DEUTSCHE AUßENPOLITIK NACH CORONA - HANNS-SEIDEL ...
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ANALYSEN /// Alte Trends und neue Prioritäten DEUTSCHE AUßENPOLITIK NACH CORONA THOMAS ERNDL / HANNES PICHLER /// Im Februar 2014 forderten Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass Deutschland weltweit mehr Verantwortung übernehmen müsse. Diese Einigkeit galt fortan als „Münchner Konsens“ für ein stärkeres Engagement der deutschen Außenpolitik. Seiter ist die Weltlage deutlich unübersichtlicher geworden. Jetzt stellen die Folgen der Corona-Krise die internationale Politik vor zusätzliche Herausforderungen. Deshalb gilt noch mehr als zuvor: Wir müssen unsere Interessen klarer definieren, Prioritäten setzen und entschiedener handeln. Wohin driftet die Welt? Grundsatzdebatten in der europäischen Die Corona-Krise hat die Welt fest im sowie internationalen Politik führen Griff. Ganze Volkswirtschaften wurden wird. Darunter: Wie ist es wirklich um zurückgefahren, der internationale die Handlungsfähigkeit der Europäi- Handel ist eingebrochen, die Prioritäten schen Union (EU) und um die europäi- der Politik haben sich innerhalb weniger sche Solidarität bestellt? Welche Abhän- Tage radikal verändert. Doch während gigkeiten von internationalen Märkten diese Gesundheitskrise in absehbarer und fernöstlichen Produktionsstandor- Zeit bewältigt sein dürfte, werden die ten können wir uns erlauben? Wie steht Folgen nachwirken. Schon jetzt zeigt es wirklich um unsere Sicherheit – und sich, dass die Corona-Krise neue Dyna- was definieren wir eigentlich als „Si- miken entfaltet und zu veränderten cherheit“? 46 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
Quelle: NICOLAS ASFOURI / Kontributor / Getty Images Die Rivalität zwischen den USA und China dürfte sich durch Corona weiter verschärfen und die internationale Politik maßgeblich prägen. Die Antworten auf diese Fragen werden wichtig dafür sein, wie sich die internationale Politik in den nächsten Die CORONA-KRISE wird die Grund- Jahren gestalten und wie sich Deutsch- satzdebatten in der internationalen land darin positionieren wird. Doch Politik verändern. eines ist auch klar: Corona wird die Gesetze der Politik nicht grundsätzlich verändern. Die großen Trends der letz- ten Jahre werden sich auch nach Coro- na fortsetzen. Die großen Konflikte un- serer Zeit sind nicht plötzlich ent- treten und die großen Trends beschleu- schärft, sondern zur Zeit aus dem Fo- nigt werden. Umso wichtiger ist es, kus geraten. Daher wird die bestehende dass Deutschland diese Trends klar er- internationale Ordnung auch weiterhin kennt und Strategien entwickelt, um unter Druck sein. Realistisch betrach- darauf zu reagieren. Was sind die tet dürfte die Corona-Krise jetzt dazu Trends, die aus deutscher bzw. europä- führen, dass bereits zuvor bestehende ischer Perspektive besonders besorg- Konfliktlinien noch deutlicher hervor- niserregend sind? 491/2020 // POLITISCHE STUDIEN 47
ANALYSEN Der „Westen“ verliert an Afghanistan abziehen. Auf die weitere internationaler Bedeutung und Entwicklung in der Region werden wir innerem Zusammenhalt dann deutlich weniger Einfluss haben. Diese Entwicklung wurde auf der Gleichzeitig nehmen die Spannun- Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) gen innerhalb der Bündnisse und Orga- 2020 unter dem Kunstbegriff „Westless- nisationen zu, die maßgeblich vom Wes- ness“ diskutiert.1 Tatsächlich lässt sich ten getragen werden bzw. Ausdruck in den vergangenen Jahren ein schwin- westlicher Werte sind. Dass die NATO dender Einfluss des westlichen Han- der Grundpfeiler der westlichen Sicher- delns auf globale Entwicklungen fest- heitsarchitektur ist, stellt zwar keiner stellen. In kaum einer Konfliktregion der Mitgliedsstaaten ernsthaft in Frage. können sich Europäer untereinander Konstruktive Diskussionen um Erneue- oder im Verbund mit den USA auf ein rung und Entwicklung wurden zuletzt gemeinsames Vorgehen einigen. Das hat aber häufig von den Forderungen nach enorme Konsequenzen für die Stabilität dem Zwei-Prozent-Ziel überschattet. in unseren Nachbarregionen. Libyen Die EU hingegen durchlebt derzeit einen und Syrien sind hierfür beste Beispiele. besonderen Stresstest. Zu Jahresbeginn Entweder haben europäische Staaten hat mit Großbritannien erstmals ein unterschiedliche Interessen verfolgt (Li- Mitgliedsstaat die EU verlassen. Popu- byen) oder ein Konfliktgeschehen viel listen schüren in vielen Mitgliedsstaaten zu lange ausgeblendet (Syrien). anti-europäische und nationalistische Zugleich diskutieren die USA unter Stimmung. Die Corona-Krise und ihre Präsident Donald Trump, aber auch wirtschaftlichen Folgen drohen die EU schon zu Zeiten von Barack Obama eher weiter zu spalten. über den (militärischen) Rückzug als über ein verstärktes internationales En- gagement – die USA können oder wollen nicht mehr „Weltpolizei“ sein. Das ver- ändert das internationale Spielfeld. Das Die Spannungen innerhalb der fehlende Durchsetzen von „roten Lini- Bündnisse, die WESTLICHE Werte en“ bei den Giftgasangriffen in Syrien vertreten, nehmen zu. etwa hat Baschar al Assad zur Fortfüh- rung seiner Kriegstaktik ermutigt – und dazu beigetragen, dass sich Russland massiv in Syrien engagiert. Seitdem hat Moskau im Nahen Osten an Gestal- tungsmacht deutlich hinzugewonnen. Die internationale Politik In Afghanistan sehen wir nur am Rande steuert einer Großmachtkonkurrenz dabei zu, wie die USA mit den Taliban entgegen ein Abkommen schließen, welches die Die neue Strategie des US-Verteidigungs- NATO und damit auch die Bundeswehr ministeriums zeigte erstmals deutlich vor weitestgehend vollendete Tatsachen auf, dass die USA ihre Ressourcen künf- stellt. Sollte die Vereinbarung umgesetzt tig eher der wiederkehrenden Auseinan- werden, müssen auch wir im Verbund dersetzung zwischen Großmächten wid- mit NATO und den USA bis 2021 aus men wird als etwa dem Kampf gegen den 48 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
Terrorismus oder Regionalkonflikten.2 Positionierung gegenüber China und Im Fokus dabei: China und Russland, Russland haben. Das versuchen Peking die auf verschiedenen Ebenen versuchen, und Moskau geschickt zu ihren Gunsten die bestehende internationale Ordnung auszunutzen, wie zuletzt in der Corona- zu unterwandern und ihren Einfluss zu Krise. Während sich die EU in der Krise maximieren. Russland und China ver- noch sortierte, schickten Russland und folgen dabei bei ähnlicher Zielsetzung China einige Hilfsgüter, begleitet von ei- andere Strategien: Während Moskau ner großen propagandistischen Inszenie- versucht, mit vergleichsweise geringen rung. Die innereuropäischen Hilfen Mitteln und überschaubarem Aufwand überwogen faktisch natürlich sehr deut- größtmöglichen Schaden anzurichten, lich. Gleichwohl war der Schaden ange- agiert Peking mit der größtmöglichen richtet und vielerorts Zweifel gegenüber Demonstration wirtschaftlicher und mi- der EU genährt worden, während sich litärischer Stärke. Moskau und Peking erneut als scheinba- Diese Tendenzen und das entstehen- re Alternativen zur EU anboten und der de Konfliktpotenzial zeigen sich schon bisherige Partner USA allzu sehr mit sich seit einigen Jahren. Ausdruck dafür sind selbst beschäftigt war. beispielsweise der Handelskrieg zwi- schen den USA und China, die aggressi- ve Strategie Chinas im südchinesischen Meer oder das Vordrängen Chinas in Afrika und dem euro-asiatischen Raum Europa mangelt es an außen- durch die sogenannte „Seidenstraßen- politischer GESTALTUNGSKRAFT. Initiative“. Russlands Annexion der uk- rainischen Halbinsel Krim hingegen bleibt aus europäischer Perspektive das einprägsamste Vorgehen Moskaus ge- gen die klassische Ordnung. Die Kam- pagne zur Einflussnahme auf die US- Irreguläre Phänomene wie Wahlen 2016, die Unterstützung Assads Terrorismus und Migration nehmen in Syrien oder der Bruch des INF-Ver- kontinuierlich zu trages durch die geheime Entwicklung Nach dem Zusammenbruch der Sowjet- neuer Mittelstreckenraketen weisen bei- union 1989 prägte der US-Historiker spielhaft in diese Richtung. Francis Fukuyama das bekannte Dik- Die große Frage ist, wie sich dieses tum vom „Ende der Geschichte“3. Keine strategische Gerangel zwischen den zehn Jahre nach dieser Einschätzung USA, China und Russland auf Europa musste dieses besagte Ende am 11. Sep- auswirken wird. Schon jetzt sehen wir, tember 2001 erst einmal vertagt werden. dass Europa zum Spielfeld der unter- Die strategische Atempause nach dem schiedlichen Interessen zu werden droht, Kalten Krieg war vorüber. Fortan stand während wir oft zu wenig Kraft aufwen- der Kampf gegen den islamistischen den (können), um unsere eigene Position Terrorismus im Fokus der internationa- mit Stärke zu demonstrieren. Das liegt len Politik. Und er tut es noch immer. auch daran, dass wir innerhalb der EU Denn die radikale Ideologie terroristi- bisher keine einheitliche außenpolitische scher Gruppierungen besteht weiter 491/2020 // POLITISCHE STUDIEN 49
ANALYSEN fort, auch wenn sich die Schauplätze der Terrorismus, Flucht und Migration Auseinandersetzung und die Methoden werden die internationale Politik weiter des Terrorismus kontinuierlich ändern. stark beschäftigen. Denn der Nährbo- Noch vor zwanzig Jahren wurde der den, der diese Phänomene begünstigt, internationale Terrorismus einzig mit besteht weiter fort. Dazu zählen insbe- der Organisation Al-Kaida assoziiert, sondere eine schwache Staatlichkeit in ein Terrornetzwerk mit dem Rückzugs- den Ländern des Nahen Ostens und Af- ort Afghanistan. Heute denken wir vor rikas, fehlende physische Sicherheit, allem an den „Islamischen Staat“ (IS), fehlende Versorgungssicherheit, hohe der sich zwischen 2014 und 2017 in Syri- Arbeitslosigkeit, ineffiziente Verwal- en und Irak ausbreitete, eine große tungsstrukturen, fehlende Bildung und Fluchtbewegung nach Europa auslöste damit zusammenhängend mangelnde und Anschläge im Herzen Europas Zukunftsperspektiven. Es wird davon durchführte. Das territoriale „Kalifat“ ausgegangen, dass Corona diese Regio- des IS wurde in einem internationalen nen stark treffen dürfte, da die Gesund- Kraftakt zerschlagen, bei dem auch die heitsversorgung kaum bis gar nicht ge- Bundeswehr mitwirkte. Allerdings hat währleistet werden kann. Damit werden die Organisation im Untergrund inzwi- diese Staaten weiter geschwächt, die In- schen neue Strukturen aufgebaut, die sie stabilität nimmt zu und der Migrations- weiter handlungsfähig macht. Der IS druck auf Europa steigt. agiert heute in Terrorzellen, die jeweils lokal Anschläge durchführen, Gelder erpressen, Waffen, Ressourcen und Per- sonen schmuggeln – und darauf warten, bis die Zeichen für eine Rückkehr auf Durch die Corona-Krise werden die die große Bühne geeignet sind. Länder im Nahen Osten und in Afrika Hinzu kommt, dass die Organisati- auch POLITISCH weiter geschwächt. on globale Ableger hat, die nach Afrika und in den asiatischen Raum reichen. Personal, Gelder und Waffen werden nachweislich zwischen den unterschied- lichen Regionalablegern bewegt. Die Entwicklungen in Afrika sind dabei in Prioritäten definieren und der öffentlichen Wahrnehmung oft we- Strategien entwickeln niger präsent. Allerdings wüten in der Wir dürfen uns nicht damit zufrieden Sahel-Region, darunter besonders in geben, die Probleme unserer Zeit zu er- Mali und Niger, eine Vielzahl mal kon- kennen und diese allein zu beschreiben. kurrierender und mal kooperierender In Sachen Analyse hat Deutschland we- Terrorgruppen, einige davon werden nig Aufholbedarf. Auch im Handeln ist entweder mit Al-Kaida oder dem IS in Deutschland besser geworden in den Verbindung gebracht. Sie zerstören das vergangenen Jahren. Aber wenn wir den Wenige an staatlicher Infrastruktur und aufgezeigten Trends etwas entgegenset- treiben Millionen Menschen in die zen wollen, wenn wir die globalen Ent- Flucht, viele mit dem für sie räumlich wicklungen mitgestalten wollen, die uns nahen Ziel Europa. maßgeblich beeinflussen, dann müssen 50 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
wir noch entschiedener handeln – und EU keine Position nach außen vertreten. das gemeinsam mit unseren Partnern in Das schwächt uns. Deshalb müssen wir Europa und im transatlantischen Bünd- darauf hinwirken, dass in außenpoliti- nis. Aus diesem Grund sind jetzt die fol- schen Belangen eine Mehrheitsentschei- genden Schritte anzugehen: dung getroffen wird. Damit würde die EU global deutlich an Gewicht gewin- Fokus Europa: Zusammenhalt nach nen, das etwa gegenüber China wichtig innen und Handlungsfähigkeit nach wäre. Solange das nicht der Fall ist, außen stärken müssen wir entschiedener in einer „Ko- Die EU ist der zentrale Handlungs- und alition der Willigen“ agieren. Bezugsrahmen der deutschen Politik. Unsere Sicherheit, unser Wohlstand und unsere Freiheiten hängen direkt mit ei- ner funktionierenden, starken EU zu- sammen. Deshalb müssen wir alles dar- Die EU sollte befugt sein, in ansetzen, die EU weiter zu stärken und außenpolitischen Entscheidungen den Negativentwicklungen entschieden MEHRHEITLICH statt einstimmig entgegenzuwirken. Europa muss nach entscheiden zu können. innen geeinter sein und nach außen ge- schlossener auftreten, um gegenüber den oben aufgezeigten Trends bestehen zu können. Kommissionspräsidentin Ursu- la von der Leyen sprach zu Amtsantritt davon, dass es unter ihr eine „geopoliti- Die Kritik an der EU ist immer wie- sche Kommission“ geben würde.4 Der der groß. So auch zu Beginn der Corona- EU-Außenbeauftragte Borrell erklärte, Krise, als die Menschen nach Brüssel dass die EU die „Sprache der Macht“ ler- schauten und eine Krisenreaktion er- nen müsse.5 Das sind richtige Ansätze. warteten. Brüssel reagierte langsam. Die EU hat schon 2016 eine Global- Das darf aber nicht darüber hinweg- strategie vorgelegt, die auf eine außen- täuschen, dass die Bewältigung der und sicherheitspolitische Neuausrich- Corona-Krise und ihrer Folgen nur ge- tung hinweist.6 Bisher ist es an der Um- meinsam in der EU möglich sein wird. setzung dieser oft gescheitert. Das liegt Das wird ein Kraftakt, an der sich alle nicht zuletzt daran, dass die Mitglieds- Mitgliedsstaaten beteiligen müssen staaten sich untereinander nur schwer und beteiligen werden. Europäische auf gemeinsame außenpolitische Linien Solidarität ist das Gebot der Stunde. einigen können. Deshalb sollte man Die EU kann es sich nicht erlauben, in jetzt überlegen, wie die EU handlungs- der Krise einzelne Länder wirtschaft- fähiger wird. Bisher müssen außenpoli- lich oder „emotional“ zu verlieren. Das tische Beschlüsse im EU-Ministerrat bedeutet aber nicht, dass vorschnelle immer einstimmig gefällt werden. Beschlüsse als Reaktion auf emotionale Stimmt ein Land (und damit beispiels- Debatten gefällt werden können. Die weise auch nur eine Partei einer Koaliti- EU wird gestärkt aus der Krise hervor- onsregierung in einem Mitgliedsstaat) gehen und sich durch neue Krisenlekti- einer Entscheidung nicht zu, kann die onen weiter verbessern. Dazu wird si- 491/2020 // POLITISCHE STUDIEN 51
ANALYSEN cher auch gehören, dass kritische Pro- sen Diskussionen und Irritationen gilt dukte (wie Medikamente, medizini- jedoch: Die engen Beziehungen zwi- sche Geräte, Schutzkleidung) wieder schen Europa und Nordamerika sind vermehrt in Europa produziert und strategisch. Sie müssen und werden aufbewahrt werden müssen, um im politische Kontroversen aushalten. Krisenfall entschiedener agieren zu Denn wir sind verbunden durch ge- können. Wir müssen Europa als „Kon- meinsame Werte, dem Bekenntnis zu tinent der Ressourcen“ neu entdecken. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Und wir müssen einen europäischen und ganz entscheidend: durch eine Pandemieplan für den nächsten Ernst- gemeinsame Sicherheitsarchitektur. fall erarbeiten sowie unsere wissen- Die NATO ist der zentrale Grundpfei- schaftliche Zusammenarbeit zur For- ler unserer Sicherheitspolitik, auch im schung weiter vertiefen. Was jetzt nicht 21. Jahrhundert. passieren darf, ist, dass Länder unter Heute erleben wir ein sicherheitspo- dem Deckmantel der Krise ihren litisches Umfeld, dem sich auch die Rechtsstaat zurückbauen und demo- NATO anpassen muss. Dazu gehört kratische Prinzipien aufs Spiel setzen. auch, dass der europäische Pfeiler der Die EU ist eine Union der Werte – und NATO stärker wird. Große Herausfor- die müssen wir nachhaltig hochhalten, derungen stehen uns bevor, die ver- einfordern und verteidigen. mehrt unser eigenes Engagement erfor- dern. Die alleinige Sicherheitsgarantie der USA – wie im Kalten Krieg – kann heute nicht mehr gelten. Das ist auch deshalb so, weil sich der Fokus der USA Es darf innerhalb der EU nicht entlang der oben aufgezeigten Groß- passieren, dass einige Länder ihren machtkonkurrenz verschiebt. Russland RECHTSSTAAT unter dem Deckmantel liegt demnach mehr im europäischen der Krise zurückbauen. Handlungsbereich, während sich die USA vermehrt China widmen, das sie als wirtschaftlich und sicherheitspoli- tisch größten Konkurrenten empfinden. Unser Ziel muss es sein, die regelbasier- te Ordnung aufrechtzuerhalten. Das Fokus Transatlantisches Bündnis: können wir nur gemeinsam im transat- Europäischen Pfeiler stärken, lantischen Bündnis erreichen. Deshalb Zusammenarbeit erneuern müssen wir jetzt beweisen, dass die Das transatlantische Verhältnis ist der- NATO eben nicht „brain dead“ (Hirn- zeit von großen politischen Spannun- tod) ist, wie Frankreichs Präsident Em- gen geprägt. Das liegt zum einen an manuel Macron es formuliert hat,7 son- den globalen Herausforderungen, die dern anpassungsfähig und kämpferisch die internationale Politik derzeit be- – und Europa darin seine veränderte wältigen muss. Zum anderen aber auch Rolle wahrnimmt. an dem unkonventionellen, zum Teil Deutschland sollte dabei einen noch disruptiven Politikstil des aktuellen entschiedeneren Beitrag leisten. Das US-Präsidenten. Trotz aller kontrover- „Weißbuch der Bundesregierung zur Si- 52 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
enorm gespalten. Von vielen Seiten wird heute beschworen, dass sich 2015 nicht Der europäische Pfeiler in der NATO wiederholen dürfe. Das ist richtig. Dar- muss gestärkt werden. aus folgt aber auch, dass wir uns nach- haltig dafür einsetzen müssen, dass in diesen Weltregionen Kriege und Kon- flikte beendet und Stabilität hergestellt werden. Deutschland ist in den betroffenen cherheitspolitik und zur Zukunft der Regionen bereits aktiver geworden. Als Bundeswehr“ hat 2016 die veränderte die Kurden im Nordirak 2014 dem An- Stoßrichtung für die deutsche Sicher- sturm des Islamischen Staates ausgelie- heitspolitik klar vorgegeben.8 Neben fert schienen, lieferte die Bundeswehr den Auslandseinsätzen macht auch die wertvolle Militärhilfe. Das Engagement Landes- und Bündnisverteidigung wie- im Irak wurde daraufhin zu einer Trai- der eine Priorität unserer Streitkräfte ningsmission in Erbil (Autonome Regi- aus. Diesbezüglich stehen wir besser da, on Kurdistan Irak) und Taji (bei Bag- als das oftmals suggeriert wird. Wir ha- dad) ausgebaut. Als Teil der über 80 ben unseren Verteidigungsetat zuletzt Staaten umfassenden Anti-IS-Koalition stetig erhöht und unser Engagement, stellte die Luftwaffe Geräte zur Luft- beispielsweise im Baltikum, hochgefah- überwachung und Luftbetankung be- ren. Klar ist aber auch: Die gestiegenen reit. Damit haben wir dazu beigetragen, Verteidigungsausgaben müssen bald das territoriale „Kalifat“ des IS zu substanziell bei der Truppe ankommen, schwächen. Wie bereits aufgezeigt, ist sichtbar sein in Qualität und Umfang die Organisation dadurch nicht voll- der Ausstattung und unsere Einsatzfä- ständig zerschlagen. Deshalb müssen higkeit erhöhen. wir uns weiter engagieren und vor allem Staaten wie den Irak unterstützen, da- Fokus Nachbarschaft: Terrorismus mit dort langfristige Stabilität möglich bekämpfen, Instabilität und ist. Zugleich müssen wir den Blick ver- Migration entgegenwirken stärkt auf die Region lenken, in der Ter- Der Nahe Osten und Nordafrika zählen ror, Flucht und Vertreibung derzeit mas- zur unmittelbaren Nachbarschaft Euro- siv zunehmen: den Sahel. Deutschland pas. Entwicklungen, die in den Ländern unterstützt dort bereits mit rund 1.000 dieser Regionen geschehen, haben di- Bundeswehrsoldaten die UN-Mission rekte Auswirkungen auf Deutschland MINUSMA. Im Mai 2020 wurde zu- und Europa. Das zeigte nicht zuletzt die dem der deutsche Beitrag zur europäi- Ausbreitung des IS 2014/2015 im Irak, schen Trainingsmission EUTM geogra- der syrische Bürgerkrieg oder der Krieg fisch ausgeweitet und auf 450 Soldaten in Libyen. Massive Fluchtbewegungen erhöht. Ende März beschlossen mehrere aus diesen Ländern haben die europäi- europäische Staaten, den Anti-Terror- sche Politik vor große humanitäre, fi- kampf in Mali zusätzlich mit einer Spe- nanzielle und ethische Herausforderun- zialeinheit („Takuba“) zu unterstützen. gen gestellt und die Gesellschaften Eu- Diese wird ab Sommer 2020 von Frank- ropas in Fragen von Migration und Asyl reich militärisch angeführt; Deutsch- 491/2020 // POLITISCHE STUDIEN 53
ANALYSEN land unterstützt die Einheit politisch. che außenpolitische Debatte zu führen, Künftig wird es aber notwendig sein, ohne dass Initiativen von vorneherein dass auch wir uns robuster in dieser verurteilt werden. Heute wären wir ver- Weltregion für unsere Sicherheit enga- mutlich froh darüber, wenn es in Nord- gieren und unsere europäischen Partner syrien eine Schutzzone gäbe und damit militärisch unterstützen. auch einen innersyrischen Fluchtpunkt für die Millionen Flüchtlinge in der umkämpften Provinz Idlib. Fokus nach innen: Außenpolitik Deutschland sollte sich in Zukunft in die Mitte der Gesellschaft und stärker in der SAHELZONE militärisch ins Parlament holen engagieren. Deutschland steht oft in der Kritik, sich zu wenig international zu engagieren. Der Vorwurf kommt regelmäßig von Verbündeten, Partnern und Experten. Es ist richtig: Wir müssen mehr tun! Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Das Deutschland muss zukünftig auch außenpolitische Engagement eines Lan- auf diplomatischer Ebene eine größere des hängt nicht nur von seiner Wirt- Rolle spielen und eigene Vorschläge schaftsleistung, der Stärke seiner Streit- vorbringen bezüglich Nahost und Afri- kräfte und seinem politischen Gewicht ka. Zuletzt hat Bundeskanzlerin Ange- ab. Außenpolitik ist immer auch ein la Merkel die Initiative ergriffen und Spiegel der außenpolitischen Kultur und einen wichtigen Prozess zur Stabilisie- Tradition eines Landes. Und die ist bei- rung Libyens eingeleitet. Berlin gilt spielsweise in Frankreich, Großbritan- weltweit als ehrlicher Makler und kann nien und den USA eine deutlich andere glaubhaft zwischen Kriegsparteien ver- als hierzulande. Das darf keine Ausrede mitteln oder stabilisierend eingreifen. sein, wenn es jetzt darum geht, tatsäch- Dieses Mittel müssen wir öfters und lich mehr Verantwortung zu überneh- entschiedener einsetzen und dabei be- men. Das hilft aber dabei zu verstehen, reit sein, mehr zu wagen und zu gestal- dass „mehr Engagement“ nur in Form ten. Dazu sollten wir eine ernsthafte eines Prozesses möglich ist – eines poli- Diskussion über unser außenpoliti- tischen und gesellschaftlichen Prozes- sches Engagement führen – und Vor- ses, der Zeit benötigt. In der Außen- und schläge nicht von vorneherein zerreden. Sicherheitspolitik gibt es kein Schalter- Als Verteidigungsministerin Annegret umlegen nach Bundestagsreden. Kramp-Karrenbauer im Oktober 2019 In Deutschland selbst misst der die Einrichtung einer Schutzzone in Großteil der Bürger der eigenen Außen- Nordsyrien vorgeschlagen hatte, war politik wenig Bedeutung zu. Das stellt die Resonanz innerhalb Deutschlands die Politik vor eine große Herausforde- niederschmetternd. Der Vorschlag hat- rung. Denn einerseits lassen sich Wah- te keine Chance, die politische Diskus- len heute kaum mit außenpolitischen sion zu überleben. Es muss künftig Themen gewinnen. Genauso wenig er- möglich sein, eine kontroverse, sachli- halten Politiker großen Zuspruch dafür, 54 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
dass sie die Bundeswehr in Ausland- und Fachexperten. Sie bedeutet jedoch seinsätze schicken. Damit sinkt die Be- wenig für den gemeinen Bürger, der reitschaft im parlamentarischen Raum, aber ganz entscheidend davon profi- sich für eine aktive deutsche Außenpoli- tiert, wenn beispielsweise Handelswe- tik zu engagieren. Dabei hängen viele ge frei sind und eine Gemeinschaft von innenpolitische, finanzpolitische, wirt- Staaten dafür eintritt, dass das auch so schaftspolitische, gesundheitspolitische bleibt. Vor wenigen Monaten wurde Themen direkt mit internationalen Ent- eingeführt, dass Gelöbnisse der Bun- wicklungen, globalen Trends und deswehr wieder öffentlich stattfinden Deutschlands Rolle darin zusammen. und Bundeswehrsoldaten in Uniform Die Trennung zwischen Innen- und Au- kostenlos mit der Bahn fahren dürfen. ßenpolitik ist heute nicht mehr möglich. Das sind wichtige Schritte, um die Die Flüchtlingskrise von 2015 oder die Sichtbarkeit unserer Soldaten und im aktuelle Corona-Krise zeigen dies deut- weiteren Sinne auch die Sichtbarkeit lich. Deshalb ist es umso wichtiger, dass unserer Sicherheitspolitik zu erhöhen. die deutsche Stimme gehört wird und Jetzt kommt es aber auch darauf an, wir noch deutlicher unsere Interessen außenpolitische Diskussionen breiter verfolgen. zu führen und Entscheidungen darüber vermehrt ins Parlament zu verlagern. Schlussbetrachtungen Die Welt ist aus den Fugen geraten und Die Außenpolitik braucht in Corona dürfte die großen Trends unse- Deutschland einen POSITIVEN rer Zeit weiter verstärken. Für die deut- Bedeutungswandel. sche Außenpolitik ist es jetzt wichtig, diese langfristigen Entwicklungen zu erkennen, zu benennen und ihnen ent- schieden entgegenzuwirken. In einer Zeit, in der das internationale System stark unter Druck steht und die USA ih- Wir müssen Außenpolitik in die ren Fokus auf China legen, ist es umso Mitte der Gesellschaft holen. Mehr wichtiger, dass Deutschland und Euro- Verantwortung in der Außenpolitik pa global entschlossener auftreten. lässt sich in letzter Konsequenz nur Dazu gehört, dass wir den europäischen übernehmen, wenn sich die Bevölke- Pfeiler in der NATO stärken müssen. rung dazu bekennt und das Engage- Und auch die EU muss außenpolitisch ment mitträgt. Das unterstreicht die geeinter und mit stärkerem Gewicht Bedeutung, über Außenpolitik anders auftreten. Sonst droht uns eine geringe- zu sprechen. Und zwar in einer Spra- re Einflussnahme auf die globalen Ent- che, die weithin verstanden wird und wicklungen, die unsere Sicherheit, unse- deutlich macht, warum wir mehr und ren Wohlstand und unsere Freiheiten nicht weniger davon brauchen. Die maßgeblich beeinflussen und teilweise „Allianz der Multilateralisten“ bei- bedrohen. spielsweise klingt zwar wunderbar in Es ist richtig: Die EU steht durch die den Ohren von Politikern, Diplomaten Corona-Krise vor der größten Bewäh- 491/2020 // POLITISCHE STUDIEN 55
ANALYSEN rungsprobe ihrer Geschichte. Die Krise und ihre Folgen können wir aber nur ge- meinsam bewältigen – durch europäi- sche Solidarität und substanzielle gegen- seitige Hilfen. Wir dürfen diese Krise nicht den Populisten überlassen, die vor- geben, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu haben. Und wir dürfen nicht den Fehler machen, durch kurzfristiges /// T HOMAS ERNDL, MDB Krisenmanagement die langfristigen ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des strategischen Ziele und Partnerschaften Deutschen Bundestages (CSU) in Berlin so- aus den Augen zu verlieren. Deshalb ist wie amtierender Vorsitzender des Unter- es wichtig, dass die finanziellen Folgen ausschusses für Auswärtige Kultur- und der Krise nicht dazu führen, dass wir un- Bildungspolitik (AKBP). Er ist zudem stell- sere Armeen kaputtsparen und die inter- vertretender Präsident des Reservistenver- nationale Kooperationen zurückfahren. bandes (VdRBw e. V.). Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen. Die anstehende EU-Rats- präsidentschaft gibt uns die Möglichkeit, jetzt die richtigen Akzente zu setzen. /// /// H ANNES PICHLER ist außenpolitischer Referent von MdB Thomas Erndl. Zuvor arbeitete er als wis- senschaftlicher Mitarbeiter der Konrad- Adenauer-Stiftung im Nahen Osten sowie am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv/Israel. Anmerkungen der-macht-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101- 1 Ischinger, Wolfgang (Hrsg): „Munich Security Re- 191208-99-58258, Stand: 7.4.2020. port 2020: Westlessness“, München 2020, hier S. 6. 6 „ Shared Vision, Common Action: A stronger Eu- 2 Mattis, Jim: National Defense Strategy. Sharpe- rope. A Global Strategy for the European Union’s ning the American Military’s Competitive Edge, Foreign and Security Policy”, http://eeas.europa. Washington 2018, https://dod.defense.gov/Por- eu/archives/docs/top_stories/pdf/eugs_review_ tals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense- web.pdf, Stand: 7.4.2020. Strategy-Summary.pdf, Stand: 7.4.2020. 7 Z it. nach: www.economist.com/europe/2019/11/ 3 Fukuyama, Francis: The End of History and the 07/emmanuel-macron-warns-europe-nato-is- Last Man, New York 1992. becoming-brain-dead, Stand: 7.4.2020. . 4 Zit. nach www.ec.europa.eu/germany/news/201909 8 Zum Nachlesen online unter: www.bundesregie 10-team-struktur-von-der-leyen-kommission_de, rung.de/resource/blob/975292/736102/6478134 Stand: 7.4.2020. 8c12e4a80948ab1bdf25cf057/weissbuch-zur- 5 Zit. nach https://www.sueddeutsche.de/politik/eu- sicherheitspolitik-2016-download-bmvg-data. neuer-eu-chefdiplomat-borrell-wirbt-fuer-sprache- pdf?download=1, Stand: 7.4.2020. 56 POLITISCHE STUDIEN // 491/2020
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