Der schwierige Weg zu nach-haltigen Rentenreformen - Gutachten 02/2020

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Gutachten
                               02/2020

Der schwierige Weg zu nach-
haltigen Rentenreformen
Der schwierige Weg zu nach-
haltigen Rentenreformen

Wissenschaftlicher Beirat
beim Bundesministerium der Finanzen
Gutachten 02/2020
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung_____________________________________________________1

2. Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente____________________3

3. Nachhaltigkeit der Rente: Maßnahmen_________________________6

4. Zur politischen Ökonomie von langfristig tragfähigen
   Rentenreformen ______________________________________________13

5. Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt_________14

6. Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen______________17

7. Die Zukunft der GRV__________________________________________21

Literatur_________________________________________________________22

Verzeichnis der Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats_______26
Einführung                                                        Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

1. Einführung

Niedrige Geburtenraten, gestiegene Lebenser-                       auch weitergehende Reformen – z. B. Ausweitun-
wartungen, durchbrochene Erwerbsbiographien                        gen der betrieblichen Alterssicherung oder neue
und Veränderungen der Arbeitswelt durch Digi-                      Finanzierungsmodelle wie die Einrichtung einer
talisierung und Globalisierung stellen die Gesetz-                 kapitalgedeckten Deutschlandrente [Knabe und
liche Rentenversicherung (GRV) in Deutschland                      Weimann (2019)] oder eines Bürgerfonds [Fuest et
vor erhebliche Finanzierungsprobleme. In der                       al. (2019)] – auf die politische Agenda gesetzt wer-
Bevölkerung lösen diese Entwicklungen zudem                        den sollten. Solche Maßnahmen würden eine Ent-
wachsende Sorgen vor steigender Altersarmut                        lastung aber erst mit einer erheblichen Zeitverzö-
aus. Entsprechend gewinnt das Thema Zukunft                        gerung bewirken, so dass sie den Reformbedarf
der Alterssicherung in der öffentlichen Debatte                    innerhalb der GRV mittelfristig nicht beseitigen
immer mehr an Bedeutung. Die Politik hat darauf                    dürften.
reagiert und lässt neue Konzepte der Alterssiche-
rung diskutieren.1 Die anstehenden Herausforde-                    Der Beirat sieht mit Sorge, dass viele Reformen der
rungen in der Rentenversicherung und die aktu-                     letzten Jahrzehnte allein darauf abzielten, einzel-
elle politische Debatte haben auch die vorliegende                 nen (Wähler-)Gruppen zusätzliche Rentenansprü-
Stellungnahme motiviert. In ihr werden Kernele-                    che zu gewähren. Zur Finanzierung wurden ent-
mente des deutschen Systems der gesetzlichen                       weder die Beitragszahler zusätzlich belastet oder
Altersvorsorge beschrieben und die in der Diskus-                  die Bundeszuschüsse aus allgemeinen Deckungs-
sion befindlichen Reformmaßnahmen mit Blick                        mitteln (also überwiegend aus dem Steuerauf-
auf ihre Eignung für eine nachhaltige Stabilisie-                  kommen) erhöht. Auch die Ausweitung der Versi-
rung überprüft.                                                    cherungspflicht wurde immer wieder diskutiert.
                                                                   Die Stellungnahme argumentiert, dass es derar-
Die Stellungnahme konzentriert sich auf das                        tigen Maßnahmen an Nachhaltigkeit mangelt.
bestehende System der umlagefinanzierten Ren-                      Die gegenwärtige demographische Herausforde-
tenversicherung, weil dieses für große Teile der                   rung für die GRV lässt sich weder durch immer
Bevölkerung in Deutschland bis auf weiteres die                    neue Erhöhungen des Beitragssatzes noch durch
wichtigste Absicherung im Alter darstellt. Für                     eine beliebige Ausweitung der steuerfinanzierten
viele Jahrzehnte wird ein stabiles und solide finan-               Quersubventionierung der GRV aus dem Bundes-
ziertes Umlagesystem für viele Menschen von zen-                   haushalt bewältigen.
traler Bedeutung bleiben, um Ausgaben im Alter
zu finanzieren.                                                    Die Maßnahmen der letzten Jahre weisen auf
                                                                   mangelnde Bindungswirkungen von langfristigen
Die hier vorgenommene Fokussierung auf die                         Reformen in der Rentenpolitik hin, wie sie ähn-
umlagefinanzierte Rente bedeutet nicht, dass nicht                 lich aus anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik
                                                                   bekannt sind.2 Zwar ist die Sicherung der langfris-

1   So hat die Bundesregierung die Rentenkommission
    „Verlässlicher Generationenvertrag“ einberufen. Deren          2   Beispiele für die Zeitkonsistenzproblematik in der
    Vorschläge, die zum Zeitpunkt der Erarbeitung dieser               Wirtschaftspolitik sind die Arbeiten von Kydland und Prescott
    Stellungnahme des Beirats noch nicht vorlagen, sollten sich        (1977, 1980) im Bereich der Zentralbankpolitik und zu
    an den Rahmenvorgaben des Koalitionsvertrages orientieren.         Fragen der zeitkonsistenten Besteuerung von Kapital. Zur
    Inzwischen liegt der Bericht der Kommission vor; vergleiche        Unterscheidung von physischem Kapital und Humankapital in
    Kommission Verlässlicher Generationenvertrag (2020).               diesem Zusammenhang siehe Andersson und Konrad (2003).

                                                                  1
Vorbemerkungen zum Deutschen Stabilitätsprogramm 2020              Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

tigen Tragfähigkeit ein zentrales Ziel der Renten-                  Hierzu gehört insbesondere eine langfristige, gra-
politik. Kurzfristiges Optimieren in der Politik, das               duelle Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sowohl
darauf gerichtet ist, die Interessen der aktuellen                  der Beitragssatz als auch das Rentenniveau lassen
Wählermehrheit umzusetzen, kann jedoch Ergeb-                       sich trotz der demographischen Verschiebungen
nisse hervorbringen, die nicht im gemeinsamen                       stabilisieren, wenn das Renteneintrittsalter von
Interesse der aktuellen und zukünftigen Wähler                      Generation zu Generation in Abhängigkeit von der
sind.3 Im Rahmen der umlagefinanzierten GRV                         steigenden Lebenserwartung erhöht wird. Andere
manifestiert sich das Problem mangelnder Bin-                       Länder wie die Niederlande oder Norwegen haben
dungswirkung insbesondere in der Gefahr einer                       eine solche regelgebundene Erhöhung des Rente-
steigenden Querfinanzierung der Renten aus dem                      neintrittsalters bereits implementiert. Angesichts
allgemeinen Steueraufkommen. Auf der individu-                      der langen Zeiträume, über die die Versicherten
ellen Ebene wird das Bindungsproblem dadurch                        dann planen können, sollte eine solche Regelbin-
befördert, dass sich die Präferenzen der Wähler                     dung auf eine höhere Akzeptanz stoßen als dis-
hinsichtlich der Ausgestaltung des GRV-Systems                      kretionäre Erhöhungen des Beitragssatzes oder
im zeitlichen Übergang vom Beitragszahler zum                       des Renteneintrittsalters. Eine solche Reform wird
Rentenempfänger kontinuierlich verändern.4 Wie                      von wissenschaftlicher Seite in großer Einmütig-
das Beispiel der Erhöhung des Renteneintrittsal-                    keit seit vielen Jahren empfohlen, ist bislang aber
ters auf 67 zeigt, besteht aufgrund der fehlenden                   nicht erfolgt. Die Einführung einer regelgebun-
Selbstbindungsmöglichkeiten der Politik immer                       denen Erhöhung des Renteneintrittsalters stößt
auch die Gefahr, dass selbst erfolgreich einge-                     in Deutschland auf erhebliche politische Wider-
führte Reformen im Interesse einzelner Wähler-                      stände. Die mangelnde Akzeptanz einer solchen
gruppen partiell wieder aufgeweicht werden.                         Regel hat neben der Verteilungswirkung zwischen
                                                                    der Einführungsgeneration und späteren Gene-
Der Beirat plädiert angesichts dieser Politikprob-                  rationen viele Gründe. Diese sollten sich, wie die
leme für eine regelgebundene Erhöhung des Ren-                      Stellungnahme zeigt, zumindest teilweise ausräu-
teneintrittsalters sowie für eine institutionell bes-               men lassen.
ser abgesicherte Trennung von Bundeshaushalt
und gesetzlicher Rentenversicherung. Die Tren-
nung soll so ausgestaltet sein, dass Erhöhungen
des Bundeszuschusses und anderer Überweisun-
gen aus Steuermitteln an die Rentenversicherung
erschwert werden. Dies vergrößert zum einen die
Transparenz hinsichtlich der fiskalischen Kosten
einzelner rentenpolitischer Maßnahmen. Zum
anderen würde es die Politik dazu zwingen, anstelle
von Quersubventionen der GRV aus Steuermitteln
nachhaltige und tragfähige Reformen anzugehen.

3   Dass die Schwierigkeit der langfristigen Bindung die
    Rentenpolitik zugunsten der gegenwärtigen Generationen
    verzerrt, zeigt z. B. Aydede (2010).
4   So kann es z. B. sein, dass es zu jedem Zeitpunkt
    politische Mehrheiten gibt, die zwar eine Anpassung der
    Lebensarbeitszeit an die längere Lebenserwartung für
    zukünftige Generationen von Erwerbstätigen für richtig hält,
    eine solche Reform aber erst nach dem eigenen Renteneintritt
    realisieren möchte. Eine langfristig von allen für sinnvoll
    erachtete Reform würde, was ihren Startpunkt angeht, so von
    Kohorte zu Kohorte in die Zukunft verschoben.

                                                                   2
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente                                      Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

2. Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente

In einem System der rein umlagefinanzier-                                         Altenquotienten bestimmt, also dem Zahlenver-
ten gesetzlichen Rentenversicherung gilt, dass                                    hältnis von Personen im Rentenalter und Per-
die Einnahmen in einer Periode gleich den Aus-                                    sonen im erwerbsfähigen Alter. Der Altenquoti-
gaben sein müssen. Daraus folgt, dass man – bei                                   ent hat sich in Deutschland seit der Einführung
gegebenem Renteneintrittsalter und ohne wei-                                      des heutigen Rentensystems nach dem 2. Welt-
tere Finanzierungsquellen – den Beitragssatz und                                  krieg stark verändert, und weitere Veränderun-
das Rentenniveau nicht unabhängig voneinander                                     gen lassen sich auf der Basis der bereits geborenen
festlegen kann. Für ein angestrebtes Rentenniveau                                 Kohorten, den Schätzungen über die Entwick-
ist der Beitragssatz über das Verhältnis der Rente-                               lung der Lebenserwartung sowie mit Annahmen
nempfänger zur Zahl der Beitragszahlenden ein-                                    zur Zuwanderung für die nächsten 20 bis 30 Jahre
deutig bestimmt. Für ein gegebenes Verhältnis ist                                 gut abschätzen. Die folgende Abbildung zeigt den
ein höheres Rentenniveau nur um den Preis höhe-                                   Altenquotienten als Relation der über 65-jährigen
rer Versichertenbeiträge zu haben.                                                und der 20- bis 64-jährigen für den Zeitraum von
                                                                                  1950 bis 2060, sowie das für das Rentensystem der
Das Verhältnis der Rentenempfänger zur Zahl der                                   nächsten Jahrzehnte relevante Verhältnis der über
Beitragszahler wird im Wesentlichen durch den                                     67-jährigen zu den 20- bis 66-jährigen.

  Abbildung 1: Altenquotient (Relation der Zahl der über 65-jährigen zu den 20- bis 64-jährigen bzw.
                          der über 67-jährigen zu den 20- bis 66-jährigen, 1950-2060)

                    70
                                       über
                                        über65 Jährige //20-
                                            65-jährige   20-64-Jährige
                                                             bis 64-jährige

                                       über
                                        über67 Jährige //20-
                                            67-jährige   20-66-Jährige
                                                             bis 66-jährige
                    60

                    50
    Altenquotient

                    40

                    30

                    20

                    10

                     0
                         1950   1960    1970      1980      1990      2000          2010    2020    2030    2040    2050    2060

 Quelle: Statistisches Bundesamt, 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante G2L2W2;
         Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

                                                                              3
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente                        Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

Die Zahl der Rentner, die auf einen Beitragszah-                 attraktiv. Eine Finanzierung durch zusätzliche
ler entfallen, hat sich seit der deutschen Einheit               Staatsverschuldung schließlich wäre eine Erhe-
bereits um gut 50 % erhöht. Bis 2060 wird sich                   bung höherer Steuern für zukünftige Generatio-
diese Zahl nach heutiger Einschätzung noch ein-                  nen und insofern in ihren Wirkungen einer Steu-
mal um ca. 60 % steigern. Dann müssen weni-                      ererhöhung vergleichbar. Die Finanzierung durch
ger als zwei Beitragszahler eine Rente finanzie-                 Staatsschulden bietet daher keinen langfristig
ren – und nicht mehr vier Beitragszahler wie noch                tragfähigen Lösungsweg.
1991. Eine Studie der Deutschen Bundesbank
(2019) zeigt sehr deutlich die Probleme auf, die                 In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Vor-
sich ohne Anpassungen beim Renteneintrittsal-                    teilhaftigkeit der GRV als Alterssicherungsinstru-
ter einstellen werden.5 Würde die aktuell bis 2025               ment sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während
festgeschriebene Haltelinie eines Rentenniveaus                  Teile der Öffentlichkeit wegen der demographi-
von 48 % nach 45 Beitragsjahren auf Dauer fest-                  schen Herausforderungen keine nennenswerte
geschrieben, müsste der Beitragssatz bis 2070 auf                Rendite aus der Gesetzlichen Rentenversiche-
rund 31 % steigen; zugleich müsste der Bundes-                   rung erwarten, sehen andere angesichts des Nied-
zuschuss erheblich erhöht werden. Berücksich-                    rigzinsumfelds die Rentenversicherung noch als
tigt man die weiteren Abzüge eines Erwerbstäti-                  relativ attraktive Anlage. Die Diskussion wird
gen für das allgemeine Steueraufkommen sowie                     auch dadurch verkompliziert, dass unterschied-
für Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversiche-                  liche Rentabilitätsmaße für die GRV im Umlauf
rung, dann wird schnell deutlich, dass sozial-                   sind, ohne dass auf den ersten Blick die unter-
versicherungspflichtige Erwerbsarbeit durch die                  schiedlichen methodischen Herangehensweisen
hohen Belastungen kaum mehr attraktiv wäre.                      ersichtlich wären. So unterscheiden sich die Maße
Würde alternativ die zweite bis 2025 festgeschrie-               z. B. hinsichtlich der Berücksichtigung von Infla-
bene Haltelinie eines Beitragssatzes von 20 % fort-              tion (real vs. nominal) und der Aggregationsebene
geschrieben, so müsste das Rentenniveau bis 2070                 (individuelle vs. makroökonomische Renditen).
auf 30 % absinken. Damit wäre die GRV kaum
noch in der Lage, ihrer Aufgabe der Absicherung                  Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
im Alter nachzukommen.                                           gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich mit
                                                                 der Rentabilität mehrfach befasst, zuletzt im Jah-
Als dritte Variante untersucht die Studie der Deut-              resgutachten 2016 (SVR 2016/17, S. 332-337), wo
schen Bundesbank auch die Auswirkungen, wenn                     im Anhang Renditen für Standarderwerbspro-
beide Haltelinien zugleich Bestand haben sollen.                 file unter verschiedenen Szenarien für Personen
Dann müsste der Finanzierungsanteil des Bundes                   der Geburtsjahre 1940 bis 2030 berechnet wer-
auf deutlich über 50 % steigen. Eine entsprechende               den. Es zeigt sich dabei ein Rückgang der Rendi-
Finanzierung aus allgemeinen Steuereinnahmen                     ten gegenüber den derzeitigen Rentnergeneratio-
bei gegebener Steuerquote bedeutet deutlich ver-                 nen. Gleichwohl liegen auch für die aktuell in den
ringerte andere Ausgaben des Staates und damit                   Arbeitsmarkt eintretenden Kohorten im Basissze-
einen Rückzug aus der Finanzierung anderer                       nario – d. h. ohne weitere Reformen – die inter-
staatlicher Aufgaben. Die Finanzierung durch eine                nen Renditen für Männer bei gut 2,5 % und für
höhere Steuerquote erhöht die Abgabenquote und                   Frauen bei rund 3 %. Dabei ist zu beachten, dass
erscheint angesichts der ohnehin hohen Abgaben-                  hier nominale Renditen, d. h. inklusive der Infla-
quote Deutschlands im OECD-Vergleich wenig                       tion, ermittelt sind. Zieht man eine langfristige
                                                                 Preissteigerung von rund 2 % von den nominalen
                                                                 Werten ab, erhält man eine reale Verzinsung von
5 Weitere Simulationsrechnungen zur langfristigen Entwicklung    0,5 % bis 1 % für Kohorten, die jetzt in den Arbeits-
  von Beitragssatz und Rentenniveau unter der aktuellen
  Rechtslage finden sich unter anderem bei Börsch-Supan und      markt eintreten. Ein weiterer wichtiger Aspekt für
  Rausch (2018), Geyer et. al. (2019) und Werding (2018).

                                                                4
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente              Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

das Verständnis der Renditemessung ist, dass hier         höher aus als die makroökonomische Rendite des
auf die individuelle Perspektive abgestellt wird.         Lohnsummenwachstums. Die Spielräume für
Dabei wird aus Sicht der einzelnen Versicher-             Renditen, die über das Lohnsummenwachstum
ten der Barwert der Einzahlungen mit dem Bar-             hinausgehen, sind in der langen Frist begrenzt.
wert der Auszahlungen verglichen. Die Rendite ist         Denn jede neue Beitragszahlergruppe lässt sich
dann derjenige interne Zinsfuß, mit dem sich die          nur einmal hinzufügen. Und der Erhöhung des
Einzahlungen verzinsen müssten, um den Wert               Beitragssatzes sind durch die drohenden Aus-
der Auszahlungen zu generieren. Diese individu-           weichreaktionen – sei es in die Nicht-Arbeit oder
elle Rendite kann hoch sein, weil die Lohn- und           in die Schattenwirtschaft – Grenzen gesetzt.
Gehaltssumme, aus der die Rentenbeiträge gene-
riert werden, schnell gewachsen ist. Die individu-
elle Rendite kann aber auch hoch sein, weil z. B.
der Versichertenkreis ausgeweitet wurde.

Um die politisch bedingten Renditeeffekte, wie
z. B. die Ausweitung des Beitragszahlerkreises,
von der ökonomischen Rendite des Rentensys-
tems zu unterscheiden, ist die makroökonomi-
sche Perspektive informativ. Da die Beiträge auf
die Lohnsumme erhoben und die Renten aus die-
sen Beiträgen bezahlt werden, ergibt sich die mak-
roökonomische Rendite des Rentensystems aus
dem Wachstum der Lohnsumme. Abbildung 2
zeigt das Wachstum der realen Bruttolohnsumme
in Deutschland seit 1960 (seit 1991 Deutsch-
land gesamt), wobei der Wert für 1960 gleich 100
gesetzt wurde. Im Jahr 2018 betrug der Indexwert
524, d. h. die reale Lohnsumme hatte sich in (fast)
60 Jahren mehr als verfünffacht. Dies entspricht
einem durchschnittlichen Wachstum von 2,9 %
pro Jahr, wobei die deutsche Einheit statistisch zu
einem sprunghaften Anstieg zwischen 1990 und
1991 geführt hat.

Abbildung 2 zeigt darüber hinaus die Entwicklung
der realen Ausgaben der Gesetzlichen Rentenver-
sicherung für denselben Zeitraum. Die Ausgaben
haben sich in diesem Zeitraum versiebenfacht; pro
Jahr stiegen die Ausgaben im Schnitt um 3,4 %. In
dem Umfang, in dem das Ausgabenwachstum das
Lohnsummenwachstum übersteigt, musste zur
Finanzierung das Rentensystem ausgeweitet wer-
den, z. B. durch Beitragssatzerhöhungen, Einbe-
ziehung neuer Rentenbeitragszahler oder erhöhte
Bundeszuschüsse. Die ermittelten individuellen
Renditen fallen durch diese Systemausweitungen

                                                      5
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                                                                          Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

  Abbildung 2: Entwicklung der Lohnsumme und der GRV–Ausgaben (Index 1960 = 100)

                                                                        800
                                                            1960=100)
                                                               =100)

                                                                        700
                                                  (real,
                                           Lohnsumme     1960)
                                                     (real,

                                                                        600
                                        Lohnsumme

                                                                        500
                                    derder
                       Ausgaben undund

                                                                        400
                     GRV-Ausgaben

                                                                        300
                  GRV

                                                                        200
              derder
    Entwicklung
   Etwicklung

                                                                        100

                                                                         0
                                                                              1960   1965   1970   1975   1980   1985       1990    1995    2000   2005   2010   2015

                                                                                                          Lohnsumme          Ausgaben der GRV

 Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), 1994: Sozialbericht 1993, Bonn; Bundesministerium für Arbeit und
         Sozialordnung (Hrsg.), 1998: Sozialbericht 1997, Bonn; Statistisches Bundesamt, VGR des Bundes; Deutsche Rentenversicherung,
         Rentenversicherung in Zeitreihen, https://statistik-rente.de/drv/.

3. Maßnahmen zur Stabilisierung des
   Rentensystems

Die Politik kann die Probleme in der Gesetzlichen                                                                        die Politik unterstützend eingreifen. Wenn wie
Rentenversicherung durchaus strukturell durch                                                                            in den letzten Jahrzehnten die Frauenerwerbs-
eine Reihe von Maßnahmen beeinflussen. Die                                                                               quote steigt, erhöht dies bei gegebener Bevölke-
Kosten dieser Maßnahmen treffen unterschied-                                                                             rung im erwerbsfähigen Alter die Zahl der Bei-
liche Bevölkerungsgruppen; auch für wie lange                                                                            tragszahler. Eine wichtige Stellschraube ist auch
diese Maßnahmen die Probleme der Rentenversi-                                                                            die Erwerbstätigenquote. In einer Welt, in der alle
cherung lösen, ist durchaus unterschiedlich.                                                                             Personen im erwerbsfähigen Alter einen Arbeits-
                                                                                                                         platz haben, steht bei einem bestimmten Renten-
Eine ganze Reihe von – in der Wissenschaft                                                                               beitragssatz für die Kohorte der Alten ein dop-
und Politik oft diskutierten – Maßnahmen                                                                                 pelt so großer Betrag zur Verfügung wie in einer
betrifft die Erhöhung der Zahl der Beitragszah-                                                                          Welt, in der wegen hoher Arbeitslosigkeit oder aus
ler [siehe z. B. Werding (2013)]. Dies geschieht                                                                         anderen Gründen nur die Hälfte der Erwerbsfähi-
zum Teil gleichsam automatisch, zum Teil kann                                                                            gen einer Beschäftigung nachgeht. Schlussendlich

                                                                                                                        6
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                                         Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

spielt natürlich die Struktur der Beschäftigten                                           hier kaum noch Potential für nennenswerte Ein-
eine große Rolle. Wenn sich die Beschäftigung                                             nahmensteigerungen der Rentenversicherung zu
zulasten der Selbständigen oder Beamten hin zu                                            erwarten sind. Auch ist die Frauenerwerbsquote
sozialversicherungspflichtigen Anstellungen ver-                                          in Deutschland im internationalen Vergleich
schiebt, steigen die Einzahlungen ins Rentensys-                                          bereits sehr hoch (siehe Abbildung 3a), so dass
tem. Auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt                                                 auch hier wenig Spielraum für Einnahmensteige-
führt zu zusätzlichen Beitragszahlern.                                                    rungen besteht. Allerdings sind die Arbeitsstun-
                                                                                          den von verheirateten Frauen im Durchschnitt
Das Potential zusätzlicher Rentenbeiträge ist bei                                         in Deutschland niedrig, deshalb besteht hier ein
diesen Stellschrauben sehr unterschiedlich. Die                                           gewisses Potential für zusätzliche Rentenbeiträge
Arbeitslosigkeit insbesondere bei qualifizierten                                          [Bick et al. 2019].
Arbeitskräften konnte in den letzten 15 Jahren in
Deutschland erheblich abgebaut werden, so dass

  Abbildung 3a: Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen

                                              80

                                              70
   Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen

                                              60

                                              50

                                              40

                                              30

                                              20
                                                1984   1988        1992   1996        2000         2004        2008       2012       2016

                                                              DE     US   BE     ES           FR          IT   NL       UK

 Quelle: eigene Berechnungen basierend auf Bick et al. (2019); Daten aus EU-Labor Force Survey und US Current Population Survey.

                                                                                      7
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                                                Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

  Abbildung 3b: Arbeitsstunden pro erwerbstätiger verheirateter Frau

                                                         1800
  Arbeitsstunden pro erwerbstätiger verheirateter Frau

                                                         1600

                                                         1400

                                                         1200

                                                         1000

                                                         800
                                                            1984   1988   1992    1996        2000        2004       2008        2012        2016

                                                                     DE   US     BE      ES          FR     IT       NL        UK

 Quelle: eigene Berechnungen basierend auf Bick et al. (2019); Daten aus EU-Labor Force Survey und US Current Population Survey.

Erhöhte Zuwanderung kann ebenfalls die Zahl                                                    Seit den Anfängen der GRV erfolgte in vielen Etap-
der Beitragszahler vergrößern, wenn die Zuwan-                                                 pen eine stetige Ausweitung des Kreises der Ver-
derung in den Arbeitsmarkt erfolgt. Eine voll-                                                 sicherten. Heute werden gut 38 Mio. Personen als
ständige Kompensation der Alterung der heimi-                                                  aktiv Versicherte von der GRV erfasst. Nur wenige
schen Bevölkerung durch Zuwanderung dürfte                                                     Gruppen von Erwerbstätigen sind von der GRV
jedoch unrealistisch sein. Börsch-Supan (2000,                                                 befreit. In Politik und Medien wird oft die Ein-
F39) hat darauf hingewiesen, dass dafür eine jähr-                                             beziehung dieser, bisher nicht pflichtversicherter
liche Zuwanderung von 800.000 Arbeitskräften                                                   Personen gefordert. Die größte Gruppe der von der
(und deren Integration in den Arbeitsmarkt) von-                                               GRV befreiten Personen sind die Selbständigen.
nöten wäre. Auch eine Zuwanderung von 200.000                                                  Allerdings ist ein Teil der Selbständigen bereits
bis 300.000 Arbeitskräften, wie sie Deutschland im                                             obligatorisch in der GRV; ein weiterer Teil ist ver-
langfristigen Durchschnitt erfahren hat, bremst                                                pflichtend in anderen Systemen wie den berufs-
den Belastungsanstieg in der Rentenversicherung.                                               ständischen Versorgungswerken versichert. Buslei
Allerdings sehen sich auch viele der traditionel-                                              und Peters (2016) schätzen das Potential derjeni-
len Herkunftsländer der Zuwanderer in den deut-                                                gen Selbständigen, die zusätzlich in die GRV ein-
schen Arbeitsmarkt in Zukunft mit ähnlichen                                                    bezogen werden könnten, auf 2,3 Mio. Personen,
demografischen Herausforderungen konfrontiert                                                  womit der Beitragssatz in der mittleren Frist der
wie Deutschland.                                                                               nächsten zwei Jahrzehnte um etwas weniger als

                                                                                              8
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                     Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

einen Prozentpunkt sinken würde. Darüber hin-                          einmaligen temporären Schocks in der Demogra-
aus gibt es noch rund 2 Mio. Beamte, die aber                          fie und daraus resultierender vorübergehender
bereits in die Versorgungssysteme des Bundes und                       Finanzierungslasten geht. Eine nachhaltige Stabi-
der Länder, also in zur GRV vergleichbaren Umla-                       lisierung des umlagefinanzierten Rentensystems
gesystemen, eingebunden sind.6                                         ist daher alleine mit diesen Maßnahmen kaum
                                                                       sicherzustellen.
Die langfristigen Finanzierungspotentiale aus der
Einbeziehung noch nicht erfasster Erwerbstätiger                       In der wirtschaftswissenschaftlichen Fachdiskus-
sind also sehr begrenzt.7 Zu beachten ist, dass all                    sion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass
die oben genannten Ausweitungen des Beitrags-                          sich die strukturelle Herausforderung gestiege-
zahlerkreises nur einen Einmal-Effekt auslösen.                        ner Lebenserwartungen am besten durch eine
Sie versprechen zwar zunächst mehr Beitragszah-                        langfristige, möglichst regelgebundene Erhö-
ler im Verhältnis zu der bestehenden Anzahl von                        hung des gesetzlichen Rentenalters bewältigen
rentenbezugsberechtigten Personen und entlasten                        lässt [Börsch-Supan (2007), Deutsche Bundes-
damit das System in der Ausweitungsphase. Eine                         bank (2019), Ehrentraut und Moog (2016), OECD
größere Zahl an Beitragszahlern führt aber in der                      (2011), Sachverständigenrat zur Begutachtung der
Zukunft auch zu einer größeren Zahl von renten-                        gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011, 2016),
anspruchsberechtigten Personen. Die Erhöhung                           Werding (2018)]. Wie Abbildung 4 zeigt, ist die fer-
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten                         nere Lebenserwartung kontinuierlich angestie-
gleicht einer einmaligen Ausweitung des Systems                        gen. Alle 10 Jahre erhöht sich die fernere Lebens-
und leistet das, was man als Gewinn von der erst-                      erwartung um ein weiteres Jahr und dieser Trend
maligen Einführung eines umlagefinanzierten                            wird vermutlich bis auf weiteres anhalten [Vaupel
Rentenversicherungssystems kennt. Die Gewinne                          und von Kistowski (2005)].
einer Ausweitung können sich die im Auswei-
tungszeitpunkt lebenden Generationen teilen. Sie
können bei gegebenen Renten entweder die Bei-
tragssätze senken oder bei gleichen Beitragssätzen
die Renten erhöhen oder die Vorteile auf Erwerbs-
und Rentnergeneration aufteilen.

Angesichts der demografischen Unwucht, die
durch die geburtenstarken Jahrgänge auf der
einen und den darauffolgenden Fertilitätsrück-
gang der Bevölkerung auf der anderen Seite ent-
standen ist, können Einmaleffekte durch eine
Ausweitung der sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigung in den Jahren ab 2025 wün-
schenswert sein. Wie Abbildung 1 gezeigt hat, ist
der Anstieg des Altenquotienten jedoch kontinu-
ierlich, so dass es nicht um den intertemporalen
Ausgleich kurzfristiger Schwankungen oder eines

6   Österreich hat ab 1.1.2005 die verschiedenen
    Pensionssysteme – inklusive der Beamtenpensionen mit
    langen Übergangsfristen bis 2040 – vereinheitlicht [European
    Commission (oJ)].
7 Weitere Aspekte zur Ausweitung des Versichertenkreises
  finden sich in Gasche und Rausch (2013).

                                                                   9
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                                                                                              Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

     Abbildung 4: Fernere Lebenserwartung im Alter 65

                                    25

                                    20
      Lebenserwartung im Alter 65

                                    15

                                    10

                                    5

                                    0
                                         1958
                                                1960
                                                       1962
                                                              1964
                                                                     1966
                                                                            1968
                                                                                   1970
                                                                                          1972
                                                                                                 1974
                                                                                                        1976
                                                                                                               1978
                                                                                                                      1980
                                                                                                                             1982
                                                                                                                                    1984
                                                                                                                                           1986
                                                                                                                                                  1988
                                                                                                                                                         1990
                                                                                                                                                                1992
                                                                                                                                                                       1994
                                                                                                                                                                              1996
                                                                                                                                                                                     1998
                                                                                                                                                                                            2000
                                                                                                                                                                                                   2002
                                                                                                                                                                                                          2004
                                                                                                                                                                                                                 2006
                                                                                                                                                                                                                        2008
                                                                                                                                                                                                                               2010
                                                                                                                                                                                                                                      2012
                                                                                                                                                                                                                                             2014
                                                                                           Westdeutschland - weiblich                                              Ostdeutschland - weiblich
                                                                                           Westdeutschland - männlich                                              Ostdeutschland - männlich

    Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Fernere Lebenserwartung im Alter 65 in West- und Ostdeutschland,
            https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/S37-Lebenserwartung-Alter-65-Geschlecht-West-Ost-ab-1958.html.

Eine Regelbindung, die das Rentenniveau und die                                                                                              um ein Jahr nach hinten verschoben werden. 9 Da
Beitragssätze nachhaltig stabilisiert, könnte darin                                                                                          die Lebenserwartung schneller steigt, als das Ren-
bestehen, die Jahre zusätzlicher Lebenserwartung                                                                                             teneintrittsalter erhöht wird, würde eine solche
auf die Erwerbsphase und die Rentenphase aufzu-                                                                                              Regel den Bürgern steigende Rentenbezugszei-
teilen.8 So könnten beispielsweise 3 Jahre zusätz-                                                                                           ten erlauben, ohne die Finanzierbarkeit der Rente
licher Lebenserwartung in zwei zusätzliche Jahre                                                                                             zu gefährden. Damit die Rentenversicherten sich
der Erwerbstätigkeit und ein zusätzliches Renten-                                                                                            in ihren Lebensplanungen darauf einstellen kön-
jahr aufgeteilt werden [Börsch-Supan (2007), OECD                                                                                            nen, sollte die graduelle Verschiebung des Rente-
(2011), Wissenschaftlicher Beirat beim Bundes-                                                                                               neintrittsalters mit langer Vorlaufzeit festgelegt
ministerium für Wirtschaft und Energie (2016)].                                                                                              werden.
Damit müsste rund alle 15 Jahre der Renteneintritt

8     Die Pensionssysteme der Beamten des Bundes und der Länder                                                                              9     Der Vorschlag der Deutschen Bundesbank (2019) sieht vor,
      sind wie die GRV umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme.                                                                                  das Renteneintrittsalter so anzupassen, dass die Relation von
      Sie stehen zwar nicht im Zentrum der Stellungnahme. Viele                                                                                    Beitragszeiten zu Rentenbezugszeiten in etwa konstant bleibt.
      der Überlegungen, auch die Überlegungen zur Anpassung der                                                                                    Pro Jahr würde das Renteneintrittsalter um einen dreiviertel
      Lebensarbeitszeit, gelten indes analog für diese Systeme.                                                                                    Monat erhöht – nach 16 Jahren also um ein Jahr.

                                                                                                                                       10
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                        Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

Abbildung 5 gibt einen Eindruck von der Stabi-                        Rentenempfängern zu Beitragszahlern in etwa
lisierungswirkung eines solchen regelgebunden                         stabilisiert (0,5 statt 0,57). Würde nach der voll-
Renteneintrittsalters. Die Kurven zeigen die Rela-                    ständigen Einführung der Rente mit 67 (nach dem
tion der Bevölkerungszahl im Rentenalter zur                          Jahr 2031) der Renteneintritt an die Lebenserwar-
Bevölkerungszahl im Erwerbsalter. Die oberste                         tung gemäß der obigen Regel geknüpft, ergäbe
Kurve zeigt den Altersquotienten für ein Renten-                      sich die untere (gepunktete) Linie. Das Renten-
eintrittsalter von 65 Jahren – entspricht also der                    eintrittsalter würde dann graduell bis 2061 auf 69
oberen, durchgezogenen Kurve in Abbildung 1.                          Jahre ansteigen. Die Relation von Rentenempfän-
Die mittlere gestrichelte Kurve spiegelt die Rela-                    gern und Beitragszahlern ließe sich damit in etwa
tion für die Rente mit 67 wider, die seit dem Jahr                    auf dem Niveau des Jahres 2035 stabilisieren. Auf
2012 (Geburtsjahrgang 1947) schrittweise bis zum                      100 Personen im Erwerbsleben kämen dann rund
Jahr 2030 erreicht wird. Durch die Erhöhung des                       43 Personen im Rentenalter.
Renteneintrittsalters wird das Verhältnis von

  Abbildung 5: Relation der Bevölkerungszahl im Rentenalter zur Bevölkerungszahl im Erwerbsalter
               bei alternativen Regelaltersgrenzen

 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fortschreibung des Bevölkerungsstandes und 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung,
         Variante G2L2W2.

                                                                   11
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems                  Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

Der Anteil der 65- bis 70-jährigen, die sich als                 Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass mit
gesund bezeichnen, ist hoch und im Zeitablauf                    der Erhöhung des Renteneintrittsalters, das regel-
angestiegen; während dieser Anteil 1999 noch bei                 gebunden an die Lebenserwartung gekoppelt wird
82 % lag, war er 2017 bei 85 % (http://www.gbe-                  (z. B. mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters
bund.de/ auf Basis des Mikrozensus). Mit dem                     um zwei Jahre bei Steigerung der ferneren Lebens-
Anstieg der Lebenserwartung dürfte tendenziell                   erwartung um drei Jahre), ein Vorschlag vorliegt,
auch ein Anstieg der Jahre bei guter Gesundheit                  mit dem sich im deutschen Rentensystem sowohl
einhergehen, so dass die Mehrheit der Rentenversi-               der Beitragssatz als auch das Rentenniveau lang-
cherten einerseits eine moderate Verlängerung der                fristig annähernd konstant halten lassen.11 Daher
Lebensarbeitszeit schultern und andererseits die                 stellt sich die Frage, warum von Seiten der Poli-
längere Rentenzeit bei guter Gesundheit genießen                 tik – nahezu quer durch das politische Spektrum
kann.10 Eine neue, weltweite Studie für 195 Länder               – eine solche Regelbindung abgelehnt wird und
zeigt, dass auch in Deutschland die Lebenserwar-                 sogar die bereits beschlossene Erhöhung des Ren-
tung bei guter Gesundheit über die Zeit zugenom-                 teneintrittsalters auf 67 Jahre partiell zurückge-
men hat [GBD 2017 DALYs and HALE Collabora-                      nommen wurde.
tors (2018)]. Während im Jahr 1990 eine 65-jährige
Frau im Mittel noch 13,3 gesunde Lebensjahre vor
sich hatte und ein 65-jähriger Mann 10,7 Jahre,
waren diese gesunden Lebensjahre im Jahr 2017
auf 15,5 und 13,4 angewachsen. Vereinzelt gibt es
jedoch auch Studien, die keine deutliche Verlänge-
rung der Lebenserwartung bei guter Gesundheit
finden; siehe z. B. Mergenthaler (2011). Will man
diesem Aspekt Rechnung tragen, dann ist inner-
halb der hier vorgeschlagenen Regelbindung auch
auf die Lebenserwartung bei guter Gesundheit
abzustellen.

                                                                 11    Die oft geäußerte Befürchtung, dass sich längere
                                                                      Lebensarbeitszeiten negativ auf die Beschäftigungschancen
                                                                      Jüngerer auswirken, lässt sich weder theoretisch noch
10 Technischer Fortschritt erhöht nicht nur die                       empirisch plausibel stützen. Angesichts der steigenden
   Lebenserwartung, sondern steigert auch Wohlbefinden                Knappheit qualifizierter Arbeitskräfte gibt es erst recht keinen
   und Lebensqualität im Alter (bspw. Eberhardt et al. 2010,          Grund, ältere Arbeitnehmer frühzeitig aus dem Arbeitsmarkt
   Fachinger et al. 2014).                                            zu drängen.

                                                               12
Zur politischen Ökonomie langfristig tragfähiger Rentenreformen    Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

4. Zur politischen Ökonomie langfristig
   tragfähiger Rentenreformen

Die Entscheidung für eine umlagefinanzierte Ren-                    Literaturbeiträgen wurde der polit-ökonomische
tenversicherung nach dem 2. Weltkrieg war mehr                      Zusammenhang zwischen Demografie und Ren-
oder weniger zwingend und demografisch gese-                        tenpolitik untersucht. Das Zahlenverhältnis zwi-
hen für viele Jahre unproblematisch. Spätestens                     schen Erwerbstätigen und Rentenempfängern
seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts                   spiegelt sich im Zahlenverhältnis der jungen und
zeichnete sich aber als Folge des starken Gebur-                    alten Wähler wider. Da demokratische Entschei-
tenrückgangs im Anschluss an die Babyboo-                           dungen mit Mehrheit getroffen werden, verschie-
mer-Generation sehr deutlich ein demografisches                     ben sich bei zunehmender Alterung der Gesell-
Problem in der Rentenversicherung ab. Darauf                        schaft die Stimmengewichte zunehmend von den
wurde von wissenschaftlicher Seite früh hinge-                      Beitragszahlern zu den Rentnern. Es wächst der
wiesen [siehe z. B. Berthold und Roppel (1984), Jae-                Anteil jener Wähler, die von einer Ausweitung des
ger (1987), Janssen und Müller (1981)]. Auch in der                 Rentensystems, sei es durch höhere Renten oder
Politik gab es verschiedene Versuche, die Ren-                      durch frühere Renteneintritte, unmittelbar pro-
tenformel demografiefest zu machen. Insbeson-                       fitiert, zulasten des Anteils jener Wähler, die in
dere wurde die Rentenformel so angepasst, dass                      den Folgejahren finanziell unter der Systemaus-
sich die wachsende Lebenserwartung dämpfend                         weitung leiden. Da mit zunehmender Alterung
auf die Rentenniveaus auswirkt. Lösen konnte                        auch der Anteil der Rentnerinnen und Rentner in
diese Anpassung der Rentenformel das Problem                        der Wählerschaft wächst, ist auch ein gegenläufi-
aber nicht, da sie bei konsequenter Anwendung                       ger Effekt möglich, der eine polit-ökonomisch sta-
zu einem sozialpolitisch nicht tolerablen Absin-                    bilisierende Wirkung auf das Rentensystem hat.
ken des Rentenniveaus führen würde. Lediglich                       Personen, die sich bereits im Ruhestand befin-
einmal wurde mit dem RV-Altersgrenzenanpas-                         den, haben ein starkes Interesse an einer stabilen
sungsgesetz von 2007 und der „Rente mit 67“ eine                    Finanzierung ihrer Renten und könnten deshalb
Anpassung der Lebensarbeitszeit an die gestie-                      die Forderung nach Erhöhung des gesetzlichen
gene Lebenserwartung vorgenommen. Allerdings                        Rentenalters unterstützen.12
wurde diese Regelung mit nachfolgenden Politik-
maßnahmen wie der abschlagsfreien Rente mit 63                      Generell gilt, dass politische Mehrheitsentschei-
wieder aufgeweicht. Zudem berücksichtigt die ein-                   dungen über das Rentensystem von der Frage
malige Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht                     abhängen, ob solche Entscheidungen eine dau-
die künftigen Steigerungen der Lebenserwartung                      erhafte Bindungswirkung auf viele Jahrzehnte
und der Gesundheit im Alter. Diese Maßnahme                         haben, oder ob künftige Mehrheiten solche Ent-
und ihre partielle Rücknahme waren überdies dis-                    scheidungen jederzeit einfach verändern können.
kretionär und nicht regelgebunden.                                  In einer Abstimmung über eine sehr dauerhafte
                                                                    Erhöhung der Lebensarbeitszeit mag ein Beitrags-
Die Geschichte der Rentenreformen zeigt: Die                        zahler in der zweiten Hälfte seines Erwerbslebens
Rentenpolitik ist anfällig gegenüber Vorschlä-                      beispielsweise für eine Verlängerung der Lebens-
gen, die in der Gegenwart einzelnen, gewichti-                      arbeitszeit votieren. Wenn die Lebensarbeitszeit
gen Wählergruppen zusätzliche Rentenleistun-
gen versprechen, aber mit großen zusätzlichen                       12    Siehe Bittschi und Wigger (2019) für entsprechende
Lasten in der Zukunft verbunden sind. In vielen                          empirische Evidenz.

                                                                  13
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt      Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

aber innerhalb weniger Jahre immer wieder auf           der Suche nach Stimmenmehrheiten sind, können
dem politischen Prüfstand steht, mag dieser Bei-        diese polit-ökonomischen Zusammenhänge nicht
tragszahler aus Eigeninteresse gegen eine Verlän-       ignorieren. Parteien, die sich für eine Rentenpo-
gerung der Lebensarbeitszeit stimmen, wenn er           litik einsetzen, die den Interessen einer Mehrheit
fürchten muss, dass diese Maßnahme nach seinem          widerspricht, verspielen leicht ihre Chance auf ein
Eintritt in den Ruhestand für nachfolgende Gene-        politisches Mandat. Dieser Zusammenhang zwi-
rationen wieder zurückgenommen wird, bzw.               schen Demografie und mehrheitsfähigen Vor-
diese Reform von Generation zu Generation in die        schlägen in der Rentenpolitik macht Reformen für
Zukunft verschoben wird. Die politischen Mehr-          ein nachhaltiges Rentensystem schwierig. Umso
heiten in der Rentenpolitik hängen deshalb stark        mehr stellt sich die Frage, welche stabilisierenden
von der Frage der Bindungswirkung von Entschei-         Reformen der Rentenversicherung in einer altern-
dungen in der Rentenpolitik ab. Parteien, die auf       den Gesellschaft Aussicht auf Erfolg haben.

5. Grenzen der Finanzierung durch den
   Bundeshaushalt

Um die Dimension der Rentenlasten aufzuzeigen,          Und auch die Kranken- und Pflegeversiche-
empfiehlt sich der Vergleich der Rentenausgaben         rung erfordert steigende Finanzierungsmit-
von ca. 308 Mrd. Euro mit den Ausgaben des Bun-         tel. Angesichts der Zunahme der Zahl der Alten,
des von ca. 273,5 Mrd. Euro, die verbleiben, wenn       der wachsenden Lebenserwartungen und des
man die Bundeszuschüsse an die GRV herausge-            möglicherweise damit verbundenen Anstiegs
rechnet hat [BMF (2019)]. Schon dieser einfache         der Lebensjahre mit Pflegebedarf zeichnen sich
Zahlenvergleich macht deutlich, dass einer Aus-         höhere Finanzierungslasten ab. Weitere mögli-
dehnung der Rentenfinanzierung zu Lasten des            che Belastungen entstehen aus den Fortschrit-
Bundeshaushalts enge Grenzen gesetzt sind.              ten in der Medizin. Die technischen Möglichkei-
                                                        ten medizinischer Eingriffe wachsen stetig weiter.
Verschiedene andere Entwicklungen tragen ver-           Diese im Grunde erfreuliche Entwicklung führt
mutlich dazu bei, die für eine Stabilisierung der       zu wachsenden Gesundheitsausgaben.
GRV verfügbaren Steuermittel einzuschränken.
Die Energiewende stellt die deutsche Volkswirt-         All diese Entwicklungen verschärfen indirekt
schaft vor gewaltige Herausforderungen. Der-            auch die Finanzierungsprobleme der GRV, die
zeitige Stärken der heimischen Wirtschaft, etwa         aus der demografischen Entwicklung resultie-
das ingenieurwissenschaftliche und fertigungs-          ren. Sie schränken den Spielraum für eine stärker
technische Know-how für Verbrennungsmo-                 durch Bundeszuschüsse finanzierte GRV ein. Eine
toren könnten an Bedeutung verlieren. Ob bei-           Lösung durch eine zusätzliche Belastung des Fak-
spielsweise die heimische Automobilbranche ihre         tors Arbeit mit höheren Lohn-, Einkommen- oder
Wettbewerbsvorteile in der transformierten Mobi-        Umsatzsteuern ist auch aus anderen Gründen kein
litätswelt behalten kann, ist unklar. Die Transfor-     Ausweg. Denn sie ändert nichts an der steigenden
mationsprozesse in der Industrie, bei der Infra-        Belastung der Erwerbsarbeit.13
struktur und im Energiesektor dürften erhebliche
staatliche Finanzierungsmittel binden.                  13    Zur Besteuerung von Vermögenswerten über eine
                                                             Vermögensteuer oder eine Erbschaftsteuer siehe
                                                             Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2012, 2013).

                                                      14
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt                        Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

Diese Überlegungen mögen auch auf der Basis                                  über angemessene Verlängerungen der Lebensar-
einer auf volkswirtschaftliche Aggregate abge-                               beitszeit erleichtert wird.
stellten Betrachtung nicht überraschen. Nachhal-
tige Besteuerung muss letztlich an Wertschöpfung                             Eine drastische Maßnahme bestünde darin, den
anknüpfen und lenkt einen Teil dieser Wertschöp-                             Problemen einer auf die kurze Frist zielenden
fung in den öffentlichen Sektor. Diese Wertschöp-                            Rentenpolitik und des wachsenden Stimmge-
fung ist auch in einer modernen Volkswirtschaft                              wichts der Älteren durch eine geeignete Grund-
zum überwiegenden Teil Arbeitseinkommen.                                     gesetzreform zu begegnen, indem man sämtliche
Eine verstärkte Einbeziehung von Kapitalein-                                 rentenpolitischen Gesetze an qualifizierte Mehr-
kommen in die Finanzierung der Renten stößt                                  heiten knüpft, etwa die Zweitdrittel-Mehrheit, die
in einer international arbeitsteiligen und offenen                           für Verfassungsänderungen erforderlich ist.15 Ent-
Volkswirtschaft an enge Grenzen. Die Ströme des                              sprechende Festlegungen werden in der wissen-
Kapitals orientieren sich an Renditen nach Steu-                             schaftlichen Literatur seit langem als Mittel zur
ern und Abgaben, so dass zusätzliche Belastungen                             Selbstbindung auf eine nachhaltige Rentenpoli-
Gewinnverlagerungen oder internationale Bewe-                                tik diskutiert [Azariadis und Galasso (1998)]. Ob
gungen des Produktionskapitals auslösen. In einer                            sich indes qualifizierte Mehrheiten für eine solche
offenen Volkswirtschaft belastet die Besteuerung                             Selbstbindung der Politik finden lassen ist zwei-
von Kapitaleinkommen in ihrer Inzidenzwir-                                   felhaft.16 Zudem wäre es ein verfassungsrechtli-
kung deshalb zu großen Teilen wieder den Faktor                              cher Systembruch, speziell in der Rentenpolitik
Arbeit. Insofern wird auch in Zukunft ein Großteil                           für jede Gesetzgebung mit verfassungsändern-
der Finanzierungslast der Rentenversicherung auf                             den qualifizierten Mehrheiten arbeiten zu müssen.
den Faktor Arbeit entfallen.                                                 Ein verfassungspolitisches Gegenargument gegen
                                                                             die Forderung nach verfassungsändernden qua-
Angesichts des beschleunigten demografischen                                 lifizierten Mehrheiten bei politischen Entschei-
Wandels in den nächsten zwei Jahrzehnten, wenn                               dungen generell ist der Verlust an demokratischer
die Babyboomer-Generation in Rente geht, besteht                             Entscheidungsmacht im normalen politischen
die Gefahr, dass bei diesem großen Umbruch eine                              Prozess.
stärkere Umfinanzierung über Bundeszuschüsse
erfolgt. Wie oben gezeigt wird, sind die zusätzli-                           Ein anderer, weitreichender Lösungsansatz
chen Belastungen, die dem Faktor Arbeit aufge-                               könnte darin bestehen, einer strikten Trennung
bürdet werden können, jedoch begrenzt.14 Lang-                               der Gesetzlichen Rentenversicherung und ihrer
fristig wird kein Weg an einer Verlängerung der                              Finanzierung vom allgemeinen Bundeshaushalt
Lebensarbeitszeit vorbeiführen. Daher stellt sich                            Verfassungsrang zu geben, also eine Art „Hemm-
die Frage, mit welchen institutionellen Regeln sich                          schuh“ hinsichtlich der Finanzierung zwischen
der politische Anreiz vermindern lässt, einzelnen                            Bundeshaushalt und Rentenversicherungshaus-
Gruppen – auf Dauer teure – zusätzliche Renten-                              halt zu installieren.17 Das verfassungspolitische
leistungen wie die Mütterente, die Rente mit 63                              Argument für eine solche Trennung könnte sein,
oder die Grundrente zukommen zu lassen, ohne
zugleich die langfristige Finanzierung sicherzu-
stellen. Gleichzeitig sollte die institutionelle Aus-                        15    Je höher das Quorum, desto eher werden Parteien bzw.
                                                                                  Abgeordnete, die die Interessen der jüngeren Wähler
gestaltung dafür sorgen, dass der politische Weg
                                                                                  vertreten, über eine Vetomacht verfügen.
                                                                             16    Zum Zeitfenster mit Mehrheiten für umfassende
                                                                                  Rentenreformen siehe Sinn und Übelmesser (2000).
                                                                             17    Um Brüche zu vermeiden, könnten die bisherigen
14    Dasselbe gilt, wenn die zusätzlichen Mittel über ständig                    Bundeszuschüsse, deren Einführung oder Erhöhung in der
     steigende Beitragssätze erbracht werden. Allerdings hat sich                 Vergangenheit meist mit „versicherungsfremden Leistungen“
     hier die Politik, z. B. mit der Haltelinie für den Beitragssatz,             begründet wurden, regelgebunden (z. B. mit der Inflationsrate)
     bereits selbst Belastungsgrenzen vorgegeben.                                 fortgeschrieben werden.

                                                                        15
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt                    Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

dass die Langfristperspektive in der Rentenversi-                     wird die Höhe der monatlichen Pension für jede
cherung mit der Langfristperspektive der Verfas-                      Kohorte in Abhängigkeit der Lebenserwartung
sung – in Abgrenzung zum normalen Gesetzes-                           ein Jahr vor dem frühestmöglichen Renteneintritt
recht – korrespondiert. Zudem würden, anders                          festgelegt. 21
als bei dem Vorschlag der qualifizierten Mehrheit,
nicht alle rentenpolitischen Entscheidungen nor-                      Da die Ermittlung der statistischen Lebenserwar-
malen politischen Mehrheiten entzogen. Nur die                        tung dem direkten Einfluss politischer Gremien
grundsätzliche Finanzierung wäre den einfachen                        entzogen ist, sollte es auch schwerer als bisher
Mehrheiten entzogen. Wenn der Weg einer kurz-                         möglich sein, die Regelbindung politisch zu unter-
fristigen Finanzierung über den Bundeshaushalt                        laufen. Dazu müsste entweder eine offene Regel-
versperrt ist, sollten sich auch leichter politische                  verletzung begangen oder das Gremium, das die
Mehrheiten finden, die einer regelgebundenen,                         Verschiebung des Renteneintrittsalters in Abhän-
sehr langfristigen Anpassung der Lebensarbeits-                       gigkeit der berechneten Lebenserwartung festlegt,
zeit den Vorzug geben.18                                              in illegitimer Weise politisch beeinflusst werden.

Ein weniger weitreichender Eingriff, der eben-
falls verhindern könnte, dass der Bundeshaushalt
zu umfangreich zur Rentenfinanzierung heran-
gezogen wird, wäre eine Regelbindung beim Ren-
teneintrittsalter, wie sie auch in anderen Ländern
schon existiert. So wird beispielsweise in den Nie-
derlanden das Renteneintrittsalter in den nächs-
ten Jahren auf 67 Jahre angehoben und soll ab 2025
mit der Lebenserwartung jeder Kohorte verknüpft
sein.19 In Dänemark galt für die Kohorten bis
zum Geburtsjahr 1953 eine Regelaltersgrenze von
65 Jahren; für die 1963 geborene Kohorte gilt dage-
gen bereits ein Renteneintrittsalter von 68 Jahren.
In Abhängigkeit von der Lebenserwartung soll
das Renteneintrittsalter in Zukunft vom Parla-
ment für jede Kohorte jeweils 15 Jahre vor deren
Renteneintritt festgelegt werden.20 Norwegen
hat seit 2011 zwar ein flexibles Renteneintrittsal-
ter zwischen 62 und 75 Jahren mit versicherungs-
mathematisch fairen Zu- und Abschlägen, jedoch

18    Es ist durchaus möglich, dass die Politik unter
     wachsendem finanziellem Druck auch andere Reformen
     als längere Lebensarbeitszeit beschließt, beispielsweise
     eine Umverteilung zu Lasten der Bezieher höherer und
     zu Gunsten der Bezieher niedrigerer Renten. Das hätte
     den Nachteil, die Teilhabeäquivalenz zu untergraben und
     Arbeitsangebotsanreize zu verschlechtern [Wissenschaftlicher
     Beirat beim BMF (2004)]. Aber eine solche Reform könnte
     nicht immer größere Teile des Bundesetats binden.
19    Siehe https://www.svb.nl/int/en/aow/wat_is_de_aow/
     wanneer_aow/index.jsp.
20    Siehe https://lifeindenmark.borger.dk/Living-in-Denmark/        21    Siehe https://www.oecd.org/els/public-pensions/PAG2017-
     Pension/ATP-Livslang-Pension.                                         country-profile-Norway.pdf.

                                                                    16
Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen                       Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

6. Erhöhung der Akzeptanz notwendiger
   Reformen

Auch wenn die Umfinanzierung über den Bun-                            nicht substantiell niedriger als nach dem Renten-
deshaushalt erschwert ist und auch wenn die                           eintritt [Merz (2018)].23
Anpassungen der Lebensarbeitszeit nur in lang-
fristigen, kleinen Schritten erfolgt, so dass aktu-                   Neuere Studien betonen weiterhin, dass Gesund-
elle Wählergenerationen kaum betroffen sind, so                       heit und Arbeitsfähigkeit beeinflussbare Grö-
hat die Anhebung des Renteneintrittsalters auf                        ßen sind, die durch Gesundheitsinvestitionen
67 Jahre gezeigt, dass es großer Überzeugungs-                        von Arbeitnehmern (bspw. sportliche Aktivi-
arbeit bedarf, um die Akzeptanz für solche Maß-                       tät und gesunde Ernährung) und Arbeitgebern
nahmen zu gewährleisten. Im Vordergrund steht                         (bspw. Weiterbildungen für ältere Beschäftigte
dabei für viele Menschen die Verteilungsproble-                       und Anpassung des Tätigkeitsprofils an geänderte
matik, d. h. die Frage, ob eine Anhebung des Ren-                     körperliche und geistige Voraussetzungen) posi-
teneintrittsalters der gesamtgesellschaftlichen                       tiv beeinflusst werden können [siehe bspw. Bauer
Verteilungsgerechtigkeit dienlich ist.                                und Eichenberger (2018) und Converso et al. (2018)
                                                                      sowie die hier zitierte Literatur]. Bauer und Eichen-
Eine Sorge ist, dass Berufe nicht bis zum gesetz-                     berger (2018) präsentieren empirische Evidenz,
lichen Renteneintritt ausgeübt werden können.                         dass sich der Gesundheitszustand älterer Arbeit-
Studien zeigen allerdings, dass die Arbeitsfähig-                     nehmer bei Vorziehen des gesetzlichen Renten-
keit der meisten Menschen auch im Alter hoch                          eintritts signifikant verschlechtert (und damit im
bleibt [siehe beispielsweise Ilmarinen et al. (1997),                 Umkehrschluss erwartet werden kann, dass sich
Baltes et al. (1998), Gould et al. (2008), Ilmarinen                  Gesundheit und Arbeitsfähigkeit älterer Arbeit-
und Ilmarinen (2015)].22 Sinkenden körperlichen                       nehmer in Folge einer Anhebung des gesetzlichen
und geistigen Fähigkeiten steht ein Zuwachs an                        Renteneintrittsalters verbessert).
Erfahrungswissen gegenüber (siehe Thieme und
Dittrich 2015 und die hier zitierte Literatur). Die                   Wichtig ist allerdings zu betonen, dass Arbeitneh-
Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer in                           mer im Alter zunehmend heterogener werden. D. h.
Deutschland ist in den vergangenen Jahren zudem                       ältere Arbeitnehmer unterscheiden sich stärker
stark gestiegen [von 2008 bis 2018 in der Gruppe                      in Bezug auf ihre Gesundheit, Arbeitszufrieden-
der 60 bis 65 Jährigen um 21,8 Prozentpunkte auf                      heit und Arbeitsfähigkeit als jüngere Altersklas-
42,3 %, siehe Bundesagentur für Arbeit (2019)],                       sen [bspw. Ilmarinen und Ilmarinen (2015) und
und ältere Arbeitnehmer sind nicht häufiger von                       Thieme und Dittrich (2015)]. Vor allem Arbeit-
Arbeitslosigkeit betroffen als Beschäftigte anderer                   nehmer in physisch anspruchsvollen Berufen
Altersgruppen [Bundesagentur für Arbeit (2019)].                      sehen sich im Alter zunehmend gesundheitlichen
Studien zeigen zudem, dass ältere Arbeitnehmer
ein hohes Maß an Arbeits- und Lebenszufrieden-
heit aufweisen [Wunder et al. (2013)]; letztere liegt                 23    Zum Effekt von Renteneintritt auf Gesundheit und
                                                                           Sterbewahrscheinlichkeit finden sich in der Literatur
                                                                           heterogene Ergebnisse [siehe bspw. den Literaturüberblick
22 Arbeitsfähigkeit subsumiert dabei die physischen und                    in Eibisch (2015)]. Neuere Studien zeigen, dass sich das
   intellektuellen Ressourcen von Menschen, um den                         Gesundheitsverhalten von Individuen nach dem Renteneintritt
   physischen, kognitiven und emotionalen Anforderungen                    verbessert (bspw. eine längere Nachtruhe und mehr sportliche
   ihres Arbeitsplatzes zu begegnen [siehe bspw. Ilmarinen und             Betätigung) und hierdurch positive Gesundheitseffekte erzielt
   Ilmarinen (2015)].                                                      werden, siehe bspw. Eibisch (2015) und Insler (2014).

                                                                 17
Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen            Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen

Problemen gegenüber, die die Ausübung berufli-          Renteneintritte in den Branchen „Energieversor-
cher Tätigkeiten beeinträchtigen oder unmöglich         gung“, „Information und Kommunikation“ sowie
machen [bspw. Ilmarinen und Ilmarinen (2015),           „Erbringung von freiberuflichen, technischen und
Ravesteijn et al. (2013)].                              wissenschaftlichen Dienstleistungen“ auf. Beson-
                                                        ders häufig treten sie außer im „Baugewerbe“ auch
Auch eine weitere Flexibilisierung bei der Arbeits-     im „Gastgewerbe“ und im Verkehrsbereich auf. Die
zeit könnte die Akzeptanz späterer Rentenein-           hohen Werte bei der „Erbringung von sonstigen
tritte erhöhen. Viele Arbeitnehmer wollen gar           wirtschaftlichen Dienstleistungen“ resultieren im
nicht unbedingt abrupt von Vollzeitarbeit auf           Wesentlichen aus der Leiharbeit, den Wach- und
Rente wechseln. Sie wollen nur nicht mehr die           Sicherheitsdiensten und Call Centern.
gesamte Woche arbeiten oder auf wenige Wochen
Urlaub beschränkt sein. Sie bevorzugen vielmehr
einen graduellen Übergang in die Rente, der ihnen
die Möglichkeit gibt, einen oder zwei Tage in der
Woche auch für die Enkel Zeit zu haben oder
einige Wochen im Jahr mit dem Lebenspartner
oder der Lebenspartnerin verreisen zu können.
Für eine solche Flexibilisierung der Wochen- oder
Jahresarbeitszeit sind allerdings die Tarifpartner
viel mehr gefordert als der Gesetzgeber.

Momentan sorgt das Rentensystem dafür, dass
Arbeitgeber einen Teil der Kosten gesundheitsbe-
dingter, vorzeitiger Renteneintritte auf die Bei-
tragszahler der Rentenversicherung abwälzen
können, da die Abschläge früherer Renteneintritte
aus Sicht der Gesetzlichen Rentenversicherung
(„budgetorientierter Ansatz“) versicherungsma-
thematisch zu gering [Gasche (2012)] und bran-
chenunabhängig sind. Wenn sich verschiedene
Branchen systematisch beim Ausmaß von Früh-
verrentungen unterscheiden, aber die gleichen
Beitragssätze zahlen, entsteht innerhalb der Sozi-
alversicherung eine Umverteilung zwischen Bran-
chen. Branchen, in denen wegen der hohen kör-
perlichen Arbeitsbedingungen und des Zuschnitts
der Tätigkeiten Arbeitnehmer in einem jüngeren
Lebensalter an ihre physischen Grenzen gelan-
gen und aus dem Arbeitsleben ausscheiden, wer-
den so von anderen Branchen indirekt entlastet.
Abbildung 6 zeigt, in welchen Branchen Renten-
bezüge wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
über- bzw. unterdurchschnittlich häufig auftreten,
wobei Unterschiede in der Alters- und Geschlech-
terzusammensetzung berücksichtigt wurden.
Besonders selten treten die gesundheitsbedingten

                                                      18
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