DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022

 
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DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022
Das Magazin zum Lucerne Festival
 im Sommer 2022

 DIVERSITY
rückt Frauen und
 People of Colour
  in den Fokus
DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022
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Erleben Sie das Mahler-Festival 2023 in Leipzig
Vom 11. bis 29. Mai 2023 lädt das Gewandhausorchester zum Mahler-Festival nach Leipzig ein, wo der Kom-
ponist zwei entscheidende Jahre seines Lebens verbrachte. Alle Sinfonien und weitere Orchesterwerke, interpre-
tiert von 10 Weltklasseorchestern, in der Stadt zu erleben, in der Mahler zum Sinfoniker wurde, ist einzigartig.

Im Mittelpunkt des Mahler-Festivals in Leipzig stehen      »Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen
die sinfonischen Werke Gustav Mahlers, denn hier wurde     beginnt“: Unter diesen Leitgedanken, der die Größe von
Mahler zu dem, den wir heute kennen: zum Komponisten       Mahlers künstlerischer Vision erahnen lässt, stellt das
faszinierender Sinfonien. Leipzig und das Gewandhaus-      Gewandhausorchester sein Mahler-Festival. Wenn An-
orchester versprechen einen einzigartig authentischen      dris Nelsons und das Gewandhausorchester 2023 wieder
Rahmen für das Festival, da Mahler zwei Jahre seines Le-   Weltklasseorchester und Spitzendirigenten zur 19-tägi-
bens das Gewandhausorchester nahezu täglich in Leipzig     gen Mahler-Werkschau in Leipzig begrüßen und selbst
dirigierte.                                                die 2. und 8. Sinfonie beitragen, wird die Musikstadt er-
                                                           neut zum Zentrum der Mahler-Welt.
Dank des Engagements von Gewandhauskapellmeister Ar-
thur Nikisch wandte sich das Gewandhausorchester ab        Erleben Sie neben dem Gewandhausorchester mit seinem
Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt dem sinfonischen       Kapellmeister auch die Münchner Philharmoniker, das Ro-
Werk Mahlers zu. In der Amtszeit von Riccardo Chailly      yal Concertgebouw Orchestra, das City of Birmingham
wurde die Bedeutung Leipzigs für die Entwicklung des       Symphony Orchestra sowie herausragende Solisten und
Komponisten international ins Bewusstsein gehoben und      Mahler-Interpreten wie Thomas Hampson und Igor Levit
der Ruf des Gewandhausorchesters als genuines Mahler-      um nur einige zu nennen.
Orchester endgültig festgeschrieben.
                                                           Weitere Informationen finden Sie unter:
                                                           www.mahlerfestival.de

                                                                                       Ihre Konzertreise zum
                                                                                       Mahler Festival nach
                                                                                       Leipzig

                                                                                       • 2 x Übernachtung
                                                                                         (frei wählbar) inkl. Früh-
                                                                                         stück im Reisezeitraum
                                                                                         13.05. – 30.05.2023
                         11.– 29.05.                                                     in einem Hotel in der
                                                                                         Leipziger Innenstadt
                         2023

       MAH
                                                                                       • Teilnahme an einer
                                                                                         Stadtführung (Rundgang &
                                                                                         Rundfahrt)
                                                                                       • Eintritt Bach-Museum
                                                                                       • 1 x Abendessen im Gast-

     LER
                                                                                         haus Barthels Hof
                                                                                       • Eklusives Vorkaufsrecht
                                                                                         für ausgewählte Konzerte
                                                                                         im Rahmen des Mahler
                                          Festival                                       Festivals

                                          in Leipzig                                   Preis ab 399,- € pro Person
                                                                                       im DZ
                                                                                       Konzertübersicht & Buchung:
                                                                                       www.leipzig.travel/reiseangebote
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Lucerne FestivalSOMMER

                                                Editorial und Inhalt

                                                                  6    «DIVERSITY» GEGEN GEWALT UND KRIEG
                                                                       Intendant Michael Haefliger zum Festivalthema

                                                                  9    SCHWARZE MUSIKER SPIELEN DIE ERSTE GEIGE
                                                                       Chi-chi Nwanokus Chineke! Orchestra

                                                                 15    GROSSE STIMME FÜR ECHTE FRAUEN
                                                                       «artiste étoile» Golda Schultz kehrt Männerblicke um
BILD Daniel Felder

Urs Mattenberger, Kulturredaktor                                 20    MIT DEN STARS AUF ENTDECKUNGSTOUR
                                                                       Wieder ganz grosse Orchesterparade nach Corona

                                                                 25
VERSTÖREND
                                                                       SPONTANEITÄT AUCH IM KLASSIKREZITAL
                                                                       Pianist Sir András Schiff gedenkt Bernard Haitink

AKTUELL                                                          26    DOPPELTES JUBILÄUM FÜR DIE NEUE MUSIK
                                                                       Wolfgang Rihm und Dieter Ammann im Gespräch
Das diesjährige Thema «Diversity» von Lucerne Festival
wurde von der «Black-lives-matter»-Bewegung inspiriert
und rückt People of Colour und Frauen in den Fokus.
                                                                 31    BLACK COMPOSERS – QUEER UND KLASSISCH
                                                                       People of Colour definieren die Debuts neu
Und doch hinkt es jetzt, wo Russland Krieg gegen die
Ukraine führt, nicht einfach der Aktualität hinterher.
                                                                 34    EIN LEBEN ZWISCHEN BLUES UND STOCKHAUSEN
                                                                       Grenzgänger Tyshawn Sorey ist «artiste étoile»
Denn «Diversity» steht als Plädoyer für Chancengleich-
heit quer zu Unterdrückung und totalitärer Gewalt, wie
sie Putins Krieg auf die Spitze treibt. Der Auftritt eines       39    ZAUBERFLÖTEN-GAME UND JUGENDORCHESTER
                                                                       Konzerte für und mit jungen Menschen
Orchesters aus der Ukraine ist da ein folgerichtiges
«Statement gegen den Krieg», wie Intendant Michael
Haefliger in dieser Ausgabe des Festival-Magazins PIÙ
sagt, das allen CH Medien und der «NZZ am Sonntag»
                                                                 43    EIN VIOLINKONZERT FÜR ANNE-SOPHIE MUTTER
                                                                       Thomas Adès ist composer-in-residence
beiliegt. Die weiteren Beiträge zeigen, wie Schwarze
Musikerinnen und Musiker sich einen Platz im Klassik-
betrieb erkämpfen mussten. Zu Wort kommen aber
                                                                 45    VOM STRASSENFESTIVAL INS KKL LUZERN
                                                                       Alle Veranstaltungen auf einen Blick
auch People of Colour als Nachwuchsstars oder Stars
wie «artiste étoile» Golda Schultz. Und man ertappt sich
dabei, dass man über die Vielfalt staunt, die sich da von
den Debuts über grenzgängerische neue Musik bis zur
grossen Orchesterparade zeigt. Das offenbart erst recht,
wie verstörend aktuell das Festivalthema «Diversity» ist.

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Festival-Thema «Diversity»
Urs Mattenberger

          «EINSTATEMENT
         GEGENDENKRIEG»
Mit dem Thema «Diversity»
bringt Michael Haef liger
Frauen und People of Colour
verstärkt ins Bewusstsein des
Klassikbetriebs. Und sagt, was
es bei ihm selbst ausgelöst hat.

Nach Corona sollte Lucerne Festival zur
Normalität zurückkehren. Wie stark lastet
jetzt der Ukraine-Krieg auf dem Sommer?
Michael Haefl iger: Es gibt daraus eine Er-
kenntnis, die auch uns als Veranstalter be-
triff t: Dieser Krieg wurde auch dadurch er-
möglicht, dass es zwischen der Ukraine und
dem Westen keinen stärkeren kulturellen
Austausch gab. Wir haben als Festival immer
stark auf russische Musik und Künstlerinnen
und Künstler gesetzt, die beim Publikum
sehr beliebt waren. Die meisten hatten da-
gegen von der Ukraine keine klaren Vorstel-
lungen, auch an ukrainische Künstlerinnen
und Künstler hatte kaum jemand gedacht. Da
sind wir als Festival in der Verantwortung
und müssen das auf bauen.

Ihre Festival-Themen orientieren sich an                                                                                   BILD Daniel Auf der Mauer
gesellscha spolitischer Aktualität. Themati-
sieren Sie als Nächstes Heldenbilder, die
durch Selenski eine radikale Umdeutung er-      Symphony Orchestra of Ukraine unter Oksa-         eine Opernproduktion geleitet und mit ihr
fahren? Für solche Gedanken ist es zu früh      na Lyniv aus Lwiw engagieren.                     wollten wir ohnehin etwas machen. Mit dem
und der Krieg viel zu nah. Aber wir haben                                                         Jugendorchester, das sie 2016 in Lwiw gegrün-
bereits darauf reagiert, indem wir die Putin-   Kam dieses durch den Krieg auf Ihren Ra-          det hat, ergab sich jetzt die Möglichkeit auch
nahen Künstler Valery Gergiev und Denis         dar? Nicht nur. Oksana Lyniv ist eine gefrag-     für ein Statement gegen den Krieg. Das passt
Matsuev ausgeladen haben. Und für diesen        te, unglaublich charismatische Dirigentin.        auch zu unserem Thema «Diversity», weil die
Sommer konnten wir kurzfristig das Youth        Sie hat letztes Jahr als erste Frau in Bayreuth   damit angestrebte Offenheit und Vielfalt

                                                                    PIÙ 6
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Lucerne FestivalSOMMER

einem autokraten Regime wie jenem von Pu-          Dirigenten gesprochen, die skeptisch waren,        les»: die Sängerin Golda Schultz, die an
tin diametral entgegensteht. Zugleich ist die-     ob sich Frauen etablieren werden. Das hat          Opernhäusern eine grosse Karriere macht,
ses allererste Konzert der Auftakt zu den          sich geändert. Praktisch jedes Orchester hat       und den Multiinstrumentalisten Tyshawn So-
Auftritten der Jugendorchester vor dem Er-         heute in seiner Saisonplanung eine Dirigen-        rey, der zwischen Improvisation und Kompo-
öff nungskonzert mit dem Lucerne Festival          tin. Und immer mehr Orchester haben Frau-          sition einen eigenen Weg geht.
Orchestra, das den Sommer mit sechs Kon-           en als Chefi nnen. Aber es ist ein ähnliches
zerten stark prägt.                                Problem wie im Fall der Ukraine, dass Diri-        Erhoffen Sie sich also von Schwarzen Musi-
                                                   gentinnen oder Schwarze Musikerinnen und           kern frischen Wind für steife Klassikrituale
Das Mo‡o «Diversity» legt den Fokus auf            Musiker in der Klassik noch nicht im gesell-       und den Elfenbeinturm der zeitgenössischen
People of Colour und Frauen. Trotzdem              schaftlichen Bewusstsein angekommen sind.          Musik? Nein, das können alle Musikerinnen
kommt nur eine Chefdirigentin nach Luzern,                                                            und Musiker, man muss aufpassen, dass man
Susanna Mälkki mit ihrem Helsinki Philhar-         Jessy Norman oder Barbara Hendricks wa-            nicht Schwarze Künstlerinnen und Künstler
monic Orchestra. Hat sich seit dem «Prima-         ren als Schwarze Sängerinnen schon vor             sowie People of Colour in diese Ecke stellt.
donna»-Sommer 2016 mit 11 Dirigentinnen            Jahrzehnten Stars. Wieso braucht es noch           Tatsächlich verbinden die genannten beides.
nicht mehr bewegt? Bezogen auf das Festival        immer das Thema «Diversity», um eine Sän-          Die Mitglieder des Chineke! Orchestra sind
stimmt das sicher nicht. Obwohl das Thema          gerin wie Golda Schultz als «artiste étoile»       topklassisch ausgebildet. Und Sorey kommt
jetzt breiter gefasst ist, treten insgesamt sie-   zu engagieren? Dass Schwarze Musiker,              zwar vom Freejazz, aber er bringt diesen in
ben Dirigentinnen auf, fünf davon mit Or-          Männer wie Frauen, im Klassikbetrieb unter-        seine avantgardistisch komponierte Musik hi-
chester. Und Susanna Mälkki dirigiert Dieter       repräsentiert sind, hängt sicher mit sozialen      nein. Das bringt ein neues Element in die
Ammanns Klavierkonzert, das bereits zu             Benachteiligungen     zusammen.      Trotzdem      zeitgenössische Musik und macht wiederum
einem Hit der Gegenwartsmusik avanciert ist.       verwunderte mich das schon während meines          ein Versäumnis der Klassikszene bewusst.
Mit Oksana Lyniv und ihrem ukrainischen            Violinstudiums an der Juillard School in
Jugendorchester kommt eine weitere Chefdi-         New York. Beim Festival spielt eine Rolle,         Im Eröffnungskonzert erklingt ein Violinkon-
rigentin hinzu. Das multiethnisch zusam-           dass viele Solistinnen und Solisten von Or-        zert von Joseph Bologne, einem Schwarzen
mengesetzte Chineke! Junior Orchestra wird         chestern vorgeschlagen werden. Es gibt eben        Zeitgenossen von Mozart. Geht es bei solch
von der Dirigentin Glass Marcano geleitet.         wenige Kulturinstitutionen, die sich, wie die      vergessenen Werken von Frauen und Peop-
Elena Schwarz dirigiert das Lucerne Festival       Carnegie Hall und New York Philharmonic,           le of Colour um Wiedergutmachung oder
Contemporary Orchestra, eines der besten           in diese Richtung engagieren. Da möchten           sind das Entdeckungen fürs Repertoire? Das
Orchester für zeitgenössische Musik. Damit         wir mit unseren Themen einen Bewusstseins-         kann man nur herausfi nden, indem man sie
führen wir das «Primadonna»-Thema weiter           wandel unterstützen – auch bei uns selbst.         auf Topniveau auff ührt. Wir tun das von den
und engagieren uns in einem kulturpoliti-                                                             Debut-Konzerten über Rezitals bis zu den
schen Kontext: um auf Versäumnisse, auch           Inwiefern? Das Chineke! Orchestra verfolge         Sinfoniekonzerten. So ist Anne-Sophie Mut-
eigene, hinzuweisen und einen Beitrag zu           ich schon länger, weil es in seinen Konzerten      ter Solistin in einem von Bolognes virtuosen
leisten, das zu verbessern. Es gibt kein grosses   in London ein ganz anderes Publikum an-            Violinkonzerten. Yannick Nézet Séguin diri-
Festival, das sich in diesem Bereich in diesem     spricht. Es vermittelt eine Einstellung zu klas-   giert die erste Sinfonie der Schwarzen Kom-
Ausmass engagiert.                                 sischer Musik, die so gar nicht «weiss-elitär»     ponistin Florence Price, die in den USA einst
                                                   ist und etwa unserer kostenlosen 40min-Kon-        grosse Resonanz fand. Neugier und ein ge-
#MeToo hat dazu geführt, dass Regisseurin-         zertreihe oder der Liveübertragung des Eröff-      wisses Risiko gehört zu unserer Aufgabe, das
nen «Superwoman» auf die Leinwand brin-            nungskonzerts aufs Inseli entspricht. Aber auf     Festival in allen Bereichen ständig weiter zu
gen. Dauert dieser Prozess in der Klassik-         viele Schwarze Künstlerinnen und Künstler,         entwickeln. Am «elitären» Anspruch, grosse
branche länger? Gegenüber Frauen als               die bei uns auftreten und mit denen wir weiter     Musik mit den besten Interpretinnen und
Dirigentinnen bei grossen Orchestern ist           zusammenarbeiten werden, wurden wir erst           Interpreten sowie Spitzenorchestern aufzu-
eine grössere Offenheit entstanden. Ich habe       durch die Recherchen zu «Diversity» auf-           führen, ändert das nichts.
vor dem «Primadonna»-Jahr mit bekannten            merksam. Das gilt auch für die «artistes étoi-
                                                                                                                    www.lucernefestival.ch

                                                                        PIÙ 7
DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022
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                                                                                                                 ON
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DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022
Lucerne FestivalSOMMER
                                                                  Ensemble des Chineke! Orchestra mit Gründerin Chi-chi Nwanoku
                                                                            (Mi e, ohne Instrument). BILD Eric Richmond and Joe Swift

  EINESPRINTERIN
FÜRETHNISCHEVIELFALT
 Warum spielen praktisch nur weisse                          ESSENODERKLARINETTENUNTERRICHT
 Menschen in klassischen Orchestern? Das                     Ihre grösste Errungenschaft ist die Gründung der Chi-
 fragte sich Chi- chi Nwanoku und wurde                      neke! Foundation. Chi-chi Nwanoku hat alles darange-
 mit ihrem Chineke! Orchestra zur Türöff-                    setzt, um Schwarzen Musikerinnen und Musikern und
 nerin für Musikerinnen und Musiker mit                      minoritären Ethnien den Weg in die klassische Musik
 unterschiedlicher ethnischer Herkunft.                      zu ebnen. Sie sagt: «Dass praktisch ausschliesslich weisse
                                                             Musikerinnen und Musiker in der Klassik anzutreffen
 Chi-chi Nwanoku ist eine quirlige Frau. Sie ist eine gute   sind, ist nicht eine Frage des Talents, sondern der fehlen-
 Musikerin, eine kommunikative Promoterin, eine ziel-        den Möglichkeiten.» Das habe vielfach mit der ökono-
 strebige Aktivistin. Als Kind spielte sie Klavier, dann     misch schwachen Situation vieler Schwarzer oder eth-
 stand sie als Jugendliche vor einer Karriere als 100-Me-    nisch diverser Communites zu tun. «Ein Instrument zu
 ter-Sprinterin. Aufgrund einer Verletzung musste sie        lernen, ist teuer. Wenn ich vor der Entscheidung stehe:
 den Sport aufgeben. Sie studierte Kontrabass an der Ro-     Essen auf dem Tisch oder Klarinettenunterricht, kommt
 yal Academy of Music und machte in Grossbritannien          das Essen auf dem Tisch zuerst, das ist die Realität. Aber
 eine Karriere in renommierten klassischen Orchestern.       beides ist wichtig.»
 Als einzige Schwarze klassische Musikerin. Und das in
 einem Land, wo in einigen Städten schon fast die            Doch die Ungleichheit basiert auch darauf, dass man als
 Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner People of             gegeben nimmt, was immer so gewesen ist, und keine
 Colour sind.                                                Anstrengungen macht, daran etwas zu ändern. Das gilt

                                                         PIÙ 9
DIVERSITY rückt Frauen und People of Colour in den Fokus - Das Magazin zum Lucerne Festival im Sommer 2022
Chineke! Orchestra
Pirmin Bossart

           Das Chineke! Orchestra beschliesst das Festival mit Sheku Kanneh-Mason (Cello) und unter der Leitung von Kevin John Edusei.
                                                                                                                        BILD Mark Allan

           für die staatlichen Bildungsstellen wie die Promotoren         DERMEISTERGIBTDURCH
           und Institutionen der Klassik. Im National Youth Or-           Chi-chi Nwanoku ist in einer Familie mit einem nigeria-
           chestra of Great Britain stammten noch vor zehn Jahren         nischen Vater und einer irischen Mutter in London auf-
           93 Prozent der 165 Jugendlichen aus privaten Eliteschu-        gewachsen. «Zu Hause war immer Musik, ganz verschie-
           len. «Aber in ganz England besuchen nur sieben Prozent         dene Musik. Ich lernte sehr schnell, Klavier zu spielen,
           aller Jugendlichen private Schulen. Das sagt eigentlich        aber wusste nicht, dass das ‹klassische Musik› war. Es
           alles, was die musikalische Förderung betriff t.»              war einfach Musik.» Sie sei «wie eine Blinde» zur klassi-
                                                                          schen Musik gekommen, schiebt Chi-chi Nwanoku
           Inzwischen hat sich dieses Verhältnis verbessert. Dank         nach. «Ich wuchs einfach hinein und realisierte nicht,
           Förderprogrammen in staatlichen Schulen, die von ver-          dass ich da am Ende in einer Kiste der Auserwählten
           mögenden Privatpersonen gesponsert werden, haben               landen würde.»
           jetzt mehr Kinder aus staatlichen Schulen die Möglich-
           keit, ein Instrument zu lernen und Zugang zum Natio-           Die Familie war bestrebt, sich anzupassen. Beide Länder
           nal Youth Orchestra zu fi nden. Davon können theore-           ihrer Eltern seien durch die Briten kolonialisiert worden.
           tisch auch mehr Kinder aus Schwarzen oder ethnisch             «Wir mussten uns assimilieren, sonst wären wir unwill-
           diversen Familien profitieren.                                 kommen gewesen. Wir akzeptierten alles, was unsere

                                                                     PIÙ 10
Lucerne FestivalSOMMER

Lehrer sagten, wir hinterfrag-                                                        tra besteht aus klassischen
ten nicht.» Chi-chi Nwanoku                                                           Werken der bekannten westli-
fasst zusammen: «Der Meister                                                          chen Komponisten, aber auch
gibt durch, wie es ist, und du                                                        aus Werken von Schwarzen
hast zu gehorchen. Das war                                                            und ethnisch diversen Kompo-
meine Generation.»                                                                    nistinnen und Komponisten
                                                                                      aus der Vergangenheit und aus
Deshalb habe sie nicht weiter                                                         der Gegenwart.
über die Verhältnisse nachge-           CHI-CHINWANOKU
dacht während ihrer Ausbil-             «Wir sind nicht hier, um                      Und beide bringen diese Viel-
dung zur professionellen Musi-       jemandem etwas wegzunehmen,                      falt jetzt nach Luzern. Das
kerin. «Es kam mir nicht             sondern um etwas zu verstärken                   Chineke!    Junior   Orchestra
einmal in den Sinn, dass es                und zu erweitern.»                         spielt   neben   Tschaikowsky
Schwarze      Komponistinnen                                                          Musik von Black Composers
und Komponisten oder solche                                                           aus Spätromantik und Gegen-
von anderen Ethnien geben könnte.» Es dauerte bis 2014,      wart, geleitet wird es von der jungen venezolanischen
als Chi-chi Nwanoku das Kinshasa Orchestra aus dem           Dirigentin Glass Marcano, die 2020 in Paris den Wett-
Kongo in London hörte. «Ich hatte bis dahin keine Ah-        bewerb «La Maestra» gewann. Das Chineke!-Erwach-
nung, dass ein solches Orchester im Kongo existierte.»       senenorchester beschliesst das Festival mit dem jungen
                                                             englischen Cellisten Sheku Kanneh-Mason, der bei der
ZWEIORCHESTERGEGRÜNDET                                     Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle ein Mil-
Das Konzert war für sie selber ein Türöff ner. Chi-chi       liardenpublikum rührte. Nach Schostakowitschs zwei-
Nwanoku begann sich zu fragen, warum es im 21. Jahr-         tem Cellokonzert lässt das Chineke! Orchestra das Fes-
hundert in England nur eine People of Colour-Musik-          tival mit William Levi Dawsons «African-American
erin gab, die Beethoven und Berlioz spielte – nämlich        Folk Symphony» von 1934 ausklingen.
sie selber. Da wurde ihr klar, dass sie etwas unternehmen
musste. Chi-chi Nwanoku knüpfte Kontakte zu Schwar-          «ICHWÜNSCHTEICHWÄRESCHWARZ»
zen Musikerinnen und Musikern und baute sukzessive           Am Anfang stiess Chi-chi Nwanoku mit ihrem Chi-
ein kleines Netzwerk auf. 2015 gründete sie «The Chine-      neke!-Projekt auch auf Widerstände. «Es gibt so viel
ke! Foundation». Die Organisation hat sich zum Ziel          Angst und Snobismus im Zusammenhang mit der klas-
gesetzt, Schwarzen, asiatischen und ethnisch vielfälti-      sischen Musik. Aber wir sind nicht hier, um jemandem
gen klassischen Musikerinnen und Musikern eine Platt-        etwas wegzunehmen, sondern um etwas zu verstärken
form zu bieten, um auf diese Weise ihre Präsenz in bri-      und zu erweitern.» Am Anfang waren die beiden Or-
tischen und europäischen Orchestern zu erhöhen.              chester ausschliesslich mit Schwarzen Musikerinnen
                                                             und Musikern besetzt. «Das war ein wichtiges State-
2017 trat das Chineke! Orchestra bei den BBC Proms in        ment. Inzwischen sind zahlreiche Nationalitäten mit
der Royal Albert Hall in London auf. Seither hat es an       verschiedenen ethnischen Hintergründen vertreten.
renommierten Festivals gespielt und gewann zahlreiche        Auch weisse Musikerinnen und Musiker sind dabei.»
Preise. Eng verbunden mit dem Orchester ist das Chi-
neke! Junior Orchestra. In ihm spielen 11- bis 18-jährige    Die Musikerin lacht. «Chi-chi, ich wünschte, ich wäre
Jugendliche, die von Mitgliedern des grossen Orchesters      Schwarz, denn ich möchte in eurem Orchester mitspie-
gecoacht werden. Das Repertoire des Chineke! Orches-         len», hatte ihr ein weisser Musiker nach den ersten Kon-

                                                         PIÙ 11
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Chineke!-Alltag: Sarah Martin, Didier Osindero ...   ... und Jesse Francis.      BILDER Ntando Brown/Chris Christodoulou

zerten geschrieben und angefügt: «Ich bin an Inklusion         scher Vielfalt auf den klassischen Konzertbühnen erfüllt
und Diversität interessiert, aber mein Orchester unter-        Chi-chi Nwanoku mit Genugtuung. Am meisten freut es
stützt nichts davon. Wie kann ich meine Gefühle und            sie, wie durch ihre Orchester deren Mitglieder ein neues
mein Engagement zeigen, wenn nicht in eurem Orches-            Zugehörigkeitsgefühl erleben konnten und erfahren,
ter?» Chi-chi Nwanoku gab ihm ihre Haltung durch:              «dass sie wirklich dazugehören».
«Du musst nicht Schwarz sein. Du musst nur unsere
Botschaft, unsere Philosophie teilen und eine Verände-         Es sei immer noch schwierig genug für klassische Musi-
rung wollen. Aber du musst auch verdammt gut mit dem           kerinnen und Musiker, trotz Tausenden von Trainings-
Instrument sein, so wie ich das musste, um in deinem           stunden einen Job zu bekommen. «Dafür gibt es keine
Orchester zu spielen.»                                         Garantie. Das gilt vor allem für Schwarze und ethnisch
                                                               diverse Musikerinnen und Musiker, die genau gleich viel
DASBEISPIELMACHTSCHULE                                      bezahlt haben wie ihre weissen Kolleginnen und Kolle-
Die Beharrlichkeit und das Engagement der Kontrabas-           gen. Aber sie müssen zusätzlich noch dafür kämpfen,
sistin haben sich gelohnt. Das Publikum ist sehr offen         dass sie als gleichwertig akzeptiert werden.»
für die ethnische Vielfalt des Orchesters und die Musik
                                                                                        www.lucernefestival.ch
von Schwarzen Komponisten. Auch andere Orchester
hätten mitbekommen, wie begeistert das Publikum auf
ihre Musik reagiere, sagt Nwanoku: «The London Sym-                           CHINEKE!JUNIORORCHESTRA
                                                                    Dirigentin: Glass Marcano, Klavier: Gerard Aimontche;
phony Orchestra, The London Philharmonic Orchestra                         Samuel Coleridge-Taylor (Othello-Suite),
oder auch das Royal Scottish National Orchestra haben                    Stewart Goodyear (Callaloo. Karibische Suite
                                                                                  für Klavier und Orchester),
begonnen, unsere Noten von Werken zu borgen, die sie                          Peter Tschaikowsky (Sinfonie Nr. 4)
noch nie gespielt haben. Das ist immerhin ein Anfang.»                                  9. August, 19.30
                                                                                       KKL, Konzertsaal

Auch auf Behördenebene ist etwas in Bewegung gekom-                                 CHINEKE!ORCHESTRA
                                                                   Dirigent: Kevin John Edusei, Cello: Sheku Kanneh-Mason;
men. Die grossen Orchester müssten neuerdings bei                         Brian Raphael Nabors (Pulse für Orchester),
                                                                         Dmitri Schostakowitsch (Cellokonzert Nr. 2),
ihren Bewerbungen für permanente Unterstützungs-
                                                                   William Levi Dawson (African-American Folk Symphony)
gelder aufzeigen, was sie für die Inklusion und Diversität                            11. September, 17.00
                                                                                       KKL, Konzertsaal
tun. Unter weissen Musikerinnen und Musikern greift
das Bewusstsein um sich, dass die klassische Musik für                          MUSICFORFUTURETALK
                                                                    Gesprächsrunde mit Chi-chi Nwanoku u.a. (in Englisch)
alle Menschen da ist und nicht nur für die etablierten                                9. August, 18.00
Wohlhabenden. Diese Entwicklung hin zu mehr ethni-                                   KKL, Auditorium

                                                          PIÙ 13
Damals sagte mein Vater:
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Dann wird es Zeit für das Private Banking der Luzerner Kantonalbank.
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Die südafrikanische Sängerin
                                                                                              Golda Schultz singt weltweit
                                                                                               an grossen Opernhäusern.
                                                                                                     BILD Dario Acosta

GRETCHENWIRD
ZURECHTENFRAU

Weibliche Stimmen sind in der klassi-                    einem historisch gewachsenen System, das Menschen,
schen Musik unterrepräsentiert –                         die keine Männer waren, und ihre Arbeit schlicht aus-
selbst die Frauenrollen auf den Opern-                   geschlossen hat. Bis heute beobachten wir die Folgen –
bühnen stammen aus der Feder von                         angefangen beim Kanon, in dem ausschliesslich Werke
Männern. Die Sopranistin Golda                           von weissen Männern zu fi nden sind, bis hin zur Sicht-
Schultz steht als «artiste étoile» für                   barkeit von zeitgenössischen Komponistinnen oder Di-
einen Perspektivwechsel eigener Art.                     rigentinnen im Heute, ihrer Bezahlung, ihren Karriere-
                                                         chancen und dem Diskurs über ihre Arbeit.

Wie so vieles in der «westlichen» Kultur ist auch die    Ein misogynes, patriarchales und rassistisches System in
klassische Musik ein genuiner Männerort. Das hat weni-   der Kultur hat aber nicht nur Folgen für die Repräsenta-
ger mit den Tönen an sich zu tun, sondern vielmehr mit   tion derjenigen, die es übergeht – es reproduziert sich im

                                                    PIÙ 15
«artiste étoile» Golda Schultz
Hannah Schmidt

            beispielhaften Fall des klassischen Kanons auch immer       Komponisten wie Georges Bizet entwarfen zwar Frau-
            wieder selbst. «Viele Komponisten haben sehr scary Wel-     enrollen, die über diskriminierende Stereotypen kaum
            ten für Frauen geschrieben», sagt                                               hinausreichten, so Schultz, jedoch
            die aus Südafrika stammende Sop-                                                beschrieben sie auch männliche
            ranistin Golda Schultz dazu in                                                  Archetypen – scary Männer, um
            einem Interview im März dieses             GOLDASCHULTZ                        bei ihrer Formulierung zu bleiben.
            Jahres. Beim diesjährigen Sommer-        «Diese Lieder sind Dialoge             Das resultiere aus einem Mangel an
            Festival ist sie «artiste étoile» und    zwischen den Worten von                Selbstreflexion: Die Komponisten
            unter dem Motto «Diversity» auf           Männern und den Tönen                 schrieben einfach, was sie dachten,
            einem Podium und mit Liederaben-               von Frauen.»                     wie Männer nun einmal seien –
            den zu Gast. Zudem singt sie die                                                und das sei ehrlich und entlarvend
            Clara in George Gershwins Oper                                                  zugleich. «Würden wir das in unse-
            «Porgy and Bess». «Carmen zum                                                   ren Interpretationen so zeigen, kä-
            Beispiel», sagt sie, «lebt in einer                                             men wir auf ein ganz anderes
            Welt, in der die Männer denken, sie könnten jede Frau       Niveau im kritischen Gespräch darüber», sagt Schultz.
            einfach haben.» Zur Erinnerung: Don José bringt die         Und dieses kritische Gespräch sei wichtig.
            Protagonistin um, weil sie seine Avancen ablehnt.
                                                                        KOMPONISTINNENEIGNEN
            FRAUENSTERBENDEUTLICH                                     SICHMÄNNERDICHTUNGAN
            ÖFTERALSMÄNNER                                           In ihrem Rezital am 4. September in Luzern singt die
            Überhaupt sterben Frauen in Opern deutlich öfter als        Sopranistin deshalb Stücke, die ausschliesslich von
            Männer, und meistens werden sie von letzteren ermor-        Frauen komponiert wurden: Clara Schumann, Emilie
            det, weil sie sie zurückweisen, verlassen oder anderwei-    Mayer, Rebecca Clarke, Nadia Boulanger, Kathleen
            tig nicht in ihre Welt passen. Das ist bezeichnend, nicht   Tagg. Keine Opernarien, sondern Lieder. Es geht ihr
            nur für den Kanon und die damalige Gesellschaft, son-       dabei einerseits darum, das Werk dieser Frauen sichtbar
            dern auch für die heutige: Jeden Tag versucht etwa in       zu machen – also den Kanon zu erweitern, zu zeigen:
            Deutschland ein Mann, seine Expartnerin umzubrin-           Wir müssen uns diesem System nicht weiter unterwer-
            gen, jeden dritten Tag gelingt es ihm. Aus einer BKA-       fen, das Menschen aufgrund ihres Geschlechts über-
            Statistik aus dem vergangenen Jahr geht hervor, dass der    gangen hat und übergeht. Es gibt diese Komponistin-
            statistisch gefährlichste Ort für Frauen das eigene Zu-     nen und ihr Werk, und es steht dem ihrer männlichen
            hause ist. Die Zahl der Femizide ist kontinuierlich         Kollegen in nichts nach. Der zweite Schritt ist aber
            hoch. Kultur erzählt am Ende viel über gesellschaftli-      nicht minder interessant: «Diese Lieder sind Dialoge
            che Realität und prägt sie erwiesenermassen mit.            zwischen den Worten von Männern und den Tönen
                                                                        von Frauen», sagt Schultz.
            Nun widmet sich Golda Schultz in ihrem Beruf mit
            grosser Leidenschaft aber dieser Musik, die aus männ-       Clara Schumann und Emilie Mayer etwa vertonten
            licher Perspektive eine Männerwelt voller sexistischer      Heinrich Heines Gedichte «Loreley» und «Du bist
            Klischees und Besitzansprüche beschreibt. Ist das nicht     wie eine Blume» oder Johann Wolfgang Goethes «Erl-
            ermüdend, will man fragen, Rollen zu verkörpern, die        könig». Ihre Vertonungen liefern als Übersetzung des
            selten in die Tiefe gehen, die hysterisch, verschüchtert,   Textes in Musik einen Kommentar, eine Einordnung.
            sexualisiert, unterdrückt, unselbstständig oder durch-      So gesehen legen die Komponistinnen eine eigene Folie
            trieben sind? «Wir sprechen so viel über schwierige         über die Worte und geben ihnen damit einen perspekti-
            Frauenrollen», sagt Golda Schultz dazu, «aber was ist       visch neuen Kontext: Sie machen sich die Dichtung der
            mit den Männerrollen? Sind nicht die Männer in diesen       Männer zu eigen, und schon das ist je nach Zeitalter
            Geschichten problematisch?»                                 revolutionär. Dass die Sichtweise der Komponistinnen

                                                                   PIÙ 16
Lucerne FestivalSOMMER

dabei aber nicht immer eine feministische ist, ist klar –      schreibt eine Vergewaltigung. Ihn einfach nur leicht
Frauen sind schliesslich eine heterogene Gruppe.               und verschmitzt zu singen, widerspräche Golda Schultz’
                                                               Ansatz.
SCHUBERTS«HEIDENRÖSLEIN»
ALSVERGEWALTIGUNGSSZENE                                       Andere Gedichte imaginieren zwar die Perspektive einer
Golda Schultz sieht ihre Rolle als weibliche Interpretin       weiblichen Figur, erzählen jedoch vor allem etwas über
dieser Melodien wie auch die von Liedern männlicher            den männlichen Autor: In «Gretchen am Spinnrade»
Komponisten in der gleichen Kontinuität – in dem Mo-           fasst Goethe den Wunsch nach bedingungsloser An-
ment, in dem sie sie singt, werden sie zu den Worten           erkennung und Bewunderung durch eine junge, norm-
einer Frau. Das verändert mitunter den kompletten An-          schöne Frau in Worte, vor allem aber den nach ihrer
satz für eine Interpretation. In Franz Schuberts «Hei-         existenziellen Abhängigkeit vom Geliebten. Das liebes-
denröslein» beispielsweise sieht ein «wilder Knabe» ein        trunkene Gretchen kann als patriarchale Macht- und
«Röslein» auf der Wiese stehen, so «jung und morgen-           Besitzfantasie gelesen werden, was Franz Schubert mit
schön», und entscheidet sich, es zu «brechen» – freilich       seiner Musik noch weiter betont. Die Spitzentöne, Be-
gegen den Willen seines weiblich konnotierten Gegen-           schleunigungen und harten Sforzati in seiner Komposi-
übers. «Röslein wehrte sich und stach», heisst es im           tion erwecken sogar den Eindruck – mehr noch als Goe-
Text, «half ihm doch kein Weh und Ach, / Musst’ es             thes Text –, Gretchen sei völlig ausser sich und verliere
eben leiden.» Es ist erstaunlich, wie lange es in den          sich regelrecht hysterisch in ihrer Sehnsucht nach dem
Interpretationen übergangen wurde: Dieser Text be-             älteren Mann.

                                 Der Pianist Jonathan Ware und
                                   Golda Schultz gestalten ein
                                Rezital mit Liedern aussschliesslich
                                       von Komponistinnen.
                                         BILD Vittorio Greco

                                                          PIÙ 17
«artiste étoile» Golda Schultz
Hannah Schmidt

                                 Wie klingt so etwas nun, wenn eine Interpretin wie
                                 Golda Schultz diesem Gretchen eine Stimme gibt?
                                 «Mir geht es am Ende immer darum, für mich zu klä-
  Golda Schultz will «keine      ren: Was will eine Figur?», sagt Golda Schultz. «Ich nut-
    Archetypen» spielen,
   sondern echte Frauen.         ze den schönen Gesang, die Phrasierungen, um ihren
       BILD Dario Acosta         Willen nachzuzeichnen.» Ihr sei wichtig, zu versuchen,
                                 «keine Archetypen zu spielen, sondern echte Frauen».

                                    LORELEYENTZIEHTSICH
                                       DEMSABBERNDENBLICK
                                           Clara Schumanns «Loreley» wird in Golda
                                              Schultz’ Interpretation auf diese Weise zu

                                                   «DIVERSITY–VIELFALTUNDEINHEIT»
                                                  NZZ-Podium mit Iris Bohnet (Ökonomin),
                                         Adam Fischer (Dirigent), Mithu Sanyal (Schriftstellerin),
                                         Golda Schultz (Sopranistin), Moderation: Martin Meyer
                                                           20. August, 16.00
                                                           KKL, Auditorium

                                                   MYTHENENSEMBLEORCHESTRAL
                                          Dirigentin: Graziella Contratto, Sopran: Golda Schultz;
                                              Mahler (Vier ausgewählte Lieder: Wo die schönen
                                           Trompeten blasen, Das irdische Leben, Ich atmet einen
                                             linden Duft, Ich bin der Welt abhanden gekommen,
                                                          Sinfonie Nr. 5, Bearbeitung
                                                    für Kammerorchester von Klaus Simon)
                                                                21. August, 11.00
                                                                KKL, Konzertsaal

                                                          MIN«SUMMERTIME»
                                                 Sopran: Golda Schultz, Klavier: Alan Gilbert,
                                                       weitere Solistinnen und Solisten
                                                               24. August, 18.20
                                                              KKL, Luzerner Saal

                                                    NDRELBPHILHARMONIEORCHESTER
                                                          UNDNDRVOKALENSEMBLE
                                                                  Porgy and Bess
                                                 Dirigent: Alan Gilbert, Porgy: Morris Robinson,
                                                 Bess: Elizabeth Llewellyn, Clara: Golda Schultz,
                                                  weitere Solistinnen und Solisten; G. Gershwin
                                                (Porgy and Bess, Oper, halbszenische Auff ührung)
                                                                 25. August, 18.30
                                                                 KKL, Konzertsaal

                                                           GOLDASCHULTZSOPRAN
                                                                        Rezital
                                              Klavier: Jonathan Ware; Clara Schumann (Liebst du um
                                              Schönheit, Warum willst du and’re fragen, Am Strande,
                                              Lorelei), Emilie Mayer (Wenn der Abendstern die Rosen,
                                                Du bist wie eine Blume, Erlkönig II), Rebecca Clarke
                                               (Down by the Salley Gardens, The Tiger, Cradle Song,
                                                  The Seal Man), Nadia Boulanger (La mer, Prière,
                                                           Élégie, Cantique), Kathleen Tagg
                                                     (This be her verse, Schweizer Erstauff ührung)
                                                                   4. September, 14.30
                                                                       Lukaskirche
Lucerne FestivalSOMMER

                                  einer anderen Geschichte als der, die Heinrich Heine in        re-Ley getan» klingt so in Schumanns und Schultz’ Ver-
                                  seinem Text beschreibt. Da lauert nicht mehr die               sion auch eher nach den letzten Worten des Untergehen-
                                  vermeintlich schadenfrohe Sirene auf ihrem Felsen und          den, der in gewohnter Manier einer Frau die Schuld für
                                  bringt arme Schiffer um Verstand und Leben. Die Lore-          sein eigenes Versagen gibt. Hier ist klar: Die Loreley be-
                                  ley in Schultz’ Version ist im Gegenteil eine Frau, die sich   kommt von all dem noch nicht einmal etwas mit.
                                  einfach nur in Ruhe die Haare kämmen will. Sie genügt
                                  sich selbst und ist zufrieden, singt ohne verführerischen      «Wie bringe ich das, was ich bin und was ich erlebt habe,
                                  Unterton entspannt vor sich hin. Dass der Mann im Boot         in diese Geschichte ein, meine Realität, meine Lebens-
                                  von den Wellen «verschlungen» wird, ist in der Folge ein-      erfahrung?», sagt Golda Schultz über ihre Interpretatio-
                                  zig und allein seine Schuld: Er denkt, die Frau auf dem        nen. «Wenn ich das nicht mache, werde ich es nicht
                                  Felsen existiere für ihn und seinen sabbernden Blick, er       schaffen, das Publikum für diese Fragen zu aktivieren
                                  will ihr näher sein, geifert sie «mit wildem Weh» an. Dass     und ihm eine neue Perspektive aufzuzeigen.» Das sei ihr
                                  dieser Mann eine potenzielle Bedrohung für die Frau ist,       Job als Sängerin. «Nicht nur schön zu singen.» Der Titel
                                  legt übrigens bereits Clara Schumann in der Klavierstim-       ihres Debüt-Albums liest sich vor diesem Hintergrund
                                  me an: Darin begleiten seinen Auftritt die gleichen Ach-       gleichsam wie ein Appell: «This be her verse» – «Das hier
                                  tel wie bei Schubert den todbringenden «Erlkönig». Der         sei ihr Vers».
                                  anklagende Schluss: «Das hat mit ihrem Singen / die Lo-
                                                                                                                     www.lucernefestival.ch

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Symphony
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                                     «SUMMERTIME»
   Von der Kammermusik bis zur
      grossen Besetzung: Das
     Lucerne Festival Orchestra
                                           BEIDEN
   gibt sechs Konzerte, drei unter
          Riccardo Chailly.
         BILD Priska Ketterer/
           Lucerne Festival

Bei den Orchestern bestätigen         Da blieb sogar der schlagfertigen, amerika-      re ist dies her. Heute kann Marisol Montal-
sich Trends zur Diversität,           nischen Sopranistin Marisol Montalvo für         vo darüber lachen: «Zu wenig hell! Nicht
stilistisch wie im wachsenden         einen Moment die Luft weg. «Als ich für die      einmal das stimmt!» – und zeigt auf ihre nur
Anteil an Frauen. Aber                Rolle der Maria in der ‹West Side Story› in      leicht gebräunte Haut. Sie hat sich im
People of Colour sind in              Bregenz vorsang», erzählte sie während           Opern- und Konzertbetrieb in vorwiegend
der Klassikszene keine                eines Konzerts, «wurde mir beschieden, ich       «weissen» Rollen durchgesetzt.
Selbstverständlichkeit. Mit           sei zu wenig hell!» Dabei stammt die Sänge-
dem Festivalmotto erhalten            rin aus Puerto Rico, der gleichen Insel, von     Das Beispiel zeigt, wie People of Colour und
sie prominente Präsenz, auch          der auch die Maria aus Bernsteins Musical        vor allem Schwarze Künstlerinnen und
in den Sinfoniekonzerten.             stammt. Wie diese ist sie eine Latina. 20 Jah-   Künstler im westlichen Klassikbetrieb mar-

                                                          PIÙ 20
Lucerne FestivalSOMMER

SINFONIEORCHESTERN
 ginalisiert wurden, mit Folgen bis heute.      die auftreten, sind die meisten bei «Music     terdam (unter Herreweghe) oder Mozarts
 Lucerne Festival setzt dagegen mit dem The-    for Future» anzutreffen.                       Oper «La clemenza di Tito» mit Cecilia Bar-
 ma «Diversity» ein Zeichen für Chancen-                                                       toli. Das West-Eastern Divan Orchestra
 gleichheit, und zwar bezüglich der Hautfar-    Wie wird aber das Thema «Diversity» in der     steht mit arabischen und jüdischen Musi-
 be, des «Geschlechts, der Religion, der        Sparte «Symphony» umgesetzt, also den          kern für Diversität auch in kulturpolitischer
 sexuellen Orientierung oder der sozialen       Sinfoniekonzerten, die den Weltruf von Lu-     Hinsicht.
 Herkunft», wie es bei der Präsentation des     cerne Festival ausmachen? Da kehrt, nach
 Programms für diesen Sommer hiess. Der         den Festivals mit Corona-Auflagen, zu-         Den jüngsten Trend bestätigt das Lucerne
 Fokus liegt jetzt auf Frauen und People of                                                    Festival Orchestra. Es gibt drei Konzerte
 Colour. Er wird umgesetzt auch in den Or-                                                     unter Chefdirigent Riccardo Chailly (u. a.
 chesterkonzerten, und da über alle drei                                                       mit Rachmaninow und Mahler) und eines
 Sparten hinweg, in die das Festivalpro-                                                       unter Jakob Hrůša (mit Dvor̆ák). Aber das
 gramm seit letztem Jahr gegliedert ist.                                                       Orchester beweist Eigeninitiative, indem es
                                                                                               – mit Beethoven – ohne Dirigent und mit
 NACHCORONAKEHRENDIVERSE                                                                   dem Mandolinisten Avi Avital auftritt.
 ORCHESTERTRENDSZURÜCK                                                                       Doch bringen die weltbesten Sinfonieor-
 In der Jugendsparte «Music for Future» tritt                                                  chester damit auch die Diversität auf die
 in der Reihe der Jugendorchester, die das                                                     Bühne, die das Festivalthema meint? Sucht
 Festival eröff nen, aus London das Chineke!            KOMPONISTIN                           man im Programm danach, so fi nden sich
 Junior Orchestra auf, das sich «Diversity»           FLORENCEPRICE                           einige Trouvaillen.
 mit People of Colour zum Programm ge-              «Ich habe zwei Handicaps:
 macht hat. Es wird geleitet von einer Frau,             Ich bin eine Frau                     DERSOHNEINERSKLAVINWARIN
 der Venezolanerin Glass Marcano, wie auch           und schwarzes Blut fliesst                PARISERFOLGREICHERALSMOZART
 das Zusatzkonzert des Youth Symphony Or-               in meinen Adern.»                      Dies beginnt prominent beim Eröff nungs-
 chestra of Ukraine unter der gefragten Diri-                                                  konzert des Lucerne Festival Orchestra unter
 gentin Oksana Lyniv. In der Sparte «Con-                                                      Riccardo Chailly (Freitag, 12. August). Da
 temporary» sind viele Komponistinnen und       nächst die Diversität zurück, zu der Orches-   interpretiert Anne-Sophie Mutter ein Violin-
 Black Composers vertreten. Im Lucerne Fes-     tertrends in den letzten Jahren ohnehin ge-    konzert von Joseph Bologne, Chevalier de
 tival Contemporary Orchestra, dem Labor        führt haben. Nicht nur bringen wieder          Saint-Georges (1745–1799). Als Kind einer
 der Zukunftsmusik, beträgt der Anteil der      Spitzenorchester auch aus den USA Gross-       Sklavin aus Guadeloupe und eines Franzo-
 Frauen etwa 50 Prozent, geleitet wird es in    sinfonik von Mahler oder Bruckner nach         sen stieg er in Frankreich als Geigenvirtuose
 einem seiner Konzerte von der Schweizerin      Luzern. Historisch informierte Auff ührun-     und Komponist zu einem Topstar auf. Wäh-
 Elena Schwarz. Von sieben Dirigentinnen,       gen sind Haydns «Die Schöpfung» aus Ams-       rend er in unserer Zeit (2002) als «Schwarzer

                                                                   PIÙ 21
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Lucerne FestivalSOMMER

Mozart» apostrophiert wurde, hätte sich Mo-       Schwarze Frau, deren Musik 1933 von einem       die erste zur Auff ührung. Price setzt immer
zart damals glücklich schätzen können, wäre       führenden Orchester der USA, dem Chica-         wieder folkloristische Elemente ein. In ihrer
er in Paris, wo er keinen Erfolg hatte, «Bolog-   go Symphony Orchestra, aufgeführt wurde.        ersten Sinfonie ist statt des Scherzos ein
ne blanc» genannt worden. Bologne war                                                             «Juba» zu hören, ein Tanz afrikanischer
nicht nur musikalisch talentiert. Während         Auch wenn man damals nicht von Black            Sklaven. Ein weiteres Werk von Price, ihr
der Französischen Revolution leitete der her-     Composer sprach, sondern der Titel des          Klavierquintett in a-Moll, spielen Solistin-
vorragende Fechter seine eigene Truppe mit        Konzerts nach heutiger Auffassung rassis-       nen und Solisten des Lucerne Festival Or-
Soldaten aus den Kolonien. Am Sonntag,            tisch «Negro in Music» lautete, war das ein     chestra mit dem Pianisten Kit Armstrong
28. August, spielt das Mahler Chamber Or-         frühes Bestreben nach «Diversity». Dennoch      (Dienstag, 16. August).
chestra zudem seine zweite Sinfonie.              geriet Price nach ihrem Tod in Vergessen-
                                                  heit – wie die meisten Schwarzen Komponis-      Das Philadelphia Orchestra bringt auch eine
EINESCHWARZEKOMPONISTINHAT                    tinnen und Komponisten in der Klassik           zeitgenössische Schwarze Komponistin nach
ERFOLGUNDGEHTDOCHVERGESSEN                    auch. Dass ihre Werke heute aufgeführt wer-     Luzern. Valerie Coleman (*1970) war die
»Sehr geehrter Dr. Koussevitzky, zuerst           den, ist dem Zufall und dem Zeitgeist zu ver-   erste Afroamerikanerin, die einen Komposi-
möchte ich sagen, dass ich zwei Handicaps         danken. Im Jahr 2009 entdeckte ein Ehepaar      tionsauftrag des Orchesters erhielt. Für die
habe – ich bin eine Frau und schwarzes Blut       in einem frisch gekauften, baufälligen Haus     Sopranistin Angel Blue, ebenfalls eine Afro-
fl iesst in meinen Adern.» So beginnt der         zahlreiche Noten. Viele waren mit dem Na-       amerikanerin, hat sie ein Werk geschaffen,
Brief der Afroamerikanerin Florence Price         men «Florence Price» versehen. Die Entde-       das als Schweizer Erstauff ührung erklingt.
(1887–1953) an den Generalmusikdirektor           ckung der 300 bis 400 Kompositionen führte
des Boston Symphony Orchestra. Antwort            zu einem kleinen Florence-Price-Boom.           WOBLEIBEN
erhielt sie nie. Aber mit ihrem selbstbewuss-                                                     DIEDIRIGENTINNEN?
ten Auftritt setzte sie sich trotz widriger       Das Philadelphia Orchestra ist zum Beispiel     Dass «Frauen am Pult eines Orchesters heute
Umstände durch und war zu Lebzeiten               daran, alle Sinfonien einzuspielen, und         eine fast schon selbstverständliche Erschei-
durchaus erfolgreich. So war sie die erste        bringt am Sonntag, 4. September, im KKL         nung geworden sind», wie es im Programm-

       Lange erwarteter Höhepunkt: Susanna Mälkki bringt
          mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra und
          Andreas Haefl iger am Flügel Dieter Ammanns
          Klavierkonzert «Gran Toccata» in die Schweiz.
                          BILD Sakari Viika

                                                                     PIÙ 23
Symphony
    Roman Kühne

                                                                                                     geschlagen. Aber zum Thema «Diversity»
                                                                                                     spielen sie Mahlers 7. Sinfonie, die in der Art
                                                                                                     einer Collage das Triviale mit dem Erhabe-
                                                                                                     nen, Kitsch und Marsch verbindet und erst-
                                                                                                     mals Gitarre und Mandoline ins Orchester
Stil-Diversität: Alte-Musik-
Pionier Philippe Herrweghe                                                                           einführte (Mittwoch, 31. August). Alfred
 leitet das Concertgebouw
    Orchestra in Haydns                                                                              Schnittkes Konzert für Viola und Orchester
        «Schöpfung» .                                                                                bildet das Festivalthema mit seiner Polystilis-
  BILD Wouter Maeckelberghe
                                                                                                     tik ab (Donnerstag, 1. September).

                                                                                                     «SUMMERTIME»FÜR
                                                                                                     MUSIKALISCHEVIELFALT
                                                                                                     Simon Rattle, der ehemalige Chef der Berli-
                                                                                                     ner, gastiert mit dem London Symphony
                                                                                                     Orchestra in Luzern. In seinen Program-
                                                                                                     men bringt er immer wieder moderne
                                                                                                     Werke und scheut sich nicht, mit seinen
                                                                                                     Orchestern auch in kleinen Besetzungen
                                                                                                     aufzutreten. Kaum ein anderer Spitzendiri-
    buch heisst, bestätigt sich bei den traditions-   Pianistin Yuja Wang und Cécile Lartigau an     gent hat ein ähnlich breites Repertoire wie
    reichen Sinfonieorchestern aber keineswegs.       den Ondes Martenot. Dann erklingt die Tu-
    Obwohl immer mehr Orchester Frauen als            rangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen.
                                                                                                                ERÖFFNUNGSKONZERT
    Chefi nnen haben, kommt – neben der kurz-         Mit ihren indischen Rhythmen und indone-            Lucerne Festival Orchestra, Dirigent:
                                                                                                     Riccardo Chailly, Violine: Anne-Sophie Mutter;
    fristig engagierten Oksana Lyniv – nur eine       sischen Gamelan-Klängen ein Muss an             Rihm (Verwandlung 4), Bologne, Chevalier de
    mit ihrem Orchester nach Luzern: Susanna          einem Diversity-Festival.                         Saint-Georges (Violinkonzert op. 5 Nr. 2),
                                                                                                              Rachmaninow (Sinfonie Nr. 2)
    Mälkki führt mit ihrem Helsinki Philhar-                                                                        12. August, 18.30
    monic ein hochkarätiges Programm auf –            EINVORHANG                                                 KKL, Konzertsaal und
                                                                                                               Live-Übertragung aufs Inseli
    mit Dieter Ammanns Klavierkonzert, das            FÜRMEHRFRAUEN
    wegen Corona verschoben werden musste             Übrigens: Bei den Big Five der USA lag 1970        WEST-EASTERNDIVANORCHESTRA
                                                                                                             Dirigent: Daniel Barenboim;
    und nach seiner gefeierten Urauff ührung          der Frauenanteil nur bei 5 Prozent. Dann be-        Smetana (Má vlast – Mein Vaterland)
                                                                                                                   14. August, 19.30
    endlich auch in Luzern zu hören ist (Diens-       gann man die Bewerberinnen und Bewerber
                                                                                                                  KKL, Konzertsaal
    tag, 30. August).                                 hinter einem Vorhang vorspielen zu lassen,
                                                      worauf   der   Frauenanteil   kontinuierlich     ROYALCONCERTGEBOUWORCHESTRA
    Während Frauen als Chefi nnen noch auf            stieg – aktuell auf immerhin über 35 Pro-                  Collegium Vocale Gent
                                                                                                             Dirigent: Philippe Herreweghe,
    dem Vormarsch sind, haben sich in den Or-         zent. Nicht dass die Männer doch die                     Sopran: Robin Johannsen,
    chestern die Zeiten bereits gründlich geän-       besseren Musiker wären, wie der Dirigent          Tenor: Werner Güra, Bass: Florian Boesch;
                                                                                                           Haydn (Oratorium Die Schöpfung)
    dert. Erst 1997 nahmen die Wiener Philhar-        Leonard Bernstein, ein Gegner des Vorhang-                    29. August, 19.30
    moniker eine erste Frau ins Orchester auf,        spiels, glaubte. Die Wiener haben bis heute                  KKL, Konzertsaal

    die Harfenistin Anna Lelkes. 25 Jahre später      keinen Vorhang. Die Berliner Philharmoni-        HELSINKIPHILHARMONICORCHESTRA
                                                                                                      Dirigentin: Susanna Mälkki, Klavier: Andreas
    weisen sie einen Frauenanteil von 25 Pro-         ker, das andere europäische «Männer»-
                                                                                                         Haefl iger; Saariaho (Vista für Orchester,
    zent auf. Beim Auftritt in Luzern haben die       Orchester, übrigens auch nicht. In Deutsch-         Schweizer Erstauff ührung), Ammann
                                                                                                          (The Piano Concerto (Gran Toccata),
    Wiener immerhin beide Male Solistinnen            land ist der Frauenanteil in Sinfonieorches-              Schweizer Erstauff ührung),
    dabei: Am Mittwoch, 7. September, ist es          tern inzwischen zwar bei durchschnittlich             Nørgård (Sinfonie Nr. 8), Sibelius
                                                                                                      (Tapiola, Sinfonische Dichtung für Orchester)
    die Schweizer Saxofonistin Valentine Mi-          40 Prozent, aber die Berliner sind hier mit                     30. August, 19.30
    chaud, und am Dienstag, 6. September, die         22 Frauen bei 120 Angestellten ziemlich ab-                     KKL, Konzertsaal

                                                                         PIÙ 24
Lucerne FestivalSOMMER

                                                                                                     Rezital András Schiff
                                                                                                     Urs Mattenberger

                                                 Yannick Nézet-Séguin setzt sich mit
                                                   dem Philadelphia Orchestra für
                                                                                                     ANDRÁSSCHIFF
                                               afroamerikanische Komponistinnen ein.                 GEDENKTHAITINK
                                                           BILD Pete Checchia

                                                                                                     Wenn «Diversity» bedeutet, starre
                                                                                                    Formen variabler zu handhaben, ist
                                                                                                       auch das Rezital des Pianisten
                                                                                                       András Schiff ein prominenter
                                                                                                    Beitrag zum Festivalmotto. So führt
                                                                                                    das Programm zwar die Komponis-
                                                                                                     ten Bach, Mozart, Beethoven und
                                                                                                     Schubert auf. Aber welche Stücke
                                                                                                    von ihnen er spielt, wird er spontan
                                                                                                     am Tag des Konzerts bestimmen.

                                                                                                     Über das Überraschungsmoment
                                                                                                       hinaus hat das einen weiteren
der Engländer. So spielt er unter anderem      eigenen Schrift kommuniziert: Hebräisch,               Vorteil. Weil man nicht im Pro-
«Die Okeaniden» von Jean Sibelius (Sams-       Deutsch, Russisch und Japanisch. Auch das              grammheft nach- oder vorlesen
tag, 3. September) oder bringt die Schweizer   ist gelebte Vielfalt.                                kann, wird Schiff in seiner Matinee
Erstauff ührung des «Sun Poem» von Daniel                                                            die Werke anmoderieren und mit
                                                              www.lucernefestival.ch
Kidane (*1986), einem Briten mit eritrei-                                                             ihren Besonderheiten vorstellen.
schen Wurzeln (Sonntag, 4. September).
                                                                                                    Bei einem Auftritt in Gstaad hat er
                                                       BERLINERPHILHARMONIKER
Ebenfalls gut in das diesjährige Programm-                                                          selbst das als Beitrag verstanden, um
                                                     Dirigent: Kirill Petrenko, Viola: Tabea
motto passt «Porgy and Bess» von George           Zimmermann; Schnittke (Konzert für Viola           das etwas steife Konzertritual zu
                                                und Orchester), Schostakowitsch (Sinfonie Nr. 10)
Gershwin, die erste Oper, die ausschliess-                     1. September, 19.30                  beleben. Natürlich tragen dazu auch
lich unter Schwarzen spielt und in der «ar-                     KKL, Konzertsaal                    seine Anmerkungen bei, die ebenso
tiste étoile» Golda Schultz mit «Summer-              LONDONSYMPHONYORCHESTRA                      von Sachwissen wie von Mensch-
time» zu hören ist (NDR Elbphilharmonie           Dirigent: Sir Simon Rattle; Berlioz (Ouvertüre    lichkeit geprägt sind. Darin erinnert
                                                   Le Corsaire), Kidane (Sun Poem, Schweizer
Orchester, Donnerstag, 25. August). Wäh-            Erstauff ührung), Sibelius (Sinfonie Nr. 7),    Schiff an den grossen, am 21. Okto-
rend in «Porgy and Bess» nur Schwarze Sän-                        Ravel (La Valse)                   ber 2021 verstorbenen Dirigenten
                                                                4. September, 11.00
gerinnen und Sänger mitwirken dürfen, ist                        KKL, Konzertsaal                   Bernard Haitink. Das lässt vielleicht
im Lucerne Festival Orchestra der Anteil an                                                          doch Rückschlüsse auf die Werk-
                                                      THEPHILADELPHIAORCHESTRA
People of Colour eher gering. Im Vorgän-            Dirigent: Yannick Nézet-Séguin, Sopran:          wahl an dieser Matinee zu. Denn
                                                  Angel Blue; Rachmaninow (Die Toteninsel),
gerorchester, dem Schweizerischen Fest-          Coleman (This Is Not a Small Voice, Schweizer      diese widmet Schiff dem «Gedenken
spielorchester, stand aber 1971 mit Dean          Erstauff ührung), Price (Sinfonie Nr. 1 e-Moll)          an Bernard Haitink».
                                                               4. September, 18.30
Dixon der erste Schwarze am Dirigierpult.                       KKL, Konzertsaal
Und im aktuellen Orchester ist Diversity in
                                                         WIENERPHILHARMONIKER
anderer Art durchaus zu fi nden. So spielen     Dirigent: Esa-Pekka Salonen, Klavier: Yuja Wang,
                                                                                                                  REZITAL
hier Menschen aus über 20 Nationen mit.                Ondes Martenot: Cécile Lartigau;
                                                                                                        Klavier: András Schiff; Bach,
                                                         Messiaen (Turangalîla-Sinfonie)
In der Familie des Konzertmeisters Gregory                                                              Mozart, Beethoven, Schubert
                                                               6. September, 19.30
                                                                                                          14. August, 11.00, KKL,
                                                                KKL, Konzertsaal
Ahss wird gar in vier Sprachen mit je einer                                                                      Konzertsaal

                                                                       PIÙ 25
Lucerne Festival Academy
Urs Mattenberger

Auch als Moderatoren in den Konzerten des Composer Seminar ein starkes Team: Wolfgang Rihm und Dieter Ammann.              BILD Peter Fischli/LF

              «HAUDOCHMAL
              AUFDENTISCH!»
           Sie begannen als Junge Wilde, jetzt sind                    sogar sieben Frauen und nur ein Mann teil. Komponie-
           sie bedeutende Geburtstagsjubilare: die                     ren Frauen besser oder haben Sie bei der Auswahl das
           Komponisten Wolfgang Rihm (70) und                          Festivalthema übererfüllt? Dieter Ammann: Als wir uns
           Dieter Ammann (60) über eine Künstler-                      die Partituren der über 200 Bewerber anschauten und
           freundschaft, die am Composer Seminar                       uns ihre Musik anhörten, haben wir keinen Moment
           der Lucerne Festival Academy begann.                        überlegt, ob das Frauen oder Männer sind. Da war kein
                                                                       Zwang und keine Quote mit im Spiel.
           «Diversity» gehört zur DNA der zeitgenössischen Mu-         Wolfgang Rihm: Für unser Composer Seminar wählen wir
           sik, an Ihrem Composer Seminar nehmen dieses Jahr           aber auch nicht einfach jene aus, die «besser» komponie-

                                                                  PIÙ 26
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