Die Lepra in Mexiko - Gestern, Heute, Morgen - Mitteilungen der Gesellschaft für Leprakunde e. V - Lepramuseum ...
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Die Klapper 25, 2017 1 Mitteilungen der Gesellschaft für Leprakunde e. V. 25, 2017 Die Lepra in Mexiko – Gestern, Heute, Morgen Mittelamerika mit dem heutigen Mexiko wurde vor von Kodizes und Hieroglyphen-Gemälden [8] sowie mehr als 20.000 Jahren besiedelt, wahrscheinlich von Plastiken, vor allem solche aus Ton, erhalten [22]. Asien aus über eine Landbrücke im Bereich der heu- tigen Beringstraße zwischen Alaska und Russland. Im In den der Eroberung vorausgehenden Jahrhunderten Lauf der Jahrtausende wanderten die Einwanderer war die Medizin stark von der vergleichsweise alten nach Süden und entwickelten zahlreiche Kulturen, Kultur der Olmeken beeinflusst. Diese Volksgruppe, im von denen die der Azteken im Hochland von Mexi- Osten der mexikanischen Halbinsel beheimatet, war ko und die der Maya im Tiefland besonders bekannt in vielerlei Hinsicht wesentlich schöpferischer als die wurden. Azteken, die hauptsächlich Gebräuche und Kenntnis- se von anderen Stämmen, die sie im Hochland unter- Die große Zäsur in der Geschichte Mexikos stellte die worfen hatten, übernommen hatten [5, 10]. Die teils Eroberung durch Hernán Cortés und dessen Armee in prachtvollen aztekischen Kodizes sind, anders als die den Jahren 1518 bis 1521 dar. Unterstützt von Volks- fast zeitgleich im europäischen Mittelalter entstande- stämmen, die den Azteken feindlich gesinnt waren, nen Gemälde, hoch stilisierte Darstellungen von Er- und von den Pocken, die reihenweise die Eingebore- eignissen, Gebräuchen und Tätigkeiten. Krankheiten nen dahinrafften, gelang es den Spaniern, die Azteken und deren Behandlung werden darin nur kursorisch zu besiegen und das Land fast 300 Jahre lang zu be- beschrieben und krankheitsbedingte Veränderungen herrschen. Wie so oft in der Geschichte machten die auf der Basis von Religion, Magie, Aberglauben und Eroberer kurzen Prozess, nicht nur mit der eingebore- Fantasien erklärt [21, 22, 23]. Im eindrucksvollen Flo- nen Bevölkerung, sondern auch mit deren Kultur. Des- rentinischen Kodex, ab 1582 von dem Mönch Bernar- halb sind nur wenige schriftliche Zeugnisse in Form dino de Sahagún publiziert, finden sich einige wenige Diffuse Lepra lepromatosa („schöne Lepra“) Typ II-Lepra-Reaktion (Lucio-Phänomen) Tonfigur Pepe aus Nayarit
2 Die Klapper 25, 2017 dermatologische Abbildungen, so die einer Frau bei den können. Aus heutiger Sicht entsprechen manche der Behandlung eines Mannes mit Hautveränderun- dieser Hautveränderungen eher einer Syphilis als einer gen [14]. Anders als im mittelalterlichen Europa wa- Lepra. Die knotigen Veränderungen eines Gesichts auf ren die anatomischen Kenntnisse der Azteken und die einer Urne aus olmekischer Zeit könnten auch zu ei- anderer Stämme eher gering und beschränkt auf die ner Lepra passen [14]. Differenzialdiagnostisch kommt bei Opferritualen gewonnenen Einsichten. Allerdings aber auch die anergische Form der Leishmaniose in wurden auch in Europa Hautkrankheiten erst ab dem Betracht, deren Hautveränderungen der lepromatösen 17. Jahrhundert im Bild genauer dargestellt. Lepra sehr ähnlich sind. Ein eindrucksvolles Beispiel für Hautveränderungen, die nicht eindeutig zu klassifizie- Von besonderer Bedeutung für die Interpretation ren sind, ist die „Pepe“ oder „Pepito“ genannte Figur von Krankheiten sind die sehr zahlreichen Ton- und aus Nayarit, etwa aus dem 5. vorchristlichen Jahrhun- Steinfiguren, die von manchen mexikanischen Volks- dert stammend und mit großen, wie gepunzt erschei- stämmen erhalten sind [22]. Einige dieser Figurinen nenden Knoten der Haut (Abb. S. 1). Eine andere Figu- zeigen Hautveränderungen, die aber nicht eindeutig rine aus diesem Kulturkreis zeigt eine Gynäkomastie, einer bestimmten Hauterkrankung zugeordnet wer- die als Hinweis auf eine Lepra interpretiert wurde [14]. Zusammenfassung Die in Mexiko vor der Eroberung durch die Spani- und therapeutisch tätig waren. Ab Mitte der 1990er er nicht heimische Lepra wurde aus Europa oder Jahre sank die Prävalenz der Lepra in Mexiko un- Südostasien eingeschleppt. Gegen Ende des 19. ter die von der WHO als wichtig angesehene Rate Jahrhunderts wurde die Lepra in Mexiko als ge- von weniger als 1 Neuerkrankung pro 10.000 Ein- sundheitspolitisches Problem erkannt und durch wohner. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der das Engagement einzelner Ärzte als Krankheit ernst Neuerkrankungen bei etwa 500 pro Jahr stabilisiert. genommen. Im 20. Jahrhundert wurden landesweit Besondere klinische Aspekte der Lepra in Mexiko Behandlungsstellen eingerichtet und Dermato-Lep- sind die diffuse lepromatöse Form und die Reaktion rologen ausgebildet. Höhepunkt der Aktion gegen bei dieser Form der Lepra in Form des Lucio-Phäno- die Lepra waren mobile Einheiten, die Anfang der mens. 1960er Jahre in den Endemiegebieten diagnostisch Summary Most likely leprosy did not exist before the con- off-center. From 1995 onwards prevalence of lep- quest by the Spaniards. It is assumed that leprosy rosy declined below the rate of 1 newly diagnosed was imported from Central Europe and from South- case per 10.000 habitants, stabilizing at about 500 east Asia. By the end of the 19th century, leprosy new cases detected per year in the last decade. For was recognized by some devoted doctors as an im- various reasons it seems unlikely that leprosy could portant health problem. In 20th century, leprosy be completely eradicated in the near future in Mexi- dispensaries were implemented in endemic regions co. Peculiar clinical aspects of the disease in Mexican and training of dermato-leprologists started. Action patients are the diffuse form as variant of leproma- against leprosy culminated in setting up mobile tous leprosy, as well as the type II-reaction, the so- units in the 1960es, diagnosing and treating leprosy called phenomenon of Lucio. Resumen La mayoría de los autores considera que la lepra no fuera de los centros. A partir de 1995 el número de existía en México antes de la Conquista española casos empieza a disminuir y en la última década se y que fue importada de Europa en el siglo XVI y alcanza la meta establecida por la OMS de que haya más tarde del Sudeste de Asia. A finales del siglo menos de 1 por 10,000 habitantes. Por varias ra- XIX algunos médicos la consideraron un problema zones se piensa que la lepra no podrá erradicarse importante de salud. En el siglo XX se establecen completamente en México en un futuro próximo. Dispensarios en las regiones endémicas y se inicia Existen en México aspectos clínicos peculiares como la enseñanza de la dermatoleprología. En 1960 la la lepra difusa y la reacción tipo II que se presenta en lucha contra la lepra introduce unidades móviles ella: el eritema necrosante con fenómenos de Lucio. que diagnostican y tratan a los enfermos de lepra
Die Klapper 25, 2017 3 Es gilt heute als sehr wahrscheinlich, dass die spani- Im 19. und vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert schen Eroberer nicht nur Pferde, Feuerwaffen und die wurden die zumeist hospitalisierten Leprakranken in Pocken nach Mexiko brachten, sondern höchst wahr- Mexiko vernachlässigt, zum einen aufgrund der po- scheinlich auch die Lepra, war diese doch im mittel- litischen Situation, zum anderen wegen anderer sehr alterlichen Spanien heimisch. Gegen die Annahme, häufiger Krankheiten wie Typhus. Insgesamt war die dass die Lepra in Mexiko vor der Eroberung existierte, Situation selbst in den Krankenhäusern der Haupt- spricht auch, dass bislang keine der im Verlauf der Le- stadt Mexiko-City, das Ende des 19. Jahrhunderts etwa pra auftretenden Veränderungen an Skeletten aus der 350.000 Einwohner zählte, miserabel, die Fachrich- präkolumbischen Ära nachgewiesen werden konnten. tung Dermatologie nicht existent [13]. Es war Jesús Zu erwähnen ist auch, dass die Lepra nicht erwähnt González Urueña (1868–1957) (Abb.), der 1897 die wird in den teils sehr ausführlichen Berichten, die Cor- erste statistische Erhebung über die Lepra vorstellte tés selbst [7] und spätere Chronisten wie Bartholomé und die damaligen Kenntnisse über die Lepra in ei- de las Casas nach Spanien schickten oder, wie Fray ner umfangreichen Übersicht („La lepra en México“) Bernardo Sahagún, nach der Rückkehr dorthin verfass- darstellte. Bei einer weiteren epidemiologischen Be- ten. standsaufnahme 1927 wurden in Mexiko-City etwa 1500 Leprakranke identifiziert, für Urueña Anlass, Da es aber für die These, dass die Lepra von Spani- seinen Kampf gegen die Lepra in Mexiko durch die en nach Mexiko exportiert wurde, keine Beweise gibt, Gründung von 21 Dispensarien („Dispensarios Antile- müssen auch andere Ansteckungsquellen in Betracht prosos“) in Endemiegebieten zu verstärken. In diesen gezogen werden. Manche Experten gehen davon aus, Dispensarien wurden die Leprakranken ambulant ver- dass die Krankheit erst durch den Handel mit asiati- sorgt und nicht, wie in vielen anderen Ländern üblich, schen Ländern, in denen die Lepra häufig war, nach hospitalisiert und damit isoliert. Mexiko eingeschleppt wurde. Die Herkunft der Lepra aus dem pazifischen Raum wird auch als „philippini- Nachfolger von Urueña im Kampf gegen die Lepra in sche Route“ („ruta filipina“) bezeichnet [16]. Mexiko wurde Dr. Fernando Latapí (1902–1989). La- tapí (Abb.) war ab 1937 Direktor des Dispensarios „Dr. Cortés selbst eröffnete 1528 das erste Hospiz für Haut- Ladislao de la Pascua“ in Mexiko-City und Nachfolger kranke in Mexiko, von dem nicht sicher ist, ob es für von Dr. Salvador González Herrejón, mit dem er bereits Lepra- oder Syphiliskranke eingerichtet wurde, war 1936 die Mexikanische Dermatologische Gesellschaft doch die Syphilis, wie Skelettfunde beweisen, im prä- (Sociedad Méxicana de Dermatología) gegründet hat- kolumbischen Mexiko heimisch [14]. Dieses Hospital te [6]. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen, die San Lazaro existierte nur vier Jahre lang, das zweite an der Bekämpfung der Lepra interessiert waren, grün- Hospital San Lazaro, 1572 von dem spanischen Arzt dete Latapí 1948 die „Asociación Méxicana de Acci- Pedro López gegründet, wurde erst 1821 geschlossen, ón contra la Lepra“. Anfang der 1950er Jahre wurde überdauerte also zweieinhalb Jahrhunderte! Kurz be- das Dispensario Dr. Ladislao de la Pascua in „Centro vor dieses Hospital geschlossen wurde, praktizierten Dermatológico“ umbenannt. Diese Umbenennung dort noch zwei Pioniere der mexikanischen Leprolo- war notwendig geworden, da in Mexiko nicht nur gie: Dr. Ladislao de la Pascua (Abb.) und Dr. Rafael die Lepra, sondern zahlreiche andere chronische, vor Lucio (Abb.). De la Pascua publizierte 1844 eine um- allem infektiöse Hautkrankheiten heimisch sind wie fassende Arbeit über die damals auch als „Griechische Leishmaniose, tiefe Mykosen, Hauttuberkulose und Elefantiasis“ bezeichnete Lepra [16, 17]. Pinta. Nachdem auch das Gesundheitsministerium die Dr. Ladislao de la Pascua Dr. Rafael Lucio Dr. Jesús González Urueña Dr. Fernando Latapí
4 Die Klapper 25, 2017 Bedeutung der Lepra erkannt hatte und die Notwen- Ende der 1970er Jahre gingen von etwa 60.000 Lepra digkeit, die Bekämpfung zu intensivieren, wurde 1960 patienten in Mexiko aus. eine „Kampagne gegen die Lepra“ im Rahmen des Programms zur Kontrolle chronischer Hautkrankheiten Wie viele andere Infektionskrankheiten wurde auch gestartet und Latapí zu deren Leiter ernannt [11, 18]. die Lepra erst im 20. Jahrhundert behandelbar. Mit dem nur intravenös anwendbaren und teuren Promin Latapí organisierte, tatkräftig unterstützt von Dr. José stand Anfang der 1940er Jahre das erste wirksame Barba-Rubio (1914–1999), mobile Einheiten mit spe- Sulfon zur Verfügung. Dieses wurde ab den späten ziell geschulten Ärzten und Gesundheitshelfern, die 1950er Jahren durch das oral anwendbare, preiswerte Leprakranke in Endemiegebieten aufsuchten und be- Diaminodiphenylsulfon (Dapson) ersetzt. Noch wäh- handelten. Barba-Rubio (Abb.) war ab 1943 Direktor rend der Zeit, die der Erstautor in Gudadalajara gear- des Instituto Dermatológico in Guadalajara [4; 15], beitet hat, galt die von Latapí 1968, also etwa zehn das aus dem dort 1931 gegründeten Dispensario An- Jahre vorher, formulierte Doktrin, dass Dapson in ei- tileproso „Dr. Salvador Garciadiego“ hervorgegan- ner Tagesdosis von 25–50 mg ausreichend wirksam gen war, einem der insgesamt drei Dispensarien im sei [11], vorausgesetzt, es werde ausreichend lange westlichen Bundesstaat Jalisco mit dessen Hauptstadt behandelt (»Chi va piano va lontano«). Heute wissen Guadalajara, der zweitgrößten mexikanischen Stadt. wir, dass diese Monotherapie in geringer Dosierung Als dieses Programm nach nur drei Jahren aufgrund die Entstehung Dapson-resistenter Leprabazillen ge- politischer Differenzen zwischen den beteiligten poli- fördert hat. Erst das hochwirksame Rifampicin, das tischen Stellen eingestellt wurde, waren bis 1966 über ab den 1980er Jahren eingesetzt wurde, erbrachte 8000 Leprafälle neu erkannt worden, sehr viel mehr den Durchbruch in der Lepratherapie [3]. Heute ste- als in den drei Jahrzehnten zuvor [17]. Enge Mitarbei- hen weitere wirksame Chemotherapeutika zur Verfü- terin und Mitstreiterin von Latapí und Barba-Rubio gung, so dass die Lepra erfolgreich behandelt werden im Kampf gegen die Lepra war Frau Dr. Obdulia Rod- kann. riguez (Abb.). Die Lepra verläuft bei Mexikanern nicht anders als bei An dem von Barba-Rubio geleiteten großen Instituto Menschen anderer Ethnien. Ob es wesentliche Unter- Dermatológico in Guadalajara arbeitete der Verfasser schiede in der Verteilung auf die einzelnen Lepratypen (Abb. 6) im Jahr 1977 [1]. Das nahe dem Stadtzentrum in einem unscheinbaren Zweckbau untergebrachte In- stitut, dessen Wände aus hygienischen Gründen geka- chelt waren, wurde jährlich von vielen Tausend Patien- ten frequentiert. Diese reisten oft tagelang aus großer Entfernung an, da es auf der 2000 km langen Strecke zwischen Guadalajara und der amerikanischen Grenze keine weitere dermatologische Einrichtung gab, war doch das Dispensario in Culiacán im nördlichen Bun- desstaat Sinaloa lange vorher geschlossen worden. Deshalb waren am Institut in Guadalajara sehr viele Leprapatienten in Behandlung, jede Woche wurden zig Neuerkrankungen diagnostiziert. Schätzungen Dr. José Barba-Rubio, Huichol-Indio, Dr. Friedrich Bahmer Dra. Obdulia Rodriguez (Guadalajara,1977)
Die Klapper 25, 2017 5 in Ländern mit endemischer Lepra gibt, ist unklar. te die WHO deshalb das ehrgeizige Ziel, die Lepra bis Zwei Besonderheiten der Lepra in Mittelamerika sollen zum Jahr 2000 auszurotten, ein Ziel, das, Japan viel- aber nicht unerwähnt bleiben: die diffuse, sogenannte leicht ausgenommen, nicht erreicht wurde. Allerdings „schöne“ Lepra von Lucio und Latapí und das Lucio- gingen die Prävalenzraten der Lepra auch in allen Län- Phänomen, eine Form der Lepra-Reaktion [20]. Bei der dern Mittel- und Lateinamerikas zurück. Ob für die diffusen Lepra, die zur bazillenreichen lepromatösen Ansteckung der neu Erkrankten allein die Übertragung Lepra („Knotenlepra“) gehört, bilden die Infiltrate kei- der Erreger von Mensch zu Mensch verantwortlich ist, ne Knoten, sondern plattenartige Infiltrate. Dadurch oder auch das neunbändige Gürteltier („armadillo“), erscheint die Haut auch bei älteren Menschen glatt ist nicht bekannt. Sicher ist, dass die Lepra in den auf und faltenlos, daher der Name „schöne Lepra“. Sehr dem ganzen amerikanischen Kontinent wild lebenden charakteristisch für diese Form ist die sogenannte Gürteltieren endemisch ist. „Madarosis“, der Ausfall der Augenbrauen und Wim- pern (Abb. S. 1). In einer umfangreichen und sorgfältigen Studie analy- sierten Rupérez Larrea et al vor wenigen Jahren die Epi- Während der Chemotherapie der Lepra kommt es demiologie der Lepra in Mexiko im Zeitraum von 1989 nicht selten zu einer sogenannten Lepra-Reaktion. Bei bis 2009 [19]. Die Arbeit basiert auf den Fällen, die an der bazillenarmen tuberkuloiden Lepra („Fleckenlep- das nationale Zentrum CENAVECE (Centro Nacional ra“) tritt häufig eine Typ I-Reaktion in Form einer in- de Vigilancia Epidemiología y Control de Enferme- tensiven, sehr schmerzhaften Entzündung der Nerven dades) berichtet wurden, gehört die Lepra in Mexiko und der Haut auf. Patienten mit einer lepromatösen doch zu den meldepflichtigen Krankheiten. Aus dieser („Knotenlepra“) oder Borderline-Lepra entwickeln Studie wird deutlich, dass die Zahl der Leprakranken unter der Therapie häufig eine Typ II-Reaktion. Bei in Mexiko dramatisch zurück gegangen ist (Abb.): von dieser erstmals von Lucio beschriebenen, von Latapí etwa 17.000 zu Beginn der 1990er Jahre auf etwa 500 wieder entdeckten Reaktion handelt es sich um eine im Jahr 2009. Die Anzahl neu diagnostizierter Fälle Antigen-Antikörperreaktion, die zu einer intensiven stieg zwischen 1989 von etwa 240 auf etwa 570 im Entzündung dermaler Blutgefäße führt (Abb. S. 1). Jahr 1994, um in den Folgejahren dann allmählich auf Diese ist oft begleitet von flach erhabenen bis knoti- ca. 250 Fälle zurück zu gehen. Zwischen 2003 und gen, schmerzhaften Schwellungen. Diese Reaktion 2009 gab es keine wesentlichen jährlichen Schwan- wird auch als Erythema nodosum leprosum bezeich- kungen in der Anzahl neu diagnostizierter Fälle. Die net [20]. Lepra war also auch in Mexiko nicht ausgerottet, son- dern nur auf einem niedrigen Niveau stabilisiert mit Die 1981 von der WHO eingeführte Kurzzeit-Kombi- einer Prävalenzrate von unter 1 Erkrankten auf 10.000 nationsbehandlung der Lepra, in Lateinamerika etwa Einwohner ab dem Jahr 1994. Laut WHO soll die Lepra ab 1985 gültig, bewirkte weltweit einen Rückgang der 6 in Mexiko damit seit dieser Zeit kein Gesundheitspro- Neuerkrankungen [19]. Zehn Jahre später proklamier- blem mehr darstellen. 18000 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0 Leprakranke in Mexiko 1989–2009. Horizontale Linie: Prävalenz 1:10.000 (modifiziert nach Larrea et al, 2012).
6 Die Klapper 25, 2017 Auch in Ländern wie Deutschland, in denen die Lepra, nicht aus den Augen verloren werden. Auch in Mexiko anders als in den Mittelmeerländern, schon seit mehr sollte dieses Ziel durch eine Verbesserung der Lebens- als 100 Jahren ausgestorben ist, wird gelegentlich eine bedingungen, der Hygiene, der Aufklärung und der Lepra diagnostiziert. Von dieser in Deutschland mel- medizinischen Versorgung erreicht werden. depflichtigen Erkrankung wurden zwischen 1965 und 1994 jährlich zwischen 1 und 17 Fälle (durchschnitt- Friedrich A. Bahmer, Bremen, lich 6 pro Jahr) identifiziert [2]. Die meisten Patienten und Obdulia Rodriguez, México stammten aus Ländern, in denen die Lepra endemisch ist, die wenigen einheimischen Patienten hatten sich Literatur im Ausland angesteckt, in Einzelfällen während eines nur wenige Monate dauernden Aufenthaltes. 1. Bahmer FA: Dermatologie in Mexiko. Bericht über einen einjäh- rigen Aufenthalt. Hautarzt 1978;29:423-424 2. Bahmer FA: Gegenwärtiger Stand der Lepra in der Bundesrepu- Trotz weltweiter Anstrengungen konnte die Lepra blik Deutschland. Hautarzt 1984;35:402-407 3. Bahmer FA, Menzel S: Lepratherapie heute. Hautarzt 1987;38:1- auch in Mexiko nicht, wie von der WHO angestrebt, 3 ausgerottet werden. Es gelang aber, etwa ab 1995 4. Barba Rubio J: Breve Historia del Instituto Dermatológico de Ja- die Prävalenzrate unter die Zielgröße von weniger als lisco. Dermatología Rev Mex 1993;37(5) (Supl 1):373-377 5. Cárdenas de la Peña E: Medicina precortesiana en el mundo einer Neuerkrankung pro 10.000 Einwohner zu sen- mexica. An Med Asoc Med Hosp ABC 2003;48(2):124-130 ken. Unterhalb dieser Grenze wird eine Erkrankung als 6. Chinchilla D, Arenas R: Leyendas de la Dermatología. Prof. Dr. Fernando Latapí (1902–1989). http://www.cilad.org/archivos/ gesundheitspolitisch weniger bedeutsam angesehen. santiago/Leyendas. Letzter Zugriff 24.8.2014 Das bedeutet natürlich nicht, dass die Lepra „ausge- 7. Cortés H: Die Eroberung Mexikos. Drei Berichte von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. Insel Taschenbuch 393, Insel Verlag, rottet“ ist und keine Neuerkrankungen mehr auftre- Frankfurt 1980 ten. Bei etwa 120 Millionen Einwohnern Mexikos und 8. Humboldt, A von: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Die Andere Bibliothek. Eich- ca. 600 Lepra-Neuerkrankungen liegt die Prävalenz born Verlag, Frankfurt am Main, 2004 derzeit bei etwa 0,5 pro 100.000 Einwohnern. 9. Hundeiker M, Perusquia-Ortiz AM, Bassukas I: El futuro de la lepra: ilusiones y realidad. Dermatol Rev Mex 2013;57(6):491- 495 Die Gründe, warum die Lepra auf längere Sicht nicht 10. Krickeberg W: Altmexikanische Kulturen. Safari-Verlag, Berlin ausgerottet werden kann, sind vielfältig [9]. Unter an- 1956 11. Latapí F: Organización de la lucha contra la lepra. Dermatologi- derem persistiert die Lepra, weil in den teils dünn besie- ca Internationalis 1968;1:50-53 delten, medizinisch schlecht versorgten Gebieten nicht 12. Lucio R, Alvarado I: „Opusculo sobre el mal de San Lázaro o elefancíasis de los Griegos“. In: Gonzales-Urueña J (Ed.). La lepra alle Patienten gefunden und behandelt werden kön- en México. El Ateneo, Buenos Aires, Argentina 1941, S. 199- nen. Eine gewisse Anzahl von Menschen scheidet Le- 231 prabazillen über die Nasenschleimhaut aus auch ohne 13. Morrow PA: Matters of dermatological interest in Mexico and California. J. Cutan G-U Dis 1889;VII:147-151. Zitiert nach Int J Symptome der Lepra an Haut oder Nerven. Auch wird Dermatol 1996;35(12):848 durch die von der WHO propagierte Kurzzeittherapie 14. Riebel B: Dermatologie in Mexiko unter besonderer Berücksich- tigung der Lepra. Dissertation, Med. Fakultät der Universität des nicht jeder Patient geheilt, sondern bleibt Ansteckungs Saarlandes, Homburg/Saar, 1986 quelle. Welche Auswirkungen das Vorhaben der WHO 15. Rodriguez O: Breve semblanza del Sr. Prof. Dr. José Barba Rubio. In memoriam. Rev Cent Dermatol Pascua 1999;8(2):64-65 haben wird, die Behandlungsdauer weiter zu verkür- 16. Rodriguez O, Villanueva Ramos TI: La conquista de México y la zen, und welcher Anteil von Patienten ein Rezidiv er- lepra. Rev Cent Dermatol Pascua 2010;19(3):97-101 17. Rodriguez O: Monografia. La lucha contra la Lepra en Méxi- leiden oder dauernd Leprabazillen ausscheiden wird, co. Revista Facultad de Medicina de Universidad Autónoma de lässt sich noch nicht abschätzen. Auch chemothera- México, 2003 pieresistente Leprabazillen könnten für den Fortbe- 18. Rodriguez O: La lucha contra la lepra en México. Rev Fac Med UNAM 2013;46(3):109-113 stand der Erkrankung sorgen, ebenso wie die in ganz 19. Rupérez Larrea M, Carreño MC, Fine PEM: Patterns and trends Mexiko verbreiteten, wild lebenden neunbändigen of leprosy in Mexico: 1989–2009. Lepr Rev 2012;83:184-194 20. Saul A: Lecciones des Dermatología. 10. ed., Francisco Mendez Gürteltiere. Dieses archaische Tier könnte als zusätzli- Cervantes, México, 1983 che, zoonotische Ansteckungsquelle fungieren [9]. 21. Torres Guerrero E, Vargas Martínez F, Atoche Diéguez CE, Arra- zola J, Carlos B, Arenas R: Lepra en México. Una breve reseña histórica. Dermatol Rev Mex 2011;55(5):290-295 Trotz der Faktoren, die verhindern, dass die Lepra auf 22. Vérut D: Precolombian dermatology and cosmetology in Mexi- co. Schering Corporation, 1973 längere Sicht ausgerottet werden kann, darf das Ziel, 23. Wallnöfer H: Der Arzt in der mexikanischen Kultur. J. Fink Verlag, die Prävalenz weiter zu senken, gesundheitspolitisch Stuttgart, 1967
Die Klapper 25, 2017 7 Das Lepra-Traktat im Feldtbuch der o wundtartzney Hans von Gersdorffs Einblicke in das humoralpathologische Konzept der Lepra Das mittelhochdeutsche Feldtbůch der wundtartzney1 und Chirurgia parva (1330/50) von Guy de Chauliac, von 1517 zählt zu den bekanntesten traumatologi- des Lilium medicinae (1303) des Bernhard von Gordon schen und chirurgischen Veröffentlichungen der Frü (ca. 1258–1318) und weiterer Quellen, die noch hen Neuzeit.2 Bekannt sind der in der chirurgischen nicht vollständig erschlossen sind.9 Das inhaltlich und Handwerkskunst beflissene Autor Hans von Gersdorff grafisch reich gespickte Feldbuch ist daher sowohl und sein in zahlreichen Nachdrucken verfügbares Werk ein Übersetzungs- als auch ein Kompilationswerk. unter anderem aufgrund seiner Praxisanleitungen zur Wundbehandlung und seiner detaillierten Illustratio Das als Ausläufer mittelalterlicher Tradition zu bewer nen in Holzschnitten.3 tende Feldbuch wurde erstmals 1517 von Johann Schott in Straßburg gedruckt und anschließend un Weniger bekannt ist aber das im Feldbuch enthaltene zählige Male von ihm und anderen erneut verlegt. Die Traktat über den Aussatz4, einer Krankheit, der eins ersten beiden Traktate thematisieren die menschliche von vier Traktaten der Erstausgabe gewidmet ist. An Anatomie und die Wundarznei, gefolgt vom Traktat lässlich des 500-jährigen Jubiläums des Erstdrucks des über die Lepra. Abgeschlossen wird das Werk mit Feldbuchs im Jahr 2017 stehen im Folgenden das einem anatomischen Glossar. Während das Feldbuch Lepratraktat und seine konzeptionelle Verflechtung ursprünglich vierteilig angeordnet war, beinhaltete mit der Humoralpathologie im Mittelpunkt der Unter es in späteren Ausgaben bis zu sieben Traktate (so suchung. das Feldtbůch der Wundartzney newlich getruckt und gebessert von Johann Schott von 1528).10 Meister Hans von Gerßdorff / genant Schylhans5 (ca. 1455–1520) war hauptsächlich als nicht akademisch Im Lepratraktat des Feldbuchs bilden die Krank ausgebildeter Wundarzt in Straßburg tätig. Sein chi heits zeichen das Kernstück der Darlegungen. Gers rurgisches Wissen und seine Fähigkeiten eignete er sich dorff leitet zunächst in das Traktat ein, wobei er nach eigenen Angaben in den Burgunderkriegen (1474– das grundlegende Krankheitskonzept der Lepra so 1477) an, die neben dem 40-jährigen Ausüben des wie deren Ursachen anführt (15% des Traktats). Chirurgenhandwerks vermutlich auch die Basis seines Nachfolgend beschreibt er die Zeichen der Lepra und Erfahrungsschatzes speziell zu Schussverletzungen ihre vier Formen (50%), und er berichtet schließlich und Amputationstechniken bildeten. Neben diesen über Heilungs- und Behandlungsmöglichkeiten sowie Qualifikationen ist Gersdorff von seinen Zeitgenossen weitere Hautkrankheiten (35%).11 auch als Leprakundiger beziehungsweise als kundig in der Beschauung Lepröser angesehen worden. Aus Die Leprazeichen spielten bei der Untersuchung von einem Brief der Straßburger Lepraschauer an die Stadt Leprösen und Lepraverdächtigen, der sogenannten geht hervor, dass Gersdorff darum gebeten wurde, Lepraschau, eine wichtige Rolle. Daraus erklärt sich im Lepraschaugremium mitzuwirken, da er in der Zei ihre oft ausführliche Darlegung mit Beschreibung einer chendeutung für die Aussatzdiagnose beflissen sei.6 Vielzahl von Zeichen und ihrer bewertenden Einteilung. Die Lepraschau (examen leprosorum) diente in Mittelalter Neben Darlegungen aus dem Erfahrungsschatz des und Früher Neuzeit als Untersuchungsprozedere, Autors besteht das Werk insbesondere aus zusam um bei Personen den Verdacht der Aussätzigkeit zu mengestellten (ein zuͦ samen laͤ ßer der abryßē den broͤ cklin veri- oder zu falsifizieren, was ihnen bei positivem der artzney)7 und in das Mittelhochdeutsche übersetzten Befund den Einzug in ein Leprosorium ermöglichte. lateinischen Quellen diverser Gewährsmänner.8 Mit Quellen, die detailliert Einsicht in die Organisation telalterlicher Tradition folgend werden diese von einer Lepraschau geben, sind ab dem 14. Jahrhundert Gersdorff zur Wissenslegitimierung auch namentlich erhalten. Die personelle Zusammensetzung eines angeführt. Zu den bekanntesten Vertretern zählen Lepraschaugremiums variierte regional und auch im hier neben Galen und Avicenna beispielsweise Ortolf Verlauf der Jahrhunderte. Sie reichte von studierten von Baierland (13. Jahrhundert), der akademisch physici über handwerkliche Wundärzte und betroffene ausgebildete Chirurg Guy de Chauliac (ca. 1298– Lepröse bis zu Geistlichen. Der genauen Diagnose wie 1368) und der Wundarzt Hieronymus Brunschwig dem gesamten Verfahren der Begutachtung wurde ein (ca. 1450–1512). Innerhalb des Lepratraktats bedient hohes Maß an Bedeutung zugesprochen. Die Gründe sich Gersdorff vorrangig der Chirurgia magna (1363) dafür waren neben der Furcht vor Ansteckung und
8 Die Klapper 25, 2017 dem damit verbundenen gesellschaftlichen Ausschluss der melācholy zweyerhand ist. die eine ist natürlich / die auch die daraus resultierenden finanziellen sowie per ander vnnatürlich. von der natürlichen würt nit lepra / sonellen Aufwände bis hin zu den Versorgungs- oder sonder von der vnnatürlichen.17 Almosenansprüchen.12 Innerhalb des humoralpathologischen Konzepts be Die Diagnosestellung wurde vorrangig mittels der zeichnet der natürliche Kardinalssaft schwarze Galle Deutung von äußerlich erkennbaren Krankheitszeichen einen der vier Körpersäfte – neben Blut, Schleim und vorgenommen. Diese sind allerdings nicht mit heutigen gelber Galle. Eine ausgewogene Verteilung der Kör Kriterien einer Diagnose vergleichbar: „Historisch steht persäfte (Eukrasie) kennzeichnet ein physisches und nicht zur Debatte, wie zuverlässig (oder unzuverlässig) psychisches Gleichgewicht und damit Gesundheit. die eingesetzten Prüfverfahren hinsichtlich unserer Im Gegensatz dazu charakterisiert eine Dyskrasie die Kenntnis der Lepra waren, sondern auf welchem Wege krankhafte Veränderung der Säfte, ausgelöst durch Zuverlässigkeit in ihrer Gegenwart diskursiv erwiesen ein Ungleichgewicht (Säfteüberschuss oder -mangel). werden sollte […].“13 Zur Behebung einer Dyskrasie kamen unterschiedliche Behandlungsmethoden zur Anwendung wie bei - Die grundsätzliche Einteilung der sichtbaren Zeichen spielsweise der Aderlass oder bestimmte Ernäh (signa) wurde zumeist in sogenannte sichere, un rungsvorgaben im Sinne der mittelalterlichen Diätetik. trügliche (univoca / infallibila) und unsichere, trügliche Die vier Kardinalssäfte bilden eine Kategorienebene (equivoca / fallibila) Zeichen vorgenommen. Unsichere im mehrschichtig ausdifferenzierten und in Wechsel Zeichen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf wirkung stehenden Viererschema, in dem die vier vielerlei Erkrankungen zutreffen und damit trügerisch Naturelemente (Luft, Feuer, Erde, Wasser), die vier sein können, während sichere Zeichen eindeutig Temperamente (Sanguiniker, Choleriker, Melancho dem Krankheitsbild der Lepra zuzuordnen sind. liker, Phlegmatiker), die vier Qualitäten (warm-feucht, Letztere bilden das Optimum einer zuverlässigen warm-trocken, kalt-trocken, kalt-feucht) oder die vier Diagnosestellung, sofern sie in hoher Zahl vorkom Lebensalter (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, men. Die Leprazeichen wurden zur besseren An Greisenalter) Berücksichtigung finden. Die Humoral wendbarkeit gelegentlich systematisch in Schemata pathologie bildete das vorherrschende Erklärungs-, aufbereitet und im Rahmen eines Lepraschauregulativs Krankheits- und Therapiekonzept des Mittelalters, zugrunde gelegt, insbesondere, wenn der Nachweis das als apodiktisch galt und bis in die Neuzeit hinein einer bestimmten Zahl verschiedener Zeichen Anwendung fand.18 vorgeschrieben war, um jemanden für aussätzig zu erklären. So wurden beispielsweise nach lothringischem Den Schwerpunkt des Traktats bilden die Krankheits Recht 20 aussatzverdächtige Zeichen gefordert, zehn zeichen der Lepra. Die Darlegung ist in vier Abschnitte am Kopf und zehn am restlichen Körper.14 gegliedert. Im ersten Abschnitt beschreibt Gersdorff die Zeichen der Lepra hinsichtlich dreier Gesichtspunkte: Bereits in der Beschreibung des Krankheitskonzepts (1) verwandlung oder anderung des leybs19 – hier wer zu Anfang des Traktats wird klar, dass Gersdorffs den neun Zeichen aufgeführt (sie sind unterschieden Ausführungen – auf antiker Tradition gründend – in die sicheren und unsicheren Zeichen), die körperlich im Sinne der Humoralpathologie beziehungsweise sichtbare Veränderungen umfassen (insbesondere im Viersäftelehre zu deuten sind. Als Grunderklärung für Gesicht), wie etwa eine veränderte Körperhautfarbe die Lepra wird eine Störung der Assimilationskraft (dunkel[rot], glänzend, lederartig) oder Haarausfall des menschlichen Körpers innerhalb der zweiten Di- (Wimpern, Brauen, Kopfhaar). Zusätzlich werden gestionsstufe (Blutentstehung) im Rahmen der gale unsichere (equivoca) Zeichen angeführt wie trockene nischen Verdauungslehre15 beschrieben, das heißt eine Haut. Des Weiteren werden sechs Zeichen aufgezählt, Fehlfunktion der Leber, die zur negativen Veränderung welche die (2) wandelung der würckung des mē schen20 des Körpersafts Blut und damit zur Krankheitsauslös- umfassen. Beispielsweise hat sich die Stimme ver ung führt: „Neigt die Leber zur Wärme und Trockenheit, ändert, indem sie heiser ist, der Atem ist dünn und so verbrennt sie das Blut zu schwarzer Galle und wo die Empfindsamkeit der Haut ist herabgesetzt. Als die im Körper sich anhäuft und fault, entsteht lepra unsichere Zeichen werden hierunter etwa schwacher […].“16 Puls, wenig Schlaf und schlechte Träume gefasst. Unter (3) dingen die von dē menschen kommen vnnd Die schwarze Galle wird hier als unnatürliche und damit uß dem menschen kommen21 werden abschließend fünf schädliche Substanz beschrieben, die nach Verteilung Zeichen gruppiert, die mit veränderten körperlichen und Einlagerung im Körper an den entsprechenden Ausscheidungen zusammenhängen wie etwa ver Stellen zur Lepra führt. Klassischerweise wird die minderter Harn sowie Mund- und Körpergeruch. Zu schwarze Galle als natürlicher Kardinals- oder Körpersaft den unsicheren Zeichen werden hier beispielsweise definiert: dorumb ist zuͦ wissen / als vor gesaget ist / dz harter Stuhlgang sowie schwarzes, dickes Blut gezählt.
Die Klapper 25, 2017 9 (Fuchs): glich wie den füchßen die hor vßfallē;24 Leonina (Löwe): glicher wyß als der loͤ w ein grusam vn̄ erschrocklich angesicht hat;25 Tyria (Schlange): derē hut ist weych vnd schoͤ let vnd streyft sich ab glicher wyß vnd form als der schlange;26 Elephantia (Elefant): Irer bein vn̄ hend gleych seint vnbyglich geragt als werent sye erstarret / glich wie die bein des elephantē.27 Die Beschreibung der jeweiligen Lepraform ist dabei immer am grundlegenden Krankheitskonzept der Lepra orientiert, also der Erzeugung von unnatürlicher schwarzer Galle durch Verbrennung oder Überhitzung in der Leber während der zweiten Digestionsstufe, die durch den Körper gespeist wird – hier aber übertragen auf den jeweiligen Kardinalssaft, der mittels Verbrennung zu melancolia non naturalis verdorben wird:28 so setzet doch die gemein schuͦ l der aͤ rtzt fyer gestalten / noch der zal der fyer qualiteten die verbrennet moͤ gen werden vnnd in melancholy verkert.29 Jede Lepraform äußert sich in spezifischen pathologi schen Auswüchsen, die den entsprechenden Kosmos an humoralpathologischen Deutungsmustern des Kardinalssaftes umfassen und sich nach Gersdorffs Le pratraktat in je eigenen Krankheitszeichen kanalisie ren. So werden der Alopitia, die dem Kardinalssaft Blut zugeordnet wird, Zeichen zugeschrieben, welche diese Komplexion widerspiegeln, wie etwa hinsichtlich ihrer warm-feuchten Qualität (Sye seint […] einer sāguinischer complexion / warmer vnnd feüchter naturē / als das bluͦ t ist) oder blutähnlichen, rötlichen Färbung Besehung eines Aussätzigen, in: Stat und Feldtbuch be- (Sye habēt auch vil plotterē vn̄ eysszen die do rot seint).30 werter Wundtarznei, von Walther Hermann Ryff gedruckt durch Christian Egenolff in Frankfurt am Main 1551 [VD16 Markante Zeichen der Form Leonina sind hingegen G 1627], S. 82r, aus der Bayerischen Staatsbibliothek Mün- solche, die dem Kardinalssaft gelbe Galle zugeordnet chen, Res. 4 Chir. 69. werden. Hierunter fallen Zeichen wie starkes Durst gefühl oder das Verlangen nach hitzigen Speisen wie Im zweiten Abschnitt stehen dann vier Formen der Pfeffer, Ingwer, gebranntem Wein, Senf oder Knob Lepra im Vordergrund, orientiert am humoralpatho lauch,31 die die Qualität „warm-tocken“ haben. Im logischen Viererschema, die im Folgenden genauer Zeichen des Phlegmas und des ihm zugeordneten ausgeführt werden. Die letzten beiden Abschnitte Greisenalters stehen die beschriebenen Merkmale der behandeln sonstige Zeichen der Lepra sowie verschie Form Tyria: vnd ist der mensch gewonlich flegmatischer dene Tests, um Lepra nachzuweisen, beispielsweise complexion / das ist feücht vnd kalter natur / vn̄ kōmet mittels Blut- oder Nadelprobe.22 mer den alten menschē.32 Die Form Elephantia lässt die Zeichen der kalt-trockenen, der melancholischen Gersdorff unterscheidet im Lepratraktat vier For Komplexion erkennen: Dißer maltzey beflecken men men oder auch Gestalten der Krankheit (fyererley schē die haben gewonlichē in irē vorgondem leben maltzey),23 deren Bezeichnungen jeweils prägnante ein grob ruh regiment gehalten in essen vnd trincken Erscheinungsformen der Krankheit darstellen und / das do machet melancholiā.33 Nahrungsmittel, die zusätzlich an das humoralpathologische Viererschema nach Gersdorff die Elephantia der Lepra hervorrufen angelegt sind: Alopitia, Leonina, Tyria und Elephantia. können, sind beispielsweise Bohnen, Linsen, Kohl, Jeder Lepraform werden ein Kardinalssaft und die bestimmte Fleischsorten oder generell Gebratenes entsprechenden Qualitäten, Temperamente, Lebens und Gesalzenes.34 zeitalter, Organe etc. zugeordnet. Die jeweiligen Bezeichnungen der vier Lepraformen gehen auf Die Inhalte des Lepratraktats sind vollständig durch tierische Vorbilder zurück, die sich auch in den drungen vom Konzept der antiken Humoralpatholo- äußerlich sichtbaren Zeichen wiederfinden: Alopitia gie, was insbesondere anhand der theoriegeleiteten
10 Die Klapper 25, 2017 Ausführungen zu den vier Lepraformen ersichtlich 10 Feldtbůch der Wundartzney, newlich getruckt und gebessert, von Hans von Gersdorff, gedruckt durch Johann Schott in Straß- wird. In keiner Weise werden die antiken Autori burg 1528 [VD16 G 1620] aus der Bayerischen Staatsbibliothek täten in Frage gestellt, sie werden vielmehr zur München, Res 4 Chir. 29b; vgl. Chiara Benati: Die niederdeut- sche Fassung des Feldtbuchs der Wundarzney in Kopenhagen, Legitimierung des Wissens herangezogen. Die Gliede Kongelige Bibliotek, GKS 1663 4°. Edition und Kommentar, rung des Lepratraktats orientiert sich an einem in Göppingen 2017, S. 9; Frederiksen: Gersdorff (wie Anm. 3); Pan- der Aussatzdiagnose seit dem 13. Jahrhundert se: Feldbuch (wie Anm. 6), S. 160-178 und S. 221-227 (Tabelle 1). verbreiteten Schema für die Befunderhebung, bei der 11 Die prozentualen Angaben basieren auf der Seitenverteilung ge- zwischen den vier Formen unterschieden und jeweils messen an der Gesamtseitenzahl des Lepratraktats (= 26 Seiten) in der Druckausgabe des Feldbuchs (wie Anm. 1). eine Unterteilung in sichere und unsichere Zeichen 12 Vgl. Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen vorgenommen wird. Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 2011 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, 8), S. 70f. und S. 82-86; sowie Alois Paweletz: Lepradiagnostik im Mittelalter und Anweisungen Es stellt sich abschließend die Frage, warum Gers zur Lepraschau, Diss. med. Leipzig 1915, S. 8f. 13 Fritz Dross: Vom zuverlässigen Urteilen. Ärztliche Autorität, dorff ein Traktat über die Lepra in das Feldbuch reichsstädtische Ordnung und der Verlust „armer Glieder Chri- aufgenommen hat. Vermutet werden kann, dass sti“ in der Nürnberger Sondersiechenschau, in: Medizin, Gesell- dies mit der Lepraschau und der damit verbundenen schaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (MedGG) 29 (2010), S. 9-46, Diagnosestellung zusammenhängt, die zu Gersdorffs hier S. 16f. Zeit auch in den Aufgabenbereich vieler Wundärzte 14 Paweletz: Lepradiagnostik (wie Anm. 12), S. 25. 15 Die Digestionslehre ist ein auf Galen fußendes, dreistufiges Er- viel. Gersdorffs Feldbuch kann sowohl hinsichtlich klärungsmodell der menschlichen Verdauung (gr. pepsis). Zu- chirurgischer Aspekte als auch bezüglich der Lepra als nächst (1. Stufe) wird aufgenommene Nahrung im Magen um- gewandelt in chylus (gr., Saft, verdaute Nahrung), der entweder Praxisleitfaden für Wundärzte betrachtet werden. Um ausgeschieden (minderwertig, über den Darm) oder im Körper das Lepratraktat ganz erschließen zu können, müssen weitergeleitet wird (hochwertig, in die Leber). Anschließend (2. Stufe) entstehen in der Leber daraus die Säfte Blut, gelbe und seine Quellen in Zukunft noch genauer identifiziert schwarze Galle; Reste werden über den Harn ausgeschieden. werden. Von der Leber aus werden die Säfte in den gesamten Körper verteilt. Abschließend (3. Stufe) wird das Blut in den einzelnen Organen aufgebraucht, Rückstände werden über die Haut als Saskia Wilhelmy und Mathias Schmidt, Aachen Schweiß ausgeschieden. Vgl. Wolfgang U. Eckart, Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen. 6. völlig neu bear- beitete Auflage, Heidelberg 2009, S. 48. 16 Georg Sticker: Entwurf einer Geschichte der ansteckenden 1 Grundlage für die folgenden Betrachtungen ist das Feldtbůch Geschlechtskrankheiten, in: Julius Heller / Georg Sticker: Die der wundtartzney von Hans von Gersdorff in der Erstausgabe Haut- und Geschlechtskrankheiten im Staats-, Straf-, Zivil- und Straßburg 1517 [VD16 G 1618] aus der Bayerischen Staatsbi- Sozialrecht. Entwurf einer Geschichte der ansteckenden Ge- bliothek München, Rar. 1457. Auf die Anpassung der sich wie- schlechtskrankheiten, Berlin 1931 (Handbuch der Haut- und derholenden Seitenzählung im Lepratraktat wurde verzichtet. Geschlechtskrankheiten, 23), S. 264-606, hier S. 493. Wir weisen an den entsprechenden Stellen durch die Verwen- 17 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXI r. dung von eckigen Klammern darauf hin. 18 Siehe dazu im Einzelnen Saskia Wilhelmy: „Dar nâch schüll wir sa- 2 Ralf Vollmuth: Traumatologie und Feldchirurgie an der Wende gen von dem hirn“: Das humoralpathologische Gehirn bei Kon- vom Mittelalter zur Neuzeit, Stuttgart 2001 (Sudhoffs Archiv rad von Megenberg, in: Mathias Schmidt / Dominik Groß / Axel Beihefte, 45), S. 17-25. Karenberg (Hrsg.): Neue Forschungen zur Medizingeschichte. 3 Jan Frederiksen: Art. Johannes (Hans) von Gersdorff (Schielhans), Beiträge des „Rheinischen Kreises der Medizinhistoriker“, Kas- in: Verfasserlexikon: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. sel 2017 (Schriften des Rheinischen Kreises der Medizinhisto- 4, Berlin/New York 1983, Sp. 626-630. riker, 4), S. 55-77; Klaus Schönfeldt: Die Temperamentenlehre 4 Im vorliegenden Beitrag wird die synonyme Verwendung der in deutschsprachigen Handschriften des 15. Jahrhunderts, Diss. Bezeichnungen Lepra, Aussatz und Maltzei durch Hans von phil. Heidelberg 1962; Erich Schöner: Das Viererschema in der Gersdorff beibehalten. Die Identifikation mit der durch das My- antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv cobakterium leprae hervorgerufenen Krankheit ist unter Berück- Beihefte, 4); Harald Derschka: Die Viersäftelehre als Persönlich- sichtigung der Probleme einer retrospektiven Diagnose nicht keitstheorie. Zur Weiterentwicklung eines antiken Konzepts im möglich. Zur Etymologie des Begriffs- und Bedeutungsfelds 12. Jahrhundert, Ostfildern 2013; Vivian Nutton: Humoralism, der Lepra siehe Ortrun Riha: Aussatz als Metapher. Aus der Ge- in: William F. Bynum / Roy Porter (Hrsg.): Companion Encyclo- schichte einer sozialen Krankheit, in: Dominik Groß / Monika pedia of the History of Medicine, Bd. 1, London 1993, S. 281- Reiniger (Hrsg.): Medizin und Geschichte, Philologie und Ethno- 291. logie. Festschrift für Gundolf Keil, Würzburg 2003, S. 90-105. 19 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXII v – LXXII r. 5 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), Proömium. 20 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXII r – LXXIII v. 6 Melanie Panse: Hans von Gersdorffs ‚Feldbuch der Wundarznei‘. 21 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIII v – LXXIII r. Produktion, Präsentation und Rezeption von Wissen, Wiesbaden 22 Siehe dazu Uhrmacher: Lepra (wie Anm. 12), S. 73. 2012 (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaf- 23 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIV v. ten, 7), S. 27-32; Gundolf Keil: Art. Johannes von Gersdorff, in: 24 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIV v. Werner E. Gerabek et al. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschich- 25 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIV r. te, Bd. 2, unveränderter Nachdruck der gebundenen Ausgabe 26 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. [LXXIV v]. 2004, Berlin / New York 2007, S. 702; Frederiksen: Gersdorff 27 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. [LXXIV v – LXXIV r]. (wie Anm. 3). 28 Vgl. Renate Wittern: Die Lepra aus der Sicht des Arztes am 7 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), Proömium. Beginn der Neuzeit, in: Aussatz, Lepra, Hansen-Krankheit. Ein 8 Im Rahmen dieses Beitrags werden die Zuordnung und Analyse Menschheitsproblem im Wandel, Teil 1: Katalog, Ingolstadt der Originalquellen des Lepratraktats außer Acht gelassen, da 1982 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums, dies den Rahmen sprengen würde und noch nicht alle Quellen 4), S. 41-50, hier S. 46f. in Gänze erschlossen beziehungsweise identifiziert sind. Entspre- 29 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXI v. chend sind bei Textzuschreibungen, die Gersdorff adressieren, 30 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIV r. immer die zugrundeliegenden, übersetzten und kompilierten 31 Vgl. Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. LXXIV r. Werke beziehungsweise deren Autoren mitgemeint. 32 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. [LXXIV v]. 9 Vgl. Panse, Feldbuch (wie Anm. 6), S. 42; Frederiksen: Gersdorff 33 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. [LXXIV v – LXXIV r]. (wie Anm. 3). 34 Gersdorff: Feldbuch (wie Anm. 1), S. [LXXIV r].
Die Klapper 25, 2017 11 Der Aussatz im New Artzneybuch des Christoph Wirsung (1572) Abb. 2: Darstellung der Temperamente. Je nach Dominanz einer Feuchtigkeit konnten bestimmte Charaktereigenschaf- ten und Dispositionen für Krankheiten abgeleitet werden. Exemplarisch sind zwei Naturen eingezeichnet. Der un- terbrochene Kreis stellt ein cholerisches Temperament, der durchgezogene Kreis ein sanguinisch dominiertes dar. Je wei- ter die natürliche Komplexion, das Temperament, im warm- feuchten Bereich lag, desto stärker musste korrigiert werden (aus: Jessen, 2013). Berichte zum Aussatz nur eine untergeordnete Rolle. Abb. 1: Titelseite Ein newes Artzney Buch […] Trotzdem war er bekannt und gefürchtet. Zum Beispiel von Dr. Christoph Wirsung 1572 veröffentlichte der Donauwörther Stadtarzt Dr. med. Georg am Wald 1592 eine Abhandlung zu seiner Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Beschreibung Universalarznei mit dem Titel: Kurtzer Bericht wie / was der Lepra: den möglichen Ursachen, der Symptomatik Gestalt und warumb das Panacea AmWaldina als eine sowie den Behandlungsansätzen aus schulmedizinischer einige Medizin wider den Aussatz / Frantzosenkrankheit Sicht im 16. Jahrhundert. Eines der meist aufgelegten / Zauberische Zuständt / Pestilentz / […] womit er die Druckwerke ist das Arzneibuch von Christoph Aufmerksamkeit zunächst auf den Aussatz lenkte, Wirsung (1500–1571). Geboren in Augsburg studierte während die sonst stets dominierende Pestilentz hier Wirsung zunächst Theologie und wurde Prediger in erst an vierter Stelle folgte. Heidelberg, war aber auch Doktor der Medizin und lieferte mit seinem New Artzneybuch die Vorlage für Den Schrecken der Lepra beschreibt auch Christoph das Arzneibuch des Tabernaemontanus (Jöcher, 1751, Wirsung (1572) sehr bildlich: [...] / keine so arg und Spalte 2020). Es wurde bis weit nach seinem Tod in schädlich als der Aussatz seye / Dan dieser vergifftet vielen Auflagen immer wieder herausgebracht. den Leib der gestalt / das er seine glieder unnd deren theil nicht allein schwechet / sonder der massen frisset unnd verderbert / das sie zu zeiten stückweis abfallen Die Lepra in Drucken des 16. Jahrhunderts / alle wolgestalt verwüstend und verderbend / […] (Wirsung 1572, CCCCCX). Hier zeigt sich, wie viel Vielfach wird der Aussatz als Krankheit des Mittelalters Schrecken der Anblick der Krankheit bei Zeitgenossen gesehen, der nach Auftreten der Pest in Europa hervorrief: Der Körper wurde nicht nur geschwächt, durch diese verdrängt wurde. So gehörten zwar nach sondern so sehr aufgefressen und verdorben, dass im Aufkommen des Buchdrucks im 15. Jahrhundert fortgeschrittenen Stadium die Gliedmaßen abfallen populärmedizinische Bücher neben den religiösen und jegliche Schönheit des Erkrankten zerstört wurde. zu den meist verkauften Werken, dabei spielten aber Auch die soziale Isolation findet Erwähnung: […] Also
12 Die Klapper 25, 2017 Abb. 3: Umwandlung der Nahrung zu neuer Körpersubs- Abb. 4: Die Grafik verdeutlicht die unterschiedlichen Feuch- tanz und Entstehung von Ausscheidungsprodukten tengewichtungen bei den verschiedenen Lepraformen: A- (aus: Jessen, 2013). Alopetia, L-Leonina, T-Tyro, E-Elephantiasis (Jessen, 2017). das ein solcher Mensch vor dem durch diß ubel ab der Welt Auch Emotionen rechnete man zu den möglichen gerichtet wird / auch allen Bürgerlichem und Politischen Ursachen: starker Zorn, lange Trauer, Furcht und Klein leben / der gemeinsame andrer Menschen / etwa auch mut. Darzu fürdert auch grosser zorn langes Trawren der aller verwandesten abgestorben ist (Wirsung 1572, / Forcht unnd kleinmütigkeit / welche gemütliche CCCCCX). Zur körperlichen Entstellung kommen anfechtungen Melancholisch Blut machend / das dan die soziale, bei höherrangigen Persönlichkeiten auch den Aussatz bringet (Wirsung, 1572, CCCCCX Cap. 4). die politische Isolation sowie die Abwendung der gesamten, auch der engsten Familie. Und schließlich war auch in der Nahrung eine mögliche Krankheitsursache zu sehen. Speisen und Getränke konnten direkt durch ihre Primärqualitäten oder Krankheitsursachen indirekt durch Überhitzung der Leber zu „verbranntem Blut“ führen, zum Beispiel alter Reis, stark gesalzenes Im Unterschied zur Ein-Erreger-eine-Krankheit-Theorie Fleisch oder Fisch, das Fleisch bestimmter Tiere wie von heute konnten in der Tradition des hippokratischen Ziege, Fuchs, Esel sowie Milch und Fisch zusammen Weltbildes neben Giften auch Lebensgewohnheiten gegessen. wie Nahrung und Gefühlsregungen zur Krankheit führen. So finden sich auch bei Wirsung mehrere Erklärungsansätze. Die nachfolgend genannten mög Krankheitsentstehung lichen Ursachen konnten einzeln oder in Kombination zur Krankheit führen und für unterschiedliche Krank In der Zeit vor Erfindung des Mikroskops und Ent- heitsausprägungen verantwortlich sein. deckung des Blutkreislaufs war das Weltbild der Hu- moralpathologie1 Grundlage des Wissens über Krank- Ähnlich wie bei der Pest galt vergiftete Luft als Haupt heitsentstehung. Demnach war die Leber das Haupt- ursache der Erkrankung: […] mag vergiftete lufft sein / als organ, um aus der aufgenommenen Nahrung neue in Pestilentz zeiten / […] (Wirsung, 1572, CCCCCX Cap. Körpersubstanz in der Form von Blut zu „kochen“ (Abb. 4). Trotzdem war das ansteckende Element der Lepra 2). Das „neue“ Blut (Sanguis, assoziiert mit warm und bekannt, denn häufig waren auch Familienangehörige feucht) sowie der gesamte Körper enthielten weitere betroffen. Allerdings sah man auch hier die Ursache Feuchten2, die in einem bestimmten, individuellen in der Übertragung des Krankheitsgiftes über die Luft Verhältnis standen (Abb. 2 und 3): beziehungsweise den Atem des Leprakranken: die bey – gelbe Galle (Cholera, warm und trocken), den Aussetzigen wonen / unnd viel mit jhnen reden […] – schwarze Galle (Melancholia, kalt und trocken), vergiffte Athem (Wirsung, 1572, CCCCCX Cap. 4). – Schleim (Phlegma, kalt und feucht). Weiter wurde beobachtet, dass Kinder von Lepra Wenn durch Krankheitsgift oder die oben genannten kranken ebenfalls häufig an der Krankheit litten, woraus Einflüsse die Leber überhitzte, verbrannte das neue auf Übertragung von Eltern geschlossen wurde: [...] Blut – vergleichbar mit dem Anbrennen von Milch – auch von Eltern ererbet […] (Wirsung, 1572, CCCCCX und es entstand schwarze Galle. Diese ist am ehesten Cap. 4). vergleichbar mit Asche, die nach einer Verbrennung
Die Klapper 25, 2017 13 Abb. 5: Darstellung der Zusammensetzung von Aderlass- blut. Dieses war nach galenischer Lehrmeinung kein ho- mogener Saft, sondern setzte sich aus Nahrungs- und Aus scheidungssäften zusammen. Die einzelnen Nahrungssäfte waren in der Mischung nicht sichtbar. Die Ausscheidungs- säfte schwarze und gelbe Galle setzten sich dagegen ab (aus: Jessen, 2013). zurückbleibt. Durch diesen Überschuss war das indi viduelle Gleichgewicht der vier Feuchten aus der Ba Abb. 6: Darstellung eines Lassmännchens mit eingezeich lance geraten und der Weg für Krankheiten geebnet. neter Leberader (B-Hepatica). Die Abbildung ist ein Aus- Aufgrund dieser individuellen Balance konnten unter schnitt aus N.N., Illustrator: Ostendorfer, 1555, Regens schiedliche Formen des Aussatzes entstehen, die ver burg (Permalink: http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/ schiedenen Tieren zugeordnet waren und sich am Er 2007/7589/original/Bild.jpg). scheinungsbild der Krankheit orientierten: – Leonina (Löwen-Lepra): Melancholia mit Anteilen hitziger, gelber Galle zu verbrauchen. Zur weiteren Unterstützung empfahl – Tyro (Schlangen-Lepra): Melancholia mit kühl-schlei Wirsung, sich mit einem reinen Tuch vom Rücken zum miger Komponente Gesäß, von den Schultern zum Ellenbogen und von den – Alopetia3 (Fuchs-Lepra): Melancholia mit feucht- Oberschenkeln zum Knie abzureiben, bis die Haut sich warmem Blut rötete (Wirsung, 1572, CCCCCXIIII Cap. 4). Eine weitere – Elephantiasis (Elefanten-Lepra): galt als die schlimmste Möglichkeit war die Ableitung des melancholischen Form, Melancholia ohne weitere Komponente. Harns durch Trinken von Tees und Mazeraten zum Beispiel aus Quendel-Seide4 oder Linsen. Die Arzneien konnten jedoch auch verdauungsfördernde Stoffe Behandlungsansätze wie Fenchel oder abführende Mirabolanen enthalten: Man siedet auch Lazurstein in Hirschkraut5 wasser / Die galenische Tradition folgte dem Grundprinzip, dass darvon brauch 3. untz. Nimm Spica auß India 8. Lot / das natürliche und individuelle Feuchtengleichgewicht Myrobalani Indi 3. / die siede in 9. untz Fenchelwasser wiederherzustellen sei. So galt es zunächst, den Körper auff halb / seihe / trucks wohl aus unnd trincks warm vom Krankheitsgift zu reinigen, bevor langfristig die (Wirsung, 1572, CCCCCXV Cap. 4)6. natürliche und individuelle Balance durch Arzneien und Lebensordnung wiederhergestellt werden konnte. Chirurgie Im Folgenden werden die Säulen der Behandlung Aderlass und Schröpfen sollten übermäßige und auch beschrieben. schlechte Feuchten ausleiten und damit Platz für neue, gesunde Feuchten schaffen. Der Aderlass galt in sehr Purgation (Ausleitung) frühen Krankheitsstadien neben der Purgation als das Die Reinigung über Schwitzen, Erbrechen und vor allem probateste Mittel zur Chur der Erkrankung. Dabei Abführen diente der Ausleitung des Krankheitsgiftes. sollte er an den großen Adern der Arme durchgeführt Nach erfolgter Purgation sollte der Patient bergauf werden, zum Beispiel an der Leberader am rechten oder treppauf steigen, um die natürliche Hitze zu Ellenbogen (Abb. 6). In fortgeschrittenen Stadien erwecken und eventuell verbliebene schädlich Materie wurden Aderlass und starke Purgation jedoch als wenig
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