DEUTSCHE AUßENPOLITIK NACH CORONA - HANNS-SEIDEL ...

 
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DEUTSCHE AUßENPOLITIK NACH CORONA - HANNS-SEIDEL ...
ANALYSEN

/// Alte Trends und neue Prioritäten

DEUTSCHE AUßENPOLITIK
NACH CORONA
THOMAS ERNDL / HANNES PICHLER /// Im Februar 2014 forderten Bundespräsident
Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin
Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass Deutschland
weltweit mehr Verantwortung übernehmen müsse. Diese Einigkeit galt fortan als
„Münchner Konsens“ für ein stärkeres Engagement der deutschen Außenpolitik.
Seiter ist die Weltlage deutlich unübersichtlicher geworden. Jetzt stellen die Folgen
der Corona-Krise die internationale Politik vor zusätzliche Herausforderungen.
Deshalb gilt noch mehr als zuvor: Wir müssen unsere Interessen klarer definieren,
Prioritäten setzen und entschiedener handeln.

              Wohin driftet die Welt?                Grundsatzdebatten in der europäischen
          Die Corona-Krise hat die Welt fest im      sowie internationalen Politik führen
          Griff. Ganze Volkswirtschaften wurden      wird. Darunter: Wie ist es wirklich um
          zurückgefahren, der internationale         die Handlungsfähigkeit der Europäi-
          Handel ist eingebrochen, die Prioritäten   schen Union (EU) und um die europäi-
          der Politik haben sich innerhalb weniger   sche Solidarität bestellt? Welche Abhän-
          Tage radikal verändert. Doch während       gigkeiten von internationalen Märkten
          diese Gesundheitskrise in absehbarer       und fernöstlichen Produktionsstandor-
          Zeit bewältigt sein dürfte, werden die     ten können wir uns erlauben? Wie steht
          Folgen nachwirken. Schon jetzt zeigt       es wirklich um unsere Sicherheit – und
          sich, dass die Corona-Krise neue Dyna-     was definieren wir eigentlich als „Si-
          miken entfaltet und zu veränderten         cherheit“?
46   POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
Quelle: NICOLAS ASFOURI / Kontributor / Getty Images
Die Rivalität zwischen den USA und China dürfte sich durch Corona weiter verschärfen und
die internationale Politik maßgeblich prägen.

    Die Antworten auf diese Fragen
werden wichtig dafür sein, wie sich die
internationale Politik in den nächsten                 Die CORONA-KRISE wird die Grund-
Jahren gestalten und wie sich Deutsch-                 satzdebatten in der internationalen
land darin positionieren wird. Doch                    Politik verändern.
eines ist auch klar: Corona wird die
Gesetze der Politik nicht grundsätzlich
verändern. Die großen Trends der letz-
ten Jahre werden sich auch nach Coro-
na fortsetzen. Die großen Konflikte un-
serer Zeit sind nicht plötzlich ent-                treten und die großen Trends beschleu-
schärft, sondern zur Zeit aus dem Fo-               nigt werden. Umso wichtiger ist es,
kus geraten. Daher wird die bestehende              dass Deutschland diese Trends klar er-
internationale Ordnung auch weiterhin               kennt und Strategien entwickelt, um
unter Druck sein. Realistisch betrach-              darauf zu reagieren. Was sind die
tet dürfte die Corona-Krise jetzt dazu              Trends, die aus deutscher bzw. europä-
führen, dass bereits zuvor bestehende               ischer Perspektive besonders besorg-
Konfliktlinien noch deutlicher hervor-              niserregend sind?
                                                                           491/2020 // POLITISCHE STUDIEN   47
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              Der „Westen“ verliert an                Afghanistan abziehen. Auf die weitere
              internationaler Bedeutung und           Entwicklung in der Region werden wir
              innerem Zusammenhalt                    dann deutlich weniger Einfluss haben.
          Diese Entwicklung wurde auf der                 Gleichzeitig nehmen die Spannun-
          Münchner Sicherheitskonferenz (MSC)         gen innerhalb der Bündnisse und Orga-
          2020 unter dem Kunstbegriff „Westless-      nisationen zu, die maßgeblich vom Wes-
          ness“ diskutiert.1 Tatsächlich lässt sich   ten getragen werden bzw. Ausdruck
          in den vergangenen Jahren ein schwin-       westlicher Werte sind. Dass die NATO
          dender Einfluss des westlichen Han-         der Grundpfeiler der westlichen Sicher-
          delns auf globale Entwicklungen fest-       heitsarchitektur ist, stellt zwar keiner
          stellen. In kaum einer Konfliktregion       der Mitgliedsstaaten ernsthaft in Frage.
          können sich Europäer untereinander          Konstruktive Diskussionen um Erneue-
          oder im Verbund mit den USA auf ein         rung und Entwicklung wurden zuletzt
          gemeinsames Vorgehen einigen. Das hat       aber häufig von den Forderungen nach
          enorme Konsequenzen für die Stabilität      dem Zwei-Prozent-Ziel überschattet.
          in unseren Nachbarregionen. Libyen          Die EU hingegen durchlebt derzeit einen
          und Syrien sind hierfür beste Beispiele.    besonderen Stresstest. Zu Jahresbeginn
          Entweder haben europäische Staaten          hat mit Großbritannien erstmals ein
          unterschiedliche Interessen verfolgt (Li-   Mitgliedsstaat die EU verlassen. Popu-
          byen) oder ein Konfliktgeschehen viel       listen schüren in vielen Mitgliedsstaaten
          zu lange ausgeblendet (Syrien).             anti-europäische und nationalistische
              Zugleich diskutieren die USA unter      Stimmung. Die Corona-Krise und ihre
          Präsident Donald Trump, aber auch           wirtschaftlichen Folgen drohen die EU
          schon zu Zeiten von Barack Obama eher       weiter zu spalten.
          über den (militärischen) Rückzug als
          über ein verstärktes internationales En-
          gagement – die USA können oder wollen
          nicht mehr „Weltpolizei“ sein. Das ver-
          ändert das internationale Spielfeld. Das      Die Spannungen innerhalb der
          fehlende Durchsetzen von „roten Lini-         Bündnisse, die WESTLICHE Werte
          en“ bei den Giftgasangriffen in Syrien        vertreten, nehmen zu.
          etwa hat Baschar al Assad zur Fortfüh-
          rung seiner Kriegstaktik ermutigt – und
          dazu beigetragen, dass sich Russland
          massiv in Syrien engagiert. Seitdem hat
          Moskau im Nahen Osten an Gestal-
          tungsmacht deutlich hinzugewonnen.              Die internationale Politik
          In Afghanistan sehen wir nur am Rande           steuert einer Großmachtkonkurrenz
          dabei zu, wie die USA mit den Taliban           entgegen
          ein Abkommen schließen, welches die         Die neue Strategie des US-Verteidigungs-
          NATO und damit auch die Bundeswehr          ministeriums zeigte erstmals deutlich
          vor weitestgehend vollendete Tatsachen      auf, dass die USA ihre Ressourcen künf-
          stellt. Sollte die Vereinbarung umgesetzt   tig eher der wiederkehrenden Auseinan-
          werden, müssen auch wir im Verbund          dersetzung zwischen Großmächten wid-
          mit NATO und den USA bis 2021 aus           men wird als etwa dem Kampf gegen den
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Terrorismus oder Regionalkonflikten.2       Positionierung gegenüber China und
Im Fokus dabei: China und Russland,         Russland haben. Das versuchen Peking
die auf verschiedenen Ebenen versuchen,     und Moskau geschickt zu ihren Gunsten
die bestehende internationale Ordnung       auszunutzen, wie zuletzt in der Corona-
zu unterwandern und ihren Einfluss zu       Krise. Während sich die EU in der Krise
maximieren. Russland und China ver-         noch sortierte, schickten Russland und
folgen dabei bei ähnlicher Zielsetzung      China einige Hilfsgüter, begleitet von ei-
andere Strategien: Während Moskau           ner großen propagandistischen Inszenie-
versucht, mit vergleichsweise geringen      rung. Die innereuropäischen Hilfen
Mitteln und überschaubarem Aufwand          überwogen faktisch natürlich sehr deut-
größtmöglichen Schaden anzurichten,         lich. Gleichwohl war der Schaden ange-
agiert Peking mit der größtmöglichen        richtet und vielerorts Zweifel gegenüber
Demonstration wirtschaftlicher und mi-      der EU genährt worden, während sich
litärischer Stärke.                         Moskau und Peking erneut als scheinba-
    Diese Tendenzen und das entstehen-      re Alternativen zur EU anboten und der
de Konfliktpotenzial zeigen sich schon      bisherige Partner USA allzu sehr mit sich
seit einigen Jahren. Ausdruck dafür sind    selbst beschäftigt war.
beispielsweise der Handelskrieg zwi-
schen den USA und China, die aggressi-
ve Strategie Chinas im südchinesischen
Meer oder das Vordrängen Chinas in
Afrika und dem euro-asiatischen Raum          Europa mangelt es an außen-
durch die sogenannte „Seidenstraßen-          politischer GESTALTUNGSKRAFT.
Initiative“. Russlands Annexion der uk-
rainischen Halbinsel Krim hingegen
bleibt aus europäischer Perspektive das
einprägsamste Vorgehen Moskaus ge-
gen die klassische Ordnung. Die Kam-
pagne zur Einflussnahme auf die US-             Irreguläre Phänomene wie
Wahlen 2016, die Unterstützung Assads           Terrorismus und Migration nehmen
in Syrien oder der Bruch des INF-Ver-           kontinuierlich zu
trages durch die geheime Entwicklung        Nach dem Zusammenbruch der Sowjet-
neuer Mittelstreckenraketen weisen bei-     union 1989 prägte der US-Historiker
spielhaft in diese Richtung.                Francis Fukuyama das bekannte Dik-
    Die große Frage ist, wie sich dieses    tum vom „Ende der Geschichte“3. Keine
strategische Gerangel zwischen den          zehn Jahre nach dieser Einschätzung
USA, China und Russland auf Europa          musste dieses besagte Ende am 11. Sep-
auswirken wird. Schon jetzt sehen wir,      tember 2001 erst einmal vertagt werden.
dass Europa zum Spielfeld der unter-        Die strategische Atempause nach dem
schiedlichen Interessen zu werden droht,    Kalten Krieg war vorüber. Fortan stand
während wir oft zu wenig Kraft aufwen-      der Kampf gegen den islamistischen
den (können), um unsere eigene Position     Terrorismus im Fokus der internationa-
mit Stärke zu demonstrieren. Das liegt      len Politik. Und er tut es noch immer.
auch daran, dass wir innerhalb der EU       Denn die radikale Ideologie terroristi-
bisher keine einheitliche außenpolitische   scher Gruppierungen besteht weiter
                                                                491/2020 // POLITISCHE STUDIEN   49
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          fort, auch wenn sich die Schauplätze der        Terrorismus, Flucht und Migration
          Auseinandersetzung und die Methoden         werden die internationale Politik weiter
          des Terrorismus kontinuierlich ändern.      stark beschäftigen. Denn der Nährbo-
              Noch vor zwanzig Jahren wurde der       den, der diese Phänomene begünstigt,
          internationale Terrorismus einzig mit       besteht weiter fort. Dazu zählen insbe-
          der Organisation Al-Kaida assoziiert,       sondere eine schwache Staatlichkeit in
          ein Terrornetzwerk mit dem Rückzugs-        den Ländern des Nahen Ostens und Af-
          ort Afghanistan. Heute denken wir vor       rikas, fehlende physische Sicherheit,
          allem an den „Islamischen Staat“ (IS),      fehlende Versorgungssicherheit, hohe
          der sich zwischen 2014 und 2017 in Syri-    Arbeitslosigkeit, ineffiziente Verwal-
          en und Irak ausbreitete, eine große         tungsstrukturen, fehlende Bildung und
          Fluchtbewegung nach Europa auslöste         damit zusammenhängend mangelnde
          und Anschläge im Herzen Europas             Zukunftsperspektiven. Es wird davon
          durchführte. Das territoriale „Kalifat“     ausgegangen, dass Corona diese Regio-
          des IS wurde in einem internationalen       nen stark treffen dürfte, da die Gesund-
          Kraftakt zerschlagen, bei dem auch die      heitsversorgung kaum bis gar nicht ge-
          Bundeswehr mitwirkte. Allerdings hat        währleistet werden kann. Damit werden
          die Organisation im Untergrund inzwi-       diese Staaten weiter geschwächt, die In-
          schen neue Strukturen aufgebaut, die sie    stabilität nimmt zu und der Migrations-
          weiter handlungsfähig macht. Der IS         druck auf Europa steigt.
          agiert heute in Terrorzellen, die jeweils
          lokal Anschläge durchführen, Gelder
          erpressen, Waffen, Ressourcen und Per-
          sonen schmuggeln – und darauf warten,
          bis die Zeichen für eine Rückkehr auf         Durch die Corona-Krise werden die
          die große Bühne geeignet sind.                Länder im Nahen Osten und in Afrika
              Hinzu kommt, dass die Organisati-         auch POLITISCH weiter geschwächt.
          on globale Ableger hat, die nach Afrika
          und in den asiatischen Raum reichen.
          Personal, Gelder und Waffen werden
          nachweislich zwischen den unterschied-
          lichen Regionalablegern bewegt. Die
          Entwicklungen in Afrika sind dabei in           Prioritäten definieren und
          der öffentlichen Wahrnehmung oft we-            Strategien entwickeln
          niger präsent. Allerdings wüten in der      Wir dürfen uns nicht damit zufrieden
          Sahel-Region, darunter besonders in         geben, die Probleme unserer Zeit zu er-
          Mali und Niger, eine Vielzahl mal kon-      kennen und diese allein zu beschreiben.
          kurrierender und mal kooperierender         In Sachen Analyse hat Deutschland we-
          Terrorgruppen, einige davon werden          nig Aufholbedarf. Auch im Handeln ist
          entweder mit Al-Kaida oder dem IS in        Deutschland besser geworden in den
          Verbindung gebracht. Sie zerstören das      vergangenen Jahren. Aber wenn wir den
          Wenige an staatlicher Infrastruktur und     aufgezeigten Trends etwas entgegenset-
          treiben Millionen Menschen in die           zen wollen, wenn wir die globalen Ent-
          Flucht, viele mit dem für sie räumlich      wicklungen mitgestalten wollen, die uns
          nahen Ziel Europa.                          maßgeblich beeinflussen, dann müssen
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wir noch entschiedener handeln – und        EU keine Position nach außen vertreten.
das gemeinsam mit unseren Partnern in       Das schwächt uns. Deshalb müssen wir
Europa und im transatlantischen Bünd-       darauf hinwirken, dass in außenpoliti-
nis. Aus diesem Grund sind jetzt die fol-   schen Belangen eine Mehrheitsentschei-
genden Schritte anzugehen:                  dung getroffen wird. Damit würde die
                                            EU global deutlich an Gewicht gewin-
    Fokus Europa: Zusammenhalt nach         nen, das etwa gegenüber China wichtig
    innen und Handlungsfähigkeit nach       wäre. Solange das nicht der Fall ist,
    außen stärken                           müssen wir entschiedener in einer „Ko-
Die EU ist der zentrale Handlungs- und      alition der Willigen“ agieren.
Bezugsrahmen der deutschen Politik.
Unsere Sicherheit, unser Wohlstand und
unsere Freiheiten hängen direkt mit ei-
ner funktionierenden, starken EU zu-
sammen. Deshalb müssen wir alles dar-         Die EU sollte befugt sein, in
ansetzen, die EU weiter zu stärken und        außenpolitischen Entscheidungen
den Negativentwicklungen entschieden          MEHRHEITLICH statt einstimmig
entgegenzuwirken. Europa muss nach            entscheiden zu können.
innen geeinter sein und nach außen ge-
schlossener auftreten, um gegenüber den
oben aufgezeigten Trends bestehen zu
können. Kommissionspräsidentin Ursu-
la von der Leyen sprach zu Amtsantritt
davon, dass es unter ihr eine „geopoliti-       Die Kritik an der EU ist immer wie-
sche Kommission“ geben würde.4 Der          der groß. So auch zu Beginn der Corona-
EU-Außenbeauftragte Borrell erklärte,       Krise, als die Menschen nach Brüssel
dass die EU die „Sprache der Macht“ ler-    schauten und eine Krisenreaktion er-
nen müsse.5 Das sind richtige Ansätze.      warteten. Brüssel reagierte langsam.
    Die EU hat schon 2016 eine Global-      Das darf aber nicht darüber hinweg-
strategie vorgelegt, die auf eine außen-    täuschen, dass die Bewältigung der
und sicherheitspolitische Neuausrich-       Corona-Krise und ihrer Folgen nur ge-
tung hinweist.6 Bisher ist es an der Um-    meinsam in der EU möglich sein wird.
setzung dieser oft gescheitert. Das liegt   Das wird ein Kraftakt, an der sich alle
nicht zuletzt daran, dass die Mitglieds-    Mitgliedsstaaten beteiligen müssen
staaten sich untereinander nur schwer       und beteiligen werden. Europäische
auf gemeinsame außenpolitische Linien       Solidarität ist das Gebot der Stunde.
einigen können. Deshalb sollte man          Die EU kann es sich nicht erlauben, in
jetzt überlegen, wie die EU handlungs-      der Krise einzelne Länder wirtschaft-
fähiger wird. Bisher müssen außenpoli-      lich oder „emotional“ zu verlieren. Das
tische Beschlüsse im EU-Ministerrat         bedeutet aber nicht, dass vorschnelle
immer einstimmig gefällt werden.            Beschlüsse als Reaktion auf emotionale
Stimmt ein Land (und damit beispiels-       Debatten gefällt werden können. Die
weise auch nur eine Partei einer Koaliti-   EU wird gestärkt aus der Krise hervor-
onsregierung in einem Mitgliedsstaat)       gehen und sich durch neue Krisenlekti-
einer Entscheidung nicht zu, kann die       onen weiter verbessern. Dazu wird si-
                                                              491/2020 // POLITISCHE STUDIEN   51
ANALYSEN

          cher auch gehören, dass kritische Pro-     sen Diskussionen und Irritationen gilt
          dukte (wie Medikamente, medizini-          jedoch: Die engen Beziehungen zwi-
          sche Geräte, Schutzkleidung) wieder        schen Europa und Nordamerika sind
          vermehrt in Europa produziert und          strategisch. Sie müssen und werden
          aufbewahrt werden müssen, um im            politische Kontroversen aushalten.
          Krisenfall entschiedener agieren zu        Denn wir sind verbunden durch ge-
          können. Wir müssen Europa als „Kon-        meinsame Werte, dem Bekenntnis zu
          tinent der Ressourcen“ neu entdecken.      Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
          Und wir müssen einen europäischen          und ganz entscheidend: durch eine
          Pandemieplan für den nächsten Ernst-       gemeinsame       Sicherheitsarchitektur.
          fall erarbeiten sowie unsere wissen-       Die NATO ist der zentrale Grundpfei-
          schaftliche Zusammenarbeit zur For-        ler unserer Sicherheitspolitik, auch im
          schung weiter vertiefen. Was jetzt nicht   21. Jahrhundert.
          passieren darf, ist, dass Länder unter          Heute erleben wir ein sicherheitspo-
          dem Deckmantel der Krise ihren             litisches Umfeld, dem sich auch die
          Rechtsstaat zurückbauen und demo-          NATO anpassen muss. Dazu gehört
          kratische Prinzipien aufs Spiel setzen.    auch, dass der europäische Pfeiler der
          Die EU ist eine Union der Werte – und      NATO stärker wird. Große Herausfor-
          die müssen wir nachhaltig hochhalten,      derungen stehen uns bevor, die ver-
          einfordern und verteidigen.                mehrt unser eigenes Engagement erfor-
                                                     dern. Die alleinige Sicherheitsgarantie
                                                     der USA – wie im Kalten Krieg – kann
                                                     heute nicht mehr gelten. Das ist auch
                                                     deshalb so, weil sich der Fokus der USA
       Es darf innerhalb der EU nicht                entlang der oben aufgezeigten Groß-
       passieren, dass einige Länder ihren           machtkonkurrenz verschiebt. Russland
       RECHTSSTAAT unter dem Deckmantel              liegt demnach mehr im europäischen
       der Krise zurückbauen.                        Handlungsbereich, während sich die
                                                     USA vermehrt China widmen, das sie
                                                     als wirtschaftlich und sicherheitspoli-
                                                     tisch größten Konkurrenten empfinden.
                                                     Unser Ziel muss es sein, die regelbasier-
                                                     te Ordnung aufrechtzuerhalten. Das
              Fokus Transatlantisches Bündnis:       können wir nur gemeinsam im transat-
              Europäischen Pfeiler stärken,          lantischen Bündnis erreichen. Deshalb
              Zusammenarbeit erneuern                müssen wir jetzt beweisen, dass die
          Das transatlantische Verhältnis ist der-   NATO eben nicht „brain dead“ (Hirn-
          zeit von großen politischen Spannun-       tod) ist, wie Frankreichs Präsident Em-
          gen geprägt. Das liegt zum einen an        manuel Macron es formuliert hat,7 son-
          den globalen Herausforderungen, die        dern anpassungsfähig und kämpferisch
          die internationale Politik derzeit be-     – und Europa darin seine veränderte
          wältigen muss. Zum anderen aber auch       Rolle wahrnimmt.
          an dem unkonventionellen, zum Teil              Deutschland sollte dabei einen noch
          disruptiven Politikstil des aktuellen      entschiedeneren Beitrag leisten. Das
          US-Präsidenten. Trotz aller kontrover-     „Weißbuch der Bundesregierung zur Si-
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enorm gespalten. Von vielen Seiten wird
                                             heute beschworen, dass sich 2015 nicht
Der europäische Pfeiler in der NATO          wiederholen dürfe. Das ist richtig. Dar-
muss gestärkt werden.                        aus folgt aber auch, dass wir uns nach-
                                             haltig dafür einsetzen müssen, dass in
                                             diesen Weltregionen Kriege und Kon-
                                             flikte beendet und Stabilität hergestellt
                                             werden.
                                                  Deutschland ist in den betroffenen
  cherheitspolitik und zur Zukunft der       Regionen bereits aktiver geworden. Als
  Bundeswehr“ hat 2016 die veränderte        die Kurden im Nordirak 2014 dem An-
  Stoßrichtung für die deutsche Sicher-      sturm des Islamischen Staates ausgelie-
  heitspolitik klar vorgegeben.8 Neben       fert schienen, lieferte die Bundeswehr
  den Auslandseinsätzen macht auch die       wertvolle Militärhilfe. Das Engagement
  Landes- und Bündnisverteidigung wie-       im Irak wurde daraufhin zu einer Trai-
  der eine Priorität unserer Streitkräfte    ningsmission in Erbil (Autonome Regi-
  aus. Diesbezüglich stehen wir besser da,   on Kurdistan Irak) und Taji (bei Bag-
  als das oftmals suggeriert wird. Wir ha-   dad) ausgebaut. Als Teil der über 80
  ben unseren Verteidigungsetat zuletzt      Staaten umfassenden Anti-IS-Koalition
  stetig erhöht und unser Engagement,        stellte die Luftwaffe Geräte zur Luft-
  beispielsweise im Baltikum, hochgefah-     überwachung und Luftbetankung be-
  ren. Klar ist aber auch: Die gestiegenen   reit. Damit haben wir dazu beigetragen,
  Verteidigungsausgaben müssen bald          das territoriale „Kalifat“ des IS zu
  substanziell bei der Truppe ankommen,      schwächen. Wie bereits aufgezeigt, ist
  sichtbar sein in Qualität und Umfang       die Organisation dadurch nicht voll-
  der Ausstattung und unsere Einsatzfä-      ständig zerschlagen. Deshalb müssen
  higkeit erhöhen.                           wir uns weiter engagieren und vor allem
                                             Staaten wie den Irak unterstützen, da-
     Fokus Nachbarschaft: Terrorismus        mit dort langfristige Stabilität möglich
     bekämpfen, Instabilität und             ist. Zugleich müssen wir den Blick ver-
     Migration entgegenwirken                stärkt auf die Region lenken, in der Ter-
  Der Nahe Osten und Nordafrika zählen       ror, Flucht und Vertreibung derzeit mas-
  zur unmittelbaren Nachbarschaft Euro-      siv zunehmen: den Sahel. Deutschland
  pas. Entwicklungen, die in den Ländern     unterstützt dort bereits mit rund 1.000
  dieser Regionen geschehen, haben di-       Bundeswehrsoldaten die UN-Mission
  rekte Auswirkungen auf Deutschland         MINUSMA. Im Mai 2020 wurde zu-
  und Europa. Das zeigte nicht zuletzt die   dem der deutsche Beitrag zur europäi-
  Ausbreitung des IS 2014/2015 im Irak,      schen Trainingsmission EUTM geogra-
  der syrische Bürgerkrieg oder der Krieg    fisch ausgeweitet und auf 450 Soldaten
  in Libyen. Massive Fluchtbewegungen        erhöht. Ende März beschlossen mehrere
  aus diesen Ländern haben die europäi-      europäische Staaten, den Anti-Terror-
  sche Politik vor große humanitäre, fi-     kampf in Mali zusätzlich mit einer Spe-
  nanzielle und ethische Herausforderun-     zialeinheit („Takuba“) zu unterstützen.
  gen gestellt und die Gesellschaften Eu-    Diese wird ab Sommer 2020 von Frank-
  ropas in Fragen von Migration und Asyl     reich militärisch angeführt; Deutsch-
                                                                491/2020 // POLITISCHE STUDIEN   53
ANALYSEN

          land unterstützt die Einheit politisch.   che außenpolitische Debatte zu führen,
          Künftig wird es aber notwendig sein,      ohne dass Initiativen von vorneherein
          dass auch wir uns robuster in dieser      verurteilt werden. Heute wären wir ver-
          Weltregion für unsere Sicherheit enga-    mutlich froh darüber, wenn es in Nord-
          gieren und unsere europäischen Partner    syrien eine Schutzzone gäbe und damit
          militärisch unterstützen.                 auch einen innersyrischen Fluchtpunkt
                                                    für die Millionen Flüchtlinge in der
                                                    umkämpften Provinz Idlib.

                                                        Fokus nach innen: Außenpolitik
       Deutschland sollte sich in Zukunft               in die Mitte der Gesellschaft und
       stärker in der SAHELZONE militärisch             ins Parlament holen
       engagieren.                                  Deutschland steht oft in der Kritik, sich
                                                    zu wenig international zu engagieren.
                                                    Der Vorwurf kommt regelmäßig von
                                                    Verbündeten, Partnern und Experten.
                                                    Es ist richtig: Wir müssen mehr tun! Zur
                                                    Wahrheit gehört allerdings auch: Das
              Deutschland muss zukünftig auch       außenpolitische Engagement eines Lan-
          auf diplomatischer Ebene eine größere     des hängt nicht nur von seiner Wirt-
          Rolle spielen und eigene Vorschläge       schaftsleistung, der Stärke seiner Streit-
          vorbringen bezüglich Nahost und Afri-     kräfte und seinem politischen Gewicht
          ka. Zuletzt hat Bundeskanzlerin Ange-     ab. Außenpolitik ist immer auch ein
          la Merkel die Initiative ergriffen und    Spiegel der außenpolitischen Kultur und
          einen wichtigen Prozess zur Stabilisie-   Tradition eines Landes. Und die ist bei-
          rung Libyens eingeleitet. Berlin gilt     spielsweise in Frankreich, Großbritan-
          weltweit als ehrlicher Makler und kann    nien und den USA eine deutlich andere
          glaubhaft zwischen Kriegsparteien ver-    als hierzulande. Das darf keine Ausrede
          mitteln oder stabilisierend eingreifen.   sein, wenn es jetzt darum geht, tatsäch-
          Dieses Mittel müssen wir öfters und       lich mehr Verantwortung zu überneh-
          entschiedener einsetzen und dabei be-     men. Das hilft aber dabei zu verstehen,
          reit sein, mehr zu wagen und zu gestal-   dass „mehr Engagement“ nur in Form
          ten. Dazu sollten wir eine ernsthafte     eines Prozesses möglich ist – eines poli-
          Diskussion über unser außenpoliti-        tischen und gesellschaftlichen Prozes-
          sches Engagement führen – und Vor-        ses, der Zeit benötigt. In der Außen- und
          schläge nicht von vorneherein zerreden.   Sicherheitspolitik gibt es kein Schalter-
          Als Verteidigungsministerin Annegret      umlegen nach Bundestagsreden.
          Kramp-Karrenbauer im Oktober 2019             In Deutschland selbst misst der
          die Einrichtung einer Schutzzone in       Großteil der Bürger der eigenen Außen-
          Nordsyrien vorgeschlagen hatte, war       politik wenig Bedeutung zu. Das stellt
          die Resonanz innerhalb Deutschlands       die Politik vor eine große Herausforde-
          niederschmetternd. Der Vorschlag hat-     rung. Denn einerseits lassen sich Wah-
          te keine Chance, die politische Diskus-   len heute kaum mit außenpolitischen
          sion zu überleben. Es muss künftig        Themen gewinnen. Genauso wenig er-
          möglich sein, eine kontroverse, sachli-   halten Politiker großen Zuspruch dafür,
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dass sie die Bundeswehr in Ausland-         und Fachexperten. Sie bedeutet jedoch
  seinsätze schicken. Damit sinkt die Be-     wenig für den gemeinen Bürger, der
  reitschaft im parlamentarischen Raum,       aber ganz entscheidend davon profi-
  sich für eine aktive deutsche Außenpoli-    tiert, wenn beispielsweise Handelswe-
  tik zu engagieren. Dabei hängen viele       ge frei sind und eine Gemeinschaft von
  innenpolitische, finanzpolitische, wirt-    Staaten dafür eintritt, dass das auch so
  schaftspolitische, gesundheitspolitische    bleibt. Vor wenigen Monaten wurde
  Themen direkt mit internationalen Ent-      eingeführt, dass Gelöbnisse der Bun-
  wicklungen, globalen Trends und             deswehr wieder öffentlich stattfinden
  Deutschlands Rolle darin zusammen.          und Bundeswehrsoldaten in Uniform
  Die Trennung zwischen Innen- und Au-        kostenlos mit der Bahn fahren dürfen.
  ßenpolitik ist heute nicht mehr möglich.    Das sind wichtige Schritte, um die
  Die Flüchtlingskrise von 2015 oder die      Sichtbarkeit unserer Soldaten und im
  aktuelle Corona-Krise zeigen dies deut-     weiteren Sinne auch die Sichtbarkeit
  lich. Deshalb ist es umso wichtiger, dass   unserer Sicherheitspolitik zu erhöhen.
  die deutsche Stimme gehört wird und         Jetzt kommt es aber auch darauf an,
  wir noch deutlicher unsere Interessen       außenpolitische Diskussionen breiter
  verfolgen.                                  zu führen und Entscheidungen darüber
                                              vermehrt ins Parlament zu verlagern.

                                                  Schlussbetrachtungen
                                              Die Welt ist aus den Fugen geraten und
Die Außenpolitik braucht in                   Corona dürfte die großen Trends unse-
Deutschland einen POSITIVEN                   rer Zeit weiter verstärken. Für die deut-
Bedeutungswandel.                             sche Außenpolitik ist es jetzt wichtig,
                                              diese langfristigen Entwicklungen zu
                                              erkennen, zu benennen und ihnen ent-
                                              schieden entgegenzuwirken. In einer
                                              Zeit, in der das internationale System
                                              stark unter Druck steht und die USA ih-
      Wir müssen Außenpolitik in die          ren Fokus auf China legen, ist es umso
  Mitte der Gesellschaft holen. Mehr          wichtiger, dass Deutschland und Euro-
  Verantwortung in der Außenpolitik           pa global entschlossener auftreten.
  lässt sich in letzter Konsequenz nur        Dazu gehört, dass wir den europäischen
  übernehmen, wenn sich die Bevölke-          Pfeiler in der NATO stärken müssen.
  rung dazu bekennt und das Engage-           Und auch die EU muss außenpolitisch
  ment mitträgt. Das unterstreicht die        geeinter und mit stärkerem Gewicht
  Bedeutung, über Außenpolitik anders         auftreten. Sonst droht uns eine geringe-
  zu sprechen. Und zwar in einer Spra-        re Einflussnahme auf die globalen Ent-
  che, die weithin verstanden wird und        wicklungen, die unsere Sicherheit, unse-
  deutlich macht, warum wir mehr und          ren Wohlstand und unsere Freiheiten
  nicht weniger davon brauchen. Die           maßgeblich beeinflussen und teilweise
  „Allianz der Multilateralisten“ bei-        bedrohen.
  spielsweise klingt zwar wunderbar in            Es ist richtig: Die EU steht durch die
  den Ohren von Politikern, Diplomaten        Corona-Krise vor der größten Bewäh-
                                                                  491/2020 // POLITISCHE STUDIEN   55
ANALYSEN

          rungsprobe ihrer Geschichte. Die Krise
          und ihre Folgen können wir aber nur ge-
          meinsam bewältigen – durch europäi-
          sche Solidarität und substanzielle gegen-
          seitige Hilfen. Wir dürfen diese Krise
          nicht den Populisten überlassen, die vor-
          geben, einfache Antworten auf komplexe
          Fragen zu haben. Und wir dürfen nicht
          den Fehler machen, durch kurzfristiges                   /// T
                                                                        HOMAS ERNDL, MDB
          Krisenmanagement die langfristigen                       ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des
          strategischen Ziele und Partnerschaften                  Deutschen Bundestages (CSU) in Berlin so-
          aus den Augen zu verlieren. Deshalb ist                  wie amtierender Vorsitzender des Unter-
          es wichtig, dass die finanziellen Folgen                 ausschusses für Auswärtige Kultur- und
          der Krise nicht dazu führen, dass wir un-                Bildungspolitik (AKBP). Er ist zudem stell-
          sere Armeen kaputtsparen und die inter-                  vertretender Präsident des Reservistenver-
          nationale Kooperationen zurückfahren.                    bandes (VdRBw e. V.).
          Deutschland muss mehr Verantwortung
          übernehmen. Die anstehende EU-Rats-
          präsidentschaft gibt uns die Möglichkeit,
          jetzt die richtigen Akzente zu setzen. ///

                                                                   /// H
                                                                        ANNES PICHLER
                                                                   ist außenpolitischer Referent von MdB
                                                                   Thomas Erndl. Zuvor arbeitete er als wis-
                                                                   senschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-
                                                                   Adenauer-Stiftung im Nahen Osten sowie
                                                                   am Institute for National Security Studies
                                                                   (INSS) in Tel Aviv/Israel.

          Anmerkungen                                                 der-macht-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-
           1 Ischinger, Wolfgang (Hrsg): „Munich Security Re-        191208-99-58258, Stand: 7.4.2020.
              port 2020: Westlessness“, München 2020, hier S. 6.   6 „ Shared Vision, Common Action: A stronger Eu-
           2 Mattis, Jim: National Defense Strategy. Sharpe-        rope. A Global Strategy for the European Union’s
              ning the American Military’s Competitive Edge,         Foreign and Security Policy”, http://eeas.europa.
              Washington 2018, https://dod.defense.gov/Por-          eu/archives/docs/top_stories/pdf/eugs_review_
              tals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense-           web.pdf, Stand: 7.4.2020.
              Strategy-Summary.pdf, Stand: 7.4.2020.               7 Z it. nach: www.economist.com/europe/2019/11/
           3 Fukuyama, Francis: The End of History and the           07/emmanuel-macron-warns-europe-nato-is-
              Last Man, New York 1992.                               becoming-brain-dead, Stand: 7.4.2020. .
           4 Zit. nach www.ec.europa.eu/germany/news/201909       8 Zum Nachlesen online unter: www.bundesregie
              10-team-struktur-von-der-leyen-kommission_de,           rung.de/resource/blob/975292/736102/6478134
              Stand: 7.4.2020.                                        8c12e4a80948ab1bdf25cf057/weissbuch-zur-
           5 Zit. nach https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-      sicherheitspolitik-2016-download-bmvg-data.
              neuer-eu-chefdiplomat-borrell-wirbt-fuer-sprache-      pdf?download=1, Stand: 7.4.2020.

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