Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...

Die Seite wird erstellt Jasper Stumpf
 
WEITER LESEN
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
die zeitschrift für auslandschweizer

 August 2013 / Nr.4

Der Bundesrat verordnet die
«Energiewende»: Was bedeutet das?

Giuliano Bignascas Politik hat
das Tessin nachhaltig verändert

Bastian Baker: ein junger West-
schweizer auf den Weltbühnen
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
A U S L A N D S C H W E I Z E R - O R G A N I S AT I O N

                «Die Internet-Plattform SwissCommunity
                vernetzt Schweizer weltweit»

               Jean-François de Buren
               Grafiker und Berater für Marken-
               strategie, Schweizer
               in den Vereinigten Staaten
               «Faszinierend an SwissCom-
               munity ist, wie schnell und
               unkompliziert ich mich mit
               anderen Mitgliedern über
               Themen, die mich interes-
               sieren, austauschen kann.»

                                                                          Florian Baccaunaud
                                                                          Student
                                                                          Schweizer in Frankreich

                                                                          «SwissCommunity? Das ist
                        Chantal Kury                                      die neue Art, die Schweiz
                        Diplomierte Kindergärtnerin                       und die Auslandschweizer
                        Schweizerin in Ägypten                            zu verbinden. Das ist
                                                                          die Zukunft!»
                        «SwissCommunity ist die
                        Tür zur Heimat und öffnet
                        die Türen zur Welt – dort
                        finde ich hilfreiche Infor-
                        mationen und Dienste für
                        Auslandschweizer.»

           Vernetzen Sie sich mit anderen Auslandschweizern
           Bleiben Sie informiert über relevante News und Events

           Finden Sie eine Wohnung — oder das beste Fondue in der Stadt
           Entdecken Sie die Schweiz
                                                                   Jetzt gratis anmelden!

                                                           www.swisscommunity.org
SwissCommunity Partner
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
EDITORIAL                                                                                                                  I N H A LT                                                3

                                        Zukunft mit vielen Unbekannten

                                        D
                                                   ie schweiz wacht, langsam, auf aus einem Traum des unbekümmerten                                               4
                                                   Wohlstands.» Diese Feststellung war kürzlich in der deutschen Wochenzei-                                       Briefkasten
                                                   tung «Zeit» zu lesen. Da stellt sich die Frage: Stimmt diese Diagnose? Ist wahr,
                                                                                                                                                                  5
                                         was ein sehr aufmerksamer und wohlwollender Beobachter der Schweiz, der Journa-
                                                                                                                                                                  Gelesen: Politik im Theater
                                         list Peer Teuwsen, da geschrieben hat? Nicht alle Leserinnen und Leser der «Schwei-
                                         zer Revue» schätzen – wir erfahren das manchmal aus erzürnten Zuschriften – an die-                                      6
                                         ser Stelle Hinweise auf Probleme und Konflikte, mit denen die Schweiz konfrontiert                                       Gesehen: Die Rhätische Bahn
                                         ist, sei es im Inland, sei es mit den Nachbarstaaten oder mit dem ferneren Ausland.
                                            Trotzdem: Dass wir den «Traum vom unbekümmerten Wohlstand» überhaupt träu-                                            8
                                         men konnten, hängt eng mit unserer Demokratie zusammen, mit unserer Tüchtigkeit                                          Energiewende: Wohin führt der Weg?
                                         sicher auch und mit den stabilen Verhältnissen im Land – also auch mit unseren Ge-                                       12
                                         setzen. Mit dem Bankgeheimnis zum Beispiel. Doch das Bankgeheimnis wird immer
                                                                                                                                                                  Giuliano Bignasca hat das Tessin
                                         mehr zum Problem für die Schweiz. Das zeigt die Drohkulisse, welche die USA ge-
                                                                                                                                                                  verändert
                                         genüber der Schweiz hochgezogen haben (Bericht Seite 16). Amerikanische Gerichte
                                         bereiten Klagen vor: Betrug, Dokumentenfälschung, Geldwäscherei, Insidergeschäfte,                                       14
                                                                 Bestechung und Terrorismusfinanzierung gehören zu den mög-                                       Abstimmungen – wird die Wehrpflicht
                                                                 lichen Klagepunkten.                                                                             abgeschafft?
                                                                    Einen Albtraum hat die Welt am 11. März 2011 erlebt, als durch
                                                                 ein Erdbeben in Japan eine riesige Flutwelle und die Katastro-
                                                                                                                                                                  16
                                                                 phe im Atommeiler von Fukushima ausgelöst worden sind. Kurze                                     Banken und Politik unter Druck der USA
                                                                 Zeit später verkündete der Bundesrat, die Schweizer Regierung                                    17
                                                                 habe beschlossen, die Energiepolitik des Landes grundsätzlich                                    Grundeinkommen: Ohne Arbeit besser
                                                                 zu ändern. Der Begriff «Energiewende» gehört seither ins Voka-                                   leben?
                                         bular jeder Politikerin und jedes Politikers. Doch was meinte der Bundesrat damit?
                                         Was bedeutet die «Energiewende» für die Schweiz und ihre Zukunft? Wer hat ein In-                                        19
                                         teresse am Wenden? Wer bremst und möchte die Richtung nicht ändern? Und wo führt                                         Literaturserie: Blaise Cendrars
                                         uns das hin? Unser Redaktionskollege Marc Lettau liefert in seinem Schwerpunkt-
                                                                                                                                                                  20
                                         beitrag ab Seite 8 hierzu einige Antworten. Und er erläutert, dass die Energiewende
                                                                                                                                                                  Bastian Baker erobert die Welt
                                         kein abstraktes Szenarium ist, sondern ein Prozess, bei dem jeder Einzelne von uns
                                        ­herausgefordert wird.                                                                                                    22
                                            Eine andere Zukunftsidee, eine höchst ungewöhnliche, wird derzeit in der Schweiz                                      Wo Berge sich erheben: Der Alpenclub
                                         und auch in anderen europäischen Ländern diskutiert: die Idee eines «Bedingungslo-                                       feiert den 150. Geburtstag
                                         sen Grundeinkommens». Jeder und jede soll von der Geburt bis zum Tod, auch ohne
                                         einer Arbeit nachzugehen, vom Staat genug Geld zum Leben erhalten. Befürworter                                           25
                                         und Gegner dieser grundlegenden gesellschaftlichen Neuregelung gibt es im politi-                                        ASO-Informationen
                                         schen Spektrum von ganz links bis ganz rechts. Das macht die Diskussion zu einer be-                                     27
                                         sonderen Herausforderung. Da in der Schweiz die Unterschriftensammlung für eine                                          Aus dem Bundeshaus
                                         Volksinitiative bereits im Gang ist, liefert uns Jürg Müller ab Seite 17 eine Auslege-
                                         ordnung der Argumente für und wider das Anliegen.                                                                        30
                                                                                                                   Barbara Engel                                 Echo

                                                                                                                                                                  Titelbild:
                                                                                                                                                                  Die Rhätische Bahn in Graubünden ist eine der
                                                                                                                                                                  spektakulärsten Eisenbahnstrecken der Welt, und
                                                                                                                                                                  sie gehört zum Unesco-Welterbe. Das Bild zeigt die
                                                                                                                                                                  Strecke Davos–Filisur beim «Bärentritt».
                                                                                                                                                                  Foto: Rhätische Bahn
S chweizer R evue August 2013 / Nr. 4

                                        IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 40. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer
                                        und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 400 000 Exemplaren (davon Online-Versand: 140 000). Regionalnachrichten erscheinen viermal im
                                        Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Her-
                                        ausgeberin. ■ REDAKTION: Barbara Engel (BE), Chefredaktorin; Marc Lettau (MUL); Jürg Müller (JM); Alain Wey (AW); Jean-François Lichtenstern (JFL), Auslandschweizerbeziehungen
                                        EDA, 3003 Bern, verantwortlich für «Aus dem Bundeshaus». Übersetzung: CLS Communication AG ■ GESTALTUNG: Herzog Design, Zürich ■ POSTADRESSE:
                                        Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 6110,
                                        Fax +41 31 356 6101, PC 30-6768-9. ■ E-MAIL: revue@aso.ch ■ DRUCK: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. ■ Alle bei einer Schweizer Vertretung
                                        immatrikulierten Auslandschweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren
                                        (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch ■ Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 18. 6. 2013
                                        ■ ADRESSÄNDERUNG: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern.
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
4   BRIEFKASTEN

                                                      Zweitklassige Schweizer                     tenzial dieser Gruppe ist natür-    Seltsame Bezeichnung                Schweiz steht für mich nicht nur
                                                      Wir Schweizer im Ausland sind               lich für die Parteien nicht rele-   Mit Interesse habe ich das Inter-   für Schweizer Käse und Schoko-
                                                      eindeutig zweitklassige Schwei-             vant genug. Man setzt sich lieber   view mit George Andrey gelesen.     lade, sondern auch für Transpa-
                                                      zer. Nicht nur für Krankenkas-              mit Themen in Szene, von denen      Gestutzt habe ich beim Aus-         renz und Nächstenliebe. Hof-
                                                      sen, sondern auch für den Füh-              in der Schweiz alles spricht. Das   druck «untergebene und alliierte    fentlich lässt der Bundesrat
                                                      rerausweis oder beim Gericht                können mehr Rechte für Schwule      Gebiet.» Von solchen Gebieten       seinen Worten Taten folgen und
                                                      und bei den Banken. Meine Er-               und Lesben sein, mehr finan-        habe ich noch nie etwas gehört.     bietet diesen Opfern auch finan-
                                                      fahrung diesbezüglich, machte               zielle Mittel für Asylsuchende      Ich habe die helvetischen Schul-    zielle Entschädigung an.
                                                      ich jetzt mit 77 Jahren, nachdem            oder jedem Gefängnisinsassen        bänke vor über 40 Jahren ge-                      Mary Bronnimann,
                                                      ich mich mit 75 in Thailand mit             ein eigenes Betreuerteam. Damit     drückt. Könnte es sein, das diese                        Denver, USA
                                                      meiner Thai-Partnerin nieder-               rückt sich eine Partei ins rechte   seltsame Bezeichnung für «ge-
                                                      liess. Das alles nach 60 Jahren             Licht für die nächsten Wahlen.      meine Herrschaften und zuge-        Auch in der sauberen Schweiz
                                                      politischem Engagement, wo-                 Auslandschweizer, die sich keiner   wandte Orte» steht? Dann wäre       Ich bin entsetzt, was diesen Kin-
                                                      von 18 Jahre als Gemeindeam-                Krankenversicherung mehr un-        ich exkulpiert, und der Vorwurf     dern passiert ist. Ich weiss, dass
                                                      mann.                                       terstellen können, interessieren    bliebe an jenen hängen, die für     die sogenannte christliche Kir-
                                                                           Armin Thürig,          diese Damen und Herren nicht.       die Übersetzung und die Endre-      che in Australien Ähnliches ge-
                                                                   Banchang, Thailand             Da spielt es auch keine Rolle,      daktion verantwortlich zeichnen.    tan hat, doch ich hätte nie ge-
                                                                                                  wenn wir Auslandschweizer bis           Roland Marti, Deutschland       dacht, dass so etwas in der
                                                      Eindeutig diskriminiert                     zum 65. Lebensjahr der Schweiz                                          sauberen Schweiz passiert. Es
                                                      Es ist ganz eindeutig eine Diskri-          gedient haben! Ich jedenfalls       Schweizer Regierung muss            scheint, dass die Menschen welt-
                                                      minierung, wenn Ausland-                    habe mir vorgenommen, alle de-      Entschädigung anbieten              weit bis in die 80er-Jahre dach-
                                                      schweizer im EU-Raum sich dem               mokratischen Mittel auszunut-       Vielen Dank für diesen Artikel      ten, dass dies das Los von Kin-
                                                      KVG, also der Krankenkasse, an-             zen, um diese Ungerechtigkeit       über Heimkinder. Es ist gut, dass   dern am Rande der Gesellschaft
                                                      schliessen können, Ausland-                 auszuräumen.                        solche Themen ans Licht ge-         sei. Gott sei Dank hat sich das
                                                      schweizer in der übrigen Welt               Rolf Bürge,                        bracht und nicht weiterhin tot-     endlich geändert.
                                                      hingegen nicht. Das Stimmenpo-                             Khun Han, Thailand   geschwiegen werden. Die             Helen Pye, Maclean, Australien

                                                                                                                                       www.ilg-mietauto.ch
                                                                                                                                       200 Autos, 40 Modelle, z.B 1 Monat inkl. Frei Kilometer
                                                                                                                                                       Dacia Sandero 1.2, Fr. 700.-
                                                                                                                                                       Dacia Logan 1.6, Fr. 900.-

                                                                                                                                       Ilgauto ag, 8500 Frauenfeld
                                                                                                                                       Tel 0041 52 7203060
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                        Wir bringen Sie mit
                                                        einem Klick in die Schweiz.
                                                        Informationen. News. Reportagen. Analysen. Aus der
                                                        Schweiz, über die Schweiz. Multimedial, interaktiv und                          Vorsorgen in Schweizer Franken.
                                                        tagesaktuell in 9 Sprachen. Auf der unabhängigen
                                                                                                                                        Agentur Auslandschweizer
                                                        Internetplattform swissinfo.ch
                                                                                                                                        Stefan Böni, Winkelstrasse 1, CH-8706 Meilen
                                                                                                                                        +41 44 925 39 39, www.swisslife.ch/aso
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
GELESEN                                                                                                          5

                                                                                                                                                                                         Widerstand im Zürcher Theater
                                               Meine schlimmsten Alb-                       lat verfügt über keine biometri-                                                                     die in genf und zürich lebende autorin anne cuneo begeis-
                                               träume lebten wieder auf ...                 sche Maschine. Also habe ich                                                                         tert das Schweizer Publikum immer wieder mit ihren his-
                                               Als ich, 68 Jahre, von den Erfah-            mich erkundigt, wie andere                                                                           torischen Romanen. Ihr Buch über «Zaïda», die englische
                                               rungen anderer las, wurden die               Länder dieses Problem abwi-                                                                          Aristokratin, die im 19. Jahrhundert als eine der ersten
                                               schlimmsten Erinnerungen aus                 ckeln. Und es gibt eine einfache                                                                     Frauen in Zürich Medizin studierte, ist ein Bestseller – in
                                               meiner Kindheit wieder wach.                ­Lösung: Ein Unternehmen in                                                                           der Romandie und in der Deutschschweiz. Nun hat sich
                                               Das alles und Schlimmeres habe               Honolulu verfügt über solche                                                                         die 76-jährige Autorin ein Stück Schweizer Geschichte
                                               ich auch durchgemacht. Ich                  Maschinen, nimmt die biomet-                                                                          vorgenommen. Eine Episode, die Historikern zwar be-
                                               habe es nun wieder lebhaft in                rischen Daten auf und sendet sie                                                                     kannt sein mag, die ansonsten jedoch kaum Erwähnung
                                               Erinnerung: den Missbrauch,                  in einem versiegelten Umschlag                                                                       findet. «La Tempête des heures» heisst der Roman. Im
                                               die Peinigungen und das skla-                an die jeweiligen Botschaften.                                                                       Zentrum steht das Zürcher Schauspielhaus, das in den
                                               venartige Leben, dem die Bau-               Zum Beispiel von Kanada, Aus-                                                                          ersten Kriegsjahren zum Zufluchtsort für Verfolgte und
                                               ern und die Regierung mich aus-              tralien und Südafrika.                                                                               zum Ort des geistigen Widerstands wird.
                                               gesetzt hatten. Zum ersten Mal                  Nur, das Schweizer General-                                                                          Im Frühling 1940 bringt das Schauspielhaus unter dem
                                               seit Jahren konnte ich danach                konsulat akzeptiert dies nicht.                                                                      Eindruck grosser Bedrohung «Faust II» auf die Bühne. Das
                                               nicht schlafen, sondern musste              Also war ich gezwungen nach                                                                     Stück gilt schon unter normalen Umständen als sehr schwierig,
                                               weinen wie ein Baby.                         San Francisco zu fliegen. 3841                                                                 die Anforderungen an die Schauspieler, die Regie und beim
                                                         P. S. Calgary, Kanada              Kilometer für ein Prozedere                                                                   Bühnenbild sind gewaltig. In der damaligen Kriegszeit gerät die
                                                                                            von fünf Minuten. Die Kosten                                                                  Zürcher Inszenierung zum Kraftakt. Alles wird zur Herausforde-
                                               Verlängerung des                             für die Passverlängerung: Flug-                                                                rung: von der Farbe für die Kulisse bis zum Stoff für die Kos-
                                               Schweizer Passes                             ticket 1900 Dollar, zwei unbe-                                                                 tüme. In «Faust II» gewinnt, anders als in «Faust I», am Schluss
                                               Es ist traumhaft, in Hawaii, so-             zahlte Arbeitstage 500 und das                                                                 das Gute. Die Aufführung ist eine klare Botschaft des Wider-
                                               zusagen im Paradies zu leben.                Hotel 100 Dollar. Die teuersten                                                                stands an die Adresse Berlins, das fast gleichzeitig eine nazisti-
                                               Leider nicht so traumhaft ist es,            fünf Minuten meines Leben.                                                                     sche Interpretation von «Faust I» auf die Bühne bringt.
                                               einen Schweizer Pass zu verlän-                                                            Edith Truckenbrod,                                 Doch davon handelt das Buch nicht, das wäre Anne Cuneo
                                               gern. Das hawaiianische Konsu-                                                  Honolulu, Hawaii, USA                                       zu viel Programm. Ihr geht es nicht um die Theorie, sondern
                                                                                                                                                                                           um das individuelle Schicksal. Sie erzählt die Geschichte des
                                                                                                                                                                                          Zürcher Schauspielhauses im Krieg deshalb aus der Sicht der
                                                                                                                                                                                          jungen polnischen Jüdin Ella Berg, der die Flucht in die
                                                                                                                                                                                           Schweiz gelungen ist. Ella Berg ist eine fiktive Figur und sie
                                                                                                                                                                                           ist ein Archetyp. Viele junge Frauen kamen wie sie als Flücht-
                                                                                                                                                                                           linge in die Schweiz und wie ihr blieb vielen nur die Heirat mit
                                                                                                                                                                                           einem Schweizer, um bleiben zu können.
                                                                                                                                                                                                                 Ella Berg wird zum Mädchen für alles im
                                                                                                ANNE CUNEO
                                                                                                                                                                                       A NNE CUNEO
                                                                                                                                                                LATEMPÊTE DES HEURES

                                                                                    La Tempête des heures
                                                                                                         Roman                                                                                                 Schauspielhaus. Mit ihr erleben wir das
                                                                                        « {…} Je suis là, mes dents cassées sont répa-

                                                                                                                                                                                         LaTempête des heures  Trauma von Vertreibung und Vernichtung.
                                                                                   rées ou presque, je fais le métier que j’aime, j’ai
                                                                                   femme et depuis quelque temps enfant. Et je me
                                                                                   demande, plus souvent qu’à mon tour : pour-
                                                                                   quoi ? Pourquoi moi ? Ai-je le droit d’être heu-
                                                                                                                                                                                                                            roman

                                                                                                                                                                                                               Ihr Schicksal zeigt, dass die Rede von der
                                                                                   reux alors que mes camarades de Börgermoor
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Photo © Philippe Pache

                                                                                   crèvent à la tâche ? »
                                                                                        Un silence qui se prolonge. Personne ne
                                                                                   bouge. Puis Langhoff reprend :

                                                                                                                                                                                                               «verschonten Schweiz» längst nicht für alle
                                                                                        « Je me dis que nous sommes une partie du
                                                                                   front, de la résistance contre le fascisme. Que
                                                                                   nous n’avons pas le droit de baisser les bras. Que
                                                                                   nous devons à tous ceux que nous avons laissés
                                                                                   derrière nous, vivants et morts, de défendre l’hu-

                                                                                                                                                                                                               gültig war, dass es auch in der Schweiz Ver-
                                                                                                                                                                                                                                    Anne Cuneo est née à Paris de parents italiens et vit en Suisse. Elle est
                                                                                   main contre l’inhumain, d’œuvrer au triomphe                                                                                                     journaliste d’actualité et cinéaste. Elle est l’auteur de récits autobio-
                                                                                   de l’esprit sur la force brute. » Il pose sa main sur                                                                                            graphiques, de textes dramatiques et de romans dans les genres les plus
                                                                                   ma tête. « Je suis sûr que ta famille serait très                                                                                                divers. Elle a reçu de nombreux prix, dont le Prix des libraires et le
                                                                                   heureuse de te voir épouser Nathan, et nous, qui                                                                                                 Prix Schiller pour l’ensemble de son œuvre. Ses ouvrages, traduits dans

                                                                                                                                                                                                               sehrte gab. Und wir schliessen mit ihr zu-
                                                                                                                                                                                                                                    plusieurs langues, sont des succès de librairie.
                                                                                   la représentons ici, sommes heureux avec vous. »
                                                                                        Il se lève, se dirige vers la porte.                                                                                                              La grande peur des Suisses en 1940 et le rôle du
                                                                                        « Renate est déjà couchée, mais elle t’a tout                                                                                               Schauspielhaus de Zurich pendant ces quelques semaines
                                                                                                                                                                                                                                    presque oubliées méritaient d’être rappelés.
                                                                                   préparé. Tu vas devoir dormir dans la même

                                                                                                                                                                                                               sammen Bekanntschaft mit den grossen
                                                                                                                                                                                                                                          On a beau dire que « jamais Hitler n’aurait envahi la
                                                                                   pièce que Thomas. Dans le même cagibi,                                                                                                           Suisse », pendant la guerre cela n’était pas évident pour
                                                                                   devrais-je dire. S’il te dérange, tu nous l’amènes.                                                                                              l’homme et la femme de la rue.
                                                                                   Mais d’habitude il dort comme un ange. »                                                                                                               La Tempête des heures raconte, par la voix d’une jeune réfu-
                                                                                                                                                                                                                                    giée juive, les journées trépidantes de 1940 où la population a
                                                                                        « Quel âge a-t-il ? », ma voix ressemble à
                                                                                                                                                                ANNE CUNEO

                                                                                                                                                                                                                                    fait face avec dignité tout en s’attendant au pire, vues à travers

                                                                                                                                                                                                               Schauspielern und Regisseuren, die das Zür-
                                                                                   une poulie rouillée.                                                                                                                             le microcosme d’une troupe de théâtre composée de comédiens
                                                                                        « Il va avoir deux ans. Il sera très heureux de                                                                                             réfugiés, condamnés à mort par les nazis ; tout en travaillant
                                                                                   trouver une demoiselle dans sa chambre en se                                                                                                     avec acharnement à une nouvelle mise en scène du Faust de
                                                                                                                                                                                                                                    Goethe, ils se préparent à mourir si la Suisse était envahie. Un
                                                                                   réveillant… »                                                                                                                                    roman d’amour, une profession de foi pour la culture, un

                                                                                                                                                                                                               cher Schauspielhaus nach dem Krieg für
                                                                                        « … et je serai horriblement jaloux »,                                                                                                      hymne à la force des idées.
                                                                                   enchaîne Nathan d’une voix enjouée.                                                                                                                                                Photo de couverture : Richard Schweizer,
                                                                                        Rires.                                                                                                                                                             « Wolfgang Langhoff et Hortense Raky dans Faust I.
                                                                                                                                                                                                                                             Décor Téo Otto, mise en scène Leopold Lindtberg, 1940 ». Extrait
                                                                                        Nathan me pose un dernier baiser dans les                                                                                                                Stadtarchiv Zürich, cote VII 200, archives du Schauspielhaus

                                                                                                                                                                                                               Jahrzehnte zu einer der besten deutsch-
                                                                                   cheveux, et je pénètre dans la pièce sur la pointe                                                                                                       © Les droits de Richard Schweizer sont représentés par Suissimage
                                                                                   des pieds.                                                                                               BERNARD CAMPICHE EDITEUR                                                         ISBN 978-2-88241-326-0

                                                                                                                                                                                           sprachigen Bühnen machen werden: Anne-Marie Blanc, Maria
                                                                                                                                                                                          Becker, Therese Giehse, Heinrich Gretler, Leopold Lindtberg,
                                                                                                                                                                                          Ettore Cella, Ernst Ginsberg, Wolfgang Langhoff.
                                                                                                                                                                                             Anne Cuneo erzählt mit einer grossen Liebe zum Detail und
                                                                                                                                                                                           dem erklärten Willen, den historischen Tatsachen gerecht zu
                                                                                                                                                                                          werden. «Ich arrangiere die Geschichte nicht. Sie muss stim-
S c h w e i ze r Rev u e August 2013 / Nr. 4

                                                                                                                                                                                           men», sagt sie. Kein Wunder, legt man «La Tempête des
                                                                                                                                                                                          ­heures» mit dem guten Gefühl weg, etwas über eine vergan-
                                                                                                                                                                                           gene Zeit erfahren, etwas gelernt zu haben.        Seraina Gross

                                                                                                                                                                                            Anne Cuneo, «La Tempête des heures»; Edition Bernard Campiche, Orbe,
                                                                                                                                                                                            2013, 295 Seiten. Zur Frankfurter Buchmesse im Oktober erscheint das
                                                                                                                                                                                            Buch auf Deutsch im Bilger-Verlag Zürich unter dem Titel «Schon geht der
                                                                                                                                                                                            Wald in Flammen auf».
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
6                       gesehen

                                                            Meisterwerk der Ingenieurskunst
                                                            Die Strecke über die Albula der Rhätischen Bahn, eingeweiht im Jahr
                                                            1903, ist eine der spektakulärsten Zugsstrecken der Welt und ein Meister-
                                                            werk der Ingenieurskunst. 55 Viadukte und 33 Tunnel liegen zwischen
                                                            Thusis im Rheinthal und St. Moritz im Engadin. Erbauer waren Friedrich
                                                            Hennings aus dem norddeutschen Kiel und Robert Moser aus Zürich. Sie
                                                            galten als die besten Bahningenieure ihrer Zeit. Vor dem Bau der Bahn
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4
Foto: ZVG Rhätische Bahn
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
7

                                                  dauerte die Fahrt von Chur über den Julierpass ins Engadin rund ­
                                                  14 Stunden – heute sind es per Bahn noch gerade zwei. Zusammen mit
                                                  der Verlängerung über den Berninapass ins Puschlav bis nach dem
                                                   ­italienischen Tirano wurde die Bahnstrecke 2008 zum Unesco-Welterbe
                                                  erklärt – als dritte Bahn weltweit neben den Teilen der Mountain
                                                  ­Railways of India und der Semmeringstrecke in Österreich.

                                                  www.rhb.ch; www.bahnmuseum-albula.ch
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4
Foto: Keystone
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
8                       Schwerpunkt

                                                  Die Schweiz plant ihre post-atomare Energiezukunft
                                                  Fukushima hat in der Schweizer Energiepolitik ein Erdbeben ausgelöst. Der Bundesrat hat nach der
                                                  ­Katastrophe den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen und drängt auf einen umfassenden Kurswechsel.
                                                   Doch was bedeutet der Begriff «Energiewende», der seither in aller Leute Mund ist? Wer will wohin wenden?
                                                   Von Marc Lettau

                                                                                                                                                   Weltgemeinschaft ins Gedächtnis gebrannt
                                                                                                                                                   hatten. Zusammengefasst: Am 11. März 2011
                                                                                                                                                   bebte um 14:46 Uhr im Pazifik vor der japa-
                                                                                                                                                   nischen Region Tohoku die Erde. Die sich
                                                                                                                                                   hebenden und senkenden Erdplatten lösten
                                                                                                                                                   gewaltige Flutwellen aus, die eine knappe
                                                                                                                                                   Stunde später das japanische Festland tra-
                                                                                                                                                   fen und mindestens 16 000 Menschen in den
                                                                                                                                                   Tod rissen. Zur kaum in Worte zu fassenden
                                                                                                                                                   menschlichen Tragödie gesellte sich eine der
                                                                                                                                                   grössten technischen Katastrophen der
                                                                                                                                                   Neuzeit: Das gewaltige Erdbeben und die
                                                                                                                                                   nachfolgenden Flutwellen trafen die sechs
                                                                                                                                                   Atomreaktoren von Fukushima Daiichi. Der
                                                                                                                                                   Betreiberfirma Tepco gelang es im Chaos
                                                                                                                                                   der Zerstörung nicht, die Werke kontrolliert
                                                  14. März 2011: Bundesrätin Doris Leuthard erklärt Medienvertretern im Bundeshaus die             herunterzufahren. Die Nachkühlung der
                                                  Pläne der Regierung zur Energiewende
                                                                                                                                                   heruntergefahrenen Werke glückte nicht. In
                                                  Nach dem nicht enden wollenden nasskal-           Debatte bemerkenswert. Statt wie noch vor      vier Reaktoren kam es zu Explosionen. In
                                                  ten Winterwetter zeigte sich in der Schweiz       wenigen Jahren darum zu feilschen, wann        drei Reaktoren zur Kernschmelze. Grosse
                                                  Ende Mai doch noch die Sonne. Aber kaum           und wo neue Atomkraftwerke gebaut wer-         Mengen radioaktiver Stoffe gelangten in die
                                                  war sie da, brauten sich in Bundesbern Ge-        den sollen, wird lediglich noch die nukleare   Atmosphäre und ins Meer. Aufgrund der Er-
                                                  witterwolken zusammen: Im Nationalrat             Endzeitdebatte geführt. Die heute in Be-       schütterungen verschob sich Japans Haupt-
                                                  wurde im Juni heftig über die Betriebsdauer       trieb stehenden Atomkraftwerke sind also       insel um über zwei Meter nach Osten. Die
                                                  schweizerischer Atomkraftwerke gestritten.        Auslaufmodelle. Was ist passiert?              Massenverteilung der Erde veränderte sich
                                                  Sollen die allesamt ziemlich bejahrten              Die grosse Überraschung ereignete sich       so stark, dass sich seither die Erde etwas
                                                  Atomkraftwerke unbeschränkt lange betrie-         am 14. März 2011. An jenem Montag krem-        schneller dreht. Auch in Bern.
                                                  ben werden können, falls laufend in ihre Si-      pelte Energieministerin Doris Leuthard von
                                                  cherheit investiert wird? Oder braucht es für     der Christlichdemokratischen Volkspartei       Energiepolitik mit Klimazielen
                                                  sie ein amtlich verfügtes Verfalldatum, also      (CVP) mit einem kurzen Statement die           Seit dem Schock von Fukushima arbeitet die
                                                  einen Termin für ihre definitive Stilllegung?     schweizerische Energiepolitik um. Die Bun-     Bundesbehörde mit erhöhtem Tempo am
                                                     Die Energiekommission des Nationalrats         desrätin kündigte an, die Schweiz werde «ge-   grundlegenden Umbau der schweizerischen
                                                  schlägt eine Laufzeit von maximal 50 Jah-         ordnet» aus der Atomenergie aussteigen, weil   Energiepolitik. Ihr Werkzeug dabei ist die
                                                  ren vor. Jenseits der Schmerzgrenze ist dies      «die Sicherheit und das Wohlergehen der Be-    «Energiestrategie 2050». Diese zielt darauf
                                                  für die Grünen. Sie wollen die Atommeiler         völkerung oberste Priorität» habe. Die kon-    ab, den heute immer noch stetig steigenden
                                                  spätestens nach 45 Jahren vom Netz nehmen.        krete Folge des Statements: Die bereits lau-   Energie- und Stromverbrauch pro Person zu
                                                  Dies fordern sie auch in einer 2012 einge-        fenden Rahmenbewilligungsgesuche für           senken. Und sie skizziert, wie der Ausstoss
                                                  reichten Volksinitiative. Die überwiegend         zwei neue Atomkraftwerke in der Schweiz        klimaschädigender Emissionen bis ins Jahr
                                                  bürgerlichen Ratsmitglieder, die Anliegen         wurden kurzerhand auf Eis gelegt. Mit ihrem    2050 entscheidend zu senken ist. Das ver-
                                                  der AKW-Betreiber im Blickfeld, drängen           Hang zur Verkürzung konstatierten die Me-      deutlicht, dass die Strategie weit über den
                                                  hingegen darauf, keinesfalls ein Still­           dien, nun nahe die «Energiewende».             Ausstieg aus der Atomenergie und den Um-
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  legungsdatum festzulegen, weil sonst in den                                                      bau der Stromversorgung hinausgeht: Sie
                                                  letzten Betriebsjahren die Vernachlässigung       Erde bebt, Vertrauen wankt                     will Atomausstieg und Klimaschutz unter ei-
                                                  der Sicherheit drohe. Statt sicherer würden       Klar ist, was die Energieministerin dazu be-   nen Hut bringen. Dazu muss die Schweiz
                                                  die Werke also unsicherer.                        wogen hatte, an jenem Montagmorgen einen       aber ihre Abhängigkeit vom Erdöl vermin-
                                                     Der Streit ist noch nicht ausgefochten,        neuen Kurs einzuschlagen. Es sind die          dern. Heute stillt das Land seinen Hunger
Foto: Keystone

                                                  denn der Nationalrat hat den Entscheid auf        schrecklichen Ereignisse, die sich drei Tage   nach Energie noch zu rund drei Vierteln mit
                                                  später im Jahr vertagt. Gleichwohl ist die        vor Leuthards Auftritt ereignet und sich der   fossiler Energie. Der verbleibende Viertel
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
9

                                                  wird hauptsächlich mit Strom gedeckt, zu          dere beim Strom bedeutet dies eine Abkehr          sei zwar richtig und der Beitrag der Energie-
                                                  rund 40 Prozent mit Atomstrom. Für den            von der zentralen Stromproduktion hin zur          ministerin enorm wichtig: «Sie versteht die
                                                  Weg hin zum skizzierten Ziel schlagen die         dezentralen, verbunden mit einer hohen             Materie. Sie hat richtigerweise aus dem
                                                  Experten des Bundes vor, einerseits Strom         staatlichen Eingriffstiefe.» Gleichzeitig be-      Atomausstieg eine Energiewende gemacht.»
                                                  viel effizienter zu nutzen und anderseits         tont er, die exportorientierte Wirtschaft          Gut sei, dass Leuthard eine Debatte über
                                                  massiv mehr Strom aus Sonne und Wind zu           stelle sich nicht gegen eine nachhaltigere         den Gesamtenergieverbrauch fordere. Aber
                                                  gewinnen. Vorgeschlagen werden raschere           Energieversorgung, müsse aber auf einen            leider, sagt Buri, bleibe der Atomausstieg
                                                  und einfachere Bewilligungsverfahren, eine        Umbau der Energie- und Klimapolitik po-            halbherzig: «Der propagierte geordnete
                                                  Forderung ist die Modernisierung und der
                                                  Ausbau der Stromnetze. Und empfohlen
                                                  wird, zur Sicherung der Stromversorgung
                                                  mittelfristig auch auf Gaskraftwerke zu set-
                                                  zen. Diskutieren und benoten wird das Par-
                                                  lament dieses umfassende Massnahmenpa-
                                                  ket, das die Revision zahlreicher Gesetze
                                                  nach sich ziehen wird, wohl noch dieses Jahr.

                                                  «Planwirtschaftliche Attitüden»
                                                  Noten verteilt werden allerdings schon heute.
                                                  Umweltaktivisten klagen, solange kein Da-
                                                  tum für die Abschaltung der bestehenden
                                                  fünf AKWs (Beznau I, Beznau II, Gösgen,
                                                  Mühleberg, Leibstadt) festgelegt sei, fehle je-
                                                  der Antrieb für eine echte Energiewende. Der
                                                  Bundesrat verfolge eine «unrealistische»
                                                  Energiepolitik, sagen hingegen viele Wirt-               Das Kernkraftwerk Beznau, der älteste Reaktor der Welt, der noch in Betrieb ist
                                                  schaftsvertreter. Zwar frohlocken Gewerbe-
                                                  kreise über die Jobs, die durch den Ausbau er-    chen, der im Gleichschritt mit dem interna-        Ausstieg ist de facto ein Pseudoausstieg. Es
                                                  neuerbarer Energien geschaffen werden             tionalen Umfeld erfolge. Die Idee, die             werden zwar keine neuen Atomkraftwerke
                                                  könnten. Kühne Schätzungen rechnen mit            Schweiz müsse «mit dem guten Beispiel vor-         gebaut. Aber die heutigen AKW-Betreiber
                                                  bis zu 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.       angehen», sei «reichlich naiv». Skeptisch stel-    wollen ihre alten Werke dafür viel länger be-
                                                  Die exportorientierte Wirtschaft mag in die-      len sich Swissmem und andere Wirtschafts-          treiben.» So wie dies auch zahlreiche Um-
                                                  sen Applaus nicht einstimmen. Sie fürchtet,       verbände zum Ausbau der Subventionen für           weltorganisationen tun, pocht die SES des-
                                                  dass steigende Energiekosten im Inland ihre       die Förderung alternativer, nachhaltiger           halb auf klare Abschalttermine für die
                                                  Wettbewerbsfähigkeit im Ausland beein-            Energien: «Wir befürchten, dass die Schweiz        bejahrten Atommeiler. Alte Werke laufend
                                                  trächtigen könnten. Der Branchenverband           aus der Subventionsmaschinerie nicht mehr          nachzurüsten, führe zur absurden Situation,
                                                  Swissmem, der die Interessen der Maschi-          rauskommen wird.»                                  dass die Schweiz zwar aus Sicherheitsüber-
                                                  nen-, Elektro- und Metallindustrie vertritt,                                                         legungen auf neue AKWs verzichte, aber
                                                  kritisiert etwa, der Bundesrat überschätze die    «De facto ein Pseudoausstieg»                      durch den Weiterbetrieb «maroder» Atom-
                                                  Möglichkeiten zur Verbesserung der Ener-          Eine ganz andere Position vertritt Jürg Buri,      meiler laufend höhere Sicherheitsrisiken in
                                                  gieeffizienz und zur stärkeren Nutzung alter-     der Geschäftsführer der Schweizer Energie-         Kauf nehme, als sie dies beim Bau neuer
                                                  nativer, erneuerbarer Energiequellen. Jean-       stiftung (SES). Die Stiftung, die schon seit       Werke tun würde.
                                                  Philippe Kohl, der Leiter des Bereichs            1976 für eine «intelligente, umwelt- und
                                                  Wirtschaftspolitik bei Swissmem, spricht gar      menschengerechte Energiepolitik» kämpft             Gespaltene Lager
                                                  von «planwirtschaftlichen Attitüden» und          und sich dabei am Modell der 2000-Watt-            Allerdings gibt es auch innerhalb dieses po-
                                                  «ausgeprägtem Machbarkeitsglauben». Man           Gesellschaft orientiert (siehe Text unten),        litischen und weltanschaulichen Lagers mit
                                                  blende vorschnell aus, dass bei einem grund-      verfolgt die laufende Entwicklung laut Buri        viel Energie ausgetragene Konflikte. So sind
                                                  legenden Umbau des Energiesystems «vieles         mit einiger Genugtuung. Effizientere Ener-         viele Umweltorganisatoren gleichzeitig Mo-
                                                  gleichzeitig» erfolgen müsse: die Investition     gienutzung, Atomausstieg, Abbau der Ab-            toren wie auch Bremser der Energiewende.
                                                  in neue Technologien, der Ausbau der Netze,       hängigkeit von nur beschränkt verfügbaren,         Sie befürworten die Wende generell, bekla-
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  die bessere Einbindung in den europäischen        fossilen Energien und die weit stärkere Nut-       gen aber neuen Druck auf Natur, Gewässer,
                                                  Strommarkt, der Aufbau neuer Speicher-            zung alternativer, nachhaltiger Energiequel-       Landschaft, Ortsbilder und Klima. Das Bei-
                                                  möglichkeiten, weil Strom aus Sonne und           len: Diese Ziele der Energiestrategie 2050         spiel: Strom aus Wasserkraft hat für sie
                                                  Wind im Gegensatz zu jenem aus Kernener-          lesen sich, als wären sie direkt aus einem         zweifelsohne die Aura des Natürlichen.
                                                  gie in stark schwankenden Mengen anfalle.         SES-Papier kopiert. Dennoch meldet Buri            Aber die letzten naturnahen Flüsse der
Foto: Keystone

                                                  Die Energiestrategie 2050 des Bundesrats sei      Bedenken an. Die allgemeine Richtung, die          Stromgewinnung zu opfern, widerspricht
                                                  wirklich fundamental, sagt Kohl. «Insbeson-       mit der Energiewende eingeschlagen werde,          ihrem Schutzgedanken. Die radikalsten un-
Der Bundesrat verordnet die "Energiewende": Was bedeutet das? Giuliano Bignascas Politik hat das Tessin nachhaltig verändert Bastian Baker: ein ...
10                              Schwerpunkt

                                                                                                                                             Bilder der Zukunft:
                                                                                                                                             Sonnenkollektoren auf
                                                                                                                                             den Dächern in Schiers
                                                                                                                                             (GR), Landschaft mit
                                                                                                                                             Windturbinen in Süd-
                                                                                                                                             deutschland und Fassa-
                                                                                                                                             den älterer Bauten, neu
                                                                                                                                             verkleidet mit Kollekto-
                                                                                                                                             ren wie bei der Überbau-
                                                                                                                                             ung Sihlweid in Zürich

                                                  ter ihnen verlangen deshalb, bei der Ener-      ­Fukushima ein vielzitierter, kämpferischer       In dieser Wunde bohren auch politische Be-
                                                  giewende allein auf Einsparungen beim Ver-      Promotor neuer Atomkraftwerke, bleibt             obachter wie der Zürcher Ökonom und Pu-
                                                  brauch zu setzen.                                auffällig unauffällig. Er beschränkt sich da-    blizist Christoph Zollinger. Ernsthafte tech-
                                                    Uneinig sind sich auch die Wirtschaftsor-      rauf, vor überstürzten Weichenstellungen zu      nische Hindernisse für die Energiewende
                                                  ganisationen. Zwar nehmen Swissmem und           warnen. Im Sprint lasse sich die Energie-        sieht er keine. Die wirklichen Hindernisse
                                                  Economiesuisse, der grösste Unternehmer-         wende nicht schaffen: «Die Kräfte wären          seien «die Blockade in den Köpfen» und der
                                                  verband der Schweiz, eine sehr kritische Hal-    aufgezehrt, lange bevor das eigentliche Ziel     Machtkampf hinter den Kulissen. Schicke
                                                  tung zur Energiestrategie 2050 ein. Aber mit     in Sicht ist», sagt er. Die Zurückhaltung der    sich nämlich eine ganze Nation an, selber
                                                  Swisscleantech mischt ein grüner Wirt-           grossen Energiekonzerne ist erklärbar: Sie       Energie zu erzeugen – etwa mit Solaranlagen
                                                  schaftsverband die Debatte auf, der sich ohne    sind die potenziellen Verlierer der Wende.       auf dem eigenen Dach – verändere sich die
                                                  Wenn und Aber für ressourceneffizientes und     Wenn dereinst wirklich Hunderttausende            Rolle und der Einfluss der bisherigen Ener-
                                                  emissionsarmes Wirtschaften stark macht.         auf ihren Hausdächern Solarpanels montie-        gielieferanten dramatisch. Zollinger: «Der
                                                                                                   ren und dezentral produzierten Strom ins         Streit um die Zukunft des Stroms ist auch ein
                                                  Diskrete Stromlobby                              Netz einspeisen, kommen sie in die Zwick-        Kampf um Pfründe, Besitzstände, Macht und
                                                  Vergleichsweise diskret verhalten sich die       mühle. Nicht die Grosskonzerne sind dann         Monopole. Die Energiewende stellt einen ge-
                                                  grossen Energiekonzerne wie Alpiq, Axpo          die marktgestaltenden Kräfte, sondern all        waltigen Umbau unserer Gesellschaft dar.»
                                                  und BKW. Sie bekunden Mühe, sich aus der         die kleinen Elektrizitätswerke, die noch di-
                                                  durch die Fukushima-Tragödie ausgelösten         rekte Kundenkontakte haben. Die Grossen          Eine Wende von unten nach oben
                                                  Erstarrung zu lösen. Heinz Karrer etwa,          hingegen sitzen auf ihren gigantischen Inf-     Wer bloss die politische Debatte auf natio-
                                                  CEO der Axpo Holding, und bis vor                rastrukturen.                                   naler Ebene verfolgt, mag zum Schluss kom-

                                                  Schweizerische Rezepte gegen den unbändigen Energiehunger
                                                  Der Blick der Schweizerinnen und Schweizer aufs Thema Energie      weltweite Energieverbrauch und der Ausstoss von klimaschädi-
                                                  verändert sich. Als in der Ölkrise von 1973 die OPEC-Staaten die  genden Treibhausgasen auf ein vertretbares Mass sinken. Auf ein
                                                  Ölfördermenge drosselten, galt die Hauptsorge dem Preis. In der   Jahr hochgerechnet bedeutet dies, dass sich jedes Individuum für
                                                  Schweiz wurden damals strenge Tempolimiten und Sonntagsfahr-       Heizung, Mobilität und Nahrung mit 17 500 Kilowattstunden
                                                  verbote verfügt. An den um 70 Prozent hochgeschnellten Energie- (kWh) begnügen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste in der
                                                  kosten änderte dies nichts. Heute hingegen kritisieren zahlreiche Schweiz das Rad punkto Energieverbrauch um rund 50 Jahre
                                                  Umweltverbände, die Energiepreise seien so tief, dass der Ver-    ­zurückgedreht werden auf den Stand von 1960.
                                                  schwendung kaum Einhalt geboten werde. Und der stets stei-           Die ETH-Forscher propagieren keine Askese. Sie streben nach
                                                  gende Energieverbrauch treibe den Klimawandel an. Die              technischen Lösungen, um den heutigen Lebensstandard zu si-
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  Hauptsorge gilt also immer stärker der verbrauchten Menge.        chern – aber bei gleichzeitig viel tieferem Energieverbrauch. Fol-
                                                    Denkarbeit, wie der menschliche Energiehunger auf ein nach-     gen hat das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft bereits im Immo-
                                                  haltiges Mass gesenkt werden kann, leistet seit den 1990er-Jah-    biliensektor der Schweiz: Gut gedämmte Neubauten mit sehr
                                                  ren die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich. Sie     tiefem Energieaufwand fürs Heizen, Kühlen und Belüften sind
                                                  hat das Konzept einer 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Die      heute die Regel. Zudem steigen die Marktanteile besonders ener-
                                                  Kernidee: Der Energiebedarf jedes Menschen darf eine durch-       gieeffizienter Geräte oder verbrauchsarmer Autos. Weil aber stets
Foto: ZVG

                                                  schnittliche Leistung von 2000 Watt nicht überschreiten, soll der  neue – energiekonsumierende – Bedürfnisse geschaffen werden,
11

                                                  men, die schweizerische Energiewende sei       Solarenergie auf die vorhandenen Dächer           die Furcht vor unbezahlbaren Stromrech-
                                                  zwar «eine grosse Kiste», so drückte sich      einstrahlt, wie die 40 000 Einwohner insge-       nungen nehmen wollen. Peter Lehmann,
                                                  Bundesrätin Leuthard aus, aber eine Kiste      samt an Strom verbrauchen. Der Kommen-            Energieexperte und CEO des regionalen
                                                  voller vorerst nur angekündigter Schritte.     tar der Könizer Umweltvorsteherin Rita            Energieversorgers von Wohlen im «Atom-
                                                  Der Eindruck trügt, denn insbesondere          Haudenschild: Der Bund schätze das Poten-         kanton» Aargau, argumentiert, Schweize-
                                                  Städte und grössere urbane Gemeinden           zial der Solarenergie «viel zu zurückhaltend»     rinnen und Schweizer könnten sich selbst
                                                  schaffen bereits jetzt laufend neue Fakten.    ein, denn das Ziel der Energiestrategie, rund     eine radikale Wende – eine Stromversor-
                                                  Sie vollziehen die Wende. So plant die Ge-     20 Prozent des Stroms solar zu produzieren,       gung ausschliesslich aus erneuerbaren
                                                  meinde Payerne (VD) derzeit die grösste        lasse sich leicht und vor allem sehr rasch er-    Quellen – leisten: «Geht man davon aus,
                                                  Solaranlage der Schweiz. Auf den Dächern       reichen.                                          dass bis 2050 der Einzelne dank effiziente-
                                                  der Ortschaft werden 100 000 Quadratme-          Andernorts machen nicht Politiker, son-         rer Technologie gegenüber heute 25 Pro-
                                                  ter Solarpanels montiert. Der solar erzeugte   dern die kleineren Energiewerke Tempo.            zent weniger Strom verbraucht, entsprä-
                                                  Strom soll den Bedarf für sämtliche 9500       Sie erneuern ihr örtliches Stromnetz so,          chen die Mehrkosten für einen
                                                  Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt         dass mehr private Produzenten Strom ohne          durchschnittlichen Vier-Personen-Haus-
                                                  decken. Payerne ist kein Einzelfall, erheben   technische Probleme ins Netz einspeisen           halt jährlich etwa 400 Franken. Das zeigt,
                                                  doch derzeit viele Gemeinden, wie viel         können. Das ist die wichtigste technische         dass die Mehrkosten überschaubar und
                                                  Sonne ihnen aufs Dach scheint. Die Berner      Voraussetzung zur Förderung der dezent-           durchaus finanzierbar sind.»
                                                  Vorortsgemeinde Köniz ist nach der Begut-      ralen, nachhaltigen Energieerzeugung. Zu-
                                                  achtung aller Dachflächen gar zum Schluss      dem sind es die kleineren Energiewerke, die
                                                  gekommen, dass exakt gleich viel nutzbare      den Konsumentinnen und Konsumenten                Marc Lettau ist Redaktor der «Schweizer Revue»

                                                  steigt der Gesamtenergieverbrauch pro Kopf noch immer an. Die          giehungers noch immer mit Erdöl gedeckt wird. Forschungsleiter
                                                  Schweizerinnen und Schweizer sind also noch weit von einem             Dominic A. Notter: «Allein durch das Essverhalten der untersuch-
                                                  nachhaltigen Lebensstil entfernt. Der Primärenergiebedarf liegt        ten Bevölkerung wird fast eine Tonne CO2 pro Person und Jahr
                                                  derzeit bei 6300 Watt pro Person, der jährliche CO2-Ausstoss bei       produziert.» An die Devise, es lasse sich alles ins Lot bringen,
                                                  rund 9 t pro Person. Das Nachhaltigkeitsziel lautet aber: maximal      ohne den Lebensstandard in Frage zu stellen, glaubt Notter nicht:
                                                  1 t CO2 pro Person. Mit der vom Bundesrat vorgelegten Energiestra-     «Wir müssen genügsamer werden.»
                                                  tegie 2050 dürfte der CO2-Ausstoss immerhin signifikant sinken
                                                  und der Energieverbrauch auf rund 4000 Watt gedrosselt werden.         Der eigene Fussabdruck
                                                     Bleibt die nachhaltige 2000-Watt-Gesellschaft trotz Energie-        Was aber ist genügsam? Die wenigsten Individuen können ihren
                                                  wende eine Utopie? Die Eidgenössische Materialprüfungs- und            «Energiehunger» beziffern. Allerdings ist auch dies im Wandel,
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf hat im Mai ernüchternde          denn die Zahl der Hilfsmittel, mit denen sich der persönliche
                                                  Studienergebnisse präsentiert. Derzeit erreichen in der Schweiz        ökologische Fussabdruck errechnen lässt, zum Beispiel unter
                                                  nur rund zwei Prozent die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft. Was        www.ecospeed.ch, nimmt laufend zu. Die Probe aufs Exempel
                                                  den Empa-Forschern auffiel: Der geringere Energiebedarf ist zwar       wird es freilich den allermeisten zeigen: Bis hin zum guten Ge-
                                                  erreichbar. Aber den angestrebten tiefen CO2-Ausstoss erreichen        wissen ist der Weg ziemlich lang. (mul)
                                                  die wenigsten. Nicht allein der hohe Energieverbrauch ist das Pro-
Foto: ZVG

                                                                                                                         http://www.energiestiftung.ch; http://www.swisscleantech.ch;
                                                  blem, sondern der Umstand, dass ein sehr grosser Anteil des Ener-      http://www.ecospeed.ch; http://www.2000watt.ch; http://www.energybox.ch
12                              Politik

                                                  «Er hat das Tessin verändert, ohne es regiert zu haben»
                                                  22 Jahre lang war Giuliano Bignasca eine zentrale Figur in der Tessiner Politik: als Gründer der
                                                  Gratiszeitung «Mattino della Domenica», als Mitbegründer und Präsident auf Lebzeiten der Protest-
                                                  bewegung «Lega dei Ticinesi» und als Nationalrat. Die etablierten Parteien CVP und FDP, die während
                                                  Jahrzehnten Macht, Einfluss und Ämter unter sich aufteilten, hat er völlig aus dem Tritt gebracht.
                                                  Von Veronica Alippi

                                                                                                                                                                      Das Plakat der Lega dei
                                                                                                                                                                   T­ icinesi zu ihrem 20-jährigen
                                                                                                                                                                    Bestehen und Giuliano
                                                                                                                                                                    ­Bignasca (rechts im Bild) mit
                                                                                                                                                                    Marco Borradori, dem heuti-
                                                                                                                                                                   gen Stadtpräsidenten von
                                                                                                                                                                     ­Lugano, aufgenommen im
                                                                                                                                                                      ­Dezember 2012

                                                   Ein Schnappschuss im Halbschatten. Ein ge-      Januar 1991. Ihrer Gründung vorausgegan-       dauern und sich dann in nichts auflösen
                                                   schickter Lichteinfall hebt die obere Ge-       gen war die Lancierung der Gratiszeitung       wird», hiess es damals. Doch so ist es nicht
                                                   sichtspartie hervor. Ein für einmal ernster     «Mattino della Domenica» im März 1990.         gekommen. Die Lega erlebt zwar Höhen
                                                  Blick und natürlich die in die weissen Haare     Bignasca hatte den «Mattino» mit eindeuti-     und Tiefen, sie ist aber fester Bestandteil der
                                                   gesteckte Brille. So sah das Plakat aus, das    gen politischen Absichten gegründet. Er war    Tessiner Politlandschaft und sie hat diese in
                                                  Anfang 2011 anlässlich des 20-jährigen Beste-    bei einem Geschäft, in dem es um den Er-       den vergangenen 20 Jahren geprägt, model-
                                                   hens der Lega dei Ticinesi die Strassen des     werb einiger Grundstücke der SBB ging,         liert und tiefgreifend verändert. Dabei ist sie
                                                  Kantons Tessin zierte. Auf dem Plakat abge-      übergangen worden und hatte beschlossen,       sich stets treu geblieben, nicht immer in den
                                                   bildet war Giuliano Bignasca, Bau- und Im-      gegen die Klientelpolitik im Tessin und ge-    Inhalten, aber zumindest in der Form.
                                                   mobilienunternehmer und Parteigründer.          gen die Macht der historischen Parteien vor-      Eigentlich hatte die Lega nie eine wirkliche
                                                   Bignasca – «der Zwerg», wie er überall im       zugehen. Der «Mattino» war sofort ein Er-      ideologische Grundlage. Giuliano Bignasca,
                                                  Tessin genannt wurde – war nicht nur das un-     folg mit gewaltigen Auswirkungen auf die       der die politische Agenda der Partei vorgab,
                                                   verwechselbare Aushängeschild der Lega,         Tessiner Presse- und Verlagswelt.              verfolgte in erster Linie seine eigenen Ziele.
                                                   sondern auch ihr Gründer, Chef und Präsi-                                                      Dabei hatte er es vor allem auf das Establish-
                                                   dent auf Lebzeiten, die Seele und das Herz      Prognosen und Realität                         ment, die Parteien, auf Bundesbern und Eu-
                                                   der Partei. Die Lega war Bignasca und           Die Geschichte wiederholte sich mit der        ropa abgesehen. An diesem Ansatz hat sich
                                                  ­Bignasca war die Lega.                          Lega: sofortiger Erfolg und gewaltige Aus-     im Laufe der Jahre nichts geändert. Ebenso
                                                      Bei seinem Tod durch einen Herzinfarkt       wirkungen. 1991 im Frühling, bei ihrer ers-    wenig geändert hat sich die ungewöhnliche
                                                   in den frühen Morgenstunden des 7. März         ten Wahlteilnahme, eroberte die Partei 12      Mischung aus Liberalismus und Sozialsinn,
                                                   dieses Jahres fragte man sich, was aus dieser   von 90 Sitzen im Tessiner Parlament und        die das Denken von Bignasca prägte. Weni-
                                                   Bewegung werden würde. Sie, die am 10.          verpasste nur knapp den Einzug in die Re-      ger Steuern und weniger Bürokratie einer-
                                                  April 2011 alle überrannt hatte und mit zwei     gierung. Im Oktober, bei den eidgenössi-       seits, mehr Hilfe für Bürger in Not und
                                                   von fünf Sitzen zur stärksten Partei in der     schen Wahlen, erlangte sie zwei von acht       Kampf gegen die Krankenkassen andererseits.
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  Tessiner Regierung geworden war. Die Ant-        Tessiner Sitzen im Nationalrat und einen
                                                   wort erhielt man wenige Wochen nach Big-        Sitz im Ständerat. Die Tessiner Politiker-     Feines Gespür für Missstimmungen
                                                   nascas Tod: Die Lega wird stärkste Partei in    kaste war erschüttert. Ein solches Erdbeben,   Bignascas politische Gegner haben ihm im-
                                                   Lugano, der wichtigsten Stadt des Kantons,      prophezeiten damals viele, Beobachter und      mer wieder Doppelzüngigkeit vorgeworfen
                                                   und erobert mit Marco Borradori den             Politiker, werde sich nicht wiederholen.       und auf die Widersprüche in seiner Politik
                                                  Thron des Stadtpräsidenten. Offiziell ge-        «Eine Protestwahl. Ein vorübergehendes         hingewiesen, vor allem im Steuer- und Fi-
Foto: ZVG

                                                   gründet wird die «Lega dei Ticinesi» am 17.     Phänomen, das eine Legislaturperiode an-       nanzbereich. Doch offenbar haben gerade
13

                                                  diese Paradoxien Wähler angezogen. Jene,           scheidungen und gab diese im «Mattino» be-      eingereicht worden waren, und die Lega be-
                                                  die ihre Unzufriedenheit mit der traditio-         kannt – ohne seine Regierungsmitglieder         schloss – angesichts der Welle der Gefühle,
                                                  nellen Politik zum Ausdruck bringen woll-          oder Parlamentarier einzubeziehen. Dies         welche die Stadt erfasst hatte – seinen Na-
                                                  ten – und immer noch wollen. Wähler, die           führte auch zu Streitereien und kurz danach     men auf der Liste zu belassen. Also wurde
                                                  sich Veränderungen wünschen, weil sie ih-          jeweils zu pathetischen Versöhnungsszenen.      Bignasca wiedergewählt. Als Toter trug er
                                                  nen notwendig erscheinen, um die wirt-            Das Verhältnis des Präsidenten auf Lebzei-       dazu bei, dass die Lega zur stärksten Partei
                                                  schaftlichen, sozialen und persönlichen            ten zu seinen wichtigsten Gefolgsleuten war     in der Stadtregierung wurde und Borradori
                                                  Schwierigkeiten zu überwinden.                     ambivalent. Sein wichtigster Begleiter war      den Thron des Stadtpräsidenten eroberte.
                                                    Als populistisch und politisch unbedarft        Marco Borradori, während 18 Jahren Kan-
                                                                                                                           tonsrat und heute Lu-     Wer übernimmt Bignascas Rolle?
                                                                                                                           ganos Stadtpräsident.     Und wie sieht nun die Zukunft der Lega aus?
                                                                                                                           Bignasca und Borra-       Ist der Sieg von Lugano der endgültige
                                                                                                                           dori ergänzten sich       Durchbruch oder das letzte Aufbäumen vor
                                                                                                                           bestens. Der eine         dem Niedergang? Wie wird sich die Tessiner
                                                                                                                           stand für lautstarke      Politik ohne Giuliano Bignasca verändern?
                                                                                                                           Politik, für persönli-    Die plötzlich führungslose Partei hat
                                                                                                                           che Attacken und Ul-      schwierige Wochen hinter sich. Trotz der
                                                                                                                           timaten, der andere       Aufrufe zur Geschlossenheit fehlte es nicht
                                                                                                                           für Dialog, Kompro-       an Kontroversen und internen Konflikten.
                                                                                                                           misse und respektvol-     Der «Mattino», die grosse Propagandama-
                                                                                                                           len Umgang. Der erste     schine, hat seine Sprache bereits gemässigt.
                                                                                                                           war aufbrausend und       Die Frage ist, schafft es die Partei, Bignascas
                                                                                                                           unanständig, der          Erfolgsrezept fortzuführen und das Gleich-
                                                                                                                           zweite stets ruhig und    gewicht zwischen Rechts und Links zu wah-
                                                                                                                           höflich. Es gab auch      ren. Mit Bignasca könnte auch ein Grossteil
                                                                                                                           Themen, bei denen sie     des sozialen Verständnisses der Lega ver-
                                                                                                                           sich nie einig waren –    schwunden sein. Ungewiss ist, wer nun die
                                                  wurden die Vorschläge Bignascas oft abqua-         vor allem in den Bereichen Umwelt und           Zügel innerhalb der Partei in die Hand neh-
                                                  lifiziert. Doch als «Animal politique» hatte       Kantonsfinanzen. Aber niemals haben sie         men wird. Im Augenblick hat man sich für
                                                  er ein feines Gespür für Missstimmungen            die Differenzen über die Medien ausgetra-       eine kollektive Leitung entschieden. Aber
                                                  und für die Bedürfnisse der Tessiner, die er       gen. Sie waren ein unzertrennliches politi-     eigentlich ist klar, dass alle einzig Borradori
                                                  «la gente» (die Leute) nannte. Häufig entwarf      sches Paar, bis zum Tod von Giuliano            zutrauen, die gewaltige Figur Bignasca zu er-
                                                  er einfache, gar triviale, aber wirksame Kon-     ­Bignasca.                                       setzen.
                                                  zepte. Der «Mattino», der praktisch das offi-         Der politische Auftritt von Bignasca war        Die anderen Parteien haben ihre Haltung
                                                  zielle Parteiorgan war, sorgte für die Verbrei-    widersprüchlich und bisweilen auch inkohä-      in den 22 Jahren, in denen Giuliano Bignasca
                                                  tung der Slogans und Parolen, erklärte, wer        rent. So war auch sein Privatleben. Er war      die politische Landschaft des Tessins durch-
                                                  die Feindbilder sind, verspottete die Opfer        schüchtern und stand plötzlich im Rampen-       einanderwirbelte, grundlegend geändert:
                                                  und beleidigte sie – oft mit Schimpfnamen          licht, er war ein bekennender Kokainkonsu-      Erst ignorierten sie Bignasca, dann merkten
                                                  und Fotomontagen, die für Entrüstung sorg-         ment, aber keineswegs stolz auf sein Laster.    sie, dass sie ihn unterschätzt hatten, und be-
                                                  ten. Unter seinem Einfluss verrohe die Poli-       Die Reaktionen am 7. März 2013, am Tage         gannen, ihn zu fürchten. Ab und zu haben
                                                  tik, wurde Bignasca von vielen Seiten vorge-       seines Todes, zeigten, dass nicht nur seine     sie auch versucht, ihn nachzuahmen und
                                                  worfen. Er wurde dutzendfach angezeigt,            Freunde, sondern auch seine Feinde ihm          noch aggressivere Töne als er anzuschlagen.
                                                  wegen Beleidigung und übler Nachrede.             Achtung zollten – wenn nicht in politischer,     Als sie die Fähigkeit der Lega erkannt hat-
                                                  Mehrfach verurteilten ihn Gerichte, was er         dann zumindest in menschlicher Hinsicht.        ten, grosse politische Themen vorwegzu-
                                                  zu ignorieren pflegte. Die Äusserungen der         Denn «der Zwerg» war auch sehr grosszügig,      nehmen, haben sie begonnen, mit ihr zusam-
                                                  Lega-Vertreter sind meist grob, oft respekt-       er konnte nie jemanden abweisen, der ihn        menzuarbeiten und sich mit ihr zu
                                                  los und nicht selten fremdenfeindlich. Dies        um Hilfe bat. Mit seiner Hilfsbereitschaft      verbünden. Das Erdbeben bei den Wahlen
                                                  hat möglicherweise zum Erfolg der Bewe-            hat er insbesondere jene überrascht, die in     im April 2011 haben sie allerdings noch
                                                  gung beigetragen. Sicher ist, Bignasca spürte,     ihm vor allem den Angeber und Provokateur       längst nicht verdaut. Die traditionellen Par-
                                                  welche Themen die Tessiner beschäftigen            sahen. Unvergessen bleiben seine Auftritte      teien sind vorsichtig und zögerlich geworden,
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  und wo sie sich bedroht fühlten – durch den        in Richterrobe bei einem seiner Prozesse        sie rätseln, ob der Erfolg der Lega anhalten
                                                  explosionsartigen Anstieg der Grenzgänger          oder mit Stab und Holzschuhen im Natio-         wird. In einem Nachruf auf Bignasca stand:
                                                  zum Beispiel.                                      nalrat.                                         «Er hat das Tessin verändert, ohne es regiert
                                                                                                        Schon fast als makaber erscheint seine       zu haben.» Ob dies über seinen Tod hinaus
                                                  Ein unzertrennliches Paar                          Rolle bei den Wahlen in die Luganeser           anhalten wird, ist noch unklar.
Foto: Keystone

                                                  Echte demokratische Strukturen gab es in-          Stadtregierung am 14. April dieses Jahres. Er   Veronica Alippi ist Leiterin des Regional-
                                                  nerhalb der Lega nie. Bignasca traf Ent-           starb, nachdem die offiziellen Wahllisten       journals der Radiotelevisione Svizzera RSI
14         Politik

                                                  Militärdienst nach dem Lustprinzip?
                                                  Die Wehrpflicht soll in der Schweiz aufgehoben werden. Das fordert eine Volks-
                                                  initiative, über die am 22. September 2013 abgestimmt wird. Doch die Schweizer
                                                  stehen heute deutlich hinter der Armee, deutlicher als auch schon.
                                                  Von Jürg Müller

                                                  Das Thema eignet sich hervorragend für Pa-        rungszahl europaweit immer noch die               dass solche Risikogruppen in der Minderheit
                                                  thos: «Das Zusammenleben in unserem schö-         grösste Armee habe. Dabei lägen die Bedro-        bleiben.»
                                                  nen und sicheren Land basiert auf Rechten         hungen heute längst nicht mehr im klassi-
                                                  und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger.         schen militärischen Bereich. Nationalrätin        Massenheer oder nicht?
                                                  Der Militärdienst ist Ausdruck dieser Pflicht     Evi Allemann, Sicherheitsexpertin der Sozi-       Das Argument von SP-Nationalrätin Evi Al-
                                                  zum persönlichen Engagement.» Dies sagte          aldemokraten, sagt, nach Ende des Kalten          lemann, dass in Europa die Massenheere ab-
                                                  die freisinnige Sicherheitspolitikerin Corina     Krieges hätten «die vor allem auf die klassi-     gebaut würden und von den 28 Nato-Staaten
                                                  Eichenberger-Walther in der Nationalrats-         sche Landesverteidigung konzipierten              mittlerweile 20 eine Freiwilligenarmee hät-
                                                  debatte im Dezember 2012. Das Volksbegeh-         Wehrpflichtarmeen» an Bedeutung verloren.         ten oder planten, kontert Verteidigungsmi-
                                                  ren zur Abschaffung der allgemeinen Wehr-         Sie plädiert für eine konsequente Spezialisie-    nister Ueli Maurer mit der Bemerkung, man
                                                  pflicht der «Gruppe für eine Schweiz ohne         rung der Wehrdienste auf die modernen Be-         müsse vom Klischee des Massenheers end-
                                                  Armee» (GSoA) weckt Emotionen. Da kann            drohungen. Doch da braucht es markant we-         lich Abstand nehmen, «denn die Schweiz hat
                                                  es vorkommen, dass nicht immer mit dem fei-       niger, aber besser ausgebildete Leute.            kein Massenheer». Gleichzeitig seien immer
                                                  nen Florett gekämpft, sondern schwereres                                                            nur rund 5000 Soldaten im Dienst – ohne Re-
                                                  Geschütz aufgefahren wird. So tauft etwa das      Angriff auf Grundpfeiler der Schweiz              krutenschulen und Instruktoren. Bei Bedarf
                                                  gegnerische Komitee die Initiative schlicht       Mit der Initiative werde ein Grundpfeiler der     könnten jedoch rasch mehr Leute aufgebo-
                                                  um in «Unsicherheits-Initiative». Bei der In-     Schweiz angegriffen, finden die Befürworter       ten werden. Bei einer Freiwilligenarmee da-
                                                  itiative gehe es nicht um die Frage der Wehr-     der Wehrpflicht. Der Schutz des Landes sei        gegen «haben wir keinerlei Garantie, dass im
                                                  pflicht, sagt das Komitee, die Initianten woll-   eine Aufgabe aller Schweizer Bürger. Die Ar-      entscheidenden Zeitpunkt die notwendigen
                                                  ten die Armee abschaffen. Ein Argument, das       mee, in der Leute aus allen Bevölkerungs-         personellen Ressourcen zur Verfügung ste-
                                                  im Fall der «Gruppe für eine Schweiz ohne         schichten und Berufsgruppen Dienst leiste-        hen». Maurer verweist zudem auf die enor-
                                                  Armee» nicht völlig von der Hand zu weisen        ten, garantiere ein enormes Qualitätsreservoir.   men Rekrutierungsprobleme bei Freiwilli-
                                                  ist. Und auch die GSoA greift im Abstim-          Eine Freiwilligenarmee münde wegen der Re-        genarmeen: Spanien müsse Leute aus
                                                  mungskampf zum Zweihänder: «Nicht alle            krutierungsprobleme fast zwangsläufig in          Südamerika holen, sagt er, und «Grossbritan-
                                                  haben Zeit, Krieg zu spielen», lautet der Auf-    eine Berufsarmee, was nicht nur dem Schwei-       nien rekrutiert seine Freiwilligen in den Ge-
                                                  macher-Titel in der Mai-Ausgabe der               zer Milizprinzip zuwiderlaufe, sondern auch       fängnissen. Wollen wir solche Verhältnisse?»
                                                  «GSoA-Zitig».                                     teurer sei. Nationalrätin Corina Eichenber-          Wohl kaum. Die Initianten werden einen
                                                                                                    ger sprach in der Parlamentsdebatte auch die      schweren Stand haben. Die Ende Mai die-
                                                  Weniger Leute nötig                               problematische Seite bei der Rekrutierung in      ses Jahres veröffentlichte Studie «Sicherheit
                                                  Was die Initiative will, ist einschneidend.       Freiwilligenarmeen an: «Jede Armee hat die        2013» der Eidgenössischen Technischen
                                                  Die Militärdienstpflicht soll abgeschafft         Tendenz, Personen mit rechtsradikaler poli-       Hochschule Zürich (ETH) zeigt, dass sich
                                                  und durch eine Freiwilligen-Armee ersetzt         tischer Einstellung oder übersteigerter Aben-     deutlich mehr Leute für die allgemeine
                                                  werden. Die Initianten argumentieren, dass        teuerlust anzuziehen. Im gegenwärtigen Sys-       Wehrpflicht aussprechen als im Vorjahr. Die
                                                  die Schweiz im Verhältnis zu ihrer Bevölke-       tem sorgt die Militärdienstpflicht aber dafür,    repräsentative Umfrage deutet auf einen re-
                                                                                                                                                      gelrechten Meinungsumschwung der
                                                                                                                                                      Schweizer Bevölkerung in Armeefragen hin.
                                                  Weitere Abstimmungsvorlagen                                                                         Im letzten Jahr waren noch 48 Prozent für
                                                  Am 22. September 2013 kommen neben der Wehrplicht zwei weitere Vorlagen zur Ab-                     die Abschaffung der Wehrpflicht, jetzt sind
                                                  stimmung. Die Revision des Epidemiengesetzes will einen besseren Schutz vor über-                   es bloss noch 33 Prozent. Die ETH-Forscher
                                                  tragbaren Krankheiten und genauer definierte Zuständigkeiten von Bund und Kanto-                    führen dies auf die frühzeitig einsetzende
                                                  nen. Impfkritische Kreise haben das Referendum ergriffen, weil sie sich gegen einen                 öffentliche Debatte zurück, die zahlreiche
                                                  von ihnen befürchteten staatlichen Impfzwang wehren. Das Bundesamt für Gesund-                      armeenahe Organisationen auf den Plan rief.
S c h w e i z e r R e v u e August 2013 / Nr. 4

                                                  heit sagt, derartige Zwangsmassnahmen seien ausgeschlossen. Zudem wird das Volk                     Sie schliessen aber gleichzeitig nicht aus,
                                                  gefragt, ob es eine Liberalisierung der Öffnungszeiten bei Tankstellenshops wolle.                  dass der eigentliche Abstimmungskampf,
                                                  Gegen die Öffnung rund um die Uhr haben diverse linke und kirchliche Organisatio-                   wenn die GSoA und ihre Verbündeten die
                                                  nen das Referendum ergriffen, weil sie diese als Auftakt zu weiterer Liberalisierung                Kampagne starten, erneut signifikante Ver-
                                                  sehen. In der Tat sind im Parlament Vorstösse zu generell längeren Ladenöffnungs-                   änderungen im Meinungsspektrum nach
                                                  zeiten hängig. Das Referendumskomitee wehrt sich dagegen, dass die Nacht und der                    sich ziehen könnte.
                                                  Sonntag vollständig wirtschaftlichen Interessen geopfert würden.                 (JM)              Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue»
Sie können auch lesen