Der schwierige Weg zu nach-haltigen Rentenreformen - Gutachten 02/2020
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Gutachten 02/2020 Der schwierige Weg zu nach- haltigen Rentenreformen
Der schwierige Weg zu nach- haltigen Rentenreformen Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen Gutachten 02/2020
Inhaltsverzeichnis 1. Einführung_____________________________________________________1 2. Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente____________________3 3. Nachhaltigkeit der Rente: Maßnahmen_________________________6 4. Zur politischen Ökonomie von langfristig tragfähigen Rentenreformen ______________________________________________13 5. Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt_________14 6. Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen______________17 7. Die Zukunft der GRV__________________________________________21 Literatur_________________________________________________________22 Verzeichnis der Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats_______26
Einführung Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen 1. Einführung Niedrige Geburtenraten, gestiegene Lebenser- auch weitergehende Reformen – z. B. Ausweitun- wartungen, durchbrochene Erwerbsbiographien gen der betrieblichen Alterssicherung oder neue und Veränderungen der Arbeitswelt durch Digi- Finanzierungsmodelle wie die Einrichtung einer talisierung und Globalisierung stellen die Gesetz- kapitalgedeckten Deutschlandrente [Knabe und liche Rentenversicherung (GRV) in Deutschland Weimann (2019)] oder eines Bürgerfonds [Fuest et vor erhebliche Finanzierungsprobleme. In der al. (2019)] – auf die politische Agenda gesetzt wer- Bevölkerung lösen diese Entwicklungen zudem den sollten. Solche Maßnahmen würden eine Ent- wachsende Sorgen vor steigender Altersarmut lastung aber erst mit einer erheblichen Zeitverzö- aus. Entsprechend gewinnt das Thema Zukunft gerung bewirken, so dass sie den Reformbedarf der Alterssicherung in der öffentlichen Debatte innerhalb der GRV mittelfristig nicht beseitigen immer mehr an Bedeutung. Die Politik hat darauf dürften. reagiert und lässt neue Konzepte der Alterssiche- rung diskutieren.1 Die anstehenden Herausforde- Der Beirat sieht mit Sorge, dass viele Reformen der rungen in der Rentenversicherung und die aktu- letzten Jahrzehnte allein darauf abzielten, einzel- elle politische Debatte haben auch die vorliegende nen (Wähler-)Gruppen zusätzliche Rentenansprü- Stellungnahme motiviert. In ihr werden Kernele- che zu gewähren. Zur Finanzierung wurden ent- mente des deutschen Systems der gesetzlichen weder die Beitragszahler zusätzlich belastet oder Altersvorsorge beschrieben und die in der Diskus- die Bundeszuschüsse aus allgemeinen Deckungs- sion befindlichen Reformmaßnahmen mit Blick mitteln (also überwiegend aus dem Steuerauf- auf ihre Eignung für eine nachhaltige Stabilisie- kommen) erhöht. Auch die Ausweitung der Versi- rung überprüft. cherungspflicht wurde immer wieder diskutiert. Die Stellungnahme argumentiert, dass es derar- Die Stellungnahme konzentriert sich auf das tigen Maßnahmen an Nachhaltigkeit mangelt. bestehende System der umlagefinanzierten Ren- Die gegenwärtige demographische Herausforde- tenversicherung, weil dieses für große Teile der rung für die GRV lässt sich weder durch immer Bevölkerung in Deutschland bis auf weiteres die neue Erhöhungen des Beitragssatzes noch durch wichtigste Absicherung im Alter darstellt. Für eine beliebige Ausweitung der steuerfinanzierten viele Jahrzehnte wird ein stabiles und solide finan- Quersubventionierung der GRV aus dem Bundes- ziertes Umlagesystem für viele Menschen von zen- haushalt bewältigen. traler Bedeutung bleiben, um Ausgaben im Alter zu finanzieren. Die Maßnahmen der letzten Jahre weisen auf mangelnde Bindungswirkungen von langfristigen Die hier vorgenommene Fokussierung auf die Reformen in der Rentenpolitik hin, wie sie ähn- umlagefinanzierte Rente bedeutet nicht, dass nicht lich aus anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik bekannt sind.2 Zwar ist die Sicherung der langfris- 1 So hat die Bundesregierung die Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ einberufen. Deren 2 Beispiele für die Zeitkonsistenzproblematik in der Vorschläge, die zum Zeitpunkt der Erarbeitung dieser Wirtschaftspolitik sind die Arbeiten von Kydland und Prescott Stellungnahme des Beirats noch nicht vorlagen, sollten sich (1977, 1980) im Bereich der Zentralbankpolitik und zu an den Rahmenvorgaben des Koalitionsvertrages orientieren. Fragen der zeitkonsistenten Besteuerung von Kapital. Zur Inzwischen liegt der Bericht der Kommission vor; vergleiche Unterscheidung von physischem Kapital und Humankapital in Kommission Verlässlicher Generationenvertrag (2020). diesem Zusammenhang siehe Andersson und Konrad (2003). 1
Vorbemerkungen zum Deutschen Stabilitätsprogramm 2020 Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen tigen Tragfähigkeit ein zentrales Ziel der Renten- Hierzu gehört insbesondere eine langfristige, gra- politik. Kurzfristiges Optimieren in der Politik, das duelle Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sowohl darauf gerichtet ist, die Interessen der aktuellen der Beitragssatz als auch das Rentenniveau lassen Wählermehrheit umzusetzen, kann jedoch Ergeb- sich trotz der demographischen Verschiebungen nisse hervorbringen, die nicht im gemeinsamen stabilisieren, wenn das Renteneintrittsalter von Interesse der aktuellen und zukünftigen Wähler Generation zu Generation in Abhängigkeit von der sind.3 Im Rahmen der umlagefinanzierten GRV steigenden Lebenserwartung erhöht wird. Andere manifestiert sich das Problem mangelnder Bin- Länder wie die Niederlande oder Norwegen haben dungswirkung insbesondere in der Gefahr einer eine solche regelgebundene Erhöhung des Rente- steigenden Querfinanzierung der Renten aus dem neintrittsalters bereits implementiert. Angesichts allgemeinen Steueraufkommen. Auf der individu- der langen Zeiträume, über die die Versicherten ellen Ebene wird das Bindungsproblem dadurch dann planen können, sollte eine solche Regelbin- befördert, dass sich die Präferenzen der Wähler dung auf eine höhere Akzeptanz stoßen als dis- hinsichtlich der Ausgestaltung des GRV-Systems kretionäre Erhöhungen des Beitragssatzes oder im zeitlichen Übergang vom Beitragszahler zum des Renteneintrittsalters. Eine solche Reform wird Rentenempfänger kontinuierlich verändern.4 Wie von wissenschaftlicher Seite in großer Einmütig- das Beispiel der Erhöhung des Renteneintrittsal- keit seit vielen Jahren empfohlen, ist bislang aber ters auf 67 zeigt, besteht aufgrund der fehlenden nicht erfolgt. Die Einführung einer regelgebun- Selbstbindungsmöglichkeiten der Politik immer denen Erhöhung des Renteneintrittsalters stößt auch die Gefahr, dass selbst erfolgreich einge- in Deutschland auf erhebliche politische Wider- führte Reformen im Interesse einzelner Wähler- stände. Die mangelnde Akzeptanz einer solchen gruppen partiell wieder aufgeweicht werden. Regel hat neben der Verteilungswirkung zwischen der Einführungsgeneration und späteren Gene- Der Beirat plädiert angesichts dieser Politikprob- rationen viele Gründe. Diese sollten sich, wie die leme für eine regelgebundene Erhöhung des Ren- Stellungnahme zeigt, zumindest teilweise ausräu- teneintrittsalters sowie für eine institutionell bes- men lassen. ser abgesicherte Trennung von Bundeshaushalt und gesetzlicher Rentenversicherung. Die Tren- nung soll so ausgestaltet sein, dass Erhöhungen des Bundeszuschusses und anderer Überweisun- gen aus Steuermitteln an die Rentenversicherung erschwert werden. Dies vergrößert zum einen die Transparenz hinsichtlich der fiskalischen Kosten einzelner rentenpolitischer Maßnahmen. Zum anderen würde es die Politik dazu zwingen, anstelle von Quersubventionen der GRV aus Steuermitteln nachhaltige und tragfähige Reformen anzugehen. 3 Dass die Schwierigkeit der langfristigen Bindung die Rentenpolitik zugunsten der gegenwärtigen Generationen verzerrt, zeigt z. B. Aydede (2010). 4 So kann es z. B. sein, dass es zu jedem Zeitpunkt politische Mehrheiten gibt, die zwar eine Anpassung der Lebensarbeitszeit an die längere Lebenserwartung für zukünftige Generationen von Erwerbstätigen für richtig hält, eine solche Reform aber erst nach dem eigenen Renteneintritt realisieren möchte. Eine langfristig von allen für sinnvoll erachtete Reform würde, was ihren Startpunkt angeht, so von Kohorte zu Kohorte in die Zukunft verschoben. 2
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen 2. Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente In einem System der rein umlagefinanzier- Altenquotienten bestimmt, also dem Zahlenver- ten gesetzlichen Rentenversicherung gilt, dass hältnis von Personen im Rentenalter und Per- die Einnahmen in einer Periode gleich den Aus- sonen im erwerbsfähigen Alter. Der Altenquoti- gaben sein müssen. Daraus folgt, dass man – bei ent hat sich in Deutschland seit der Einführung gegebenem Renteneintrittsalter und ohne wei- des heutigen Rentensystems nach dem 2. Welt- tere Finanzierungsquellen – den Beitragssatz und krieg stark verändert, und weitere Veränderun- das Rentenniveau nicht unabhängig voneinander gen lassen sich auf der Basis der bereits geborenen festlegen kann. Für ein angestrebtes Rentenniveau Kohorten, den Schätzungen über die Entwick- ist der Beitragssatz über das Verhältnis der Rente- lung der Lebenserwartung sowie mit Annahmen nempfänger zur Zahl der Beitragszahlenden ein- zur Zuwanderung für die nächsten 20 bis 30 Jahre deutig bestimmt. Für ein gegebenes Verhältnis ist gut abschätzen. Die folgende Abbildung zeigt den ein höheres Rentenniveau nur um den Preis höhe- Altenquotienten als Relation der über 65-jährigen rer Versichertenbeiträge zu haben. und der 20- bis 64-jährigen für den Zeitraum von 1950 bis 2060, sowie das für das Rentensystem der Das Verhältnis der Rentenempfänger zur Zahl der nächsten Jahrzehnte relevante Verhältnis der über Beitragszahler wird im Wesentlichen durch den 67-jährigen zu den 20- bis 66-jährigen. Abbildung 1: Altenquotient (Relation der Zahl der über 65-jährigen zu den 20- bis 64-jährigen bzw. der über 67-jährigen zu den 20- bis 66-jährigen, 1950-2060) 70 über über65 Jährige //20- 65-jährige 20-64-Jährige bis 64-jährige über über67 Jährige //20- 67-jährige 20-66-Jährige bis 66-jährige 60 50 Altenquotient 40 30 20 10 0 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 Quelle: Statistisches Bundesamt, 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante G2L2W2; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. 3
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Die Zahl der Rentner, die auf einen Beitragszah- attraktiv. Eine Finanzierung durch zusätzliche ler entfallen, hat sich seit der deutschen Einheit Staatsverschuldung schließlich wäre eine Erhe- bereits um gut 50 % erhöht. Bis 2060 wird sich bung höherer Steuern für zukünftige Generatio- diese Zahl nach heutiger Einschätzung noch ein- nen und insofern in ihren Wirkungen einer Steu- mal um ca. 60 % steigern. Dann müssen weni- ererhöhung vergleichbar. Die Finanzierung durch ger als zwei Beitragszahler eine Rente finanzie- Staatsschulden bietet daher keinen langfristig ren – und nicht mehr vier Beitragszahler wie noch tragfähigen Lösungsweg. 1991. Eine Studie der Deutschen Bundesbank (2019) zeigt sehr deutlich die Probleme auf, die In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Vor- sich ohne Anpassungen beim Renteneintrittsal- teilhaftigkeit der GRV als Alterssicherungsinstru- ter einstellen werden.5 Würde die aktuell bis 2025 ment sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während festgeschriebene Haltelinie eines Rentenniveaus Teile der Öffentlichkeit wegen der demographi- von 48 % nach 45 Beitragsjahren auf Dauer fest- schen Herausforderungen keine nennenswerte geschrieben, müsste der Beitragssatz bis 2070 auf Rendite aus der Gesetzlichen Rentenversiche- rund 31 % steigen; zugleich müsste der Bundes- rung erwarten, sehen andere angesichts des Nied- zuschuss erheblich erhöht werden. Berücksich- rigzinsumfelds die Rentenversicherung noch als tigt man die weiteren Abzüge eines Erwerbstäti- relativ attraktive Anlage. Die Diskussion wird gen für das allgemeine Steueraufkommen sowie auch dadurch verkompliziert, dass unterschied- für Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversiche- liche Rentabilitätsmaße für die GRV im Umlauf rung, dann wird schnell deutlich, dass sozial- sind, ohne dass auf den ersten Blick die unter- versicherungspflichtige Erwerbsarbeit durch die schiedlichen methodischen Herangehensweisen hohen Belastungen kaum mehr attraktiv wäre. ersichtlich wären. So unterscheiden sich die Maße Würde alternativ die zweite bis 2025 festgeschrie- z. B. hinsichtlich der Berücksichtigung von Infla- bene Haltelinie eines Beitragssatzes von 20 % fort- tion (real vs. nominal) und der Aggregationsebene geschrieben, so müsste das Rentenniveau bis 2070 (individuelle vs. makroökonomische Renditen). auf 30 % absinken. Damit wäre die GRV kaum noch in der Lage, ihrer Aufgabe der Absicherung Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der im Alter nachzukommen. gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich mit der Rentabilität mehrfach befasst, zuletzt im Jah- Als dritte Variante untersucht die Studie der Deut- resgutachten 2016 (SVR 2016/17, S. 332-337), wo schen Bundesbank auch die Auswirkungen, wenn im Anhang Renditen für Standarderwerbspro- beide Haltelinien zugleich Bestand haben sollen. file unter verschiedenen Szenarien für Personen Dann müsste der Finanzierungsanteil des Bundes der Geburtsjahre 1940 bis 2030 berechnet wer- auf deutlich über 50 % steigen. Eine entsprechende den. Es zeigt sich dabei ein Rückgang der Rendi- Finanzierung aus allgemeinen Steuereinnahmen ten gegenüber den derzeitigen Rentnergeneratio- bei gegebener Steuerquote bedeutet deutlich ver- nen. Gleichwohl liegen auch für die aktuell in den ringerte andere Ausgaben des Staates und damit Arbeitsmarkt eintretenden Kohorten im Basissze- einen Rückzug aus der Finanzierung anderer nario – d. h. ohne weitere Reformen – die inter- staatlicher Aufgaben. Die Finanzierung durch eine nen Renditen für Männer bei gut 2,5 % und für höhere Steuerquote erhöht die Abgabenquote und Frauen bei rund 3 %. Dabei ist zu beachten, dass erscheint angesichts der ohnehin hohen Abgaben- hier nominale Renditen, d. h. inklusive der Infla- quote Deutschlands im OECD-Vergleich wenig tion, ermittelt sind. Zieht man eine langfristige Preissteigerung von rund 2 % von den nominalen Werten ab, erhält man eine reale Verzinsung von 5 Weitere Simulationsrechnungen zur langfristigen Entwicklung 0,5 % bis 1 % für Kohorten, die jetzt in den Arbeits- von Beitragssatz und Rentenniveau unter der aktuellen Rechtslage finden sich unter anderem bei Börsch-Supan und markt eintreten. Ein weiterer wichtiger Aspekt für Rausch (2018), Geyer et. al. (2019) und Werding (2018). 4
Das Dilemma der umlagefinanzierten Rente Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen das Verständnis der Renditemessung ist, dass hier höher aus als die makroökonomische Rendite des auf die individuelle Perspektive abgestellt wird. Lohnsummenwachstums. Die Spielräume für Dabei wird aus Sicht der einzelnen Versicher- Renditen, die über das Lohnsummenwachstum ten der Barwert der Einzahlungen mit dem Bar- hinausgehen, sind in der langen Frist begrenzt. wert der Auszahlungen verglichen. Die Rendite ist Denn jede neue Beitragszahlergruppe lässt sich dann derjenige interne Zinsfuß, mit dem sich die nur einmal hinzufügen. Und der Erhöhung des Einzahlungen verzinsen müssten, um den Wert Beitragssatzes sind durch die drohenden Aus- der Auszahlungen zu generieren. Diese individu- weichreaktionen – sei es in die Nicht-Arbeit oder elle Rendite kann hoch sein, weil die Lohn- und in die Schattenwirtschaft – Grenzen gesetzt. Gehaltssumme, aus der die Rentenbeiträge gene- riert werden, schnell gewachsen ist. Die individu- elle Rendite kann aber auch hoch sein, weil z. B. der Versichertenkreis ausgeweitet wurde. Um die politisch bedingten Renditeeffekte, wie z. B. die Ausweitung des Beitragszahlerkreises, von der ökonomischen Rendite des Rentensys- tems zu unterscheiden, ist die makroökonomi- sche Perspektive informativ. Da die Beiträge auf die Lohnsumme erhoben und die Renten aus die- sen Beiträgen bezahlt werden, ergibt sich die mak- roökonomische Rendite des Rentensystems aus dem Wachstum der Lohnsumme. Abbildung 2 zeigt das Wachstum der realen Bruttolohnsumme in Deutschland seit 1960 (seit 1991 Deutsch- land gesamt), wobei der Wert für 1960 gleich 100 gesetzt wurde. Im Jahr 2018 betrug der Indexwert 524, d. h. die reale Lohnsumme hatte sich in (fast) 60 Jahren mehr als verfünffacht. Dies entspricht einem durchschnittlichen Wachstum von 2,9 % pro Jahr, wobei die deutsche Einheit statistisch zu einem sprunghaften Anstieg zwischen 1990 und 1991 geführt hat. Abbildung 2 zeigt darüber hinaus die Entwicklung der realen Ausgaben der Gesetzlichen Rentenver- sicherung für denselben Zeitraum. Die Ausgaben haben sich in diesem Zeitraum versiebenfacht; pro Jahr stiegen die Ausgaben im Schnitt um 3,4 %. In dem Umfang, in dem das Ausgabenwachstum das Lohnsummenwachstum übersteigt, musste zur Finanzierung das Rentensystem ausgeweitet wer- den, z. B. durch Beitragssatzerhöhungen, Einbe- ziehung neuer Rentenbeitragszahler oder erhöhte Bundeszuschüsse. Die ermittelten individuellen Renditen fallen durch diese Systemausweitungen 5
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Abbildung 2: Entwicklung der Lohnsumme und der GRV–Ausgaben (Index 1960 = 100) 800 1960=100) =100) 700 (real, Lohnsumme 1960) (real, 600 Lohnsumme 500 derder Ausgaben undund 400 GRV-Ausgaben 300 GRV 200 derder Entwicklung Etwicklung 100 0 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Lohnsumme Ausgaben der GRV Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), 1994: Sozialbericht 1993, Bonn; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), 1998: Sozialbericht 1997, Bonn; Statistisches Bundesamt, VGR des Bundes; Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zeitreihen, https://statistik-rente.de/drv/. 3. Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Die Politik kann die Probleme in der Gesetzlichen die Politik unterstützend eingreifen. Wenn wie Rentenversicherung durchaus strukturell durch in den letzten Jahrzehnten die Frauenerwerbs- eine Reihe von Maßnahmen beeinflussen. Die quote steigt, erhöht dies bei gegebener Bevölke- Kosten dieser Maßnahmen treffen unterschied- rung im erwerbsfähigen Alter die Zahl der Bei- liche Bevölkerungsgruppen; auch für wie lange tragszahler. Eine wichtige Stellschraube ist auch diese Maßnahmen die Probleme der Rentenversi- die Erwerbstätigenquote. In einer Welt, in der alle cherung lösen, ist durchaus unterschiedlich. Personen im erwerbsfähigen Alter einen Arbeits- platz haben, steht bei einem bestimmten Renten- Eine ganze Reihe von – in der Wissenschaft beitragssatz für die Kohorte der Alten ein dop- und Politik oft diskutierten – Maßnahmen pelt so großer Betrag zur Verfügung wie in einer betrifft die Erhöhung der Zahl der Beitragszah- Welt, in der wegen hoher Arbeitslosigkeit oder aus ler [siehe z. B. Werding (2013)]. Dies geschieht anderen Gründen nur die Hälfte der Erwerbsfähi- zum Teil gleichsam automatisch, zum Teil kann gen einer Beschäftigung nachgeht. Schlussendlich 6
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen spielt natürlich die Struktur der Beschäftigten hier kaum noch Potential für nennenswerte Ein- eine große Rolle. Wenn sich die Beschäftigung nahmensteigerungen der Rentenversicherung zu zulasten der Selbständigen oder Beamten hin zu erwarten sind. Auch ist die Frauenerwerbsquote sozialversicherungspflichtigen Anstellungen ver- in Deutschland im internationalen Vergleich schiebt, steigen die Einzahlungen ins Rentensys- bereits sehr hoch (siehe Abbildung 3a), so dass tem. Auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt auch hier wenig Spielraum für Einnahmensteige- führt zu zusätzlichen Beitragszahlern. rungen besteht. Allerdings sind die Arbeitsstun- den von verheirateten Frauen im Durchschnitt Das Potential zusätzlicher Rentenbeiträge ist bei in Deutschland niedrig, deshalb besteht hier ein diesen Stellschrauben sehr unterschiedlich. Die gewisses Potential für zusätzliche Rentenbeiträge Arbeitslosigkeit insbesondere bei qualifizierten [Bick et al. 2019]. Arbeitskräften konnte in den letzten 15 Jahren in Deutschland erheblich abgebaut werden, so dass Abbildung 3a: Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen 80 70 Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen 60 50 40 30 20 1984 1988 1992 1996 2000 2004 2008 2012 2016 DE US BE ES FR IT NL UK Quelle: eigene Berechnungen basierend auf Bick et al. (2019); Daten aus EU-Labor Force Survey und US Current Population Survey. 7
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Abbildung 3b: Arbeitsstunden pro erwerbstätiger verheirateter Frau 1800 Arbeitsstunden pro erwerbstätiger verheirateter Frau 1600 1400 1200 1000 800 1984 1988 1992 1996 2000 2004 2008 2012 2016 DE US BE ES FR IT NL UK Quelle: eigene Berechnungen basierend auf Bick et al. (2019); Daten aus EU-Labor Force Survey und US Current Population Survey. Erhöhte Zuwanderung kann ebenfalls die Zahl Seit den Anfängen der GRV erfolgte in vielen Etap- der Beitragszahler vergrößern, wenn die Zuwan- pen eine stetige Ausweitung des Kreises der Ver- derung in den Arbeitsmarkt erfolgt. Eine voll- sicherten. Heute werden gut 38 Mio. Personen als ständige Kompensation der Alterung der heimi- aktiv Versicherte von der GRV erfasst. Nur wenige schen Bevölkerung durch Zuwanderung dürfte Gruppen von Erwerbstätigen sind von der GRV jedoch unrealistisch sein. Börsch-Supan (2000, befreit. In Politik und Medien wird oft die Ein- F39) hat darauf hingewiesen, dass dafür eine jähr- beziehung dieser, bisher nicht pflichtversicherter liche Zuwanderung von 800.000 Arbeitskräften Personen gefordert. Die größte Gruppe der von der (und deren Integration in den Arbeitsmarkt) von- GRV befreiten Personen sind die Selbständigen. nöten wäre. Auch eine Zuwanderung von 200.000 Allerdings ist ein Teil der Selbständigen bereits bis 300.000 Arbeitskräften, wie sie Deutschland im obligatorisch in der GRV; ein weiterer Teil ist ver- langfristigen Durchschnitt erfahren hat, bremst pflichtend in anderen Systemen wie den berufs- den Belastungsanstieg in der Rentenversicherung. ständischen Versorgungswerken versichert. Buslei Allerdings sehen sich auch viele der traditionel- und Peters (2016) schätzen das Potential derjeni- len Herkunftsländer der Zuwanderer in den deut- gen Selbständigen, die zusätzlich in die GRV ein- schen Arbeitsmarkt in Zukunft mit ähnlichen bezogen werden könnten, auf 2,3 Mio. Personen, demografischen Herausforderungen konfrontiert womit der Beitragssatz in der mittleren Frist der wie Deutschland. nächsten zwei Jahrzehnte um etwas weniger als 8
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen einen Prozentpunkt sinken würde. Darüber hin- einmaligen temporären Schocks in der Demogra- aus gibt es noch rund 2 Mio. Beamte, die aber fie und daraus resultierender vorübergehender bereits in die Versorgungssysteme des Bundes und Finanzierungslasten geht. Eine nachhaltige Stabi- der Länder, also in zur GRV vergleichbaren Umla- lisierung des umlagefinanzierten Rentensystems gesystemen, eingebunden sind.6 ist daher alleine mit diesen Maßnahmen kaum sicherzustellen. Die langfristigen Finanzierungspotentiale aus der Einbeziehung noch nicht erfasster Erwerbstätiger In der wirtschaftswissenschaftlichen Fachdiskus- sind also sehr begrenzt.7 Zu beachten ist, dass all sion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die oben genannten Ausweitungen des Beitrags- sich die strukturelle Herausforderung gestiege- zahlerkreises nur einen Einmal-Effekt auslösen. ner Lebenserwartungen am besten durch eine Sie versprechen zwar zunächst mehr Beitragszah- langfristige, möglichst regelgebundene Erhö- ler im Verhältnis zu der bestehenden Anzahl von hung des gesetzlichen Rentenalters bewältigen rentenbezugsberechtigten Personen und entlasten lässt [Börsch-Supan (2007), Deutsche Bundes- damit das System in der Ausweitungsphase. Eine bank (2019), Ehrentraut und Moog (2016), OECD größere Zahl an Beitragszahlern führt aber in der (2011), Sachverständigenrat zur Begutachtung der Zukunft auch zu einer größeren Zahl von renten- gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011, 2016), anspruchsberechtigten Personen. Die Erhöhung Werding (2018)]. Wie Abbildung 4 zeigt, ist die fer- der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nere Lebenserwartung kontinuierlich angestie- gleicht einer einmaligen Ausweitung des Systems gen. Alle 10 Jahre erhöht sich die fernere Lebens- und leistet das, was man als Gewinn von der erst- erwartung um ein weiteres Jahr und dieser Trend maligen Einführung eines umlagefinanzierten wird vermutlich bis auf weiteres anhalten [Vaupel Rentenversicherungssystems kennt. Die Gewinne und von Kistowski (2005)]. einer Ausweitung können sich die im Auswei- tungszeitpunkt lebenden Generationen teilen. Sie können bei gegebenen Renten entweder die Bei- tragssätze senken oder bei gleichen Beitragssätzen die Renten erhöhen oder die Vorteile auf Erwerbs- und Rentnergeneration aufteilen. Angesichts der demografischen Unwucht, die durch die geburtenstarken Jahrgänge auf der einen und den darauffolgenden Fertilitätsrück- gang der Bevölkerung auf der anderen Seite ent- standen ist, können Einmaleffekte durch eine Ausweitung der sozialversicherungspflichti- gen Beschäftigung in den Jahren ab 2025 wün- schenswert sein. Wie Abbildung 1 gezeigt hat, ist der Anstieg des Altenquotienten jedoch kontinu- ierlich, so dass es nicht um den intertemporalen Ausgleich kurzfristiger Schwankungen oder eines 6 Österreich hat ab 1.1.2005 die verschiedenen Pensionssysteme – inklusive der Beamtenpensionen mit langen Übergangsfristen bis 2040 – vereinheitlicht [European Commission (oJ)]. 7 Weitere Aspekte zur Ausweitung des Versichertenkreises finden sich in Gasche und Rausch (2013). 9
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Abbildung 4: Fernere Lebenserwartung im Alter 65 25 20 Lebenserwartung im Alter 65 15 10 5 0 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Westdeutschland - weiblich Ostdeutschland - weiblich Westdeutschland - männlich Ostdeutschland - männlich Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Fernere Lebenserwartung im Alter 65 in West- und Ostdeutschland, https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/S37-Lebenserwartung-Alter-65-Geschlecht-West-Ost-ab-1958.html. Eine Regelbindung, die das Rentenniveau und die um ein Jahr nach hinten verschoben werden. 9 Da Beitragssätze nachhaltig stabilisiert, könnte darin die Lebenserwartung schneller steigt, als das Ren- bestehen, die Jahre zusätzlicher Lebenserwartung teneintrittsalter erhöht wird, würde eine solche auf die Erwerbsphase und die Rentenphase aufzu- Regel den Bürgern steigende Rentenbezugszei- teilen.8 So könnten beispielsweise 3 Jahre zusätz- ten erlauben, ohne die Finanzierbarkeit der Rente licher Lebenserwartung in zwei zusätzliche Jahre zu gefährden. Damit die Rentenversicherten sich der Erwerbstätigkeit und ein zusätzliches Renten- in ihren Lebensplanungen darauf einstellen kön- jahr aufgeteilt werden [Börsch-Supan (2007), OECD nen, sollte die graduelle Verschiebung des Rente- (2011), Wissenschaftlicher Beirat beim Bundes- neintrittsalters mit langer Vorlaufzeit festgelegt ministerium für Wirtschaft und Energie (2016)]. werden. Damit müsste rund alle 15 Jahre der Renteneintritt 8 Die Pensionssysteme der Beamten des Bundes und der Länder 9 Der Vorschlag der Deutschen Bundesbank (2019) sieht vor, sind wie die GRV umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme. das Renteneintrittsalter so anzupassen, dass die Relation von Sie stehen zwar nicht im Zentrum der Stellungnahme. Viele Beitragszeiten zu Rentenbezugszeiten in etwa konstant bleibt. der Überlegungen, auch die Überlegungen zur Anpassung der Pro Jahr würde das Renteneintrittsalter um einen dreiviertel Lebensarbeitszeit, gelten indes analog für diese Systeme. Monat erhöht – nach 16 Jahren also um ein Jahr. 10
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Abbildung 5 gibt einen Eindruck von der Stabi- Rentenempfängern zu Beitragszahlern in etwa lisierungswirkung eines solchen regelgebunden stabilisiert (0,5 statt 0,57). Würde nach der voll- Renteneintrittsalters. Die Kurven zeigen die Rela- ständigen Einführung der Rente mit 67 (nach dem tion der Bevölkerungszahl im Rentenalter zur Jahr 2031) der Renteneintritt an die Lebenserwar- Bevölkerungszahl im Erwerbsalter. Die oberste tung gemäß der obigen Regel geknüpft, ergäbe Kurve zeigt den Altersquotienten für ein Renten- sich die untere (gepunktete) Linie. Das Renten- eintrittsalter von 65 Jahren – entspricht also der eintrittsalter würde dann graduell bis 2061 auf 69 oberen, durchgezogenen Kurve in Abbildung 1. Jahre ansteigen. Die Relation von Rentenempfän- Die mittlere gestrichelte Kurve spiegelt die Rela- gern und Beitragszahlern ließe sich damit in etwa tion für die Rente mit 67 wider, die seit dem Jahr auf dem Niveau des Jahres 2035 stabilisieren. Auf 2012 (Geburtsjahrgang 1947) schrittweise bis zum 100 Personen im Erwerbsleben kämen dann rund Jahr 2030 erreicht wird. Durch die Erhöhung des 43 Personen im Rentenalter. Renteneintrittsalters wird das Verhältnis von Abbildung 5: Relation der Bevölkerungszahl im Rentenalter zur Bevölkerungszahl im Erwerbsalter bei alternativen Regelaltersgrenzen Quelle: Statistisches Bundesamt, Fortschreibung des Bevölkerungsstandes und 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante G2L2W2. 11
Maßnahmen zur Stabilisierung des Rentensystems Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Der Anteil der 65- bis 70-jährigen, die sich als Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass mit gesund bezeichnen, ist hoch und im Zeitablauf der Erhöhung des Renteneintrittsalters, das regel- angestiegen; während dieser Anteil 1999 noch bei gebunden an die Lebenserwartung gekoppelt wird 82 % lag, war er 2017 bei 85 % (http://www.gbe- (z. B. mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters bund.de/ auf Basis des Mikrozensus). Mit dem um zwei Jahre bei Steigerung der ferneren Lebens- Anstieg der Lebenserwartung dürfte tendenziell erwartung um drei Jahre), ein Vorschlag vorliegt, auch ein Anstieg der Jahre bei guter Gesundheit mit dem sich im deutschen Rentensystem sowohl einhergehen, so dass die Mehrheit der Rentenversi- der Beitragssatz als auch das Rentenniveau lang- cherten einerseits eine moderate Verlängerung der fristig annähernd konstant halten lassen.11 Daher Lebensarbeitszeit schultern und andererseits die stellt sich die Frage, warum von Seiten der Poli- längere Rentenzeit bei guter Gesundheit genießen tik – nahezu quer durch das politische Spektrum kann.10 Eine neue, weltweite Studie für 195 Länder – eine solche Regelbindung abgelehnt wird und zeigt, dass auch in Deutschland die Lebenserwar- sogar die bereits beschlossene Erhöhung des Ren- tung bei guter Gesundheit über die Zeit zugenom- teneintrittsalters auf 67 Jahre partiell zurückge- men hat [GBD 2017 DALYs and HALE Collabora- nommen wurde. tors (2018)]. Während im Jahr 1990 eine 65-jährige Frau im Mittel noch 13,3 gesunde Lebensjahre vor sich hatte und ein 65-jähriger Mann 10,7 Jahre, waren diese gesunden Lebensjahre im Jahr 2017 auf 15,5 und 13,4 angewachsen. Vereinzelt gibt es jedoch auch Studien, die keine deutliche Verlänge- rung der Lebenserwartung bei guter Gesundheit finden; siehe z. B. Mergenthaler (2011). Will man diesem Aspekt Rechnung tragen, dann ist inner- halb der hier vorgeschlagenen Regelbindung auch auf die Lebenserwartung bei guter Gesundheit abzustellen. 11 Die oft geäußerte Befürchtung, dass sich längere Lebensarbeitszeiten negativ auf die Beschäftigungschancen Jüngerer auswirken, lässt sich weder theoretisch noch 10 Technischer Fortschritt erhöht nicht nur die empirisch plausibel stützen. Angesichts der steigenden Lebenserwartung, sondern steigert auch Wohlbefinden Knappheit qualifizierter Arbeitskräfte gibt es erst recht keinen und Lebensqualität im Alter (bspw. Eberhardt et al. 2010, Grund, ältere Arbeitnehmer frühzeitig aus dem Arbeitsmarkt Fachinger et al. 2014). zu drängen. 12
Zur politischen Ökonomie langfristig tragfähiger Rentenreformen Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen 4. Zur politischen Ökonomie langfristig tragfähiger Rentenreformen Die Entscheidung für eine umlagefinanzierte Ren- Literaturbeiträgen wurde der polit-ökonomische tenversicherung nach dem 2. Weltkrieg war mehr Zusammenhang zwischen Demografie und Ren- oder weniger zwingend und demografisch gese- tenpolitik untersucht. Das Zahlenverhältnis zwi- hen für viele Jahre unproblematisch. Spätestens schen Erwerbstätigen und Rentenempfängern seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spiegelt sich im Zahlenverhältnis der jungen und zeichnete sich aber als Folge des starken Gebur- alten Wähler wider. Da demokratische Entschei- tenrückgangs im Anschluss an die Babyboo- dungen mit Mehrheit getroffen werden, verschie- mer-Generation sehr deutlich ein demografisches ben sich bei zunehmender Alterung der Gesell- Problem in der Rentenversicherung ab. Darauf schaft die Stimmengewichte zunehmend von den wurde von wissenschaftlicher Seite früh hinge- Beitragszahlern zu den Rentnern. Es wächst der wiesen [siehe z. B. Berthold und Roppel (1984), Jae- Anteil jener Wähler, die von einer Ausweitung des ger (1987), Janssen und Müller (1981)]. Auch in der Rentensystems, sei es durch höhere Renten oder Politik gab es verschiedene Versuche, die Ren- durch frühere Renteneintritte, unmittelbar pro- tenformel demografiefest zu machen. Insbeson- fitiert, zulasten des Anteils jener Wähler, die in dere wurde die Rentenformel so angepasst, dass den Folgejahren finanziell unter der Systemaus- sich die wachsende Lebenserwartung dämpfend weitung leiden. Da mit zunehmender Alterung auf die Rentenniveaus auswirkt. Lösen konnte auch der Anteil der Rentnerinnen und Rentner in diese Anpassung der Rentenformel das Problem der Wählerschaft wächst, ist auch ein gegenläufi- aber nicht, da sie bei konsequenter Anwendung ger Effekt möglich, der eine polit-ökonomisch sta- zu einem sozialpolitisch nicht tolerablen Absin- bilisierende Wirkung auf das Rentensystem hat. ken des Rentenniveaus führen würde. Lediglich Personen, die sich bereits im Ruhestand befin- einmal wurde mit dem RV-Altersgrenzenanpas- den, haben ein starkes Interesse an einer stabilen sungsgesetz von 2007 und der „Rente mit 67“ eine Finanzierung ihrer Renten und könnten deshalb Anpassung der Lebensarbeitszeit an die gestie- die Forderung nach Erhöhung des gesetzlichen gene Lebenserwartung vorgenommen. Allerdings Rentenalters unterstützen.12 wurde diese Regelung mit nachfolgenden Politik- maßnahmen wie der abschlagsfreien Rente mit 63 Generell gilt, dass politische Mehrheitsentschei- wieder aufgeweicht. Zudem berücksichtigt die ein- dungen über das Rentensystem von der Frage malige Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht abhängen, ob solche Entscheidungen eine dau- die künftigen Steigerungen der Lebenserwartung erhafte Bindungswirkung auf viele Jahrzehnte und der Gesundheit im Alter. Diese Maßnahme haben, oder ob künftige Mehrheiten solche Ent- und ihre partielle Rücknahme waren überdies dis- scheidungen jederzeit einfach verändern können. kretionär und nicht regelgebunden. In einer Abstimmung über eine sehr dauerhafte Erhöhung der Lebensarbeitszeit mag ein Beitrags- Die Geschichte der Rentenreformen zeigt: Die zahler in der zweiten Hälfte seines Erwerbslebens Rentenpolitik ist anfällig gegenüber Vorschlä- beispielsweise für eine Verlängerung der Lebens- gen, die in der Gegenwart einzelnen, gewichti- arbeitszeit votieren. Wenn die Lebensarbeitszeit gen Wählergruppen zusätzliche Rentenleistun- gen versprechen, aber mit großen zusätzlichen 12 Siehe Bittschi und Wigger (2019) für entsprechende Lasten in der Zukunft verbunden sind. In vielen empirische Evidenz. 13
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen aber innerhalb weniger Jahre immer wieder auf der Suche nach Stimmenmehrheiten sind, können dem politischen Prüfstand steht, mag dieser Bei- diese polit-ökonomischen Zusammenhänge nicht tragszahler aus Eigeninteresse gegen eine Verlän- ignorieren. Parteien, die sich für eine Rentenpo- gerung der Lebensarbeitszeit stimmen, wenn er litik einsetzen, die den Interessen einer Mehrheit fürchten muss, dass diese Maßnahme nach seinem widerspricht, verspielen leicht ihre Chance auf ein Eintritt in den Ruhestand für nachfolgende Gene- politisches Mandat. Dieser Zusammenhang zwi- rationen wieder zurückgenommen wird, bzw. schen Demografie und mehrheitsfähigen Vor- diese Reform von Generation zu Generation in die schlägen in der Rentenpolitik macht Reformen für Zukunft verschoben wird. Die politischen Mehr- ein nachhaltiges Rentensystem schwierig. Umso heiten in der Rentenpolitik hängen deshalb stark mehr stellt sich die Frage, welche stabilisierenden von der Frage der Bindungswirkung von Entschei- Reformen der Rentenversicherung in einer altern- dungen in der Rentenpolitik ab. Parteien, die auf den Gesellschaft Aussicht auf Erfolg haben. 5. Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt Um die Dimension der Rentenlasten aufzuzeigen, Und auch die Kranken- und Pflegeversiche- empfiehlt sich der Vergleich der Rentenausgaben rung erfordert steigende Finanzierungsmit- von ca. 308 Mrd. Euro mit den Ausgaben des Bun- tel. Angesichts der Zunahme der Zahl der Alten, des von ca. 273,5 Mrd. Euro, die verbleiben, wenn der wachsenden Lebenserwartungen und des man die Bundeszuschüsse an die GRV herausge- möglicherweise damit verbundenen Anstiegs rechnet hat [BMF (2019)]. Schon dieser einfache der Lebensjahre mit Pflegebedarf zeichnen sich Zahlenvergleich macht deutlich, dass einer Aus- höhere Finanzierungslasten ab. Weitere mögli- dehnung der Rentenfinanzierung zu Lasten des che Belastungen entstehen aus den Fortschrit- Bundeshaushalts enge Grenzen gesetzt sind. ten in der Medizin. Die technischen Möglichkei- ten medizinischer Eingriffe wachsen stetig weiter. Verschiedene andere Entwicklungen tragen ver- Diese im Grunde erfreuliche Entwicklung führt mutlich dazu bei, die für eine Stabilisierung der zu wachsenden Gesundheitsausgaben. GRV verfügbaren Steuermittel einzuschränken. Die Energiewende stellt die deutsche Volkswirt- All diese Entwicklungen verschärfen indirekt schaft vor gewaltige Herausforderungen. Der- auch die Finanzierungsprobleme der GRV, die zeitige Stärken der heimischen Wirtschaft, etwa aus der demografischen Entwicklung resultie- das ingenieurwissenschaftliche und fertigungs- ren. Sie schränken den Spielraum für eine stärker technische Know-how für Verbrennungsmo- durch Bundeszuschüsse finanzierte GRV ein. Eine toren könnten an Bedeutung verlieren. Ob bei- Lösung durch eine zusätzliche Belastung des Fak- spielsweise die heimische Automobilbranche ihre tors Arbeit mit höheren Lohn-, Einkommen- oder Wettbewerbsvorteile in der transformierten Mobi- Umsatzsteuern ist auch aus anderen Gründen kein litätswelt behalten kann, ist unklar. Die Transfor- Ausweg. Denn sie ändert nichts an der steigenden mationsprozesse in der Industrie, bei der Infra- Belastung der Erwerbsarbeit.13 struktur und im Energiesektor dürften erhebliche staatliche Finanzierungsmittel binden. 13 Zur Besteuerung von Vermögenswerten über eine Vermögensteuer oder eine Erbschaftsteuer siehe Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2012, 2013). 14
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Diese Überlegungen mögen auch auf der Basis über angemessene Verlängerungen der Lebensar- einer auf volkswirtschaftliche Aggregate abge- beitszeit erleichtert wird. stellten Betrachtung nicht überraschen. Nachhal- tige Besteuerung muss letztlich an Wertschöpfung Eine drastische Maßnahme bestünde darin, den anknüpfen und lenkt einen Teil dieser Wertschöp- Problemen einer auf die kurze Frist zielenden fung in den öffentlichen Sektor. Diese Wertschöp- Rentenpolitik und des wachsenden Stimmge- fung ist auch in einer modernen Volkswirtschaft wichts der Älteren durch eine geeignete Grund- zum überwiegenden Teil Arbeitseinkommen. gesetzreform zu begegnen, indem man sämtliche Eine verstärkte Einbeziehung von Kapitalein- rentenpolitischen Gesetze an qualifizierte Mehr- kommen in die Finanzierung der Renten stößt heiten knüpft, etwa die Zweitdrittel-Mehrheit, die in einer international arbeitsteiligen und offenen für Verfassungsänderungen erforderlich ist.15 Ent- Volkswirtschaft an enge Grenzen. Die Ströme des sprechende Festlegungen werden in der wissen- Kapitals orientieren sich an Renditen nach Steu- schaftlichen Literatur seit langem als Mittel zur ern und Abgaben, so dass zusätzliche Belastungen Selbstbindung auf eine nachhaltige Rentenpoli- Gewinnverlagerungen oder internationale Bewe- tik diskutiert [Azariadis und Galasso (1998)]. Ob gungen des Produktionskapitals auslösen. In einer sich indes qualifizierte Mehrheiten für eine solche offenen Volkswirtschaft belastet die Besteuerung Selbstbindung der Politik finden lassen ist zwei- von Kapitaleinkommen in ihrer Inzidenzwir- felhaft.16 Zudem wäre es ein verfassungsrechtli- kung deshalb zu großen Teilen wieder den Faktor cher Systembruch, speziell in der Rentenpolitik Arbeit. Insofern wird auch in Zukunft ein Großteil für jede Gesetzgebung mit verfassungsändern- der Finanzierungslast der Rentenversicherung auf den qualifizierten Mehrheiten arbeiten zu müssen. den Faktor Arbeit entfallen. Ein verfassungspolitisches Gegenargument gegen die Forderung nach verfassungsändernden qua- Angesichts des beschleunigten demografischen lifizierten Mehrheiten bei politischen Entschei- Wandels in den nächsten zwei Jahrzehnten, wenn dungen generell ist der Verlust an demokratischer die Babyboomer-Generation in Rente geht, besteht Entscheidungsmacht im normalen politischen die Gefahr, dass bei diesem großen Umbruch eine Prozess. stärkere Umfinanzierung über Bundeszuschüsse erfolgt. Wie oben gezeigt wird, sind die zusätzli- Ein anderer, weitreichender Lösungsansatz chen Belastungen, die dem Faktor Arbeit aufge- könnte darin bestehen, einer strikten Trennung bürdet werden können, jedoch begrenzt.14 Lang- der Gesetzlichen Rentenversicherung und ihrer fristig wird kein Weg an einer Verlängerung der Finanzierung vom allgemeinen Bundeshaushalt Lebensarbeitszeit vorbeiführen. Daher stellt sich Verfassungsrang zu geben, also eine Art „Hemm- die Frage, mit welchen institutionellen Regeln sich schuh“ hinsichtlich der Finanzierung zwischen der politische Anreiz vermindern lässt, einzelnen Bundeshaushalt und Rentenversicherungshaus- Gruppen – auf Dauer teure – zusätzliche Renten- halt zu installieren.17 Das verfassungspolitische leistungen wie die Mütterente, die Rente mit 63 Argument für eine solche Trennung könnte sein, oder die Grundrente zukommen zu lassen, ohne zugleich die langfristige Finanzierung sicherzu- stellen. Gleichzeitig sollte die institutionelle Aus- 15 Je höher das Quorum, desto eher werden Parteien bzw. Abgeordnete, die die Interessen der jüngeren Wähler gestaltung dafür sorgen, dass der politische Weg vertreten, über eine Vetomacht verfügen. 16 Zum Zeitfenster mit Mehrheiten für umfassende Rentenreformen siehe Sinn und Übelmesser (2000). 17 Um Brüche zu vermeiden, könnten die bisherigen 14 Dasselbe gilt, wenn die zusätzlichen Mittel über ständig Bundeszuschüsse, deren Einführung oder Erhöhung in der steigende Beitragssätze erbracht werden. Allerdings hat sich Vergangenheit meist mit „versicherungsfremden Leistungen“ hier die Politik, z. B. mit der Haltelinie für den Beitragssatz, begründet wurden, regelgebunden (z. B. mit der Inflationsrate) bereits selbst Belastungsgrenzen vorgegeben. fortgeschrieben werden. 15
Grenzen der Finanzierung durch den Bundeshaushalt Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen dass die Langfristperspektive in der Rentenversi- wird die Höhe der monatlichen Pension für jede cherung mit der Langfristperspektive der Verfas- Kohorte in Abhängigkeit der Lebenserwartung sung – in Abgrenzung zum normalen Gesetzes- ein Jahr vor dem frühestmöglichen Renteneintritt recht – korrespondiert. Zudem würden, anders festgelegt. 21 als bei dem Vorschlag der qualifizierten Mehrheit, nicht alle rentenpolitischen Entscheidungen nor- Da die Ermittlung der statistischen Lebenserwar- malen politischen Mehrheiten entzogen. Nur die tung dem direkten Einfluss politischer Gremien grundsätzliche Finanzierung wäre den einfachen entzogen ist, sollte es auch schwerer als bisher Mehrheiten entzogen. Wenn der Weg einer kurz- möglich sein, die Regelbindung politisch zu unter- fristigen Finanzierung über den Bundeshaushalt laufen. Dazu müsste entweder eine offene Regel- versperrt ist, sollten sich auch leichter politische verletzung begangen oder das Gremium, das die Mehrheiten finden, die einer regelgebundenen, Verschiebung des Renteneintrittsalters in Abhän- sehr langfristigen Anpassung der Lebensarbeits- gigkeit der berechneten Lebenserwartung festlegt, zeit den Vorzug geben.18 in illegitimer Weise politisch beeinflusst werden. Ein weniger weitreichender Eingriff, der eben- falls verhindern könnte, dass der Bundeshaushalt zu umfangreich zur Rentenfinanzierung heran- gezogen wird, wäre eine Regelbindung beim Ren- teneintrittsalter, wie sie auch in anderen Ländern schon existiert. So wird beispielsweise in den Nie- derlanden das Renteneintrittsalter in den nächs- ten Jahren auf 67 Jahre angehoben und soll ab 2025 mit der Lebenserwartung jeder Kohorte verknüpft sein.19 In Dänemark galt für die Kohorten bis zum Geburtsjahr 1953 eine Regelaltersgrenze von 65 Jahren; für die 1963 geborene Kohorte gilt dage- gen bereits ein Renteneintrittsalter von 68 Jahren. In Abhängigkeit von der Lebenserwartung soll das Renteneintrittsalter in Zukunft vom Parla- ment für jede Kohorte jeweils 15 Jahre vor deren Renteneintritt festgelegt werden.20 Norwegen hat seit 2011 zwar ein flexibles Renteneintrittsal- ter zwischen 62 und 75 Jahren mit versicherungs- mathematisch fairen Zu- und Abschlägen, jedoch 18 Es ist durchaus möglich, dass die Politik unter wachsendem finanziellem Druck auch andere Reformen als längere Lebensarbeitszeit beschließt, beispielsweise eine Umverteilung zu Lasten der Bezieher höherer und zu Gunsten der Bezieher niedrigerer Renten. Das hätte den Nachteil, die Teilhabeäquivalenz zu untergraben und Arbeitsangebotsanreize zu verschlechtern [Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2004)]. Aber eine solche Reform könnte nicht immer größere Teile des Bundesetats binden. 19 Siehe https://www.svb.nl/int/en/aow/wat_is_de_aow/ wanneer_aow/index.jsp. 20 Siehe https://lifeindenmark.borger.dk/Living-in-Denmark/ 21 Siehe https://www.oecd.org/els/public-pensions/PAG2017- Pension/ATP-Livslang-Pension. country-profile-Norway.pdf. 16
Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen 6. Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen Auch wenn die Umfinanzierung über den Bun- nicht substantiell niedriger als nach dem Renten- deshaushalt erschwert ist und auch wenn die eintritt [Merz (2018)].23 Anpassungen der Lebensarbeitszeit nur in lang- fristigen, kleinen Schritten erfolgt, so dass aktu- Neuere Studien betonen weiterhin, dass Gesund- elle Wählergenerationen kaum betroffen sind, so heit und Arbeitsfähigkeit beeinflussbare Grö- hat die Anhebung des Renteneintrittsalters auf ßen sind, die durch Gesundheitsinvestitionen 67 Jahre gezeigt, dass es großer Überzeugungs- von Arbeitnehmern (bspw. sportliche Aktivi- arbeit bedarf, um die Akzeptanz für solche Maß- tät und gesunde Ernährung) und Arbeitgebern nahmen zu gewährleisten. Im Vordergrund steht (bspw. Weiterbildungen für ältere Beschäftigte dabei für viele Menschen die Verteilungsproble- und Anpassung des Tätigkeitsprofils an geänderte matik, d. h. die Frage, ob eine Anhebung des Ren- körperliche und geistige Voraussetzungen) posi- teneintrittsalters der gesamtgesellschaftlichen tiv beeinflusst werden können [siehe bspw. Bauer Verteilungsgerechtigkeit dienlich ist. und Eichenberger (2018) und Converso et al. (2018) sowie die hier zitierte Literatur]. Bauer und Eichen- Eine Sorge ist, dass Berufe nicht bis zum gesetz- berger (2018) präsentieren empirische Evidenz, lichen Renteneintritt ausgeübt werden können. dass sich der Gesundheitszustand älterer Arbeit- Studien zeigen allerdings, dass die Arbeitsfähig- nehmer bei Vorziehen des gesetzlichen Renten- keit der meisten Menschen auch im Alter hoch eintritts signifikant verschlechtert (und damit im bleibt [siehe beispielsweise Ilmarinen et al. (1997), Umkehrschluss erwartet werden kann, dass sich Baltes et al. (1998), Gould et al. (2008), Ilmarinen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit älterer Arbeit- und Ilmarinen (2015)].22 Sinkenden körperlichen nehmer in Folge einer Anhebung des gesetzlichen und geistigen Fähigkeiten steht ein Zuwachs an Renteneintrittsalters verbessert). Erfahrungswissen gegenüber (siehe Thieme und Dittrich 2015 und die hier zitierte Literatur). Die Wichtig ist allerdings zu betonen, dass Arbeitneh- Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer in mer im Alter zunehmend heterogener werden. D. h. Deutschland ist in den vergangenen Jahren zudem ältere Arbeitnehmer unterscheiden sich stärker stark gestiegen [von 2008 bis 2018 in der Gruppe in Bezug auf ihre Gesundheit, Arbeitszufrieden- der 60 bis 65 Jährigen um 21,8 Prozentpunkte auf heit und Arbeitsfähigkeit als jüngere Altersklas- 42,3 %, siehe Bundesagentur für Arbeit (2019)], sen [bspw. Ilmarinen und Ilmarinen (2015) und und ältere Arbeitnehmer sind nicht häufiger von Thieme und Dittrich (2015)]. Vor allem Arbeit- Arbeitslosigkeit betroffen als Beschäftigte anderer nehmer in physisch anspruchsvollen Berufen Altersgruppen [Bundesagentur für Arbeit (2019)]. sehen sich im Alter zunehmend gesundheitlichen Studien zeigen zudem, dass ältere Arbeitnehmer ein hohes Maß an Arbeits- und Lebenszufrieden- heit aufweisen [Wunder et al. (2013)]; letztere liegt 23 Zum Effekt von Renteneintritt auf Gesundheit und Sterbewahrscheinlichkeit finden sich in der Literatur heterogene Ergebnisse [siehe bspw. den Literaturüberblick 22 Arbeitsfähigkeit subsumiert dabei die physischen und in Eibisch (2015)]. Neuere Studien zeigen, dass sich das intellektuellen Ressourcen von Menschen, um den Gesundheitsverhalten von Individuen nach dem Renteneintritt physischen, kognitiven und emotionalen Anforderungen verbessert (bspw. eine längere Nachtruhe und mehr sportliche ihres Arbeitsplatzes zu begegnen [siehe bspw. Ilmarinen und Betätigung) und hierdurch positive Gesundheitseffekte erzielt Ilmarinen (2015)]. werden, siehe bspw. Eibisch (2015) und Insler (2014). 17
Erhöhung der Akzeptanz notwendiger Reformen Der schwierige Weg zu nachhaltigen Rentenreformen Problemen gegenüber, die die Ausübung berufli- Renteneintritte in den Branchen „Energieversor- cher Tätigkeiten beeinträchtigen oder unmöglich gung“, „Information und Kommunikation“ sowie machen [bspw. Ilmarinen und Ilmarinen (2015), „Erbringung von freiberuflichen, technischen und Ravesteijn et al. (2013)]. wissenschaftlichen Dienstleistungen“ auf. Beson- ders häufig treten sie außer im „Baugewerbe“ auch Auch eine weitere Flexibilisierung bei der Arbeits- im „Gastgewerbe“ und im Verkehrsbereich auf. Die zeit könnte die Akzeptanz späterer Rentenein- hohen Werte bei der „Erbringung von sonstigen tritte erhöhen. Viele Arbeitnehmer wollen gar wirtschaftlichen Dienstleistungen“ resultieren im nicht unbedingt abrupt von Vollzeitarbeit auf Wesentlichen aus der Leiharbeit, den Wach- und Rente wechseln. Sie wollen nur nicht mehr die Sicherheitsdiensten und Call Centern. gesamte Woche arbeiten oder auf wenige Wochen Urlaub beschränkt sein. Sie bevorzugen vielmehr einen graduellen Übergang in die Rente, der ihnen die Möglichkeit gibt, einen oder zwei Tage in der Woche auch für die Enkel Zeit zu haben oder einige Wochen im Jahr mit dem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin verreisen zu können. Für eine solche Flexibilisierung der Wochen- oder Jahresarbeitszeit sind allerdings die Tarifpartner viel mehr gefordert als der Gesetzgeber. Momentan sorgt das Rentensystem dafür, dass Arbeitgeber einen Teil der Kosten gesundheitsbe- dingter, vorzeitiger Renteneintritte auf die Bei- tragszahler der Rentenversicherung abwälzen können, da die Abschläge früherer Renteneintritte aus Sicht der Gesetzlichen Rentenversicherung („budgetorientierter Ansatz“) versicherungsma- thematisch zu gering [Gasche (2012)] und bran- chenunabhängig sind. Wenn sich verschiedene Branchen systematisch beim Ausmaß von Früh- verrentungen unterscheiden, aber die gleichen Beitragssätze zahlen, entsteht innerhalb der Sozi- alversicherung eine Umverteilung zwischen Bran- chen. Branchen, in denen wegen der hohen kör- perlichen Arbeitsbedingungen und des Zuschnitts der Tätigkeiten Arbeitnehmer in einem jüngeren Lebensalter an ihre physischen Grenzen gelan- gen und aus dem Arbeitsleben ausscheiden, wer- den so von anderen Branchen indirekt entlastet. Abbildung 6 zeigt, in welchen Branchen Renten- bezüge wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit über- bzw. unterdurchschnittlich häufig auftreten, wobei Unterschiede in der Alters- und Geschlech- terzusammensetzung berücksichtigt wurden. Besonders selten treten die gesundheitsbedingten 18
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