Diskurs Kooperation oder Konflikt? - Berufsgewerkschaften im deutschen System der Arbeitsbeziehungen - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
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August 2015 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Kooperation oder Konflikt? Berufsgewerkschaften im deutschen System der Arbeitsbeziehungen © Fotos:dpa Picture Alliance; EdStock, ollo, luisrsphoto, querbeet/alle istock.com; franz massard/fotolia.com I
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Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Kooperation oder Konflikt? Berufsgewerkschaften im deutschen System der Arbeitsbeziehungen Berndt Keller
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhaltsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 3 Vorbemerkung 4 1. Einleitung und Problemstellung 5 1.1 Einleitung 5 1.2 Problemstellung 6 2. Bedingungen und Voraussetzungen 8 2.1 Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern 8 2.2 Aggregation und Vereinheitlichung von Interessen 10 2.3 Vertretung und Durchsetzung von Interessen 12 3. Ziele der Berufsgewerkschaften und Optionen der übrigen Akteure 13 3.1 Generelle und spezifische Ziele 13 3.2 Aktuelle Bezüge 14 3.3 Handlungsoptionen der anderen Akteure 16 4. Aktuelle Entwicklungen und Konsequenzen 19 4.1 Rechtliche und faktische Entwicklungen: Tarifeinheit vs. Tarifpluralität 19 4.2 Kritik 21 4.3 Beziehungen zwischen Verbänden – und ihre Gestaltung 25 5. Exkurs: Die Situation bei der Deutschen Bahn 30 6. Ausblick 33 Literaturverzeichnis 34 Der Autor 40 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in eigener Verant- wortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung | Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung | Godesberger Allee 149 | 53175 Bonn | Fax 0228 883 9205 | www.fes.de/wiso | Gestaltung: pellens.de | © Fotos: dpa Picture Alliance; EdStock, ollo, luisrsphoto, querbeet/alle istock.com; franz massard/fotolia.com | Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei | ISBN: 978-3-95861-211- 2 | Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet.
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 1: Mitgliederzahlen und Organisationsgrade von Berufsgewerkschaften 10 Tabelle 2: Berufsgewerkschaften: Gründungsjahr und erste Tarifverträge 14 Abbildung 1: Mitglieder in DGB-Gewerkschaften von 1950 bis 2012 15 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Vorbemerkung „Deutschland einig Streikland?“ – so betitelte das dann zurückführen? Ein Teil der Erklärung wird heute-journal des ZDF vor Kurzem einen Beitrag sicherlich sein, dass sich die Konflikte in diesem zu den aktuellen Tarifkonflikten in Deutschland. Jahr im Bereich der sogenannten gesellschaftlich Und in der Tat scheinen sich die Arbeitskämpfe notwendigen Dienstleistungen konzentrierten, wo- in diesem Jahr zu häufen: So begaben sich die von viele Menschen unmittelbar betroffen waren. von der GDL organisierten Lokführer_innen seit Darüber hinaus wurde die steigende Einfluss- dem vergangenen Herbst neun Mal in den Aus- nahme von Berufs- und Spartengewerkschaften stand. Mit der wesentlich größeren, zum DGB ge- diskutiert. Auch der Gesetzgeber hat dies zum An- hörenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft lass genommen zu handeln, was in dem im Mai (EVG) gelangte die Deutsche Bahn demgegen- diesen Jahres verabschiedeten Tarifeinheitsgesetz über zwar auch nach zähen Verhandlungen, je- seinen Ausdruck fand. Die diesbezügliche Debat- doch ohne größere Arbeitskämpfe zu einem Er- te ist allerdings von ausgeprägten Kontroversen gebnis. Auch der sich über Wochen hinziehende bestimmt und wird häufig von einer Reduzie- Tarifstreit zwischen kommunalen Arbeitgeber_in- rung der Arbeitskämpfe auf persönliche Konflikte nen sowie der Vereinigten Dienstleistungsgewerk begleitet, weshalb ein sachlicher, auf wissen- schaft (ver.di), die v. a. eine höhere Eingruppie- schaftlicher Ebene argumentierender Beitrag rung von in Kindertagesstätten tätigen Erzieher_ dringend geboten scheint. innen forderte, erhielt anhaltende mediale Auf- Die vorliegende Studie von Prof. Berndt Keller merksamkeit. Und nicht zuletzt die Ankündigung hat dies zum Anlass genommen, einen unvorein- der Deutschen Post, Tausende Stellen zu wesent- genommenen Blick auf die Frage zu werfen, wel- lich schlechteren Konditionen in 49 neu ge chen faktischen Einfluss die zunehmenden Akti- gründete Regionalgesellschaften überführen zu vitäten von Berufsgewerkschaften auf die Stabi wollen, resultierte in einem mit harten Banda- litätsbedingungen der Arbeitsbeziehungen sowie gen geführten Arbeitskampf zwischen der DPAG Verhandlungsstrukturen und Ergebnisse der Tarif und ver.di. politik haben und welche Auswirkungen auf die Doch lässt sich aus dieser scheinbaren Häu- Arbeitsbeziehungen zukünftig zu erwarten sind. fung von Tarifkonflikten auf eine sich wandelnde Eine anregende Lektüre und weiterhin span- Streikkultur hierzulande, oder gar auf eine zuneh- nende Diskussionen wünscht mende Konkurrenz zwischen Gewerkschaften schließen? Ein Blick über den nationalen Teller- Matthias Klein rand hilft weiter: So zeigt sich, dass in Deutsch- Referent Gewerkschaften & Mitbestimmung land nach wie vor wesentlich seltener gestreikt Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik wird als in den europäischen Nachbarländern. der Friedrich-Ebert-Stiftung Worauf lassen sich die gefühlten Dauerstreiks 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Einleitung und Problemstellung 1.1 Einleitung – Die 1992 gegründete Unabhängige Flugbeglei- Seit den frühen 2000er Jahren beobachten wir ter Organisation (UFO) ist seit 2002 gleichbe- eine aufgrund vorgängiger Erfahrungen unerwar- rechtigter Tarifpartner und vertritt als Einzige tete Zunahme des Einflusses von Berufs- und die Interessen von Flugbegleitern gegenüber Flug Spartengewerkschaften, die lange Zeit sogar In gesellschaften (https://www.ufo-online aero). sidern kaum bekannt waren. Diese Verbände sind – Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) ent- prominente Beispiele für eine „neue Unüber- stand 2003 durch den Zusammenschluss vom sichtlichkeit“ der Arbeitsbeziehungen, vor allem Verband deutscher Flugleiter (VdF) und Verband der Tarifpolitik, in einzelnen Teilen privater Deutscher Flugsiche rungs-Techniker und -In Dienstleistungssektoren – und möglicherweise genieure (FTI). Ein von diesen Vorgängern mit darüber hinaus. Die etablierten Verfah ren und der DAG geschlossener Kooperations vertrag Akteure der Interessenvertretung verändern sich scheiterte 2002 wegen Unzufriedenheit mit der durch die überraschende Renaissance von Berufs- Vertretungspolitik der DAG bzw. ver.di (https:// verbänden, die nacheinander zu Berufsgewerk www.gdf.de). Die GdF setzte 2003 ihre Unab- schaften1 mutieren, nachdem sie erfolgreich hängigkeit bzw. Aner kennung durch und ist Streiks organisiert und ihre Tariffähigkeit durch- derzeit die einzige Arbeitnehmervertretung bei gesetzt haben. der Deutschen Flugsicherung (DFS), mit der die- Die in diesem Kontext relevanten Gewerk- se regionalisierte Tarifverträge abschließt. Die schaften sind: GdF steht nicht in einer Konkurrenzbeziehung – Die 1969 gegründete Vereinigung Cockpit zu anderen Gewerkschaften und nimmt inso- (VC) „ist der Verband der Verkehrs flugzeug fern neben UFO eine Sonderstellung im Rah- führer und Flugingenieure in Deutschland“ men unserer Fragestellung ein. Im Übrigen (http://www.vcockpit.de). VC ging in den frü- führten Fluglotsen bzw. VdF bereits in den spä- hen 1970er Jahren eine Tarifgemeinschaft mit ten 1960er und frühen 1970er Jahren mit Er- der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) folg streikähnliche Kampfmaßnahmen durch ein, die für die Pilot_innen verhandelte. VC (Lange 1990). kündigte 1999 die Tarifgemeinschaft, als die – Der 1947 gegründete Marburger Bund (MB) DAG beschloss, sich der neu gegründeten Ver (zusammenfassend Greef 2012) kooperierte bis einten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) 2005 mehrere Jahrzehnte zunächst mit der anzuschließen (Keller 2004). VC war der erste DAG, später mit ver.di (https://www.marburger- Berufsverband, der durch einen Streik bei der bund.de). Als Maßnahmen der Privatisierung so- Lufthansa 2001 seine Anerkennung als Berufs wie Ökonomisierung im Krankenhaus bereich gewerkschaft durchsetzte bzw. einen eigenstän zunahmen und im öffentlichen Dienst der digen Tarifvertrag schloss, der zunächst erheb- Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) liche Entgeltsteigerungen zur Folge hatte. den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) ab- 1 Zur Terminologie: Wir verwenden durchgängig den Begriff „Berufsverband“ für die Phasen vor, den Begriff „Berufsgewerkschaft“ für die Phase nach der faktischen Anerkennung als Tarifpartei. 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung löste (Greef 2010, Silvia 2013), wodurch sich Wesentlich für Verlauf und Ergebnis der die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten (vor arifverhandlungen ist die Frage, ob die Organisa T allem Entgelte, aber auch Arbeitszeiten) weiter tionsdomänen und damit der Vertretungsan- verschlech terten, setzte der MB schließlich spruch der Gewerkschaften voneinander abge- 2006 seine Unabhängigkeit als Tarifpartner per grenzt sind oder sich überlappen. Auf diesen auch Streik- und Protestmaßnahmen von (Assis- für die Konflikthaftigkeit entscheidenden Unter- tenz-)Ärzt_innen an Universitätskliniken und schied gehen wir später ein. Ebenfalls von Be kommunalen Krankenhäusern durch. deutung ist diese Konkurrenz in der später noch – Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer detailliert zu behandelnden Auseinandersetzung (GDL) (zusammenfassend Kalass 2012) ist die um Tarifeinheit versus Tarifpluralität. älteste, noch bestehende deutsche Gewerkschaft Wegen der unterschiedlichen Bedeutung, (http://www.GDL.de); sie setzte ihre Eigenstän welche diese Verbände in den vergangenen Jah- digkeit als Tarifpartei nach mehreren erfolglo- ren für die Entwicklung ihrer sektorspezifischen sen Versuchen schließlich 2007/2008 in einem Arbeitsbeziehungen, insbesondere Arbeits kon längeren Arbeits kampf gegen die Deutsche flikte, hatten, befassen wir uns vor allem mit VC, Bahn sowie den Widerstand der anderen Bahn- MB und GDL. gewerkschaften durch. In unserem Kontext ist wichtig, dass die GDL nicht nur die tarifpoliti- sche Vertretung der Lokführer_innen sondern 1.2 Problemstellung des gesamten Fahrpersonals, also auch von Zug- begleiter_innen, Bordgastronom_innen, Dispo- Unsere forschungsleitenden Fragestellungen lau- nent_innen und Lokrangierführer_innen, ge- ten: Verändert das Erstarken bzw. der Wandel von genüber Deutscher Bahn und Privatbahnen für Berufsverbänden zu Berufsgewerkschaften die sich reklamiert. etablierten Struk turen der Interessenvertretung Ein organisatorisches Problem resultiert aus der nachhaltig? Nimmt ihr Einfluss auf die Funk- Tatsache, dass zwei Dachverbände bestehen, der tions-, insbeson dere die Stabilitäts bedingungen allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) der Arbeitsbeziehungen und hier insbesondere sowie der spezielle DBB Beamtenbund und Tarif- die Tarifpolitik, nicht nur kurz-, sondern auch union. Die Berufsgewerkschaften sind – mit Aus- langfristig zu? Welche speziellen Konsequenzen nahme der noch zu behandelnden Eisenbahn- hat die nunmehr gegebene Gewerkschaftskon- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) – nicht wie die kurrenz für Verhandlungsstrukturen und Ergeb- Industrie gewerkschaften Mitglieder des DGB, nisse der Tarifpolitik? sondern bleiben in der Mehrheit unabhängig Wir unterscheiden explizit mehrere Dimen- (MB, VC, GDF und UFO). Die GDL hingegen ist sionen dieser allgemein formulierten Problem- Mitglied des DBB Beamtenbund und Tarifunion. stellungen, die wir nicht wie andere Arbeiten in Durch diese organisatorische Trennung auf Dach- Form weiterer detaillierter Fall studien (Lange verbandsebene wird die latente Konkurrenz zwi- 1990; Greef 2012; Kalass 2012) über einzelne Ver- schen Mitglieds verbänden manifest und erhält bände, sondern in vergleichen der Perspektive eine andere Qualität als die zwischen DGB- analysieren: Verbänden, welche ebenfalls nach wie vor latent – Wir befassen uns zunächst mit den organisato gegeben, aber eher zu vermitteln ist (Bispinck/ ri schen und organisations theoretischen Be Dribbusch 2008). Ähnlich wie in einer Reihe an- dingungen und Voraussetzungen (Kapitel 2). derer Länder (Akkerman 2008) kann die Konkur- Die Handlungs- bzw. Organisa tionsfähigkeit renz zwischen Dachverbänden zu einer Determi von Verbänden, welche ihre strategischen nante der Tarifpolitik werden. Optionen bestimmt, stellt ein grundlegendes, 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs komplexes Problem dar, dessen Dimensionen – Weiter reichende Befunde und Konsequenzen wir nachein ander behandeln (Traxler 1999; folgen, wobei wir die Betrachtungsweise von Traxler et al 2001; Kittel 2003). der explikativen auf die normative Ebene ver – Anschließend wechseln wir von der Mitglieds- schieben; wir gehen vor allem ein auf das kon zur Einflusslogik und analysie ren die mittel- trovers diskutierte Problem Tarif einheit vs. und langfristigen Ziele dieser Verbände, wobei Tarifpluralität sowie die Optionen zur Gestal- wir generelle und spezielle Ziele, aktuelle Bezü- tung der zwischenverbandlichen Beziehungen ge sowie Handlungsoptionen der anderen Ak- (Kapitel 4). teure unterscheiden (Kapitel 3). – Danach behandelt ein Exkurs die Situation bei der Deutschen Bahn (Kapitel 5), wobei ihre komplexe Kollektivverhandlungsstruktur im Mittelpunkt aktueller Arbeitskonflikte steht. 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Bedingungen und Voraussetzungen Ausgangspunkt unserer Analyse sind die unter- zentralisierten und koordinierten wie dem der schiedlichen Organisationsprinzipien und ihre Bundesrepublik. Folgen. Bei Industriegewerkschaften sollen Krite- Obwohl das Industrieverbandsprinzip seit rien wie Beruf, Status, Qualifikation, Betriebszu- der Wiedergründung der Gewerkschaften in der gehörigkeit, politische Einstellung oder Religion frühen Phase der Bundesrepublik dominierte, be- der Arbeitnehmer_innen keine Bedeutung haben standen stets auch andere, u. a. Berufsgewerk- („ein Betrieb, eine Gewerk schaft“). Industrie schaften.2 Ihre Aktivitäten waren mehrere Jahr- gewerkschaften erfassen im Gegensatz zu Berufs- zehnte selten und zumeist nicht unabhängig von oder Betriebsverbänden alle Beschäftigten ihrer denen der DGB-Gewerkschaften. Sie erregten da- Organisationsdomäne; sie sind in der Regel Ein- her weniger öffentliche Aufmerksamkeit als dies heitsgewerkschaften, d. h. im Gegensatz etwa zu seit den frühen 2000er Jahren der Fall ist. Die den Richtungsgewerk schaften anderer Länder Konsequenzen dieses gegebenen „Koalitions (wie Frankreich oder Italien) weltan schaulich/ pluralismus“ blieben im politischen Diskurs weit- ideologisch und (partei-)politisch grundsätzlich gehend unbeachtet und wurden in wissenschaft unabhängig und neutral lichen Analysen kaum behandelt. Falls dieses Organisationsprinzip in reiner Bei Existenz mehrerer gleichberechtigter Ge- Form realisiert werden kann, besteht Konkurrenz werkschaften findet die Ausein ander setzung von Gewerkschaften, wie sie bereits in der Wei- nicht mehr nur zwischen den Tarifparteien statt marer Republik bestand und seit einigen Jahren als Konflikt um die Verteilung der gemeinsam wieder in stärkerem Maße auftritt, ex definitione erwirtschafteten Erträge, sondern wesentlich als nicht. Die Verbände und ihre Kollektivverhand- organisations politische Auseinandersetzung um lungen sind hochgradig zentralisiert und führen Mitglieder und Einfluss. Zusätzliche Konfliktli zu vergleichsweise homogenen Abschlüssen. Flä- nien zwischen Gruppen von Arbeitnehmer_innen chen- bzw. Verbands tarifverträge stellen das werden virulent, wie aktuelle Beispiele zeigen. zentrale Instrument der Regulierung dar. Bei Be- triebs- und Berufsgewerkschaften, wie sie u. a. 2.1 Rekrutierung und Bindung von in den angelsächsischen Ländern vorkommen, Mitgliedern sind die Strukturen der Kollektivverhandlungen dezen tralisier ter und ihre Abschlüsse heteroge- Das erste Teilproblem der Handlungs- und Orga- ner; Haus- und Firmentarifverträge dominieren. nisationsfähigkeit von Verbänden besteht in der Generell gilt aufgrund langjähriger Erfahrungen, Rekrutierung und Bindung von Mitgliedern. Die dass in dezentrali sierten, unkoor dinierten Col neuere Verbandsforschung bzw. die Neue Politi- lective Bargaining-Systemen mit mehr Arbeits sche Ökonomie betonen die Bedeu tung der kämpfen zu rechnen ist als in vergleichsweise Gruppengröße für die Organisationsfähigkeit von 2 Dazu zählten die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) bis zum Zusammenschluss mit mehreren DGB-Organisationen zur Verein- ten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Mitgliedsorganisationen des DBB, die im Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) zusam mengeschlossenen Verbände, die Union der Leitenden Angestellten (ULA) oder der VAA – Führungskräfte Chemie. 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Interessen. Im Gegensatz zu den Annahmen der Mitgliederzahlen sowie Organisationsgrade älteren Pluralismustheorien argumentiert die sind häufig gewählte Indikatoren sowohl für die Theorie des kollektiven Handelns wesentlich mit verbandsinterne Ressourcenausstattung als auch der Gruppengröße (Olson 1968, 1985). Kleine, für die dadurch gegebene externe Verhandlungs homogene Gruppen sind aufgrund der wechsel- macht bzw. Durchsetzungsfähigkeit; sie zeigen seitigen Abhängigkeiten ihrer Mitglieder leichter außerdem die politische Legitimation von Verbän- zu organisieren als große. Ein zentrales Or ga ni den an. Informationen zu Entwicklung und Stand sationsproblem von Verbänden resultiert aus der der Mitgliederzahlen stehen nur in begrenztem Tatsache, dass von Teilen ihrer Leistungen (in un- Umfang zur Verfügung. Aus den veröffentlichten seren Fällen vor allem die Ergebnisse von Tarif- Daten lässt sich ein Bruttoorganisationsgrad verhandlungen oder berufs- und standespoli ti ermitteln.3 Er liegt bei allen Berufsgewerkschaften schen Lobbyingaktivitäten) auch Nichtmitglieder relativ hoch, obwohl Dienstleistungssektoren als profitieren; aufgrund ihres Kollektivgutcharakters schwierig zu organisieren gelten, und zeigt eine stellen sie für eigeninteressiert handelnde Indivi- weitgehende Ausschöpfung des Mitgliederpoten duen keinen Anreiz zum Beitritt dar. Diese grund- zials der engen Organisationsdomäne bzw. eine sätzliche Schwierigkeit der Organisierung kollek- hohe Attraktivität für die Beschäftigten an. Wei- tiver Interessen ist bei garantierter Freiwilligkeit terhin sind die Mitgliederzahlen relativ stabil im der Mitgliedschaft nicht durch den Einsatz Zeitverlauf, Mitgliederverluste treten im Gegen- organisatorischer Zwangsmechanismen (wie Bei- satz zu Industrie verbänden kaum ein. Die Ver- trittszwang im Sinne rechtlicher oder faktischer bandsangaben sind allerdings weniger valide als Closed Shop- oder Union Shop-Regelungen) zu die nicht genau zu ermittelnden Nettoorganisa beheben. tionsgrade dieser Berufsgruppen.4 Die Lösung dieses Problems gelingt in kleinen Aus Verbandsperspektive handelt es sich um Gruppen eher und besser als in großen. Letztere eine für die rechtlich-institutionellen Rahmen müssen zur Bewältigung von Problemen des bedingungen der Arbeitsbeziehungen ungewöhn- Trittbrettfahrens („free-riding“) selektive Anreize liche – und für die Beteiligten ungewohnte – anbieten, um die Leistung individueller Beiträge Situation eines Wettbewerbs um Mitglieder, der zur Erreichung der gemeinsamen Ziele zu garan- bei bereits überdurchschnittlich hohen gruppen tieren. Diese privaten Güter und Dienstleistungen spezifischen Organisationsgraden stattfindet und (wie Rechtsschutz, Versicherungen, Informations sich, wie jüngere Erfahrungen zeigen, durchaus dienste) können ausschließlich die Verbandsmit- intensivieren kann. Aus individueller Sicht erwei- glieder in Anspruch nehmen. tern sich die Optionen: Bei einem Monopol der Insofern ist im Sinne einer Lösung des grund- Industriegewerkschaft besteht die einzige Alter- sätzlichen Rekrutierungsproblems die Existenz native zur Mitgliedschaft darin, nicht (oder nicht kleiner Verbände nicht überraschend. Nicht ihre mehr) organisiert zu sein – und damit nicht über absoluten Mitglieder zahlen, sondern ihre im die Voice-Option zwecks Artikulierung bzw. Vergleich zu Industriegewerkschaften überdurch Durchsetzung eigener Interessen durch Beeinflus- schnittlich hohen Organisa tionsgrade sind wich- sung der verbandlichen Willensbildung zu ver tig – und werden bei einer Analyse in der Perspektive fügen (Hirschman 1974). Bei Konkurrenz von der Neuen Politischen Ökonomie nachvollziehbar. Gewerkschaftenhingegen existiert zusätzlich die 3 Organisationsgrade werden errechnet als Quotienten aus Gewerkschaftsmitgliedern und abhängig Beschäftigten mal 100. Die Unter- schiede zwischen Brutto- und Nettoorganisationsgraden ergeben sich dadurch, dass bei Ersteren alle Gewerkschaftsmitglieder Berück- sichtigung finden, bei Letzteren hingegen nur die betriebstätigen Mitglieder, d. h. Nichterwerbstätige (wie Arbeitslose, Rentner, Studie- rende) bleiben ausgeschlossen. 4 Die GDL ist die älteste, noch bestehende deutsche Gewerkschaft (zur Geschichte GDL 1992, Schroeder et al. 2008), der MB wurde 1947 gegründet (zur Geschichte Rottschäfer/Preusker 1997), die Vereinigung Cockpit 1969, UFO 1992. Zur Erinnerung: Die ersten deutschen Ge- werkschaften waren berufsständische Verbände vergleichsweise gut qualifizierter Arbeitnehmer_innen und keine Industriegewerkschaften. 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Tabelle 1: Mitgliederzahlen und Organisationsgrade von Berufsgewerkschaften Verband Mitgliederzahlen Organisationsgrade Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) 3.800 sehr hoch (80 %) bei Fluglotsen; unbekannt bei Vorfeldlotsen Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) 34.000 80 % der Triebwagenführer sowie > 60 % des Zugpersonals Marburger Bund (MB) 114.200 70 % bundesweit Unabhängige Flugbegleiterorganisation (UFO) 10.000 über alle Fluggesellschaften ca. 25 % Vereinigung Cockpit (VC) 9.300 > 80 % bei den meisten Fluggesellschaften Quelle: GdF: www.gdf.de; GDL: www.gdl.de; Marburger Bund: www.marburger-bund.de; UFO: Hensche 2007: 1032; Vereinigung Cockpit: www.vcockpit.de; Schroeder/Greef 2014: 137. Möglichkeit eines Wechsels der Mitgliedschaft. 2.2 Aggregation und Vereinheitlichung Dabei handelt es sich stets um bereits bestehende von Interessen Gewerkschaften und nicht um Neugründungen. Die im Vergleich zu Industriegewerkschaften Das zweite Teilproblem der Handlungs- und Or- häufig faktisch niedrigeren Mitgliedsbeiträge der ganisationsfähigkeit von Verbän den besteht in Berufsgewerkschaften können die individuelle, der Aggregation und Vereinheitlichung von (Mit- vor allem instrumentell orientierte Entscheidung glieder-)Interessen. Industriegewerkschaften sind über einen Verbandswechsel beeinflussen. Unter „umfassende (große) Verbände“, Berufsgewerkschaf schiedliche Kosten einer Mitgliedschaft gehen ten hingegen „spezielle (kleine) Verbände“ (Olson ebenso in das individuelle Kosten-/Nutzenkalkül 1985). Erstere haben mehr Schwierig keiten als ein wie Unterschiede in den Verbandsleistungen Letztere, die aufgrund ihrer deutlich höheren Mit im Sinne eines größeren und/oder besseren Ange- gliederzahlen heterogeneren Interessen nicht nur bots privater Güter bzw. der Existenz selektiver zu aggregieren, sondern zu vereinheitlichen (u. a. Anreize (Olson 1968, 1985). (Kleine) Berufs- kön- Qualifizierte vs. Unqualifizierte, Männer vs. Frau- nen eher als (große) Industriegewerkschaften ih- en, Vollzeit- vs. Teilzeitbeschäftigte). Bei den zur ren Mitgliedern eine Palette gruppenspezifischer Formulierung einer kohärenten Verbandspolitik bzw. sogar arbeitsplatz bezogener Verbandsleis erforderlichen Abstimmungs- und Koordinations tungen anbieten (allgemein Kahmann 2015, zum prozessen finden die Interessen hochgradig orga- MB Bandelow 2007). nisierter Gruppen (etwa die männlicher Fachar- Diese Situation, dass alternative Verbände beiter) in den Verbandsgremien in stärkerem bestehen, ist für die Bundesrepublik aufgrund der Maße Berücksichtigung als andere, die schwächer Dominanz des Industrieverbandsprinzips eher organisiert sind und daher eher ausgefiltert wer- untypisch. Sie wird in unserem Kontext in be den, d. h. keine Berück sichtigung finden (etwa sonderem Maße relevant, wenn Gewerkschaften die Unqualifizierter oder von Arbeitnehmer_in- (vor allem die GDL) versuchen, ihre Machtbasis nen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen). bzw. Organisationsdomäne zulasten anderer Ge- Industrie- sind im Gegensatz zu Berufsgewerk- werkschaften zu erweitern. Diese Experimente schaften darauf ange wiesen, zur Sicherung ihrer betreffen auch die Abwerbung von Mitgliedern Aktionsfähigkeit einen internen Ausgleich von der Konkurrenzorganisation, die vor allem durch Verhandlungsmacht zwischen (arbeitskampf-)star- den Hinweis auf den Abschluss eigener günstige- ken und schwachen Mitgliedergruppen herzustel- rer Tarifverträge erfolgt. len. Erstere setzen eigene Forderungen in gerin 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs gerem Maße durch als sie es in eigenständig-auto- analytischer, nicht in normativer Perspektive nomen Verhandlungen könnten, unterstützen zwischen inklusiver und exklusiver Solidarität aber Letztere und tragen dadurch zu einer gewis- (Fichter/Zeuner 2002; Zeuner 2004), die aus sen Verallgemeinerung von Partikularinteressen organisationsstrukturellen Gründen unterschied- bei. Insofern handelt es sich um eine Art „Stell- liche Handlungslogiken haben: vertreterkonflikt“ im Gegensatz zu vergleichba- – Industriegewerkschaften müssen inklusive ren Konstellationen der Interessenartikulation Solidarität zwischen ihren Mitgliedergruppen durch Berufsgewerkschaften. Das verbandsinter- herstellen und dabei erhebliche Probleme der ne Gleichgewicht, welches Organisa tionsmacht Vereinheitlichung bzw. Mediatisierung hetero- begründet, ist stets labil und muss vor und wäh- gener (Gruppen-)Interessen nicht nur in Kauf rend der Tarifverhandlungen mit den Arbeitge- nehmen, sondern lösen; die verbandsinternen ber_innen immer wieder hergestellt bzw. neu aus- Willensbildungsprozesse und Mechanismen tariert werden.5 haben eine gewisse Nivellierung hoher grup- Dieser Zusammenhang bzw. diese Funktions- penspezifischer Forderungen zur Folge. logik lassen sich (in der Tradition Durkheims) als – Berufsgewerkschaften hingegen, bei denen die Solidarität bezeichnen, welche durch kollektive reine Größe weniger relevant für die Vertre- Aktion Konkurrenz mindern oder eliminieren tungswirksamkeit ist, können sich exklusive und Identität sowie Selbstverständnis des Verban- Solidarität zugunsten der spezifischen arbeits- des prägen soll. Anders formuliert: Gewerkschaf- und sozialpolitischen Belange ihres vergleichs- ten müssen – wie alle anderen Organisationen, weise homoge nen Klientels „leisten“, ohne einschl. Verbände – stets ihre Organisations- bzw. besondere Rücksicht auf die Durchsetzung der Repräsentationsdomänen festlegen und ggfs. an- Interessen anderer Gruppen nehmen zu müs- ders ausrichten. Dieses Problem löst sich keines sen.6 Im Rahmen ihrer gruppen spezifischen falls automatisch bzw. lautet nicht ob, sondern Politik können sie auf Marktorientierung und wie sie konkret die Zugangsbeschränkungen bzw. „Leistungs kriterien“ bzw. Forderungen nach Grenzen zwischen Gleichen oder Mitgliedern „mehr Leistungsgerechtigkeit“ zugunsten ihrer und Ungleichen oder Nichtmitgliedern definie- Mitglieder („Gerechtigkeit statt Gleichmache- ren bzw. organisieren; das Ziel ist, Kontrolle über rei“) abstellen. Im Erfolgsfall erweitern sie das den Arbeitsmarkt durch Zugangsbeschränkungen ohnehin gegebene Ausmaß der Entgelt diffe zu erreichen. „Die Grenzziehungen der gewerk- renzierung bzw. vergrößern die Unterschiede schaftlichen Inklusion sind auch die Grenzen der in den Arbeitsbedingungen. Exklusion. Die wahrgenommenen gemeinsamen Das latent stets vorhandene Problem einer „Ent- Interessen der Mitglieder einer bestimmten Ge- solidarisierung“ von Mitgliedern ist im Fall in werkschaft […] werden teilweise auch im Gegen- klusiver Solidarität schwieriger zu lösen. Mit satz zu denen der Arbeitnehmer außerhalb be- dem Zusammenschluss von Industrie- zu Multi stimmt. Indem sie Arbeitnehmer abspalten, ha- branchengewerkschaften wächst mit den Mitglie- ben die Gewerkschaften traditionell Solidarität derzahlen quasi automatisch das Ausmaß der gespalten“ (Hyman 2001: 170). Interessen heterogenität. In dieselbe Richtung Im nächsten, auf diese Differenzierung be wirken weitere Änderungen relevanter Umwelt zogenen Schritt der Analyse unterscheiden wir in bedingungen (wie Privatisierungsmaßnahmen in 5 Ein „klassisches“ Beispiel stammt aus dem öffentlichen Dienst, wo ein Transfer von Verhandlungsmacht von den durchsetzungsfähigen Gruppen, wie Müllwerker_innen und Bus- oder Bahnfahrer_innen, auf die in dieser Hinsicht schwachen Gruppen, u. a. Mitarbeiter_in- nen der Stadtverwaltungen, stattfand. Der ÖTV gelang es trotz gewisser Konflikte über viele Jahre, in den einzelnen Tarifrunden die differierenden Interessen ihrer Mitgliedergruppen auszutarieren bzw. Verhandlungsmacht umzuverteilen. 6 In einer offiziellen Verlautbarung der VC liest sich dieser Zusammenhang folgendermaßen: „Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre in der Luftfahrttarifpolitik haben gezeigt, dass sich die Großgewerkschaften zunehmend von den Funktions- und Führungseliten in ihren Tarifbereichen entsolidarisiert haben. Berufsgruppenbezogene Tarifpolitik war dem Prinzip der Nivellierung auf dem kleinsten ge meinsamen Nenner gewichen. Dies ging insbesondere zu Lasten der Entwicklung der Cockpitarbeitsbedingungen“ (Tarp 2008: 402). 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung den Krankenhaus- und Verkehrssektoren, Inter Störpotenzial von Produzent_innen korreliert die nationalisierung der Wirtschaft oder Erweiterung Betroffenheit von Konsument_innen im Sinne der Politikfelder bzw. des Themenspektrums). von Dritt- bzw. Fernwirkungen, auf die wir später Derartige Komplexitäts steige rungen stellen die eingehen. „allgemeinen“ Gewerkschaften vor neuartige Die Funktions- sind häufig auch Qualifika Probleme, u. a. in Hinblick auf ihre politische Le- tionseliten, was aber entgegen häufig geäußerten gitimität, auf die sie in ihren innerverbandlichen Vermutungen nicht immer der Fall sein muss.8 Willensbildungsprozessen reagieren müssen, de- Sämtliche behandelten Beschäf tigtengruppen nen sie aber kaum gerecht werden können. Zu- gehören jedoch zu den Funktionseliten. In öko- dem wird für diese großen Gruppen die Herstel- nomischer Perspektive sichert ihre – zumindest lung inklusiver Solidarität schwieriger infolge nicht kurzfristig zu behebende – Knappheit am isolierter Aktionen kleiner Berufsgewerkschaften, Arbeitsmarkt ihnen erheblichen Einfluss bzw. die sich nicht länger in „solidarisches“ Verbands- Durchsetzungsfähigkeit ihrer Interessen. Auch handeln einbinden lassen. ihr Ersatz durch externe „Streikbrecher_innen“ scheidet im Gegensatz zu anderen Branchen aus. In einer anderen Terminologie der Sozialwis- 2.3 Vertretung und Durchsetzung von senschaft haben diese Funktionseliten aufgrund Interessen ihrer Positionierung in Schlüsselposi tionen er- hebliche Markt- und Primärmacht. Infolge ihres Das dritte Teilproblem der Handlungs- bzw. Orga- Zusammenschlusses zu Verbänden verfügen sie nisationsfähigkeit von Verbänden besteht in der über eine weitere notwendige, kollektive Voraus- externen Vertretung und Durchsetzung von In setzung, nämlich über Organisationsmacht. Die teressen. Als Voraussetzung für verbandsmäßige Verbände können diese Ressourcen zur Durchset- Repräsen tation gesell schaftlichen Interesses gilt zung ihrer gruppen spezifi schen Interessen nut- die Organisations- und Konfliktfähigkeit eines zen, was sie seit den 2000er Jahren unter verän- gesellschaftlichen Bedürfnisses. „Konfliktfähigkeit derten Rahmenbedingungen auch tatsächlich beruht auf der Fähigkeit einer Gruppe bzw. der ihr tun. Die Aktivierung dieses Drohpotenzials bzw. entsprechenden Funktionsgruppen, kollektiv die die zur Interessendurchsetzung notwendige Mo Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante bilisie rung ihrer Mitglieder gelingt kleinen Leistungsverweigerung glaubhaft anzu drohen“ Berufsgewerkschaften aufgrund der geringen (Offe 1974: 276). Kleine Verbände verfügen über Gruppengröße bzw. der dichten und schnellen, hohes Konflikt- und Störpotenzial, wenn ihre formalen wie informellen Kommunikationsmög- Mitglieder in Schlüssel positionen von Produk lichkeiten sowohl zwischen den Mitgliedern als tionsprozessen oder -ketten tätig sind und daher auch zwischen Verbandsführung und Mitglie nicht – oder zumindest nicht kurzfristig und dern eher und besser als großen Gruppen wie In- nicht vollständig – ersetzt werden können.7 Diese dustriegewerkschaften. Die Organisationsform Handlungsoptionen basieren auf der gruppen- spezifischer Interessen spielt also eine wesent spezifischen Position auf Arbeits märkten und liche Rolle in der Tarifpolitik. werden über Produktmärkte vermittelt. Mit dem 7 „Die Piloten haben eine strategische fachliche Stellung bei den Fluggesellschaften. Die Fluglinien können ohne sie nicht betrieben wer- den, und die Investitionen in ihre Ausbildung sind umfangreich, so dass ein Ersatz während Streiks eigentlich unmöglich ist“ (Johnson 2002: 22). Eine Studie über Fluglotsen kommt zu folgendem Schluss: „Durch die Kontrolle über stark spezialisierte Funktionen in einer Schlüsselrolle des Luftverkehrs erreichte die Gruppe sehr hohe Konfliktfähigkeit. Sie konnte in allen […] Phasen der Auseinandersetzung ihr großes Störpotential ausnutzen und durch wesentliche Beeinträchtigung des Luftverkehrs über die betroffene Bevölkerung starken Druck auf die Bundesregierung ausüben“ (Lange 1990: 144). 8 Dieser prima facie überraschende Sachverhalt lässt sich am Beispiel der Lokführer_innen belegen, die neben einem mittleren Bildungs- abschluss nur eine mehrmonatige Ausbildungszeit zu absolvieren haben (Schmidt 2008; Schroeder et al 2011). 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 3. Ziele der Berufsgewerkschaften und Optionen der übrigen Akteure Nach den organisatorischen Bedingungen und und -bereitschaft mehr oder weniger spektakulär organisationstheoretischen Voraussetzungen einer gegenüber Arbeitgeber_innen und Öffentlichkeit. Renaissance von Berufsgewerkschaften behan- Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in früheren Tarif deln wir ihre mittel- und langfristigen Ziele sowie gemeinschaften sowie deren Ausschüssen verfü- die Handlungsoptionen der anderen Akteure, gen sie über umfangreiche Verhandlungserfahrun d. h. der Industriegewerkschaften und Arbeitge- gen, die sie nunmehr zu nutzen wissen; schließ- ber_innen. Oder, in der Terminologie der Ver- lich wissen sie um ihre Einflussmöglichkeiten. bandsforschung: Nach den Dimensionen der Sie nehmen in diesen Prozessen nahezu den Mitgliedslogik wenden wir uns der Einflusslogik Charakter von „business unions“10 angelsächsi- zu (zuerst Child et al. 1973). Wir verschieben – in schen Typs an und werden in ihren Organizatio- Anbetracht hoher und stabiler Organisations nal Domains zu Konkurrentinnen der Industrie- grade – den Schwer punkt der Analyse von der gewerkschaften. Sie sind nicht nur Nutzen intern-vertikalen zur extern-horizontalen Struk- maximiererinnen ihrer Mitglieder im strikt öko- turdimension – auf Ziele und Ergebnisse der nomischen Sinn (in Bezug auf Einkommen, Interessendurchsetzung. Arbeitszeiten), sondern verfolgen auch eigenstän- dige organisatorische Ziele (wie Anerkennung als Verhandlungspartnerinnen und Überleben des 3.1 Generelle und spezifische Ziele eigenen Verbands). Durch den erstmaligen Abschluss eines auto- In analytischer Perspektive besteht das vorran nomen Spartentarifvertrages („funktionsgruppen gige Ziel der Berufsgewerkschaften zunächst im spezifischer Tarifvertrag“) erreichen diese Verbän- Abschluss autonom-eigenständiger Tarifverträge de eine deutliche Aufwertung ihres Status durch für ihr Klientel und nicht – oder in organisations- die offizielle Anerkennung ihrer Unabhängigkeit politischer Perspektive zumindest nicht aus- bzw. Eigenständigkeit. Hinter diesen einmal er- schließlich – in möglichst weitgehenden Verbes- reichten Stand der Profilierung sowohl gegenüber serungen einzelner Arbeitsbedingungen (vor al- konkurrierenden Gewerkschaften als auch Arbeit lem der Entgelte und Arbeitszeiten) im Rahmen geber_innen sowie der Legitimierung gegenüber geltender Kollektivverträge. der Öffentlichkeit führt kein Weg mehr zurück. Zuerst beenden sie nach längeren Überle- Die auf die ersten gruppenspezifischen Abschlüs- gungen und verbandsinternen Diskussionen die se folgenden Verträge von VC, MB und GDL bele- seit Jahren bestehenden, eingespielten Verhand- gen diesen Sachverhalt. lungs- bzw. Tarifgemein schaften mit Industrie Diese substanzielle Veränderung des Status gewerkschaften.9 Nach Vollzug dieser Trennun- hat nicht nur symbolischen Charakter und bleibt gen insistieren sie auf separaten Verhandlungen bestehen, zumal diese Verbände ihre Streik für die von ihnen vertretenen kleinen Gruppen, fähigkeit nicht nur im Sinne einer Streikdrohung die aus nahmslos in Schlüssel positionen tätig behaupten bzw. durch Warnstreiks andeuten, sind; sie demonstrie ren ihre Konflikt fähigkeit sondern auch durch Streiks wiederholt und 9 VC mit DAG bzw. ver.di, GdF mit ver.di, MB mit ver.di, GDL mit Transnet und Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA). 10 Im Gegensatz zu Industrie- oder Multibranchengewerkschaften kleine, auf das einzelne Unternehmen bezogene Gewerkschaften, die homogene, vor allem ökonomische, Interessen ganz bestimmter Arbeitnehmer_innengruppen vertreten und nicht politisch sondern wie Unternehmen handeln. 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Tabelle 2: Berufsgewerkschaften: Gründungsjahr und erste Tarifverträge Verband Gründungsjahr Erster Tarifvertrag Cockpit 1969 2001 GDL 1867 2007 GdF 1952 / 2004 2004 MB 1947 2006 UFO 1992 2002 Quelle: Lesch 2010a, 1; Greef/Speth 2013: 13; Bispinck 2015. irkungsvoll gegenüber Arbeit w geber_innen und ge bezieht sich nicht auf die bloße Existenz, son- Öffentlichkeit demonstrie ren. Ihr neuer Status dern auf die aktuellen Aktionen der Berufsge- einer Berufsgewerkschaft unter scheidet sich werkschaften. wesentlich vom alten eines ausschließlich auf Die in der öffentlichen Diskussion vorge- Lobbying und Aktivitäten im Verbund mit an brachten Erklärungsversuche verweisen generell deren Gewerkschaften ausge rich teten Standes- auf „Integrationsdefizite“ berufsspezifischer und bzw. Berufsverbandes. In organisationspolitischer qualifizierter Interessen bzw. ein „Versagen der Sicht ist ihr strate gisches Ziel nicht nur der DGB-Organisationen mit ihrem Alleinvertretungs Bestandssicherung, sondern sogar der Statusauf- anspruch“ (Viering 2008, 34), vor allem auf den wertung auf Dauer erreicht; aus der Perspektive Übergang von Industrie- zu Multibranchen ge der Industriegewerkschaften hingegen etabliert werk schaften, konkret auf die Gründung von sich die Konkurrenzorganisation dauerhaft. Da- ver.di.11 Diese Annahmen besagen, dass die Be- mit entfällt zugleich der Anlass des machtpoli rücksichtigung spezifischer Gruppen interessen tischen Grundsatzkonflikts über die Anerken- mit zunehmen der Verbandsgröße und damit nung, was spätere interessenpolitische Konflikte wachsender „Anonymität“ schwieriger wird.12 in einzelnen Tarifrunden nicht ausschließt. Gelegentlich mutiert diese Vermutung zum „ver.di bashing“ und wird mehr oder weniger ex- plizit als deren strategisches Versäumnis bezeich- 3.2 Aktuelle Bezüge net, auf gruppenspezifische Interessen stärker ein- zugehen (Sachverständigenrat 2010: Ziffer 501). Eine wesentliche Frage ist noch nicht beantwor- Eine gewisse Plausibilität eines Zusammen- tet: Warum haben die Berufsgewerkschaften, die hangs zwischen der ver.di-Gründung (2001) und ausnahmslos auf eine lange Geschichte zurück- dem Erstarken bzw. den Arbeitskämpfen zunächst blicken können, nicht schon (wesentlich) früher der VC Cockpit (2001), später des MB (2006) jen- als in den 2000er Jahren „Standesbewusstsein“ seits einer rein zeitlichen Koinzidenz mag gege- entwickelt und ihre Durchsetzungsfähigkeit de- ben sein. Für größere Gewerkschaften, die durch monstriert bzw. auf ihre offensichtlich vorhan- Zusammenschlüsse definitionsgemäß entstehen, denen Machtressourcen zurückgegriffen? Die Fra- nimmt die Schwierigkeit zu, mehr und hetero 11 Vgl. Müller et al. (2002: 105ff.); Schroeder et al. (2008: 38, 60); Greef/Speth (2013: 17); Silvia (2013: 164f.). 12 Müller/Wilke (2008: 32; ähnlich 2006: 324f.) vertreten die These, „dass Mitgliedergruppen nicht einfach aus opportunistischen Gründen den bestehenden Solidarzusammenhang verlassen, sondern weil die in deutschen Tarifwerken ausgeprägte Nivellierungstendenz durch das Eingehen von Sanierungstarifverträgen aus ihrer Perspektive eine dramatische Verschärfung erfährt“. 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs genere Gruppeninteressen in ihre (Tarif-)Politi- Plausibler erscheint die Annahme, dass ein ken zu integrieren. Beschäftigtengruppen, die be- Zusammenhang besteht mit den seit den frühen/ reits über eigene Organisations erfahrung verfü- mittleren 1990er Jahren deutlich rückläufigen gen und sich, wie erwähnt, in Schlüsselpositio- Mitglieder zahlen bzw. Organisa tionsgraden der nen von Produktionsprozessen befinden, können Industriegewerkschaften sowie der dadurch be- versuchen, von dieser Situation zu profitieren. dingten Abnahme ihrer externen Verhandlungs- Dieser Begründungsversuch über Zusam- macht bzw. internen Bindungskraft. Im Gegen- menschlüsse von Gewerkschaften, die eine Erklä- satz zu diesen Entwicklungen bleiben die Mitglie- rung gewissermaßen nach dem Schema oszillie- derzahlen der Berufs gewerkschaften stabil oder render Röhren liefern soll, trifft allerdings im Fall nehmen sogar leicht zu. Weiterhin war früher bei von Transnet bzw. GDBA und GDL definitiv nicht einigen Verbänden (wie der GDL) der Anteil der zu, da die (Betriebs-)Gewerkschaft der Eisenbah- nicht streikberechtigten Beamten an den Mitglie ner Deutschlands (GdED), die Vorgängerorgani dern erheblich höher. Daher konnte die seit der sa tion von Transnet (Transport, Service, Netze), Liberalisierung von Teilen des öffentlichen Diens- sich trotz ursprünglich anderer Absichten ver.di tes offensichtlich gegebene Verhandlungsmacht bewusst nicht anschloss (Keller 2004), sondern früher nicht – oder nur begrenzt – eingesetzt wer- selbst ständig blieb (http://www.transnet.org/ den, ohne erhebliche rechtliche Sanktionen durch TRANSNET/wir); die GDL setzte 2007/2008 ihre die zuständigen Gerichte befürchten zu müssen. Unabhängigkeit durch (Hoffmann/Schmidt 2008). Insofern haben sich die Gelegenheitsfenster für Außerdem bleibt bei dieser allgemein gehaltenen diese Organisationen zugunsten eigenständig- Erklärung einer zeitlich parallelen Entwicklung autonomer Aktionen verändert. größerer und kleinerer Verbände ungeklärt, wa Schließlich ist der Einfluss von Deregu lie rum andere Zusammenschlüsse von Gewerkschaf rungs- und Privatisierungsmaßnahmen zwar nicht ten, wie der zur IG BCE, nicht zu ähnlichen Kon- eindeutig zu belegen; mehrere der behandel ten sequenzen in deren Organisations domänen ge- Branchen waren allerdings in den 1990er Jahren führt haben. von derartigen Maß nahmen direkt betroffen Abbildung 1: Mitglieder in DGB-Gewerkschaften von 1950 bis 2012 12.000 45 40 10.000 35 Organisationsgrad (in %) Mitgliedschaft (in Tsd.) 8.000 30 25 6.000 20 4.000 15 10 2.000 5 0 0 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Mitglieder Organisationsgrad Quelle: Schroeder, Wolfgang; Greef, Samuel (2014): Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells, in: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, 2.Aufl. Wiesbaden, 130. 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung (Richter-Steinke 2011; Kalass 2012; Kahmann 1993). Inzwischen finden sowohl formal als auch 2015). Daher gilt: „Das Phänomen der Sparten inhaltlich getrennte Verhandlungen statt, die zu- gewerkschaften ist [...] eine Folge der Neugestal nehmend zu unterschiedlichen Ergebnissen füh- tung der Rahmenbedingungen auf den Produkt- ren (Keller 2010). märkten. Spartengewerk schaften konzentrieren Diese Entwicklungen haben deutliche Verän- sich in Deutschland auf Unternehmen des Ver- derungen der etablierten, branchen spezifischen kehrs- und Gesundheitssektors (Luftverkehr, Kollektivverhandlungen sowie Verschlechterun- Bahn, Krankenhäuser), treten also folglich auf gen der Arbeitsbedingungen (u. a. Verdichtung Produktmärkten auf, auf denen lange Zeit mono- und Flexibilisierung) und einen massiven Abbau polartige Strukturen herrschten“ (Monopolkom- von Arbeitsplätzen zur Folge (als Fallstudie zur mission 2010: Par. 127). Bahn Nickel et al. 2008). Die erheblichen, von Die aktuelle Diskussion konzentriert sich – den Arbeitgeber_innen initiierten Veränderungen erstaunlicherweise oder nicht – auf die Aktionen der Umweltbedingungen in Richtung auf stärkere der Berufsgewerkschaften. Dabei sind auch Ar- „Vermarktlichung“ der Arbeitsbedingungen wir- beitgeber_innen und ihre Verbände (mit-)verant- ken auf die Arbeit nehmer_innenverbände bzw. wortlich für die eingetretene Situation verband deren Handlungsalternativen zurück, führen zur lichen Wettbewerbs; sie sind daher in die Analyse latenten Bedrohung einzelner Segmente ihrer Or- einzubeziehen, obwohl die organisatorischen Ver ganizational Domains sowie zu Unzufriedenheit änderun gen auf den ersten Blick ausschließlich bei ihren Mitgliedern; weiterhin fördern sie ein aufseiten der Arbeitnehmer_innen stattfinden (ähn „Klima“, in dem For derungen prinzipi eller Art lich Bispinck/ Dribbusch 2008, Gall 2008). Die in aufgestellt und durchgesetzt werden. den vergangenen Jahrzehnten durch geführten Anders formuliert: Die Berufsverbände nutzen Maßnahmen der Reorganisation und Restruktu die Optionen der sich ihnen bietenden, günsti- rierung (u. a. Privatisierung und Ökonomisierung gen sektorspezifischen „Gelegenheitsstrukturen“ im Bereich von Krankenhäusern oder Ratio na zur Herausforderung der Repräsentationsmono lisierung bei der Deutschen Bahn) führen zu pole von Industriegewerkschaften und zur Verän- mehr Wettbewerb und erheblichem Kostendruck, derung der traditionell beste henden Strukturen der durch domi nierende und durchsetzungs von Kollektivverhandlungen in ihrem Sinne. fähige Shareholder-Interessen an Gewinnsteige rungen in sämtlichen Geschäftsfeldern verstärkt wird. Außerdem nimmt aufgrund dieses Wandels 3.3 Handlungsoptionen der anderen die Interessenhetero genität auch aufseiten der Akteure Arbeitgeber_innen bzw. des Manage ments zu. Hinzu kommen in einigen Fällen die günstigen Die Akteure beider Seiten sind im Umgang mit Ertrags- bzw. Gewinnsituationen der Unterneh- dieser für sie neuartigen Konstellation von Rah- men nach vorherigen, deutlichen Zugeständnis- menbedingungen und Interessen unerfahren, sen der Arbeitnehmer_innen (etwa im Rahmen was sich u. a. in bis dato langwierigen Sondie- betrieblicher Bünd nisse zur Sicherung von Ar rungsgesprächen und Absagen an offizielle Ver beitsplätzen bei der Deutschen Bahn) sowie die hand lun gen seitens der Arbeitgeber_innen, in- erheblichen Steigerungen der Vorstandsgehälter nerverbandlichen Konflikten und widersprüchli- sowie die nicht hinreichend publizierten Verein- chen Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit, barungen von Bonuszahlungen. in der Einschaltung von Moderator_innen, Feh- Vor ihrer Privatisierung Mitte der 1990er Jah- len auf freiwilliger Basis geschlossener Schlich ren übernahmen die ehemaligen Bundesvermö- tungsvereinbarungen mit geregeltem Einlassungs gen Bundesbahn und Bundespost in sogenannten zwang, wiederholter öffentlicher Unterbreitung Nebenverhandlungen die Abschlüsse der Haupt- von Ultimaten, Rücknahme eingegangener Kon- verhandlungen des öffentlichen Dienstes mit we zessionen, martialischer Rhetorik sowie einer nigen bereichs spezifischen Änderungen (Keller Personifi zierung des kollektiven Konflikts auf 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Unzulänglichkeiten und Charaktereigenschaften Industriegewerkschaften verfügen über fol- der Verhandlungsführer_innen der anderen Seite gende Optionen: widerspiegelt.13 – Sie bemühen sich zunächst, das organisatori- Die Handelnden entwickeln sich zu „strate sche Erstarken der Berufs gewerkschaften zu gischen Akteuren“ in Anbetracht der – u. a. durch verhindern und, falls dieses Vorhaben nicht Privatisierungsmaßnahmen eingetretenen – Um gelingt, einen Modus Vivendi zu finden; dieser weltveränderungen unterschiedliche Optionen Versuch kann durch pragmatisch orientierte mit dem Ziel, die neuen Unsicherheitszonen zu- Kooperation in zentralen Politikfeldern, vor mindest in den Kernbereichen ihrer Organisa allem in der Tarifpolitik, erfolgen. tionsdomänen zu kontrollieren und/oder zu ab- – Weiterhin versuchen sie, Mitglieder der kon- sorbieren. Für Industrie- oder Multibranchen kurrierenden Organisa tion abzuwerben bzw. gewerk schaften bedeutet der zunehmende Ein- durch Veränderungen in der eigenen Interes- fluss einiger Berufsgewerkschaften zunächst eine sen-, insbesondere Tarifpolitik zu (re-)integrie- Herausforderung, später in Einzelfällen eine la- ren.14 Wie eine „flexiblere“ und/oder differen tente Bedrohung nicht sämtlicher, aber einzelner zierende, auf jeden Fall dezentralisierte Ver- Segmente ihrer Organisationsdomäne und damit bandspolitik im Einzelfall konkret gestaltet deren Bestandsstabilität bzw. -sicherung. Er stellt werden kann (etwa durch Einführung gruppen- ihr etabliertes, nahezu hegemoniales und bis dato spezifischer Sonderregelungen wie „Fenstern“ in recht effek tives Monopol der Interessen vertre Flächen tarifverträgen), lässt sich nicht gene- tung in diesen Segmenten infrage, verschärft die rell, sondern lediglich unter Berücksichtigung latente Konkur renz um aktuelle wie potenzielle der Branchenbedingungen angeben. Mitglieder – und damit um wichtige Ressourcen Die Mitgliedslogik von Industriegewerkschaften wie Mitgliedsbeiträge sowie Macht – und schafft basiert, wie dargestellt, auf der Voraussetzung einer neue Konfliktpotenziale bzw. -felder. gewissen Vereinheitlichung, welche die spezifi- Diese ambivalente Situation der Unsicher- schen Interessen einzelner Gruppen nicht (allzu) heit innerhalb und zwischen Organisationen ist dominant werden lässt. Eine weitgehende Aus unter den Rahmenbedingungen abnehmender differenzierung der Organisationsstrukturen, et Mitglieder zahlen bzw. Organisationsgrade und wa in Form der Entwicklung einer komplexen dadurch knapperen, aber kritischen Verbands Matrixstruktur mit zwei gleichberechtigten ressourcen besonders problematisch. Als Reakti- Dimensionen, wie ver.di sie wählte (Keller 2004, on auf diese Abhängigkeit erfordert sie risikorei- Waddington et al. 2005), mit dem Ziel einer che Veränderungen vormals etablierter, standar besseren Passung zwischen Verbandspolitik und disierter Verfahren, zumal das strategische Han- Partikularinteressen einzelner Gruppen, reicht deln der konkurrierenden Verbände aufgrund der zur Problembewältigung nicht aus. Im Rahmen prinzipiell begrenzten Rationalität nur bedingt zu der Mitgliedslogik geht es um Verbesserung der prognostizieren ist. Auf jeden Fall ändern sich die „Passgenauigkeit“ zwischen der notwendigerwei- Austauschbeziehungen zwischen den Verbänden, se „nivellierenden“ Verbands-, insbesondere Ta- die notwendigen Lernprozesse der korporativen rifpolitik, um eine stärkere Berücksichtigung von Akteure benötigen Zeit. Partikularinteressen einzelner Gruppen (Nivellie- rung vs. Differenzierung) zu ermöglichen. 13 Nahezu legendär waren die monatelang andauernden, von beiden Seiten öffentlich geführten Auseinandersetzungen mit sehr persön lichen Angriffen zwischen dem GDL-Vorsitzenden, Manfred Schell, und dem Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, in den Jahren 2007 und 2008 (vgl. zur Selbsteinschätzung und Beispielen von Verbalinjurien Schell 2009: 171f., 181). 14 Eine Abwerbung von Mitgliedern sowie vor allem von Hauptamtlichen versuchte ver.di im Falle von UFO mit gewissem Erfolg, was eine Schwächung von UFO zur Folge hat (Bsirske 2008: 416). Insofern sind die Tendenzen einer Partikularisierung der Interessenverbände keinesfalls so unumkehrbar, wie es prima facie den Anschein hat. Im Übrigen können Abwerbeversuche bzw. -kampagnen in mehrere Richtungen vorkommen, u. a. von Transnet oder ver.di zur GDL (Schell 2009: 159, 186). Sowohl individuelle Übertritte als auch mehr oder weniger organisierte Abwerbungen können eine Rolle spielen. 17
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