Dialog Handwerk Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks am 12. Januar 2017 Nordrhein-Westfalen vor der Wahl: Situation und ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Dialog Handwerk Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks am 12. Januar 2017 Nordrhein-Westfalen vor der Wahl: Situation und Perspektiven Zusammen stark – Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern 01 | 2017
Schriftenreihe: Dialog Handwerk 1 | 2017 Herausgeber: Handwerk.NRW e. V. Verantwortlich: Josef Zipfel Stenografische Protokollierung und Rednerkorrekturen: Günter Labes Bilder: Wilfried Meyer Gestaltung: Jessica Handke
Nordrhein-Westfalen vor der Wahl: Situation und Perspektiven Zusammen stark – Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern Dreikönigstreffen 2017 des nordrhein-westfälischen Handwerks Dokumentation des Dreikönigsforums mit Andreas Ehlert Arndt G. Kirchhoff Prof. Dr. Michael Hüther Prof. Dr. Gerhard Bosch Dr. Frank Wackers Holger Steltzner, Moderator Hans-Joachim Hering und des Dreikönigsessens mit Andreas Ehlert Karl-Heinz Moll Andrea Nahles MdB, Bundesministerin für Arbeit und Soziales in der DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank Ludwig-Erhard-Allee 20, Düsseldorf am Donnerstag, 12. Januar 2017 Dialog Handwerk 1 | 2017
Inhalt 3 Zum Geleit 4 Dreikönigsforum Begrüßung Andreas Ehlert Präsident HANDWERK.NRW 8 Podiumsdiskussion Arndt G. Kirchhoff Präsident der Landesvereinigung der Unternehmerverbände NRW Professor Dr. Michael Hüther Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Direktor und Mitglied des Präsidiums Professor Dr. Gerhard Bosch Institut für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen Dr. Frank Wackers Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbandes Handwerk NRW Holger Steltzner, Moderation Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) 34 Schlusswort Hans-Joachim Hering Vizepräsident HANDWERK.NRW 36 Dreikönigsessen Begrüßung und Einführung Andreas Ehlert Präsident HANDWERK.NRW 38 Grußwort Karl-Heinz Moll Vorstandsmitglied der DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank 43 Festansprache „Zusammen stark – Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern“ Andrea Nahles MdB Bundesministerin für Arbeit und Soziales 53 Bisherige Veröffentlichungen
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Zum Geleit Das Dreikönigsforum des nordrhein-westfälischen Handwerks stand im Januar 2017 ganz unter dem Eindruck von Wahlen und Abstimmungen. Noch immer bewegt uns der Ausgang des Referendums in Großbritannien zum Ausstieg aus der Europäischen Union. Noch immer bewegt uns der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Beide Ereignisse betreffen unsere Interessen ganz grundlegend: Was sind die Perspektiven der europäischen Integration? Wird der Brexit zu einem Weckruf für ordnungspolitische Reformen in Europa? Und wie eng steht die westliche Welt diesseits und jenseits des Atlantiks noch zusammen? Steuern wir auf eine neue Ära des Protektionismus zu oder können wir das wohlstandsfördernde Prinzip der offenen Märkte stärken? Auch die Wahlen des Jahres 2017 werfen ihren Schatten voraus. Wie viele andere Wahlen und Abstimmungen stellt sich auch für Nordrhein-Westfalen im Mai und für Deutschland im Sep- tember die Frage, ob am Ende Vernunft oder Populismus siegen werden. Die Frage, was unsere Gesellschaft zusammenhält und die Fliehkräfte bändigt, geht uns alle an, denn die wachsende Entfremdung zwischen Wählern und Eliten ist unübersehbar und kann zu einer Gefahr für die politische und ökonomische Stabilität werden. Umso wichtiger ist es, ehrliche Bilanzen zu zie- hen und zu fragen, welche Aufgaben die Politik lösen muss. Nordrhein-Westfalen ist wirtschaftlich und sozial in besonderer Weise abhängig vom Erfolg der europäischen Integration und vom Zusammenhalt des Westens bei der Gewährleistung offener Märkte und innerer wie äußerer Sicherheit. Aber Nordrhein-Westfalen steht auch selbst vor großen Herausforderungen, um wieder aus eigener Kraft zu mehr wirtschaftlichem Wachstum, zu einer besseren Entwicklung des Arbeitsmarktes und zu leistungsfähigeren Bildungsangebo- ten zu kommen – und damit sind auch die politischen Rahmenbedingungen für Handwerk und Mittelstand angesprochen. Wir werben dafür, dass Nordrhein-Westfalen sich wieder auf seine Stärken besinnt und zu einem Motor der Sozialen Marktwirtschaft wird. Düsseldorf, im April 2017 HANDWERK.NRW Andreas Ehlert Dipl.-Volksw. Josef Zipfel Präsident Hauptgeschäftsführer Dialog Handwerk 1 | 2017 3
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Dreikönigsforum Begrüßung DZ Bank. Vielen Dank, dass wir wieder hier sein dürfen. Andreas Ehlert, Präsident HANDWERK.NRW (Beifall) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Herr Böhnke, ich muss noch eine Sache er- heiße Sie alle – aus Politik, Verwaltung, Wirt- zählen, die ich die Tage in der Zeitung gelesen schaft und Gesellschaft – ganz herzlich zu unse- habe. Sie haben als Vorsitzender der Deutschen rem diesjährigen Dreikönigstreffen willkommen. Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft ganz Ich freue mich, dass Sie dabei sind. maßgeblich dazu beigetragen, dass die UNESCO die Genossenschaftsidee Ende November als im- Ich sehe aus dem Landtag Oskar Burkert und materielles Weltkulturerbe anerkannt hat. Diese Hubertus Fehring. Ich sehe den Chef der Mit- Gesellschaft hat die Bewerbung auf den Weg ge- telstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU bracht und nun zu diesem tollen Erfolg geführt. Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst. Ich freue Ich habe das sehr wohlwollend aufgenommen. mich sehr, dass unser früherer Finanzminister Ihre starke Rolle in diesem Prozess ist mir erst Helmut Linssen mit all seiner Kompetenz den deutlich geworden, als ich das gelesen habe. Gra- Weg zu uns gefunden hat. Der eine oder andere tulation dazu, lieber Herr Böhnke. wird noch dazustoßen. (Beifall) Hinter mir können Sie einige Veränderungen er- kennen. Wir tagen zwar in denselben Räumen Nicht nur der Name der Bank in DZ Bank hat wie in den Vorjahren, aber der Name der Bank sich verändert, sondern auch die Marke des hat sich verändert. Die WGZ Bank hat im vergan- nordrhein-westfälischen Handwerks. Aus dem genen Jahr mit der DZ Bank fusioniert. Gemein- Nordrhein-Westfälischen Handwerkstag wurde sam bilden sie nun die Zentralbank der Genos- im vergangenen Jahr schlicht und klar: „HAND- senschaftsbanken, wenn man das so sagen darf. WERK.NRW“. Fusionen sind immer mit einer Menge Arbeit Damit wollen wir erreichen, dass schon durch verbunden. Am Ende zählt, dass das Ergebnis die Bezeichnung das deutlich zum Ausdruck ge- stimmt. Soweit ich das von außen beurteilen bracht wird, was wir – bei aller fachlichen, regi- kann, ist das ganz offensichtlich der Fall. Diesen onalen und organisatorischen Vielfalt – sind: das Erfolg wünsche ich allen Beteiligten von ganzem nordrhein-westfälische Handwerk, mit all seinen Herzen, weil gerade wir im Handwerk aufgrund von allen mitgetragenen Werten. unserer langen gemeinsamen Geschichte den Ge- nossenschaften auf das Engste verbunden sind. Das nordrhein-westfälische Handwerk – das Wir haben mit Ralf Barkey, der auch Teil unseres sind wir in den unterschiedlichsten Organisati- Vorstandes ist, einen, der das in einer wunderba- onsformen. Das nordrhein-westfälische Hand- ren Art und Weise in seiner Person verbindet; er werk – das ist unser Ehrenpräsident Hansheinz ist sowohl im Handwerk in unserem Vorstand, Hauser, den ich hier sehe und der mit weit über als auch im Genossenschaftsbereich aktiv. Ein 90 Jahren es sich nicht hat nehmen lassen, hierher wichtiger Teil der Genossenschaftsbewegung zu kommen, um zu hören, was die heutigen Po- sind die Volks- und Raiffeisenbanken, weil sie diumsteilnehmer gleich miteinander diskutieren mit ihrer klaren Fokussierung auf die Mittel- werden. standsfinanzierung für das Handwerk unent- behrlich sind. (Beifall) Gerade deshalb freue ich mich sehr darüber, dass Das nordrhein-westfälische Handwerk – das ist wir auch nach der Fusion unsere traditionelle auch unser Präsident Hans Peter Wollseifer, der Dreikönigsveranstaltung in diesen Räumlichkei- nach der Vorstandssitzung, die wir heute Vor- ten hier durchführen können. Ein ganz großer mittag hatten, leider wegen eines anderen Ter- Dank gilt Herrn Werner Böhnke, stellvertreten- mins abreisen musste, aber natürlich in Sachen der Aufsichtsratsvorsitzender der fusionierten Handwerk unterwegs ist. Vor Kurzem erst ist er 4 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Seien Sie alle, die Sie Teil des nordrhein-westfä- lischen Handwerks sind, sehr herzlich willkom- men. Das nordrhein-westfälische Handwerk – das sind selbstverständlich auch unsere Handwerkskam- mern, Fachverbände und Kreishandwerkerschaf- ten mit all ihren Mitgliedern. Ich freue mich, dass die Spitzenvertreter der drei Handwerksorgani- sationen in NRW allesamt heute anwesend sind: Hans-Joachim Hering, Präsident des Unterneh- merverbandes Handwerk NRW, Rolf Meurer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der nord- rhein-westfälischen Kreishandwerkerschaften, und natürlich Hans Hund, Präsident des West- deutschen Handwerkskammertages. Herzlich willkommen! Herzlich willkommen ist natürlich auch Berthold Schröder, der Präsident der Hand- werkskammer Dortmund. Und dass Willy Hesse, unser langjähriger Prä- sident des Westdeutschen Handwerkskammer- tages und inzwischen Ehrenpräsident, anwe- send ist und sich erneut zur Verfügung gestellt hat, auch weiterhin im Vorstand von Handwerk NRW mitzuwirken, freut mich ganz besonders. in Münster mit einem eindeutigen und starken Votum für weitere drei Jahre als ZDH-Präsident Das nordrhein-westfälische Handwerk – das wiedergewählt worden. sind natürlich auch unsere vielen Mitarbeiter, die Teil dieses nordrhein-westfälischen Hand- Das nordrhein-westfälische Handwerk – das werks sind. Ich bitte jetzt alle anwesenden Ar- sind die ebenfalls im Dezember in Münster ge- beitnehmervertreter im Saal um Verständnis, wählten ZDH-Präsidiumsmitglieder aus Nord- wenn ich stellvertretend für alle nur meinen rhein-Westfalen: Lothar Hellmann, Präsident des eigenen Vizepräsidenten, den Vizepräsidenten Zentralverbandes der Deutschen Elektro- und der Handwerkskammer Düsseldorf, Karl-Heinz Informationstechnischen Handwerke, Wilhelm Reidenbach, begrüße. Denn in den Gremien der Hülsdonk, Bundesinnungsmeister des Zentral- Handwerkskammern sind auch Arbeitnehmer verbandes des Deutschen Kraftfahrzeug-Ge- vertreten. Angesagt hat sich auch Sigrid Wolf, werbes, Thomas Dietrich, Bundesinnungsmeis- die DGB-Chefin. Sie ist als Sozialpartner ein ter des Gebäudereiniger-Handwerks, und Lena wichtiger Partner für das nordrhein-westfälische Strothmann, Präsidentin der Handwerkskammer Handwerk. Ostwestfalen zu Bielefeld, die heute leider nicht dabei sein kann, weil sie im Deutschen Bundes- Und nicht zu vergessen ist: Das nordrhein-west- tag ihren Verpflichtungen nachzugehen hat. fälische Handwerk kann sich auf starke und verlässliche Partner stützen. Ich freue mich ganz Und das nordrhein-westfälische Handwerk ist besonders, dass Ulrich Leitermann, der Vor- natürlich auch Dieter Philipp, Präsident der standsvorsitzende der SIGNAL IDUNA Gruppe, Handwerkskammer Aachen. Er gehört als Eh- ebenfalls persönlich anwesend ist. renpräsident des Zentralverbandes des Deut- schen Handwerks natürlich ebenfalls in die Seien Sie also alle noch einmal sehr herzlich will- Reihe nordrhein-westfälischer Vertreter im deut- kommen! schen Handwerk. (Beifall) Dialog Handwerk 1 | 2017 5
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Das nordrhein-westfälische Handwerk steht je besser es wirtschaftlich in einem Bundesland auch zu Beginn des Jahres 2017 gut da. Unter- läuft, desto größer sind auch die Gestaltungs- nehmensentwicklung, Beschäftigung und Um- möglichkeiten, die ein Gemeinwesen hat. In in- sätze der Betriebe liegen deutlich im Plus. Wir nere Sicherheit, in unsere Schulen, in Kultur und profitieren von einer lebhaften Binnennachfrage, Wissenschaft, aber auch in soziale Brennpunkte aber wir profitieren ebenfalls von einer stabilen lässt sich immer nur dann investieren, wenn so- Exportkonjunktur. wohl der entsprechende Handlungsspielraum als auch der politische Wille dazu vorhanden Das Geschäftsklima im Handwerk in Nordrhein- sind. Ich will den Vergleich mit Bayern an dieser Westfalen liegt bei über 90 Prozentpunkten. Das Stelle jetzt nicht strapazieren, aber dort zeigt sich, ist ein historischer Höchststand. Seit wir Kon- welchen Handlungsspielraum eine starke Wirt- junkturumfragen im Handwerk machen, war es schaft ermöglicht. niemals besser als zum jetzigen Zeitpunkt. Selbst bei den neu geknüpften Ausbildungsverhältnis- Man kann aber auch ganz grundsätzlich, abgese- sen und bei der Beschäftigung im Handwerk hen von der aktuellen Situation, von Nordrhein- sind wir vorsichtig optimistisch. Zum maßgebli- Westfalen nicht behaupten, dass Wirtschaftspo- chen Stichtag 30. September hat landesweit die litik in unserem Bundesland oberste Priorität Anzahl der Auszubildenden leicht zugenommen, hätte. Denken Sie nur an die epische Diskussion zwar nur um 0,3 Prozent, aber bei abnehmenden um den Landesentwicklungsplan. Dort haben Schülerzahlen freuen wir uns über einen solch sich alle Wirtschaftspolitiker, egal ob aus den schönen Erfolg. Gewerkschaften, aus den Arbeitgeberorganisati- onen, aus den Kammern oder den Kommunen, Wenn wir all diese Zahlen sehen, dann könnten vereint mit dem Wirtschaftsminister darum be- wir uns ein Stück weit zurücklehnen und zufrie- müht, Schlimmeres zu verhindern. Dennoch den sein. Aber diese guten Nachrichten dürfen haben wir uns durchgängig in einer defensiven nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nordrhein- Situation befunden. Wirtschaftliche Entwicklung Westfalen der wirtschaftlichen Entwicklung an- gewissermaßen als Störfaktor in der Entwick- derer Flächenländer im alten Bundesgebiet hin- lung unseres Landes – so habe ich es gelegentlich terher hinkt. empfunden. Das bedeutet für uns als Wirtschaftsbereich Es geht um nicht mehr als die Frage der zukünf- Handwerk im Vergleich zu anderen Bundeslän- tigen Prioritäten in der Landespolitik, um die dern, dass wir noch besser dastehen könnten, Frage, welches Gewicht Wirtschaftspolitik und als wir es derzeit tun. Das wird im anstehenden letztlich das Wirtschaftsministerium überhaupt Superwahljahr 2017 mit Wahlen in Nordrhein- im Geflecht der politischen Interessen hat. Westfalen und im Bund zu thematisieren sein. Es bringt in der Sache herzlich wenig, sich ge- Wir wissen nicht erst seit gestern, dass es unwahr- genseitig Zahlen um die Ohren zu hauen, die scheinlich schwer ist, mit wirtschaftspolitischen dem politischen Konkurrenten schaden oder ei- Themen durchzudringen. Die beiden Wahl- nen selber in einem ganz guten Licht erscheinen kämpfe werden vermutlich völlig überlagert sein lassen. Ich kann angesichts des Nullwachstums von Themen der inneren Sicherheit. Wenn wir im Jahre 2015 verstehen, dass die Oppositions- ehrlich sind, ist das bei dem bedrückend hilflo- parteien sich mächtig echauffiert haben. Wer will sen Eindruck, den staatliche Stellen gerade auch es ihnen verdenken? Nordrhein-Westfalen war hier in Nordrhein-Westfalen machen, durchaus Letzter! Ich kann es ebenso gut verstehen, dass nachvollziehbar. Ob Wahlkämpfe allerdings der Frau Ministerpräsidentin Kraft unter Hinweis geeignete Zeitpunkt sind, hierüber zu diskutie- auf die gestiegene Wachstumsdynamik Anfang ren, steht auf einem anderen Blatt. des Jahres 2016 – 2,1 Prozent plus – erklärte, dass die Wachstumsschwäche nun überwunden sei. Es fällt jedenfalls schwer, mit wirtschaftspoli- tischen Themen in den Wahlkämpfen durchzu- Für die Diskussion viel entscheidender aber sind dringen. Dabei ist eines ganz klar: Eine florie- die mittel- und langfristigen Trends. Und die rende Wirtschaft selbst ist zwar nicht alles, aber sind eben so, dass Nordrhein-Westfalen seit vie- 6 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 len Jahren in der wirtschaftlichen Entwicklung Auch Ihnen, lieber Herr Bosch, ein ganz herzli- hinterherhinkt – mal mehr und mal weniger, ches Willkommen! aber eben beständig hinterher. Im Schnitt der vergangenen 15 Jahre war das reale Wirtschafts- (Beifall) wachstum nur in vier Bundesländern niedriger als in Nordrhein-Westfalen. Nur ein einziges Mal Eine große Freude ist es, dass heute Arndt im Zeitraum seit 2010 lag das Wirtschaftswachs- Kirchhoff bei uns mit an Bord ist, Präsident von tum in Nordrhein-Westfalen über dem Bundes- „Unternehmer NRW“ und Inhaber eines tradi- durchschnitt. tionsreichen, gar nicht so kleinen Familienun- ternehmens. Erfahrene Teilnehmer wissen, dass Es ist doch klar, dass diese Wachstumsschwäche damit heute auch eine Familientradition fortge- nicht ohne Folgen bleibt: für den Wohlstand un- führt wird, denn Ihr Vater, lieber Herr Kirchhoff, serer Bevölkerung, für den Schuldenstand, für war das eine oder andere Mal bei uns als Gast die Investitionsquote, für die Ausgaben für Bil- oder sogar als Mitdiskutant. Deswegen freue ich dung, für die Steuerlasten, bis hin zu solch kon- mich sehr, dass Sie heute diese Rolle hier wahr- kreten Fragen, ob die örtliche Polizeidienststelle nehmen. Herzlich willkommen, lieber Arndt besetzt ist oder nicht. Kirchhoff! Ich habe vorhin den Düsseldorfer Polizeipräsi- (Beifall) denten gesehen. An der Stelle herzlichen Dank, lieber Herr Wesseler, für die Arbeit, die die Po- Natürlich darf auch die handwerkliche Pers- lizei für die Sicherheit in unserem Land für uns pektive nicht fehlen. Dafür haben wir mit dem alle tagtäglich leistet. Hierfür braucht es Geld Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverban- und ein starkes Bundesland, das in der Lage ist, des Handwerk NRW einen aus dem eigenen das entsprechend zu bezahlen. Stall. Dr. Frank Wackers wird heute den Part für das Handwerk übernehmen. Auch wenn Sie hier (Beifall) zu Hause sind, seien Sie ebenfalls herzlich will- kommen, lieber Herr Dr. Wackers. Genau darum gehört Wirtschaftspolitik ins Zen- trum der politischen Agenda. Dass wir uns mit Diese Begegnung von Wissenschaft und Unter- den Befunden nicht abfinden dürfen, das ist völ- nehmertum liegt auch heute wieder in den be- lig klar. Wir müssen den Willen haben, zu gestal- währten Händen von Holger Steltzner, einem ten und hieran etwas zu ändern. Und in diesem der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Sinne wollen wir heute mit unserem Dreikönigs- Zeitung“. Lieber Herr Steltzner, Sie übernehmen forum einen wichtigen Beitrag leisten. in diesem Jahr dankenswerterweise wieder die Moderation. Ich freue mich sehr darauf. Ich hei- Wir haben eine vielversprechende, gute Runde ße Sie herzlich willkommen und übergebe Ihnen zusammenbekommen: Da ist zunächst Profes- jetzt das Wort. Ich wünsche uns allen eine span- sor Michael Hüther. Er ist Direktor des Instituts nende Diskussion. der deutschen Wirtschaft – einer Einrichtung, die sich seit jeher auf das Engste der sozialen Markt- (Beifall) wirtschaft und insbesondere der Berufsbildung verpflichtet fühlt. Herzlich willkommen, Profes- sor Michael Hüther! (Beifall) Ein sehr enger Freund des Handwerks und ein starker Anwalt der Berufsbildung ist auch Pro- fessor Gerhard Bosch von der Universität Duis- burg-Essen – einer der profiliertesten Arbeits- marktforscher, die wir in Deutschland haben. Dialog Handwerk 1 | 2017 7
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Podiumsdiskussion Herr Kirchhoff, die USA sind unser mit Ab- stand wichtigster Handelspartner. Beunruhigen Moderator Holger Steltzner, Sie wie viele von uns die wirtschaftspolitischen Mitherausgeber der „Frankfurter Ankündigungen des neuen amerikanischen Prä- Allgemeinen Zeitung“: sidenten? Donald Trump twittert bekanntlich gerne. Ford und Toyota hat er damit nicht nur Herzlichen Dank, lieber Herr Ehlert, für diese erschreckt, sondern die Investitionspläne auch freundliche Begrüßung. schon ändern lassen. Milliarden werden jetzt in Amerika zusätzlich investiert. Wenn das so ein- Bei der Aufgabe, die Sie mir als Nicht-Nordrhein- fach geht, liegt die Frage auf der Hand: Wird die Westfalen gestellt haben, nämlich „NRW vor der deutsche Autoindustrie Trumps nächstes Twitter- Wahl: Situation und Perspektiven“, nehme ich Ziel, Herr Kirchhoff? an, dass ich heute auf dem Podium viel werde lernen können. Wenn ich mich so umschaue, be- schleicht mich das Gefühl, dass möglicherweise Arndt Kirchhoff, Sie, Herr Bosch, wenn ich das so sagen darf, der Präsident der Landesvereinigung einzige ausgewiesene SPD-Mann sind. der Unternehmerverbände NRW: (Heiterkeit) Herr Steltzner, ich habe eigentlich immer dazu geraten, zunächst einmal kühlen Kopf zu bewah- Möglicherweise muss ich versuchen, Ihnen in ren. Das tue ich immer noch. Natürlich wundert meiner Rolle als Moderator hier und da mal zur einen die eine oder andere Äußerung. Aber das Seite zu springen. Mal schauen, ob mir das ge- ist vielleicht auch ein neuer Stil. Man erlebt ja in lingt. diesen Zeiten häufig Stilwechsel. Jetzt muss man erst einmal beobachten, inwieweit das nachhaltig Bevor wir zum eigentlichen Thema „Lage der ist. Wirtschaft und der Politik in Nordrhein-West- falen vor der Landtagswahl“ kommen, müssen Wenn wir uns einmal an die Fakten halten und wir wohl angesichts der weltpolitischen Lage ei- nicht postfaktisch vorgehen, dann hat er recht. nen etwas größeren Bogen schlagen und einige Amerika hat gewaltigen Nachholbedarf. Das weltpolitische und gesellschaftspolitische Fragen Problem ist auch seit der letzten Krise von 2009, – die innere Sicherheit ist ja erwähnt worden – wo das erstmalig richtig aufgefallen ist, noch stellen. lange nicht gelöst. Das gilt auch für die Auto- industrie. Die Amerikaner möchten von ihrem Selbstverständnis her die besten Autos der Welt bauen. Das tun sie nur nicht; die bauen wir. Die Amerikaner möchten auch die meisten Autos in die Welt exportieren. Das tun sie auch nicht. Das machen auch wir, obwohl wir viel kleiner sind. Wir sind mit unseren 80 Millionen nur ein Pro- zent der Weltbevölkerung. Insofern ist ihnen nicht vorzuwerfen, dass sie sich Ziele setzen, indem sie sagen: Wir müssen wieder mehr an die Spitze kommen. Das ist ihr Selbstverständnis, und das entspricht auch mei- nem Wettbewerbsverständnis. Ich bin immer da- für, dass wir diesen Wettbewerb weiterhin nicht nur aufnehmen, sondern ihn auch weiter pflegen. Wenn ich das aber sage, dann gehört natürlich dazu, dass man auch Bedingungen einhält oder sogar aufstellt, wenn ich an Freihandelsabkom- 8 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Moderator Holger Steltzner: Ich hatte vorhin kurz berichtet über den Ein- druck, den der Chef von Technik und Motor aus Detroit mitgebracht hat, vor allem von einem Abendessen mit Sergio Marcchionne, Chef von Chrysler-Fiat, der ganz kühl in einem Kreis von Journalisten, die an verschiedenen Tischen sa- ßen, sagte, wenn jetzt die Lage so ist, dann bin ich wegen der 35 Prozent an Zöllen, die drohen, Betriebswirtschaftler und kann halt nicht mehr in Mexiko produzieren. Daraufhin meldete sich dann schon eine mexika- nische Kollegin mit zitternder Stimme und frag- te, ob er denn die Mexikaner nicht mehr möge. Er darauf nur ganz kühl, das habe mit Mexikanern gar nichts zu tun, sondern das sei ein betriebs- wirtschaftliches Kalkül. men denke, die Wettbewerb fördern. Das wird Nachfrage also: Ist es denkbar, dass jemand wie ihm von seinem Kabinett, von seinen Kollegen, Trump – tatsächlich mit aller Brutalität Zölle und von vielen Amerikanern, die davon etwas gegen alle NAFTA-Regeln einführt, womit er ja verstehen, gesagt werden, dass das eben nicht auch der amerikanischen Automobilindustrie mit Abschottung geht oder mit irgendwelchen schadet, die auch die Einfuhrzölle auf die Zulie- Maßnahmen, die Wettbewerb behindern. Das ist ferprodukte zahlen müsste, und damit auch den ihm aus deutscher Sicht auch nicht gerade anzu- amerikanischen Verbrauchern oder Autokäufern. raten. Wenn ich mich nämlich umsehe – das trifft ins- Arndt Kirchhoff: besondere für die Autoindustrie zu; das gilt auch für den Maschinenbau; viele Ideen, die wir im Ja, er schadet vor allen Dingen auch sich selber. Maschinenbau finden, kommen aus dem Hand- Jetzt müssen wir einmal sehen, warum er das ei- werk; ich will das Handwerk dabei durchaus mit gentlich macht. einschließen, auch wenn das ganz weit weg ist und im Atlantik viel Wasser dazwischen fließt –, Noch einmal zur Autoindustrie einige Fakten: ist festzustellen, ohne die deutsche Technologie Das größte Werk von BMW steht in den USA und auch ohne die deutschen Prozesse und Pro- – das steht nicht in Deutschland, auch nicht in dukte wird er sein Land überhaupt nicht refor- Mexiko. Das größte Werk steht in den USA. Von mieren können. Das gilt nicht nur für das Auto, dort aus wird sehr viel exportiert. Ein fast so gro- das gilt auch für alle anderen Branchen, ob es der ßes Werk – es ist nicht das größte in der Grup- Stahl ist, ob es die Chemie ist, egal was. Insofern pe, aber es ist eines der größten – steht auch von wäre er gut beraten, wenn er Amerika nicht ab- Mercedes in den USA, sodass die Geländewagen, schotten würde, dass er den Weltmarkt nutzt, die M-Klassen, die Sie kennen und die wir hier in dass er insbesondere uns nutzt. In der Autoindus- Europa kaufen, alle in Amerika gebaut worden trie kann man da durchaus sehr selbstbewusst sind. vorgehen. Ich gehe davon aus, dass uns das am Ende dann eben nicht schadet, auch wenn man- ches heute ein bisschen befremdlich klingt. Aber Moderator Holger Steltzner: letztlich ist er ja irgendwie auch Unternehmer. Wir müssen ihn alle erst einmal kennenlernen. Auch der X5 von BMW. Dialog Handwerk 1 | 2017 9
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Arndt Kirchhoff: ein Stück weit vorweggenommen. Was erwarten Sie? Es ist doch klar, wenn er anfängt, die Mauern hochzuziehen, dann schadet es uns am Ende. Es schadet uns, wenn in der Welt der Protektionis- Dr. Frank Wackers, mus zunimmt. Aus diesem Grunde treten wir Hauptgeschäftsführer Unternehmer- auch ein bisschen leiser auf, weil wir das Land verband Handwerk NRW: sind mit der größten Abhängigkeit vom Export. Ich denke, dass die Vorzeichen, die wir zurzeit Aber er ist auch exportabhängig. Und er hat zu spüren bekommen, eine Fortsetzung dessen auch gesagt, mehr exportieren zu wollen. Dazu sind, was Trump im Wahlkampf versprochen braucht er gute und wettbewerbsfähige Produk- hat. Insbesondere der Tweet, den er an den Präsi- te. Das ist genau das, woran Amerika eigentlich denten von Ford geschrieben hat, mit der sofor- krankt. Das ist am Ende für ihn der Maßstab, ob tigen Reaktion, dass Ford in Mexiko keine Fab- er sein Land ordentlich nach vorne gebracht hat, rik baut, zeigt natürlich seinen Wählern, dass er ob er auch in der Lage ist, Produkte zu exportie- durchsetzungsstark ist. Und da sind wir an einer ren. Ich kann nur wiederholen: Wir müssen den Stelle, wo er möglicherweise alleine schon durch Wettbewerb offen halten. Das ist das, was die Drohungen, die er ausspricht, die Ergebnisse be- Welt nach vorne bringt, den Wohlstand steigert. kommt, die er seinen Wählern vorführen will. Man muss ehrlich sagen, er hat recht: Amerika ist Ich habe vor einiger Zeit im Wahlkampf Stimmen in den letzten 30 Jahren für große Teile der Bevöl- von Trump-Anhängern gehört, die den starken kerung überhaupt nicht nach vorne gekommen. Kontrast belegen zwischen dem, was er ankün- Sehen Sie sich einmal an, was in den letzten 30 digt, und dem, was man überhaupt umsetzen Jahren an Wohlstandsmehrung in Deutschland kann. Viele Wähler in Amerika sagen, selbst passiert ist. Das hat in Amerika nicht stattgefun- wenn Trump nur fünf Prozent von dem umsetzt, den. Die Damen und Herren dort sind ziemlich was er versprochen hat, sind wir zufrieden. Das arm dran. Deswegen haben sie nämlich teilweise ist im Prinzip wohl der Maßstab, den man da drei und vier Berufe. Sie haben leider auch ein auch sehen muss. Damit sind wir natürlich sehr bisschen wenig gelernt. Das stimmt. Aber das ist schnell bei der Frage, was ist von dem, was er ein anderes Thema. Aber da besteht dringender ankündigt, populistisch und was wird er letzten Handlungsbedarf. Das ist richtig. Das kann ich Endes umsetzen. sehr wohl bestätigen. Die spannende Frage für mich ist – wir haben uns im Handwerk auch damit auseinandergesetzt; Moderator Holger Steltzner: Freihandel und TTIP sind im Handwerk auch ein Thema –, wird Trump TTIP kippen. Er hat auch Herr Wackers, wie beurteilen Sie das? Sehen Sie schon entsprechende Vorstöße gemacht. Die Fra- mehr Risiken oder sehen Sie auch die Chancen? ge ist, wird er es wirklich so weit treiben. Wird es vielleicht diese Wende vom Freihandel weg gar nicht in dem Maße geben, wie man das Ich habe den Eindruck: Bisher orientiert er sich jetzt vielleicht befürchtet, wird die Abschottung sehr stark an den Erwartungen, die seine Wähler möglicherweise doch nicht in dieser Weise kom- an ihn haben. Das ist natürlich eine sehr kurzfris- men? Herr Trump ist ja auch Unternehmer, und tige Politik, eine sehr kurzfristige Sicht, die er da er ist dabei auch erfolgreich gewesen, indem er hat. Da sind langfristige Trends aus meiner Sicht für sich selbst und sein Unternehmen gehandelt noch nicht klar erkennbar. Zumal er ja auch lei- hat. der bei seinen Beratern keine erfahrenen Politi- ker an seiner Seite hat. Es sind vielfach Leute, die Möglicherweise könnten auch die Steuersen- im Prinzip aus der Wirtschaft kommen, die dann kungen, die Infrastrukturinvestitionen und die gewechselt sind. Das muss nichts Schlechtes sein. Deregulierungen, die angekündigt oder avisiert Nur denke ich, die Administration muss sich an sind, die Konjunktur und die Weltwirtschaft vor- der Stelle natürlich erst noch finden. Da ist bisher antreiben. Die Aktienkurse haben das zumindest überhaupt keine klare Linie erkennbar. 10 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 der Luft, dass es anders ausgehen könnte, als alle erwartet haben. Das zweite war – relativ ungewöhnlich –, dass der Universitätspräsident am nächsten Morgen eine Mail an alle Universitätsangehörigen und Studenten versandte, dass, egal was jetzt pas- siert, die ausländischen Gäste und Studierenden weiterhin willkommen sind und wir uns schüt- zend vor sie stellen. Das muss man sich schon einmal klarmachen. Wir hatten eine Woche danach in der Fakultät ein Townhall-Meeting, wo aus unterschiedlichsten Ecken von Mitarbeitern berichtet wurde, wie an einer Stelle nicht weiße Amerikaner auf einmal diskriminiert wurden. Ein Verhalten, wie wir es in England nach dem Brexit auch erlebt haben. Es ist auf einmal ein Verhalten wirksam. Mit dem kann im Silicon Valley keiner leben. Das lebt von Moderator Holger Steltzner: der Offenheit. Er geht bislang ja tatsächlich eher taktisch moti- Der Chefökonom von Google, mit dem ich im viert vor. Eine vielleicht langfristige und strate- Gespräch war, sagte mir, am Tag nach der Wahl gische Frage ist Folgendes: Herr Hüther, wenn saßen bei Google zum Teil die Mitarbeiter heu- man das mal auf das Silicon Valley übertragen lend an ihren Schreibtischen. Auf die Frage, wa- möchte, das ja für einen fast unbedingten Fort- rum, war die Antwort: Ja, sie haben zwar einen schrittsglauben steht, mit einer ungeheuren Ver- Aufenthaltsstatus, aber ihre Eltern nicht, die sind änderungsgeschwindigkeit die Entwicklungen illegal in den USA. Das heißt, daran hängt ganz vorantreibt, scheint es mir so zu sein, dass viele viel. Wähler von Trump eigentlich genau das nicht wollten, sondern sie haben gegen den Wandel ge- Die gesamte Struktur lebt davon, dass es Zu- stimmt, sie haben zumindest für eine gebremste wanderung in unterschiedlichster Form in das Veränderungsgeschwindigkeit gestimmt, wenn Dienstleistungssegment gibt und auch in das nicht gar für eine Rolle rückwärts. Insofern war akademischen Segment. Bei Gesprächen Wochen und ist das auch eine Niederlage für das Silicon danach ist im Silicon Valley deutlich geworden: Valley. Sie waren bis vor Kurzem im Silicon Val- Wir tun so, als sei das Amerika. Das Silicon Val- ley, waren dort auch lehrend und forschend tä- ley ist natürlich nicht Amerika. Das sind sieben tig. Wie haben Sie das erlebt? Was heißt das für Millionen Menschen in der Bay-Area. das Silicon Valley? Das heißt, die Vermögensbildung konzentriert sich dort, wo sie auch entsteht. Die Durchsicker- Prof. Dr. Michael Hüther, effekte, die wir in der deutschen Wirtschaft über Direktor und Mitglied des Präsidiums, Netzwerke und über die Clusterstrukturen erle- Institut der Deutschen Wirtschaft: ben, gibt es in der Weise nicht. Die Mitte macht bei uns einkommensmäßig betrachtet 50 Prozent Vom Erleben her war der Tag selbst schon eigen- aus, in den USA in gleicher Rechnung 30 Pro- artig. Man sitzt da an der Westküste, und lang- zent. Die gesellschaftliche Mitte ist in den USA sam kommen die Ergebnisse herein. Es war eine von daher sehr viel schwächer. seltsam sedierte Stimmung an der Hochschule. Wenn Sie nach Stanford kommen, ist dort viel Ich habe mit den gleichen Leuten nach den Ge- Bewegung. Man hatte den Eindruck, das liegt in sprächen Ende September und Anfang Oktober noch einmal Gespräche am Ende meiner Zeit Dialog Handwerk 1 | 2017 11
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 über Wilders und die Niederlande etc. sprechen, und über Deutschland und Frankreich. Da ist ein Protest, der sich nicht allein gegen die Globalisierung wendet, sondern auch ein Stück weit gegen die Digitalisierung. Diese Digitali- sierung geht mit einer unglaublichen Geschwin- digkeit voran. Aber die Ausgleichsprozesse in einer Demokratie brauchen Zeit. Die Wähler müssen damit umgehen, die Politiker müssen damit umgehen. Wir brauchen praktisch für un- sere Aushandlungsprozesse mehr Zeit als uns die Digitalisierung gibt. Also wie können wir die Voraussetzungen für die Akzeptanz dieses dynamischen Wandels herstellen? Wir können doch nicht nur dem technischen Tempo folgen, sondern wir müssen doch auch politisch versu- chen, dort zu bremsen, wo es unsere Demokratie und der soziale Ausgleich für die Akzeptanz und geführt, also Ende November und Anfang De- auch die soziale Marktwirtschaft notwendig ma- zember. Auf einmal kam da: Vielleicht müssen chen. Wie machen wir das? wir doch überlegen, welche gesellschaftlichen Konsequenzen wir ziehen. Es ist schon wahrge- nommen worden, dass dieses Silicon Valley nicht Prof. Dr. Michael Hüther: so selbstverständlich für den Rest der USA steht und dass man diese isolierte Situation, die Vor- Die Antwort darauf, wie wir das machen, muss aussetzungen hat, auch nicht einfach fortschrei- von der Frage ausgehen, wo die Unterschiede ben kann. sind. Was wir wohl zu wenig in den Mittelpunkt unserer Diskussion stellen, sind die regionalen Noch eine letzte Anmerkung: In Stanford wird Ungleichgewichte. Wir schauen sehr stark auf man sagen, na ja, was betrifft das die Uni. Nur die Einkommensverteilung insgesamt über eine 11 Prozent des Universitätsetats sind durch Stu- Gesellschaft hinweg. Viel spannender aber sind diengebühren finanziert. In Deutschland wird am Ende des Tages die regionalen Ungleichge- immer unterschätzt, welche Bedeutung auch wichte. für private amerikanische Universitäten die For- schungsfonds aus Washington haben. Das heißt, Wir haben uns das einmal für Großbritannien an- man erwartet ganz klar ein Umsteuern oder auch geschaut, weil da genau die gleiche Frage kam. ein Abdrehen. Insofern sagt man auch an der Mit Ausnahme des Großraums London kann Universität: Man weiß eigentlich gar nicht, was man Großbritannien eigentlich nicht als einen auf uns zukommt. Und man sorgt sich, weil auch Wachstumsstandort begreifen. ein Haus wie Stanford, das natürlich viele Finan- zierungsquellen hat, das nicht einfach ignorieren kann. Moderator Holger Steltzner: Außer vielleicht noch Oxford und ähnliche Moderator Holger Steltzner: Standorte. Ganz grundsätzlich noch einmal gefragt, weil das nicht nur ein Phänomen Trumps ist. Sie ha- Prof. Dr. Michael Hüther: ben den Brexit schon erwähnt, wir haben auch die Erfolge der Populisten oder radikalen Partei- Ja, aber das sind dann ganz kleine. Dafür müssen en, wie man sie auch immer nennen möchte, in Sie die Lupe herausnehmen, um die dann noch Österreich gesehen. Wir werden nachher noch auf der Karte zu finden. 12 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Das gleiche Phänomen gibt es auch in Frank- der Digitalwirtschaft. In New York und Bos- reich. Sie haben den Großraum Paris und dann ton gibt es das Netzwerk der Finanzwirtschaft. eine völlige Diskrepanz zum Rest. Das heißt, Aber der Rest ist einfach ziemlich flach. Das ist es gibt massive regionale Unterschiede. Die wohl das, wo wir ansetzen müssen. Das ist üb- Schwankungen sind in diesen Ländern, wo wir rigens keine einfache Aufgabe. Sie können nicht über diese Ergebnisse schon verfügen und wo einfach die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale wir es auch als relevante Veränderung wahrneh- Wirtschaftsförderung“ in die USA importieren. men oder als Drohung – Frankreich: Marine Le Aber vom Grundsatz her war es vielleicht – das Pen –, ebenso groß. Das gilt auch für die USA. ist mein Schluss – gar nicht so schlecht, dass wir Das heißt, wir müssen mehr auf die regionalen in Deutschland einen höheren Wert auf den re- Gleichgewichte und Ungleichgewichte achten. gionalen Ausgleich legen, als das gewöhnlich in anderen Volkswirtschaften gemacht wird, weil Diese Debatte wird auch im Inland geführt, ma- es diese Spannungsdimension bei uns reduziert. chen wir eigentlich berechtigterweise Regional- politik oder nicht. In Deutschland wurde auch gefragt, muss der regionale Ausgleichsfonds ei- Moderator Holger Steltzner: gentlich sein. Aber im Grunde stellen wir fest, dass die regionalen Diskrepanzen so gravierend Zumal wir die Zentralisierung nicht haben und werden können, dass sie sich nach hinten aus- historisch traditionell die föderale Struktur auf- wirken. Das sieht man, glaube ich, in den USA. weisen. Wir haben einmal eine Rechnung angestellt. Wenn man das Silicon Valley und den Großraum Prof. Dr. Michael Hüther: San Francisco mit sieben Millionen herausrech- net, dann verringert sich für die 310 Millionen Genau. Wir sind eigentlich glücklich, dass wir anderen Amerikaner das Einkommen um 750 immer föderalistisch strukturiert waren und die- Dollar im Jahr. Wenn Sie dann noch New York se polyzentrische Struktur aufweisen. Dafür kön- – Metropolitan-Area – herausnehmen, noch ein- nen wir nichts. Das ist ein Erbe der Geschichte. mal um 1.300 Dollar. Wenn Sie nur einmal diese Da haben wir einmal Glück gehabt. beiden herausnehmen, haben Sie bereits einen großen Effekt auf das Pro-Kopf-Einkommen. Moderator Holger Steltzner: Wenn London herausgenommen wird aus Groß- britannien – um die Dimension zu beschreiben –, Sehen Sie das ähnlich, Herr Bosch? Ich nehme reduziert sich das Pro-Kopf-Einkommen um 11 an, ja. Wir hatten in der Sonntagszeitung einen Prozent. Wenn Sie Berlin herausnehmen, erhöht Artikel nach dem Wahlsieg über das Silicon Val- sich das Bruttoinlandsprodukt, ley. Darin war eine Grafik, die mir nicht aus dem Kopf geht. Da waren abgebildet die Börsenwerte (Heiterkeit) der Automobilhersteller General Motors, Ford und Chrysler aus dem Jahr 1990, wie ich mich zu aber um 0,2 Prozent. Das ist ja auch gar nicht erinnern meine, so klein wie vielleicht mein Dau- so ungesund. Wenn wir eine solche Abhängig- mennagel, und die Zahl der Beschäftigten mit 1,2 keit von einer Metropole haben, sind wir genau oder 1,3 Millionen bei diesen Herstellern. Dane- in einer derartigen Situation. Das ertragen Ge- ben die Börsenwerte von den führenden Tech- sellschaften auch nicht. Weil die Menschen das Unternehmen Google, Apple, Amazon etc. ganz auch sehen. Auf einmal sieht man nach Colorado groß so wie hinten an der Wand das große Kunst- und nach Idaho. Dann sieht man dort Geschich- werk. Der Börsenwert war 1.400 Milliarden € und ten von Industrieunternehmen, die einfach weg noch was, Beschäftigte 125.000. Nichts macht das sind. Deshalb ist das, was Herr Kirchhoff sagt, eigentlich deutlicher. Eine solche Grafik sagt der entscheidende Punkt. Die Reindustrialisie- mehr als 1.000 Worte. Eine Handvoll Gründer rung Amerikas wird nur gelingen über die Bil- wird unermesslich reich, immer mehr normale dung von Netzwerken jenseits des Silicon Val- Beschäftigte haben Angst oder Sorge, dass es ih- ley. Im Silicon Valley haben Sie das Netzwerk ren Kindern nicht mehr besser gehen wird, als es Dialog Handwerk 1 | 2017 13
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Ihnen heute geht, also Angst, dass der amerika- keine umfassende Sozialversicherung und Sozi- nische Traum nicht mehr erfüllt wird. Und ein alversicherungspflicht. Stück weit haben wir das auch in Europa. Ich war vor einigen Jahren in Berkeley zu einem Wie spricht man die Menschen an? Wie sichert Forschungsaufenthalt und habe dort Erlebnisse man auch die menschliche Fähigkeit, sich weiter- gehabt, die mich tief schockiert haben, weil ich zubilden, in diesen Prozessen aktiv zu bleiben, das so nicht geahnt hatte. Das eine war, dass ich um nicht durch diesen Wandel überfordert und eingeladen war zu einer Feier zum 65. Geburts- aussortiert zu werden? tag. Und die Feier fand nicht statt wegen des 65. Geburtstages, sondern weil die entsprechende Wissenschaftlerin nach 40 Jahren prekärer Be- Prof. Dr. Gerhard Bosch, schäftigung jetzt eine Krankenversicherung hatte Institut für Soziologie an der als Ältere, die sie nie bekommen hat in ihrem Er- Universität Duisburg-Essen: werbsleben. Ich will etwas früher anfangen und bis 1970 zu- Der zweite Schock war für mich – das war jetzt rückgehen. Da hatten die USA ein vorbildliches im akademischen Bereich, aber das gilt ja nicht Lohnsystem. Da steht noch in Textbüchern, die nur im akademischen Bereich, sondern ist im heute niemand mehr liest, zur Lohnpolitik, dass Rust Belt noch viel drastischer –, dass wissen- die tarifvertragliche Bezahlung der Normalzu- schaftliche Kollegen von mir zweimal im Jahr stand in den USA ist. Das galt für das gesamte ein Gespräch haben mit ihrem Finanzberater, verarbeitende Gewerbe, für den öffentlichen weil sie ihre Zuschüsse zur Altersversicherung Dienst, für große Teile des Dienstleistungsbe- selber anlegen müssen. Dabei kann man sich reichs. Und der Achtstundentag war schon in ganz schön vertun. Das heißt, die Finanzkrise hat den 50er-Jahren eingeführt. Die waren weit vor auch einen ganz tiefen Schock hinterlassen, was uns. Die Unterschiede waren immer groß, was die persönliche Sicherheit angeht, auch was die die Vermögen angeht, aber die Mittelklasse war Altersversorgung betrifft. Viele mussten wieder stabil und die Unterklasse bekam auch eine gan- anfangen zu arbeiten. ze Menge mit. Ein nächster Punkt: Ich habe in der Automobil- Seit 1970 hat sich das geändert. Wir können das industrie vielfach geforscht, war auch häufiger an den Einkommenskurven sehen. Das zeigen in Detroit. Detroit sieht teilweise aus – ich war alle amerikanischen Ökonomen. Sie beginnen allerdings ein paar Jahre nicht da – wie Deutsch- immer bei 1970. Da zeigt sich, wie die Einkom- land nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist un- mensschere und die Vermögensschere auseinan- glaublich. Ich sehe das ganz ähnlich wie Sie, Herr dergehen. Hüther, was die Regionalpolitik angeht. Ich den- ke – das habe ich auch erst spät gelernt –, dass Welchen politischen Hintergrund hat das? Das Regionalpolitik ein Grundpfeiler des deutschen ist möglich geworden durch die systematische Sozialmodells ist, aber auch des europäischen Zerschlagung von Gewerkschaften als ein Ta- Sozialmodells. Es ist in Skandinavien noch aus- rifpartner. Es gibt in den meisten Bereichen der geprägter als bei uns im Übrigen, weil die noch USA keine Tarifverhandlungen, sondern Löhne viel prekärere Regionen im Norden aufweisen, werden gesetzt – nach Knappheitsrelationen. die sich aber durch den Regionalausgleich rela- Wenn man eine gute Qualifikation hat, bekommt tiv gleich entwickeln. Und das gibt es in den USA man viel, aber das kann morgen schon anders nicht. Insofern sind diese regionalen Unterschie- sein. Das Einkommen ist also gar nicht garan- de gigantisch. Und der Strukturwandel ist natür- tiert. Selbst bei guten Qualifikationen gibt es lich auch völlig anders. Wenn Sie das Ruhrgebiet keine Einkommensstabilität im Lebenslauf. Vor mit den Stahlregionen in den USA vergleichen allem ist die soziale Sicherung in den USA immer oder mit den alten US-Bergbauregionen, dann an den Betrieb gebunden gewesen. Sie haben nur sehen Sie riesige Unterschiede. Da haben Leute eine gesetzliche Basisversorgung, was die Alters- nicht nur ihren Arbeitsplatz verloren, sie haben versicherung angeht, die Gesundheitsvorsorge auch ihr Hauseigentum verloren, weil das Haus war an den Betrieb gebunden. Es gab und gibt keinen Wert mehr hat. Sie haben das Haus aufge- 14 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Widerspruch zwischen Feiertagsreden und dem realen Handeln. Ich denke, dass Trump seine Wähler natürlich massiv enttäuschen wird. Er wird nichts für sie tun. Möglicherweise wird es einen Boom geben durch eine Investitionsinitiative. Das kann sein. Es gibt genügend ungenutzte Kapazitäten in den USA, um Straßenbau zu forcieren. Da sehe ich keine Engpässe. Wenn er das Geld findet, dann kann es sein, dass es eine Bubble gibt, und die Börsenkurse mögen steigen, weil er ja eine Un- ternehmenssteuerreform verspricht. Aber dass daraus stabile Arbeitsplätze entstehen, ob das langfristig überhaupt einen Sinn hat, das sehe ich nicht. Ich habe ganz Ähnliches beobachtet wie Herr Kirchhoff. Ich war auf einer Tagung mit Stanford- und Berkeley-Universitätspro- fessoren. Da ging es um die Hightech-Initiative in Deutschland. Die Amerikaner äußerten sich geben und sind weitergezogen. In Deutschland alle bewundernd über unser Modell, und zwar hat ein Haus im Ruhrgebiet immer noch einen standen im Vordergrund, was Sie sagten, Herr Wert. Und die Kaufkraft in den Regionen wird Hüther, die Clusterbildung, die Vernetzung der stabilisiert über Arbeitslosenversicherung und Betriebe untereinander. Als zweites haben sie andere regionale Transfers. unsere deutsche Berufsausbildung bewundert. Sie haben nämlich unterhalb der akademischen Es wird immer gesagt, das habe etwas mit Glo- Ausbildung nichts. Die Stanford-Ingenieure ha- balisierung zu tun. Ja, aber, ich denke, die Verun- ben gesagt: Unsere Ingenieure sind tief frustriert, sicherung – das gilt übrigens für Großbritannien weil sehr viele von ihnen als Supervisor enden, genauso – hat zuerst im eigenen Land begonnen. nämlich auf der Ebene der mittleren Führungs- Maggie Thatcher hat sich durchgesetzt. Es war kräfte, die die Qualität der Arbeit der An- und sozusagen ein Kriegszustand zwischen Gewerk- Ungelernten unter sich kontrollieren müssen, schaften und Regierung. Es gibt in der britischen was bei uns die Facharbeiter – das wissen Sie, Privatindustrie praktisch keine Tarifverträge Herr Kirchhoff – in ihren Betrieben ganz selbst- mehr, nur noch betriebliche, keine Flächentarif- verständlich selber machen. Und wenn, dann verträge. Die Metallarbeitgeberverbände haben müssen die Meister das machen. Aber im We- irgendwann 1980 gesagt, wir verhandeln nicht sentlichen wird ja bei uns Qualität produziert. In mehr. Sie haben den Gewerkschaften ein Tele- den USA müssen sie ständig kontrollieren. Das gramm geschickt und sich aufgelöst. Da war der ist ein Riesenproblem für das verarbeitende Ge- Metalltarif weg. Und die Gewerkschaften waren werbe, aber auch für andere Bereiche. nicht mehr stark genug zu verhandeln. Und die Amerikaner haben gar nicht mehr die Diesen Krieg hat die britische Oberschicht ge- Erwartung an Qualität. Wenn ich in ein amerika- wonnen, jetzt hat sie ihn verloren in der Brexit- nisches Hotel gehe, da fängt meine Frustration Abstimmung. Ich glaube, der soziale Ausgleich an der Rezeption an. Wenn ich nach irgendwas ist ein ganz zentrales Thema. Madame Lagarde frage, was nicht zum Standardeinchecken ge- vom IWF hat das gesagt – nur es folgen aller- hört, dann muss der Supervisor kommen. Die dings keine Taten –, auch das Weltwirtschaftsfo- USA sind also voller Supervisors, weil es dort zu rum in Davos. Auf der anderen Seite wird aber wenig Berufsausbildung gibt – und viel unquali- wieder dazu beigetragen, dass soziale Rechte wie fiziertes Personal. Tarifverträge überall abgebaut werden, wo der IWF Kredite vergibt. Insofern haben wir da einen (Beifall) Dialog Handwerk 1 | 2017 15
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Die Teilnehmer des Dreikönigsforums: Dr. Frank Wackers, Prof. Dr. Gerhard Bosch, Moderator Hol- ger Steltzner, Andreas Ehlert, Prof. Dr. Michael Hüther, Arndt G. Kirchhoff ( von links nach rechts) aber wird schon Mitte März in den Niederlanden Moderator Holger Steltzner: gewählt. Dort liegt allen Umfragen zufolge mit großem Abstand die Partei für die Freiheit von Um nach Europa zurückzukommen, Herr Kirch- Geert Wilders weit vorne, der nicht nur den Is- hoff: Das Nachbarland Niederlande ist nicht so lam ablehnt und den Euro, sondern auch die EU zentralistisch organisiert. Es pflegt ähnlich wie insgesamt. Was würde denn ein Wahlsieg von Deutschland föderale Strukturen. Es kennt auch Geert Wilders für Nordrhein-Westfalen bedeu- den Ausgleich, im Prinzip werden dort auch im ten, das ja auch bis in die logistischen Ketten und Konsens mit Gewerkschaften zusammen Tarif- die Infrastruktur, wenn man an Antwerpen und löhne entwickelt. Gleichwohl hat sich das poli- Rotterdam denkt, aufs Engste mit diesem wirt- tische Klima dort sehr verändert. So ist das auch schaftlich starken Nachbarn verbunden ist? in Österreich der Fall, das ebenfalls ein föderal strukturiertes Land ist, zwar mit einer ganz star- ken Kapitale mit Wien. Es hat aber auch eine Re- Arndt Kirchhoff: gionalentwicklungskompetenz. Die Niederlande sowieso. Ich glaube, das beschäftigt uns alle. Wenn ich die Antwort wüsste, würde ich sie Ihnen gerne sa- Jetzt haben wir das Problem, dass diese Ter- gen. Ich kann eigentlich nur – ich bin kein Politik- rorangst nach den Anschlägen in Frankreich, wissenschaftler – vermuten, woran es liegt. Deutschland und Belgien nicht nur das Klima verändert hat, sondern auch das Gefühl für Si- Ich meine, Europa – das schreiben die Medien cherheit ausgehöhlt hat. Auch die Debatte über und das sagen wir, wenn wir sprechen – ist ja Migranten und Multikulti wird wesentlich eigentlich das Friedensprojekt schlechthin, was schärfer geführt. Gemeinhin schaut man immer wir in den letzten über 70 Jahren auf der Welt er- so auf die großen Länder Deutschland und vor- lebt haben. Wir haben so ein Gefühl, dass das im neweg noch die Wahl in Frankreich, tatsächlich Augenblick gefährdet ist. 16 Dialog Handwerk 1 | 2017
Dreikönigstreffen des nordrhein-westfälischen Handwerks 2017 Wenn ich das sage, dann beziehen viele Natio- geht total daneben. Das weiß auch jeder verant- nen – so die Niederlande, so auch Österreich und wortliche Politiker. andere – dieses Gefühl auf sich und fragen: Was erwarte ich von meinen politisch Handelnden, Es ist sowieso nicht angenehm Politiker zu sein, von meiner Regierung in einer solchen Situation? wie ich als Unternehmer glaube. Ich beneide die Damen und Herren nicht, bewundere das sogar Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens – das eher, aber ich glaube, sie haben jetzt noch viel überwiegt im Augenblick für mich noch, aber mehr Verantwortung, die Entscheidungen zu das ist eben die große Unsicherheit in vielen Be- treffen, wie es in einer Demokratie nämlich vor- reichen – tun sie alles, dass Europa nun wirklich gesehen ist. Dazu sind sie gewählt. Dann müssen zusammenrückt und beweist, dass Europa das sie diese Pflicht leider auch wahrnehmen. Die in den Griff bekommt. Wir diskutieren seit vie- Entscheidung kann richtig oder falsch sein. Das len Jahren unter anderem die Aufgabenteilung. spielt dann keine Rolle. Das werden wir merken, Dazu gehört das Subsidiaritätsprinzip. Was sol- dann korrigiert es der Wähler. Wenn die Ent- len die Nationen machen? Was will Brüssel ma- scheidung richtig ist, dann ist es auch gut. In dem chen? Dazu werden seit Jahren Pünktchenlisten Fall werden sie wiedergewählt und bestätigt. erstellt. Ich finde sehr bedauerlich, dass es dabei Aber das ist jetzt angesagt. Es kann nicht sein, zumindest für mich und für viele andere auch dass wir jetzt alle verschreckt gucken. Ich mache nicht sichtbar nach vorne geht, sodass Europa mir über das Thema „Demokratie“ wirklich Ge- von Tag zu Tag schwächer wirkt, auch wenn es danken, auch natürlich über das Thema „Euro- das vielleicht gar nicht ist. pa“. Das werden Prüfsteine werden. Ich meine, so hat es die Kanzlerin auch gesagt, wenn ich die Wenn das die Staatengemeinschaft nicht hinbe- Neujahrsansprache richtig verstanden habe. Das kommt – durch den Brexit wird sie jetzt ja kleiner sind Prüfsteine. Holland ist der erste, Frankreich –, dann haben sie natürlich die Möglichkeit, es so der zweite, Italien haben wir auch noch, Deutsch- zu machen wie Herr Orban, in dem sie politisch land haben wir. Wir haben also eine schwierige im eigenen Land richtig führen und ihrer Bevöl- Situation. Aber ich kann Ihnen die Lösung nicht kerung – ich war die letzten zwei Tage in Ungarn nennen. Das ist nicht mein Beruf, und ich habe – zeigen, dass sie sich um ihr Land kümmern. auch keine wissenschaftliche Befähigung dazu. Die haben eine Arbeitslosigkeit, die mittlerweile niedriger als die Deutsche ist. Sie kommen von zweistelligen Zahlen, liegen jetzt bei unter 5 Pro- Moderator Holger Steltzner: zent. Die Leute haben alle Jobs, fühlen sich sicher. Das ist, glaube ich, das, was die Menschen wol- Und wir haben Nordrhein-Westfalen auch noch len. Ich spüre, dass das im Augenblick auch von als Prüfstein, Herr Hüther. Mein bekannter Kol- ziemlich allen Parteien ins Wahlprogramm für lege Fleischhauer vom „Spiegel“ hat in seiner dieses entscheidende Jahr aufgenommen wird. jüngsten Kolumne etwas unter der Überschrift „Failed State NRW“ geschrieben: Wenn ich darunter einen Strich ziehe, dann heißt das für mich, wir müssen, um die Demokratie „Als der Polizei in Chemnitz im Herbst ein Ter- zu retten – ob das in Holland gelingt, weiß ich rorverdächtiger entwischte, war vom ‚Sachsen- nicht; die Zeit ist vielleicht ein bisschen zu kurz –, sumpf‘ die Rede. Wie soll man das nennen, was den von uns Gewählten abverlangen, Entschei- in NRW passiert, wenn es um Terrorabwehr dungen zu treffen. Das Hinauszögern, das wir geht?“ vielfach erleben – auch schon seit vielen Jahren in Deutschland; nicht erst seit dieser Regierung; Er zählt dann auf, dass der Attentäter von Ber- das ist schon lange so, wie wir wissen –, verbes- lin seit Sommer 2015 unbehelligt in Deutschland sert die Situation nicht. Das Zurückdelegieren, lebte, obwohl er schon bei der Abgabe seines wie wir es beim Brexit erlebt haben und wie es in Asylantrages die Behörden zu täuschen versuch- anderen Gegenden plötzlich auch passiert, dass te, indem sich der Tunesier als Ägypter ausgeben man sagt, ich weiß es nicht, ich will auch nicht wollte. Er verwendete 14 verschiedene Namen, entscheiden, ich frage mal wieder mein Volk, das wurde mit gefälschten Papieren von der Polizei erwischt – was eine Straftat ist –, kam aber nach Dialog Handwerk 1 | 2017 17
Sie können auch lesen