis oder beim Gericht können mehr Rechte für Schwule Gebiet.» Von solchen Gebieten seinen Worten Taten folgen und und bei den Banken. Meine Er- und Lesben sein, mehr finan- habe ich noch nie etwas gehört. bietet diesen Opfern auch finan- fahrung diesbezüglich, machte zielle Mittel für Asylsuchende Ich habe die helvetischen Schul- zielle Entschädigung an. ich jetzt mit 77 Jahren, nachdem oder jedem Gefängnisinsassen bänke vor über 40 Jahren ge- Mary Bronnimann, ich mich mit 75 in Thailand mit ein eigenes Betreuerteam. Damit drückt. Könnte es sein, das diese Denver, USA meiner Thai-Partnerin nieder- rückt sich eine Partei ins rechte seltsame Bezeichnung für «ge- liess. Das alles nach 60 Jahren Licht für die nächsten Wahlen. meine Herrschaften und zuge- Auch in der sauberen Schweiz politischem Engagement, wo- Auslandschweizer, die sich keiner wandte Orte» steht? Dann wäre Ich bin entsetzt, was diesen Kin- von 18 Jahre als Gemeindeam- Krankenversicherung mehr un- ich exkulpiert, und der Vorwurf dern passiert ist. Ich weiss, dass mann. terstellen können, interessieren bliebe an jenen hängen, die für die sogenannte christliche Kir- Armin Thürig, diese Damen und Herren nicht. die Übersetzung und die Endre- che in Australien Ähnliches ge- Banchang, Thailand Da spielt es auch keine Rolle, daktion verantwortlich zeichnen. tan hat, doch ich hätte nie ge- wenn wir Auslandschweizer bis Roland Marti, Deutschland dacht, dass so etwas in der Eindeutig diskriminiert zum 65. Lebensjahr der Schweiz sauberen Schweiz passiert. Es Es ist ganz eindeutig eine Diskri- gedient haben! Ich jedenfalls Schweizer Regierung muss scheint, dass die Menschen welt- minierung, wenn Ausland- habe mir vorgenommen, alle de- Entschädigung anbieten weit bis in die 80er-Jahre dach- schweizer im EU-Raum sich dem mokratischen Mittel auszunut- Vielen Dank für diesen Artikel ten, dass dies das Los von Kin- KVG, also der Krankenkasse, an- zen, um diese Ungerechtigkeit über Heimkinder. Es ist gut, dass dern am Rande der Gesellschaft schliessen können, Ausland- auszuräumen. solche Themen ans Licht ge- sei. Gott sei Dank hat sich das schweizer in der übrigen Welt Rolf Bürge, bracht und nicht weiterhin tot- endlich geändert. hingegen nicht. Das Stimmenpo- Khun Han, Thailand geschwiegen werden. Die Helen Pye, Maclean, Australien www.ilg-mietauto.ch 200 Autos, 40 Modelle, z.B 1 Monat inkl. Frei Kilometer Dacia Sandero 1.2, Fr. 700.- Dacia Logan 1.6, Fr. 900.- Ilgauto ag, 8500 Frauenfeld Tel 0041 52 7203060 S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Wir bringen Sie mit einem Klick in die Schweiz. Informationen. News. Reportagen. Analysen. Aus der Schweiz, über die Schweiz. Multimedial, interaktiv und Vorsorgen in Schweizer Franken. tagesaktuell in 9 Sprachen. Auf der unabhängigen Agentur Auslandschweizer Internetplattform swissinfo.ch Stefan Böni, Winkelstrasse 1, CH-8706 Meilen +41 44 925 39 39, www.swisslife.ch/aso
GELESEN 5 Widerstand im Zürcher Theater Meine schlimmsten Alb- lat verfügt über keine biometri- die in genf und zürich lebende autorin anne cuneo begeis- träume lebten wieder auf ... sche Maschine. Also habe ich tert das Schweizer Publikum immer wieder mit ihren his- Als ich, 68 Jahre, von den Erfah- mich erkundigt, wie andere torischen Romanen. Ihr Buch über «Zaïda», die englische rungen anderer las, wurden die Länder dieses Problem abwi- Aristokratin, die im 19. Jahrhundert als eine der ersten schlimmsten Erinnerungen aus ckeln. Und es gibt eine einfache Frauen in Zürich Medizin studierte, ist ein Bestseller – in meiner Kindheit wieder wach. Lösung: Ein Unternehmen in der Romandie und in der Deutschschweiz. Nun hat sich Das alles und Schlimmeres habe Honolulu verfügt über solche die 76-jährige Autorin ein Stück Schweizer Geschichte ich auch durchgemacht. Ich Maschinen, nimmt die biomet- vorgenommen. Eine Episode, die Historikern zwar be- habe es nun wieder lebhaft in rischen Daten auf und sendet sie kannt sein mag, die ansonsten jedoch kaum Erwähnung Erinnerung: den Missbrauch, in einem versiegelten Umschlag findet. «La Tempête des heures» heisst der Roman. Im die Peinigungen und das skla- an die jeweiligen Botschaften. Zentrum steht das Zürcher Schauspielhaus, das in den venartige Leben, dem die Bau- Zum Beispiel von Kanada, Aus- ersten Kriegsjahren zum Zufluchtsort für Verfolgte und ern und die Regierung mich aus- tralien und Südafrika. zum Ort des geistigen Widerstands wird. gesetzt hatten. Zum ersten Mal Nur, das Schweizer General- Im Frühling 1940 bringt das Schauspielhaus unter dem seit Jahren konnte ich danach konsulat akzeptiert dies nicht. Eindruck grosser Bedrohung «Faust II» auf die Bühne. Das nicht schlafen, sondern musste Also war ich gezwungen nach Stück gilt schon unter normalen Umständen als sehr schwierig, weinen wie ein Baby. San Francisco zu fliegen. 3841 die Anforderungen an die Schauspieler, die Regie und beim P. S. Calgary, Kanada Kilometer für ein Prozedere Bühnenbild sind gewaltig. In der damaligen Kriegszeit gerät die von fünf Minuten. Die Kosten Zürcher Inszenierung zum Kraftakt. Alles wird zur Herausforde- Verlängerung des für die Passverlängerung: Flug- rung: von der Farbe für die Kulisse bis zum Stoff für die Kos- Schweizer Passes ticket 1900 Dollar, zwei unbe- tüme. In «Faust II» gewinnt, anders als in «Faust I», am Schluss Es ist traumhaft, in Hawaii, so- zahlte Arbeitstage 500 und das das Gute. Die Aufführung ist eine klare Botschaft des Wider- zusagen im Paradies zu leben. Hotel 100 Dollar. Die teuersten stands an die Adresse Berlins, das fast gleichzeitig eine nazisti- Leider nicht so traumhaft ist es, fünf Minuten meines Leben. sche Interpretation von «Faust I» auf die Bühne bringt. einen Schweizer Pass zu verlän- Edith Truckenbrod, Doch davon handelt das Buch nicht, das wäre Anne Cuneo gern. Das hawaiianische Konsu- Honolulu, Hawaii, USA zu viel Programm. Ihr geht es nicht um die Theorie, sondern um das individuelle Schicksal. Sie erzählt die Geschichte des Zürcher Schauspielhauses im Krieg deshalb aus der Sicht der jungen polnischen Jüdin Ella Berg, der die Flucht in die Schweiz gelungen ist. Ella Berg ist eine fiktive Figur und sie ist ein Archetyp. Viele junge Frauen kamen wie sie als Flücht- linge in die Schweiz und wie ihr blieb vielen nur die Heirat mit einem Schweizer, um bleiben zu können. Ella Berg wird zum Mädchen für alles im ANNE CUNEO A NNE CUNEO LATEMPÊTE DES HEURES La Tempête des heures Roman Schauspielhaus. Mit ihr erleben wir das « {…} Je suis là, mes dents cassées sont répa- LaTempête des heures Trauma von Vertreibung und Vernichtung. rées ou presque, je fais le métier que j’aime, j’ai femme et depuis quelque temps enfant. Et je me demande, plus souvent qu’à mon tour : pour- quoi ? Pourquoi moi ? Ai-je le droit d’être heu- roman Ihr Schicksal zeigt, dass die Rede von der reux alors que mes camarades de Börgermoor Photo © Philippe Pache crèvent à la tâche ? » Un silence qui se prolonge. Personne ne bouge. Puis Langhoff reprend : «verschonten Schweiz» längst nicht für alle « Je me dis que nous sommes une partie du front, de la résistance contre le fascisme. Que nous n’avons pas le droit de baisser les bras. Que nous devons à tous ceux que nous avons laissés derrière nous, vivants et morts, de défendre l’hu- gültig war, dass es auch in der Schweiz Ver- Anne Cuneo est née à Paris de parents italiens et vit en Suisse. Elle est main contre l’inhumain, d’œuvrer au triomphe journaliste d’actualité et cinéaste. Elle est l’auteur de récits autobio- de l’esprit sur la force brute. » Il pose sa main sur graphiques, de textes dramatiques et de romans dans les genres les plus ma tête. « Je suis sûr que ta famille serait très divers. Elle a reçu de nombreux prix, dont le Prix des libraires et le heureuse de te voir épouser Nathan, et nous, qui Prix Schiller pour l’ensemble de son œuvre. Ses ouvrages, traduits dans sehrte gab. Und wir schliessen mit ihr zu- plusieurs langues, sont des succès de librairie. la représentons ici, sommes heureux avec vous. » Il se lève, se dirige vers la porte. La grande peur des Suisses en 1940 et le rôle du « Renate est déjà couchée, mais elle t’a tout Schauspielhaus de Zurich pendant ces quelques semaines presque oubliées méritaient d’être rappelés. préparé. Tu vas devoir dormir dans la même sammen Bekanntschaft mit den grossen On a beau dire que « jamais Hitler n’aurait envahi la pièce que Thomas. Dans le même cagibi, Suisse », pendant la guerre cela n’était pas évident pour devrais-je dire. S’il te dérange, tu nous l’amènes. l’homme et la femme de la rue. Mais d’habitude il dort comme un ange. » La Tempête des heures raconte, par la voix d’une jeune réfu- giée juive, les journées trépidantes de 1940 où la population a « Quel âge a-t-il ? », ma voix ressemble à ANNE CUNEO fait face avec dignité tout en s’attendant au pire, vues à travers Schauspielern und Regisseuren, die das Zür- une poulie rouillée. le microcosme d’une troupe de théâtre composée de comédiens « Il va avoir deux ans. Il sera très heureux de réfugiés, condamnés à mort par les nazis ; tout en travaillant trouver une demoiselle dans sa chambre en se avec acharnement à une nouvelle mise en scène du Faust de Goethe, ils se préparent à mourir si la Suisse était envahie. Un réveillant… » roman d’amour, une profession de foi pour la culture, un cher Schauspielhaus nach dem Krieg für « … et je serai horriblement jaloux », hymne à la force des idées. enchaîne Nathan d’une voix enjouée. Photo de couverture : Richard Schweizer, Rires. « Wolfgang Langhoff et Hortense Raky dans Faust I. Décor Téo Otto, mise en scène Leopold Lindtberg, 1940 ». Extrait Nathan me pose un dernier baiser dans les Stadtarchiv Zürich, cote VII 200, archives du Schauspielhaus Jahrzehnte zu einer der besten deutsch- cheveux, et je pénètre dans la pièce sur la pointe © Les droits de Richard Schweizer sont représentés par Suissimage des pieds. BERNARD CAMPICHE EDITEUR ISBN 978-2-88241-326-0 sprachigen Bühnen machen werden: Anne-Marie Blanc, Maria Becker, Therese Giehse, Heinrich Gretler, Leopold Lindtberg, Ettore Cella, Ernst Ginsberg, Wolfgang Langhoff. Anne Cuneo erzählt mit einer grossen Liebe zum Detail und dem erklärten Willen, den historischen Tatsachen gerecht zu werden. «Ich arrangiere die Geschichte nicht. Sie muss stim- S c h w e i ze r Rev u e August 2013 / Nr. 4 men», sagt sie. Kein Wunder, legt man «La Tempête des heures» mit dem guten Gefühl weg, etwas über eine vergan- gene Zeit erfahren, etwas gelernt zu haben. Seraina Gross Anne Cuneo, «La Tempête des heures»; Edition Bernard Campiche, Orbe, 2013, 295 Seiten. Zur Frankfurter Buchmesse im Oktober erscheint das Buch auf Deutsch im Bilger-Verlag Zürich unter dem Titel «Schon geht der Wald in Flammen auf».
6 gesehen Meisterwerk der Ingenieurskunst Die Strecke über die Albula der Rhätischen Bahn, eingeweiht im Jahr 1903, ist eine der spektakulärsten Zugsstrecken der Welt und ein Meister- werk der Ingenieurskunst. 55 Viadukte und 33 Tunnel liegen zwischen Thusis im Rheinthal und St. Moritz im Engadin. Erbauer waren Friedrich Hennings aus dem norddeutschen Kiel und Robert Moser aus Zürich. Sie galten als die besten Bahningenieure ihrer Zeit. Vor dem Bau der Bahn S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Foto: ZVG Rhätische Bahn
7 dauerte die Fahrt von Chur über den Julierpass ins Engadin rund 14 Stunden – heute sind es per Bahn noch gerade zwei. Zusammen mit der Verlängerung über den Berninapass ins Puschlav bis nach dem italienischen Tirano wurde die Bahnstrecke 2008 zum Unesco-Welterbe erklärt – als dritte Bahn weltweit neben den Teilen der Mountain Railways of India und der Semmeringstrecke in Österreich. www.rhb.ch; www.bahnmuseum-albula.ch S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Foto: Keystone
8 Schwerpunkt Die Schweiz plant ihre post-atomare Energiezukunft Fukushima hat in der Schweizer Energiepolitik ein Erdbeben ausgelöst. Der Bundesrat hat nach der Katastrophe den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen und drängt auf einen umfassenden Kurswechsel. Doch was bedeutet der Begriff «Energiewende», der seither in aller Leute Mund ist? Wer will wohin wenden? Von Marc Lettau Weltgemeinschaft ins Gedächtnis gebrannt hatten. Zusammengefasst: Am 11. März 2011 bebte um 14:46 Uhr im Pazifik vor der japa- nischen Region Tohoku die Erde. Die sich hebenden und senkenden Erdplatten lösten gewaltige Flutwellen aus, die eine knappe Stunde später das japanische Festland tra- fen und mindestens 16 000 Menschen in den Tod rissen. Zur kaum in Worte zu fassenden menschlichen Tragödie gesellte sich eine der grössten technischen Katastrophen der Neuzeit: Das gewaltige Erdbeben und die nachfolgenden Flutwellen trafen die sechs Atomreaktoren von Fukushima Daiichi. Der Betreiberfirma Tepco gelang es im Chaos der Zerstörung nicht, die Werke kontrolliert 14. März 2011: Bundesrätin Doris Leuthard erklärt Medienvertretern im Bundeshaus die herunterzufahren. Die Nachkühlung der Pläne der Regierung zur Energiewende heruntergefahrenen Werke glückte nicht. In Nach dem nicht enden wollenden nasskal- Debatte bemerkenswert. Statt wie noch vor vier Reaktoren kam es zu Explosionen. In ten Winterwetter zeigte sich in der Schweiz wenigen Jahren darum zu feilschen, wann drei Reaktoren zur Kernschmelze. Grosse Ende Mai doch noch die Sonne. Aber kaum und wo neue Atomkraftwerke gebaut wer- Mengen radioaktiver Stoffe gelangten in die war sie da, brauten sich in Bundesbern Ge- den sollen, wird lediglich noch die nukleare Atmosphäre und ins Meer. Aufgrund der Er- witterwolken zusammen: Im Nationalrat Endzeitdebatte geführt. Die heute in Be- schütterungen verschob sich Japans Haupt- wurde im Juni heftig über die Betriebsdauer trieb stehenden Atomkraftwerke sind also insel um über zwei Meter nach Osten. Die schweizerischer Atomkraftwerke gestritten. Auslaufmodelle. Was ist passiert? Massenverteilung der Erde veränderte sich Sollen die allesamt ziemlich bejahrten Die grosse Überraschung ereignete sich so stark, dass sich seither die Erde etwas Atomkraftwerke unbeschränkt lange betrie- am 14. März 2011. An jenem Montag krem- schneller dreht. Auch in Bern. ben werden können, falls laufend in ihre Si- pelte Energieministerin Doris Leuthard von cherheit investiert wird? Oder braucht es für der Christlichdemokratischen Volkspartei Energiepolitik mit Klimazielen sie ein amtlich verfügtes Verfalldatum, also (CVP) mit einem kurzen Statement die Seit dem Schock von Fukushima arbeitet die einen Termin für ihre definitive Stilllegung? schweizerische Energiepolitik um. Die Bun- Bundesbehörde mit erhöhtem Tempo am Die Energiekommission des Nationalrats desrätin kündigte an, die Schweiz werde «ge- grundlegenden Umbau der schweizerischen schlägt eine Laufzeit von maximal 50 Jah- ordnet» aus der Atomenergie aussteigen, weil Energiepolitik. Ihr Werkzeug dabei ist die ren vor. Jenseits der Schmerzgrenze ist dies «die Sicherheit und das Wohlergehen der Be- «Energiestrategie 2050». Diese zielt darauf für die Grünen. Sie wollen die Atommeiler völkerung oberste Priorität» habe. Die kon- ab, den heute immer noch stetig steigenden spätestens nach 45 Jahren vom Netz nehmen. krete Folge des Statements: Die bereits lau- Energie- und Stromverbrauch pro Person zu Dies fordern sie auch in einer 2012 einge- fenden Rahmenbewilligungsgesuche für senken. Und sie skizziert, wie der Ausstoss reichten Volksinitiative. Die überwiegend zwei neue Atomkraftwerke in der Schweiz klimaschädigender Emissionen bis ins Jahr bürgerlichen Ratsmitglieder, die Anliegen wurden kurzerhand auf Eis gelegt. Mit ihrem 2050 entscheidend zu senken ist. Das ver- der AKW-Betreiber im Blickfeld, drängen Hang zur Verkürzung konstatierten die Me- deutlicht, dass die Strategie weit über den hingegen darauf, keinesfalls ein Still dien, nun nahe die «Energiewende». Ausstieg aus der Atomenergie und den Um- S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 legungsdatum festzulegen, weil sonst in den bau der Stromversorgung hinausgeht: Sie letzten Betriebsjahren die Vernachlässigung Erde bebt, Vertrauen wankt will Atomausstieg und Klimaschutz unter ei- der Sicherheit drohe. Statt sicherer würden Klar ist, was die Energieministerin dazu be- nen Hut bringen. Dazu muss die Schweiz die Werke also unsicherer. wogen hatte, an jenem Montagmorgen einen aber ihre Abhängigkeit vom Erdöl vermin- Der Streit ist noch nicht ausgefochten, neuen Kurs einzuschlagen. Es sind die dern. Heute stillt das Land seinen Hunger Foto: Keystone denn der Nationalrat hat den Entscheid auf schrecklichen Ereignisse, die sich drei Tage nach Energie noch zu rund drei Vierteln mit später im Jahr vertagt. Gleichwohl ist die vor Leuthards Auftritt ereignet und sich der fossiler Energie. Der verbleibende Viertel
9 wird hauptsächlich mit Strom gedeckt, zu dere beim Strom bedeutet dies eine Abkehr sei zwar richtig und der Beitrag der Energie- rund 40 Prozent mit Atomstrom. Für den von der zentralen Stromproduktion hin zur ministerin enorm wichtig: «Sie versteht die Weg hin zum skizzierten Ziel schlagen die dezentralen, verbunden mit einer hohen Materie. Sie hat richtigerweise aus dem Experten des Bundes vor, einerseits Strom staatlichen Eingriffstiefe.» Gleichzeitig be- Atomausstieg eine Energiewende gemacht.» viel effizienter zu nutzen und anderseits tont er, die exportorientierte Wirtschaft Gut sei, dass Leuthard eine Debatte über massiv mehr Strom aus Sonne und Wind zu stelle sich nicht gegen eine nachhaltigere den Gesamtenergieverbrauch fordere. Aber gewinnen. Vorgeschlagen werden raschere Energieversorgung, müsse aber auf einen leider, sagt Buri, bleibe der Atomausstieg und einfachere Bewilligungsverfahren, eine Umbau der Energie- und Klimapolitik po- halbherzig: «Der propagierte geordnete Forderung ist die Modernisierung und der Ausbau der Stromnetze. Und empfohlen wird, zur Sicherung der Stromversorgung mittelfristig auch auf Gaskraftwerke zu set- zen. Diskutieren und benoten wird das Par- lament dieses umfassende Massnahmenpa- ket, das die Revision zahlreicher Gesetze nach sich ziehen wird, wohl noch dieses Jahr. «Planwirtschaftliche Attitüden» Noten verteilt werden allerdings schon heute. Umweltaktivisten klagen, solange kein Da- tum für die Abschaltung der bestehenden fünf AKWs (Beznau I, Beznau II, Gösgen, Mühleberg, Leibstadt) festgelegt sei, fehle je- der Antrieb für eine echte Energiewende. Der Bundesrat verfolge eine «unrealistische» Energiepolitik, sagen hingegen viele Wirt- Das Kernkraftwerk Beznau, der älteste Reaktor der Welt, der noch in Betrieb ist schaftsvertreter. Zwar frohlocken Gewerbe- kreise über die Jobs, die durch den Ausbau er- chen, der im Gleichschritt mit dem interna- Ausstieg ist de facto ein Pseudoausstieg. Es neuerbarer Energien geschaffen werden tionalen Umfeld erfolge. Die Idee, die werden zwar keine neuen Atomkraftwerke könnten. Kühne Schätzungen rechnen mit Schweiz müsse «mit dem guten Beispiel vor- gebaut. Aber die heutigen AKW-Betreiber bis zu 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. angehen», sei «reichlich naiv». Skeptisch stel- wollen ihre alten Werke dafür viel länger be- Die exportorientierte Wirtschaft mag in die- len sich Swissmem und andere Wirtschafts- treiben.» So wie dies auch zahlreiche Um- sen Applaus nicht einstimmen. Sie fürchtet, verbände zum Ausbau der Subventionen für weltorganisationen tun, pocht die SES des- dass steigende Energiekosten im Inland ihre die Förderung alternativer, nachhaltiger halb auf klare Abschalttermine für die Wettbewerbsfähigkeit im Ausland beein- Energien: «Wir befürchten, dass die Schweiz bejahrten Atommeiler. Alte Werke laufend trächtigen könnten. Der Branchenverband aus der Subventionsmaschinerie nicht mehr nachzurüsten, führe zur absurden Situation, Swissmem, der die Interessen der Maschi- rauskommen wird.» dass die Schweiz zwar aus Sicherheitsüber- nen-, Elektro- und Metallindustrie vertritt, legungen auf neue AKWs verzichte, aber kritisiert etwa, der Bundesrat überschätze die «De facto ein Pseudoausstieg» durch den Weiterbetrieb «maroder» Atom- Möglichkeiten zur Verbesserung der Ener- Eine ganz andere Position vertritt Jürg Buri, meiler laufend höhere Sicherheitsrisiken in gieeffizienz und zur stärkeren Nutzung alter- der Geschäftsführer der Schweizer Energie- Kauf nehme, als sie dies beim Bau neuer nativer, erneuerbarer Energiequellen. Jean- stiftung (SES). Die Stiftung, die schon seit Werke tun würde. Philippe Kohl, der Leiter des Bereichs 1976 für eine «intelligente, umwelt- und Wirtschaftspolitik bei Swissmem, spricht gar menschengerechte Energiepolitik» kämpft Gespaltene Lager von «planwirtschaftlichen Attitüden» und und sich dabei am Modell der 2000-Watt- Allerdings gibt es auch innerhalb dieses po- «ausgeprägtem Machbarkeitsglauben». Man Gesellschaft orientiert (siehe Text unten), litischen und weltanschaulichen Lagers mit blende vorschnell aus, dass bei einem grund- verfolgt die laufende Entwicklung laut Buri viel Energie ausgetragene Konflikte. So sind legenden Umbau des Energiesystems «vieles mit einiger Genugtuung. Effizientere Ener- viele Umweltorganisatoren gleichzeitig Mo- gleichzeitig» erfolgen müsse: die Investition gienutzung, Atomausstieg, Abbau der Ab- toren wie auch Bremser der Energiewende. in neue Technologien, der Ausbau der Netze, hängigkeit von nur beschränkt verfügbaren, Sie befürworten die Wende generell, bekla- S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 die bessere Einbindung in den europäischen fossilen Energien und die weit stärkere Nut- gen aber neuen Druck auf Natur, Gewässer, Strommarkt, der Aufbau neuer Speicher- zung alternativer, nachhaltiger Energiequel- Landschaft, Ortsbilder und Klima. Das Bei- möglichkeiten, weil Strom aus Sonne und len: Diese Ziele der Energiestrategie 2050 spiel: Strom aus Wasserkraft hat für sie Wind im Gegensatz zu jenem aus Kernener- lesen sich, als wären sie direkt aus einem zweifelsohne die Aura des Natürlichen. gie in stark schwankenden Mengen anfalle. SES-Papier kopiert. Dennoch meldet Buri Aber die letzten naturnahen Flüsse der Foto: Keystone Die Energiestrategie 2050 des Bundesrats sei Bedenken an. Die allgemeine Richtung, die Stromgewinnung zu opfern, widerspricht wirklich fundamental, sagt Kohl. «Insbeson- mit der Energiewende eingeschlagen werde, ihrem Schutzgedanken. Die radikalsten un-
10 Schwerpunkt Bilder der Zukunft: Sonnenkollektoren auf den Dächern in Schiers (GR), Landschaft mit Windturbinen in Süd- deutschland und Fassa- den älterer Bauten, neu verkleidet mit Kollekto- ren wie bei der Überbau- ung Sihlweid in Zürich ter ihnen verlangen deshalb, bei der Ener- Fukushima ein vielzitierter, kämpferischer In dieser Wunde bohren auch politische Be- giewende allein auf Einsparungen beim Ver- Promotor neuer Atomkraftwerke, bleibt obachter wie der Zürcher Ökonom und Pu- brauch zu setzen. auffällig unauffällig. Er beschränkt sich da- blizist Christoph Zollinger. Ernsthafte tech- Uneinig sind sich auch die Wirtschaftsor- rauf, vor überstürzten Weichenstellungen zu nische Hindernisse für die Energiewende ganisationen. Zwar nehmen Swissmem und warnen. Im Sprint lasse sich die Energie- sieht er keine. Die wirklichen Hindernisse Economiesuisse, der grösste Unternehmer- wende nicht schaffen: «Die Kräfte wären seien «die Blockade in den Köpfen» und der verband der Schweiz, eine sehr kritische Hal- aufgezehrt, lange bevor das eigentliche Ziel Machtkampf hinter den Kulissen. Schicke tung zur Energiestrategie 2050 ein. Aber mit in Sicht ist», sagt er. Die Zurückhaltung der sich nämlich eine ganze Nation an, selber Swisscleantech mischt ein grüner Wirt- grossen Energiekonzerne ist erklärbar: Sie Energie zu erzeugen – etwa mit Solaranlagen schaftsverband die Debatte auf, der sich ohne sind die potenziellen Verlierer der Wende. auf dem eigenen Dach – verändere sich die Wenn und Aber für ressourceneffizientes und Wenn dereinst wirklich Hunderttausende Rolle und der Einfluss der bisherigen Ener- emissionsarmes Wirtschaften stark macht. auf ihren Hausdächern Solarpanels montie- gielieferanten dramatisch. Zollinger: «Der ren und dezentral produzierten Strom ins Streit um die Zukunft des Stroms ist auch ein Diskrete Stromlobby Netz einspeisen, kommen sie in die Zwick- Kampf um Pfründe, Besitzstände, Macht und Vergleichsweise diskret verhalten sich die mühle. Nicht die Grosskonzerne sind dann Monopole. Die Energiewende stellt einen ge- grossen Energiekonzerne wie Alpiq, Axpo die marktgestaltenden Kräfte, sondern all waltigen Umbau unserer Gesellschaft dar.» und BKW. Sie bekunden Mühe, sich aus der die kleinen Elektrizitätswerke, die noch di- durch die Fukushima-Tragödie ausgelösten rekte Kundenkontakte haben. Die Grossen Eine Wende von unten nach oben Erstarrung zu lösen. Heinz Karrer etwa, hingegen sitzen auf ihren gigantischen Inf- Wer bloss die politische Debatte auf natio- CEO der Axpo Holding, und bis vor rastrukturen. naler Ebene verfolgt, mag zum Schluss kom- Schweizerische Rezepte gegen den unbändigen Energiehunger Der Blick der Schweizerinnen und Schweizer aufs Thema Energie weltweite Energieverbrauch und der Ausstoss von klimaschädi- verändert sich. Als in der Ölkrise von 1973 die OPEC-Staaten die genden Treibhausgasen auf ein vertretbares Mass sinken. Auf ein Ölfördermenge drosselten, galt die Hauptsorge dem Preis. In der Jahr hochgerechnet bedeutet dies, dass sich jedes Individuum für Schweiz wurden damals strenge Tempolimiten und Sonntagsfahr- Heizung, Mobilität und Nahrung mit 17 500 Kilowattstunden verbote verfügt. An den um 70 Prozent hochgeschnellten Energie- (kWh) begnügen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste in der kosten änderte dies nichts. Heute hingegen kritisieren zahlreiche Schweiz das Rad punkto Energieverbrauch um rund 50 Jahre Umweltverbände, die Energiepreise seien so tief, dass der Ver- zurückgedreht werden auf den Stand von 1960. schwendung kaum Einhalt geboten werde. Und der stets stei- Die ETH-Forscher propagieren keine Askese. Sie streben nach gende Energieverbrauch treibe den Klimawandel an. Die technischen Lösungen, um den heutigen Lebensstandard zu si- S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Hauptsorge gilt also immer stärker der verbrauchten Menge. chern – aber bei gleichzeitig viel tieferem Energieverbrauch. Fol- Denkarbeit, wie der menschliche Energiehunger auf ein nach- gen hat das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft bereits im Immo- haltiges Mass gesenkt werden kann, leistet seit den 1990er-Jah- biliensektor der Schweiz: Gut gedämmte Neubauten mit sehr ren die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich. Sie tiefem Energieaufwand fürs Heizen, Kühlen und Belüften sind hat das Konzept einer 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Die heute die Regel. Zudem steigen die Marktanteile besonders ener- Kernidee: Der Energiebedarf jedes Menschen darf eine durch- gieeffizienter Geräte oder verbrauchsarmer Autos. Weil aber stets Foto: ZVG schnittliche Leistung von 2000 Watt nicht überschreiten, soll der neue – energiekonsumierende – Bedürfnisse geschaffen werden,
11 men, die schweizerische Energiewende sei Solarenergie auf die vorhandenen Dächer die Furcht vor unbezahlbaren Stromrech- zwar «eine grosse Kiste», so drückte sich einstrahlt, wie die 40 000 Einwohner insge- nungen nehmen wollen. Peter Lehmann, Bundesrätin Leuthard aus, aber eine Kiste samt an Strom verbrauchen. Der Kommen- Energieexperte und CEO des regionalen voller vorerst nur angekündigter Schritte. tar der Könizer Umweltvorsteherin Rita Energieversorgers von Wohlen im «Atom- Der Eindruck trügt, denn insbesondere Haudenschild: Der Bund schätze das Poten- kanton» Aargau, argumentiert, Schweize- Städte und grössere urbane Gemeinden zial der Solarenergie «viel zu zurückhaltend» rinnen und Schweizer könnten sich selbst schaffen bereits jetzt laufend neue Fakten. ein, denn das Ziel der Energiestrategie, rund eine radikale Wende – eine Stromversor- Sie vollziehen die Wende. So plant die Ge- 20 Prozent des Stroms solar zu produzieren, gung ausschliesslich aus erneuerbaren meinde Payerne (VD) derzeit die grösste lasse sich leicht und vor allem sehr rasch er- Quellen – leisten: «Geht man davon aus, Solaranlage der Schweiz. Auf den Dächern reichen. dass bis 2050 der Einzelne dank effiziente- der Ortschaft werden 100 000 Quadratme- Andernorts machen nicht Politiker, son- rer Technologie gegenüber heute 25 Pro- ter Solarpanels montiert. Der solar erzeugte dern die kleineren Energiewerke Tempo. zent weniger Strom verbraucht, entsprä- Strom soll den Bedarf für sämtliche 9500 Sie erneuern ihr örtliches Stromnetz so, chen die Mehrkosten für einen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt dass mehr private Produzenten Strom ohne durchschnittlichen Vier-Personen-Haus- decken. Payerne ist kein Einzelfall, erheben technische Probleme ins Netz einspeisen halt jährlich etwa 400 Franken. Das zeigt, doch derzeit viele Gemeinden, wie viel können. Das ist die wichtigste technische dass die Mehrkosten überschaubar und Sonne ihnen aufs Dach scheint. Die Berner Voraussetzung zur Förderung der dezent- durchaus finanzierbar sind.» Vorortsgemeinde Köniz ist nach der Begut- ralen, nachhaltigen Energieerzeugung. Zu- achtung aller Dachflächen gar zum Schluss dem sind es die kleineren Energiewerke, die gekommen, dass exakt gleich viel nutzbare den Konsumentinnen und Konsumenten Marc Lettau ist Redaktor der «Schweizer Revue» steigt der Gesamtenergieverbrauch pro Kopf noch immer an. Die giehungers noch immer mit Erdöl gedeckt wird. Forschungsleiter Schweizerinnen und Schweizer sind also noch weit von einem Dominic A. Notter: «Allein durch das Essverhalten der untersuch- nachhaltigen Lebensstil entfernt. Der Primärenergiebedarf liegt ten Bevölkerung wird fast eine Tonne CO2 pro Person und Jahr derzeit bei 6300 Watt pro Person, der jährliche CO2-Ausstoss bei produziert.» An die Devise, es lasse sich alles ins Lot bringen, rund 9 t pro Person. Das Nachhaltigkeitsziel lautet aber: maximal ohne den Lebensstandard in Frage zu stellen, glaubt Notter nicht: 1 t CO2 pro Person. Mit der vom Bundesrat vorgelegten Energiestra- «Wir müssen genügsamer werden.» tegie 2050 dürfte der CO2-Ausstoss immerhin signifikant sinken und der Energieverbrauch auf rund 4000 Watt gedrosselt werden. Der eigene Fussabdruck Bleibt die nachhaltige 2000-Watt-Gesellschaft trotz Energie- Was aber ist genügsam? Die wenigsten Individuen können ihren wende eine Utopie? Die Eidgenössische Materialprüfungs- und «Energiehunger» beziffern. Allerdings ist auch dies im Wandel, S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf hat im Mai ernüchternde denn die Zahl der Hilfsmittel, mit denen sich der persönliche Studienergebnisse präsentiert. Derzeit erreichen in der Schweiz ökologische Fussabdruck errechnen lässt, zum Beispiel unter nur rund zwei Prozent die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft. Was www.ecospeed.ch, nimmt laufend zu. Die Probe aufs Exempel den Empa-Forschern auffiel: Der geringere Energiebedarf ist zwar wird es freilich den allermeisten zeigen: Bis hin zum guten Ge- erreichbar. Aber den angestrebten tiefen CO2-Ausstoss erreichen wissen ist der Weg ziemlich lang. (mul) die wenigsten. Nicht allein der hohe Energieverbrauch ist das Pro- Foto: ZVG http://www.energiestiftung.ch; http://www.swisscleantech.ch; blem, sondern der Umstand, dass ein sehr grosser Anteil des Ener- http://www.ecospeed.ch; http://www.2000watt.ch; http://www.energybox.ch
12 Politik «Er hat das Tessin verändert, ohne es regiert zu haben» 22 Jahre lang war Giuliano Bignasca eine zentrale Figur in der Tessiner Politik: als Gründer der Gratiszeitung «Mattino della Domenica», als Mitbegründer und Präsident auf Lebzeiten der Protest- bewegung «Lega dei Ticinesi» und als Nationalrat. Die etablierten Parteien CVP und FDP, die während Jahrzehnten Macht, Einfluss und Ämter unter sich aufteilten, hat er völlig aus dem Tritt gebracht. Von Veronica Alippi Das Plakat der Lega dei T icinesi zu ihrem 20-jährigen Bestehen und Giuliano Bignasca (rechts im Bild) mit Marco Borradori, dem heuti- gen Stadtpräsidenten von Lugano, aufgenommen im Dezember 2012 Ein Schnappschuss im Halbschatten. Ein ge- Januar 1991. Ihrer Gründung vorausgegan- dauern und sich dann in nichts auflösen schickter Lichteinfall hebt die obere Ge- gen war die Lancierung der Gratiszeitung wird», hiess es damals. Doch so ist es nicht sichtspartie hervor. Ein für einmal ernster «Mattino della Domenica» im März 1990. gekommen. Die Lega erlebt zwar Höhen Blick und natürlich die in die weissen Haare Bignasca hatte den «Mattino» mit eindeuti- und Tiefen, sie ist aber fester Bestandteil der gesteckte Brille. So sah das Plakat aus, das gen politischen Absichten gegründet. Er war Tessiner Politlandschaft und sie hat diese in Anfang 2011 anlässlich des 20-jährigen Beste- bei einem Geschäft, in dem es um den Er- den vergangenen 20 Jahren geprägt, model- hens der Lega dei Ticinesi die Strassen des werb einiger Grundstücke der SBB ging, liert und tiefgreifend verändert. Dabei ist sie Kantons Tessin zierte. Auf dem Plakat abge- übergangen worden und hatte beschlossen, sich stets treu geblieben, nicht immer in den bildet war Giuliano Bignasca, Bau- und Im- gegen die Klientelpolitik im Tessin und ge- Inhalten, aber zumindest in der Form. mobilienunternehmer und Parteigründer. gen die Macht der historischen Parteien vor- Eigentlich hatte die Lega nie eine wirkliche Bignasca – «der Zwerg», wie er überall im zugehen. Der «Mattino» war sofort ein Er- ideologische Grundlage. Giuliano Bignasca, Tessin genannt wurde – war nicht nur das un- folg mit gewaltigen Auswirkungen auf die der die politische Agenda der Partei vorgab, verwechselbare Aushängeschild der Lega, Tessiner Presse- und Verlagswelt. verfolgte in erster Linie seine eigenen Ziele. sondern auch ihr Gründer, Chef und Präsi- Dabei hatte er es vor allem auf das Establish- dent auf Lebzeiten, die Seele und das Herz Prognosen und Realität ment, die Parteien, auf Bundesbern und Eu- der Partei. Die Lega war Bignasca und Die Geschichte wiederholte sich mit der ropa abgesehen. An diesem Ansatz hat sich Bignasca war die Lega. Lega: sofortiger Erfolg und gewaltige Aus- im Laufe der Jahre nichts geändert. Ebenso Bei seinem Tod durch einen Herzinfarkt wirkungen. 1991 im Frühling, bei ihrer ers- wenig geändert hat sich die ungewöhnliche in den frühen Morgenstunden des 7. März ten Wahlteilnahme, eroberte die Partei 12 Mischung aus Liberalismus und Sozialsinn, dieses Jahres fragte man sich, was aus dieser von 90 Sitzen im Tessiner Parlament und die das Denken von Bignasca prägte. Weni- Bewegung werden würde. Sie, die am 10. verpasste nur knapp den Einzug in die Re- ger Steuern und weniger Bürokratie einer- April 2011 alle überrannt hatte und mit zwei gierung. Im Oktober, bei den eidgenössi- seits, mehr Hilfe für Bürger in Not und von fünf Sitzen zur stärksten Partei in der schen Wahlen, erlangte sie zwei von acht Kampf gegen die Krankenkassen andererseits. S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 Tessiner Regierung geworden war. Die Ant- Tessiner Sitzen im Nationalrat und einen wort erhielt man wenige Wochen nach Big- Sitz im Ständerat. Die Tessiner Politiker- Feines Gespür für Missstimmungen nascas Tod: Die Lega wird stärkste Partei in kaste war erschüttert. Ein solches Erdbeben, Bignascas politische Gegner haben ihm im- Lugano, der wichtigsten Stadt des Kantons, prophezeiten damals viele, Beobachter und mer wieder Doppelzüngigkeit vorgeworfen und erobert mit Marco Borradori den Politiker, werde sich nicht wiederholen. und auf die Widersprüche in seiner Politik Thron des Stadtpräsidenten. Offiziell ge- «Eine Protestwahl. Ein vorübergehendes hingewiesen, vor allem im Steuer- und Fi- Foto: ZVG gründet wird die «Lega dei Ticinesi» am 17. Phänomen, das eine Legislaturperiode an- nanzbereich. Doch offenbar haben gerade
13 diese Paradoxien Wähler angezogen. Jene, scheidungen und gab diese im «Mattino» be- eingereicht worden waren, und die Lega be- die ihre Unzufriedenheit mit der traditio- kannt – ohne seine Regierungsmitglieder schloss – angesichts der Welle der Gefühle, nellen Politik zum Ausdruck bringen woll- oder Parlamentarier einzubeziehen. Dies welche die Stadt erfasst hatte – seinen Na- ten – und immer noch wollen. Wähler, die führte auch zu Streitereien und kurz danach men auf der Liste zu belassen. Also wurde sich Veränderungen wünschen, weil sie ih- jeweils zu pathetischen Versöhnungsszenen. Bignasca wiedergewählt. Als Toter trug er nen notwendig erscheinen, um die wirt- Das Verhältnis des Präsidenten auf Lebzei- dazu bei, dass die Lega zur stärksten Partei schaftlichen, sozialen und persönlichen ten zu seinen wichtigsten Gefolgsleuten war in der Stadtregierung wurde und Borradori Schwierigkeiten zu überwinden. ambivalent. Sein wichtigster Begleiter war den Thron des Stadtpräsidenten eroberte. Als populistisch und politisch unbedarft Marco Borradori, während 18 Jahren Kan- tonsrat und heute Lu- Wer übernimmt Bignascas Rolle? ganos Stadtpräsident. Und wie sieht nun die Zukunft der Lega aus? Bignasca und Borra- Ist der Sieg von Lugano der endgültige dori ergänzten sich Durchbruch oder das letzte Aufbäumen vor bestens. Der eine dem Niedergang? Wie wird sich die Tessiner stand für lautstarke Politik ohne Giuliano Bignasca verändern? Politik, für persönli- Die plötzlich führungslose Partei hat che Attacken und Ul- schwierige Wochen hinter sich. Trotz der timaten, der andere Aufrufe zur Geschlossenheit fehlte es nicht für Dialog, Kompro- an Kontroversen und internen Konflikten. misse und respektvol- Der «Mattino», die grosse Propagandama- len Umgang. Der erste schine, hat seine Sprache bereits gemässigt. war aufbrausend und Die Frage ist, schafft es die Partei, Bignascas unanständig, der Erfolgsrezept fortzuführen und das Gleich- zweite stets ruhig und gewicht zwischen Rechts und Links zu wah- höflich. Es gab auch ren. Mit Bignasca könnte auch ein Grossteil Themen, bei denen sie des sozialen Verständnisses der Lega ver- sich nie einig waren – schwunden sein. Ungewiss ist, wer nun die wurden die Vorschläge Bignascas oft abqua- vor allem in den Bereichen Umwelt und Zügel innerhalb der Partei in die Hand neh- lifiziert. Doch als «Animal politique» hatte Kantonsfinanzen. Aber niemals haben sie men wird. Im Augenblick hat man sich für er ein feines Gespür für Missstimmungen die Differenzen über die Medien ausgetra- eine kollektive Leitung entschieden. Aber und für die Bedürfnisse der Tessiner, die er gen. Sie waren ein unzertrennliches politi- eigentlich ist klar, dass alle einzig Borradori «la gente» (die Leute) nannte. Häufig entwarf sches Paar, bis zum Tod von Giuliano zutrauen, die gewaltige Figur Bignasca zu er- er einfache, gar triviale, aber wirksame Kon- Bignasca. setzen. zepte. Der «Mattino», der praktisch das offi- Der politische Auftritt von Bignasca war Die anderen Parteien haben ihre Haltung zielle Parteiorgan war, sorgte für die Verbrei- widersprüchlich und bisweilen auch inkohä- in den 22 Jahren, in denen Giuliano Bignasca tung der Slogans und Parolen, erklärte, wer rent. So war auch sein Privatleben. Er war die politische Landschaft des Tessins durch- die Feindbilder sind, verspottete die Opfer schüchtern und stand plötzlich im Rampen- einanderwirbelte, grundlegend geändert: und beleidigte sie – oft mit Schimpfnamen licht, er war ein bekennender Kokainkonsu- Erst ignorierten sie Bignasca, dann merkten und Fotomontagen, die für Entrüstung sorg- ment, aber keineswegs stolz auf sein Laster. sie, dass sie ihn unterschätzt hatten, und be- ten. Unter seinem Einfluss verrohe die Poli- Die Reaktionen am 7. März 2013, am Tage gannen, ihn zu fürchten. Ab und zu haben tik, wurde Bignasca von vielen Seiten vorge- seines Todes, zeigten, dass nicht nur seine sie auch versucht, ihn nachzuahmen und worfen. Er wurde dutzendfach angezeigt, Freunde, sondern auch seine Feinde ihm noch aggressivere Töne als er anzuschlagen. wegen Beleidigung und übler Nachrede. Achtung zollten – wenn nicht in politischer, Als sie die Fähigkeit der Lega erkannt hat- Mehrfach verurteilten ihn Gerichte, was er dann zumindest in menschlicher Hinsicht. ten, grosse politische Themen vorwegzu- zu ignorieren pflegte. Die Äusserungen der Denn «der Zwerg» war auch sehr grosszügig, nehmen, haben sie begonnen, mit ihr zusam- Lega-Vertreter sind meist grob, oft respekt- er konnte nie jemanden abweisen, der ihn menzuarbeiten und sich mit ihr zu los und nicht selten fremdenfeindlich. Dies um Hilfe bat. Mit seiner Hilfsbereitschaft verbünden. Das Erdbeben bei den Wahlen hat möglicherweise zum Erfolg der Bewe- hat er insbesondere jene überrascht, die in im April 2011 haben sie allerdings noch gung beigetragen. Sicher ist, Bignasca spürte, ihm vor allem den Angeber und Provokateur längst nicht verdaut. Die traditionellen Par- welche Themen die Tessiner beschäftigen sahen. Unvergessen bleiben seine Auftritte teien sind vorsichtig und zögerlich geworden, S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 und wo sie sich bedroht fühlten – durch den in Richterrobe bei einem seiner Prozesse sie rätseln, ob der Erfolg der Lega anhalten explosionsartigen Anstieg der Grenzgänger oder mit Stab und Holzschuhen im Natio- wird. In einem Nachruf auf Bignasca stand: zum Beispiel. nalrat. «Er hat das Tessin verändert, ohne es regiert Schon fast als makaber erscheint seine zu haben.» Ob dies über seinen Tod hinaus Ein unzertrennliches Paar Rolle bei den Wahlen in die Luganeser anhalten wird, ist noch unklar. Foto: Keystone Echte demokratische Strukturen gab es in- Stadtregierung am 14. April dieses Jahres. Er Veronica Alippi ist Leiterin des Regional- nerhalb der Lega nie. Bignasca traf Ent- starb, nachdem die offiziellen Wahllisten journals der Radiotelevisione Svizzera RSI
14 Politik Militärdienst nach dem Lustprinzip? Die Wehrpflicht soll in der Schweiz aufgehoben werden. Das fordert eine Volks- initiative, über die am 22. September 2013 abgestimmt wird. Doch die Schweizer stehen heute deutlich hinter der Armee, deutlicher als auch schon. Von Jürg Müller Das Thema eignet sich hervorragend für Pa- rungszahl europaweit immer noch die dass solche Risikogruppen in der Minderheit thos: «Das Zusammenleben in unserem schö- grösste Armee habe. Dabei lägen die Bedro- bleiben.» nen und sicheren Land basiert auf Rechten hungen heute längst nicht mehr im klassi- und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger. schen militärischen Bereich. Nationalrätin Massenheer oder nicht? Der Militärdienst ist Ausdruck dieser Pflicht Evi Allemann, Sicherheitsexpertin der Sozi- Das Argument von SP-Nationalrätin Evi Al- zum persönlichen Engagement.» Dies sagte aldemokraten, sagt, nach Ende des Kalten lemann, dass in Europa die Massenheere ab- die freisinnige Sicherheitspolitikerin Corina Krieges hätten «die vor allem auf die klassi- gebaut würden und von den 28 Nato-Staaten Eichenberger-Walther in der Nationalrats- sche Landesverteidigung konzipierten mittlerweile 20 eine Freiwilligenarmee hät- debatte im Dezember 2012. Das Volksbegeh- Wehrpflichtarmeen» an Bedeutung verloren. ten oder planten, kontert Verteidigungsmi- ren zur Abschaffung der allgemeinen Wehr- Sie plädiert für eine konsequente Spezialisie- nister Ueli Maurer mit der Bemerkung, man pflicht der «Gruppe für eine Schweiz ohne rung der Wehrdienste auf die modernen Be- müsse vom Klischee des Massenheers end- Armee» (GSoA) weckt Emotionen. Da kann drohungen. Doch da braucht es markant we- lich Abstand nehmen, «denn die Schweiz hat es vorkommen, dass nicht immer mit dem fei- niger, aber besser ausgebildete Leute. kein Massenheer». Gleichzeitig seien immer nen Florett gekämpft, sondern schwereres nur rund 5000 Soldaten im Dienst – ohne Re- Geschütz aufgefahren wird. So tauft etwa das Angriff auf Grundpfeiler der Schweiz krutenschulen und Instruktoren. Bei Bedarf gegnerische Komitee die Initiative schlicht Mit der Initiative werde ein Grundpfeiler der könnten jedoch rasch mehr Leute aufgebo- um in «Unsicherheits-Initiative». Bei der In- Schweiz angegriffen, finden die Befürworter ten werden. Bei einer Freiwilligenarmee da- itiative gehe es nicht um die Frage der Wehr- der Wehrpflicht. Der Schutz des Landes sei gegen «haben wir keinerlei Garantie, dass im pflicht, sagt das Komitee, die Initianten woll- eine Aufgabe aller Schweizer Bürger. Die Ar- entscheidenden Zeitpunkt die notwendigen ten die Armee abschaffen. Ein Argument, das mee, in der Leute aus allen Bevölkerungs- personellen Ressourcen zur Verfügung ste- im Fall der «Gruppe für eine Schweiz ohne schichten und Berufsgruppen Dienst leiste- hen». Maurer verweist zudem auf die enor- Armee» nicht völlig von der Hand zu weisen ten, garantiere ein enormes Qualitätsreservoir. men Rekrutierungsprobleme bei Freiwilli- ist. Und auch die GSoA greift im Abstim- Eine Freiwilligenarmee münde wegen der Re- genarmeen: Spanien müsse Leute aus mungskampf zum Zweihänder: «Nicht alle krutierungsprobleme fast zwangsläufig in Südamerika holen, sagt er, und «Grossbritan- haben Zeit, Krieg zu spielen», lautet der Auf- eine Berufsarmee, was nicht nur dem Schwei- nien rekrutiert seine Freiwilligen in den Ge- macher-Titel in der Mai-Ausgabe der zer Milizprinzip zuwiderlaufe, sondern auch fängnissen. Wollen wir solche Verhältnisse?» «GSoA-Zitig». teurer sei. Nationalrätin Corina Eichenber- Wohl kaum. Die Initianten werden einen ger sprach in der Parlamentsdebatte auch die schweren Stand haben. Die Ende Mai die- Weniger Leute nötig problematische Seite bei der Rekrutierung in ses Jahres veröffentlichte Studie «Sicherheit Was die Initiative will, ist einschneidend. Freiwilligenarmeen an: «Jede Armee hat die 2013» der Eidgenössischen Technischen Die Militärdienstpflicht soll abgeschafft Tendenz, Personen mit rechtsradikaler poli- Hochschule Zürich (ETH) zeigt, dass sich und durch eine Freiwilligen-Armee ersetzt tischer Einstellung oder übersteigerter Aben- deutlich mehr Leute für die allgemeine werden. Die Initianten argumentieren, dass teuerlust anzuziehen. Im gegenwärtigen Sys- Wehrpflicht aussprechen als im Vorjahr. Die die Schweiz im Verhältnis zu ihrer Bevölke- tem sorgt die Militärdienstpflicht aber dafür, repräsentative Umfrage deutet auf einen re- gelrechten Meinungsumschwung der Schweizer Bevölkerung in Armeefragen hin. Weitere Abstimmungsvorlagen Im letzten Jahr waren noch 48 Prozent für Am 22. September 2013 kommen neben der Wehrplicht zwei weitere Vorlagen zur Ab- die Abschaffung der Wehrpflicht, jetzt sind stimmung. Die Revision des Epidemiengesetzes will einen besseren Schutz vor über- es bloss noch 33 Prozent. Die ETH-Forscher tragbaren Krankheiten und genauer definierte Zuständigkeiten von Bund und Kanto- führen dies auf die frühzeitig einsetzende nen. Impfkritische Kreise haben das Referendum ergriffen, weil sie sich gegen einen öffentliche Debatte zurück, die zahlreiche von ihnen befürchteten staatlichen Impfzwang wehren. Das Bundesamt für Gesund- armeenahe Organisationen auf den Plan rief. S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4 heit sagt, derartige Zwangsmassnahmen seien ausgeschlossen. Zudem wird das Volk Sie schliessen aber gleichzeitig nicht aus, gefragt, ob es eine Liberalisierung der Öffnungszeiten bei Tankstellenshops wolle. dass der eigentliche Abstimmungskampf, Gegen die Öffnung rund um die Uhr haben diverse linke und kirchliche Organisatio- wenn die GSoA und ihre Verbündeten die nen das Referendum ergriffen, weil sie diese als Auftakt zu weiterer Liberalisierung Kampagne starten, erneut signifikante Ver- sehen. In der Tat sind im Parlament Vorstösse zu generell längeren Ladenöffnungs- änderungen im Meinungsspektrum nach zeiten hängig. Das Referendumskomitee wehrt sich dagegen, dass die Nacht und der sich ziehen könnte. Sonntag vollständig wirtschaftlichen Interessen geopfert würden. (JM) Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue»
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