Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod

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Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
März 2019
Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr

Die Gewerkschaft
Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste

Streikende Frauen
Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m.
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
Frauen*streik!
        Frauen streik!

                          Mach Mit ! Jede Frau ist willkommen !
                          WWW.VPOD.CH/fRAUENSTREIK

                                                         Die starke Gewerkschaft im Service public

Designvorlage_Frauenstreik.indd 1                                               29.01.2019 08:15:42
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
Editorial und Inhalt   |   VPOD

        Themen des Monats

5       Der grosse Unterschied
        Lohngleichheit: Die Frauen können nicht mehr warten

6       Mehr Mittel für die Mittelschicht
        Die Verbilligung der Krankenkassenprämien muss mehr
        Leuten zugute kommen als bisher

7       Ja zur zweiten Kohäsionsmilliarde                                              Christoph Schlatter
                                                                        ist Redaktor des VPOD-Magazins
        Daniel Lampart und Vasco Pedrina plädieren für
        einen Akt der Solidarität

8       Das Ende aller Zeiten?
        Der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden
        ist durch Deregulierung bedroht                           Der Grenzzaun
                                                                  Nein, das geht nicht, dass die da in Massen zu uns kommen aus ih-
11–17   Dossier: Streikende Frauen                                rem Süden. Wer weiss, was die alles einschleppen. Drogen, Krank-
        Lysistrata und Kolleginnen, Athen und Sparta 411 v.u.Z.   heiten, Verbrechen und Sittenzerfall. Die wollen ja bloss teilhaben an
        Gymnasiallehrerinnen, Basel 1959                          unserem Reichtum und Wohlstand. Da werden dann ohne eigene Ar-
        Frauen, ganze Schweiz 1991                                beit und ohne Rücksicht auf Kollateralschäden unsere Vorratsschrän-
                                                                  ke und Mülltonnen geplündert. Statt sich mit Eicheln und Giersch zu
                                                                  bescheiden, schaufelt man bei nächtlichen Orgien junge Hühnchen
                                                                  und Kaninchen, Mais und Kartoffeln in sich rein.
                                                                  Arbeiten? Eher nicht so. Lieber den ganzen Tag auf der faulen Haut
        Rubriken                                                  liegen. Allein oder zu mehreren alle Viere von sich strecken und vor
                                                                  sich hinschnarchen, während unsereins zur Arbeit in die Legofabri-
4       Gewerkschaftsnachrichten                                  ken geht. Und wenn in der heringverarbeitenden Industrie endlich
                                                                  Feierabend ist, haben diese lustigen Zuwanderer sicher gerade Well-
8       Aus den Regionen und Sektionen                            ness: Fango oder Kieferrindenmassage. Ein bisschen Spass muss
                                                                  sein.
10      Sunil Mann: Bedingungslos (Teil 2)                        Säue sind das, wie die sich ohne Verstand und Verhütung fortpflan-
                                                                  zen. 6, 7, 8, 10, 12 Kinder sind keine Seltenheit. Manchmal weiss
18      Wirtschaftslektion: Erfolgreiche Lohnpolitik fortsetzen   die Mutter selber nicht, wie viele es sind. Und meistens weiss sie
                                                                  auch nicht einmal, wer der Vater ihrer Kinder ist; man kann ja seine
19      Wettbewerb: Küchenpersonal                                Augen nicht überall haben. Aber das ist auch egal, denn Papa bräch-
                                                                  te eh kein Geld nach Hause. Da kann er sich ebenso gut anderswo
20      VPOD aktuell                                              verlustieren.
                                                                  Von Gewalt habe ich noch gar nicht gesprochen. Sogar weibliche Ge-
21      Hier half der VPOD: Am Ende ihrer Kraft                   walt. Mütter werden standardmässig aggressiv, wenn sie kleine Kinder
                                                                  haben. Kaum sind die Jungs gross und schwererziehbar, werden sie
22      Solidar Suisse: Kinderarbeit auf Burkina Fasos            aus dem Familienverband geschmissen. Dann schlagen sie sich mit
        Baumwollfeldern                                           ihresgleichen um eine neue Hackordnung und verwüsten unsere blü-
                                                                  henden Landschaften.
23      Menschen im VPOD: Guy Bollag, Gratwanderer                Und wer weiss, was für Krankheiten ins Land geschleppt werden von
                                                                  diesen Dreckschweinen. ABS, ADHS, AIDS. Und besonders ASP, die
                                                                  gefährliche Afrikanische Schweinepest. Genau darum lassen wir sie
                                                                  jetzt nicht mehr in unser Land. Hier bei uns in Dänemark soll es
                                                                  nämlich so hyggelig bleiben wie eh und je. Also haben wir einen Zaun
                                                                  an unsere Südgrenze gestellt. Von Tønder bis Sønderborg, 70 Kilome-
                                                                  ter lang, anderthalb Meter hoch. Und 50 Zentimeter tief in den Boden
        Redaktion /Administration:
        Postfach 8279, 8036 Zürich                                rein, damit sich deutsche Wildschweine nicht zu uns nach Dänemark
        Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53              wühlen können.
        Nr. 2, März 2019                                          (Leider keine Glosse. Leider alles wahr. Auch die Untauglichkeit der
        E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch               Massnahme: Wie die Droge in Amerika reist auch die Schweinepest in
        Erscheint 10-mal pro Jahr                                 Europa auf menschlichen Wegen und beim Zoll legal ein.)

                                                                                                                           März 2019 3
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
VPOD      | Gewerkschaftsnachrichten

                                                                         Neue Lok beim SEV.

                                                                         Neuer GAV bei Syndicom.

                                                                         gegen ins Land drängende Dumping-Plattformen à la UberEats auf-
                                                                         gebaut. Solche Anbieter foutieren sich um die soziale Verantwortung,
                                                                         indem sie ihr Personal als Scheinselbständige tarnen. Der GAV sichert
                                                                         einen Mindestlohn, regelt Zuschläge, Pikettdienste sowie Einsatzplä-
                                                                         ne und garantiert einen Vaterschaftsurlaub. Angestrebt wird die All-
                                                                         gemeinverbindlichkeit des Vertrags, damit die Schmutzkonkurrenz
                                                                         draussen bleibt. | slt/syndicom (Foto: Syndicom)

                                                                         Uber in Genf: Massnahmen erwartet
                                                                         Die Unia freut sich über den Beschluss des Genfer Staatsrates, wo-
                                                                         nach auch digitale Plattformen wie Uber das Arbeitsgesetz einhalten
                                                                         müssen und sozialversicherungspflichtig sind. Uber und ähnlich ge-
                                                                         lagerte Gesellschaften weigern sich derzeit, ihre Mitarbeitenden als
                                                                         Angestellte einzustufen. Sie zahlen weder Mindestlöhne noch Sozi-
                                                                         alversicherungsbeiträge. Die Gewerkschaft erwartet, dass die Stadt
                                                                         Genf dem Lohndumping durch Uber & Co. jetzt ein Ende setzt. Wer
                                                                         systematisch gegen Gesetze verstösst, muss mit einem Geschäftsver-
                                                                         bot belegt werden. | unia

                                                                         SEV mit eigener Lok
                                                                         Der SEV startet mit einer Loktaufe in sein Jubiläumsjahr: Giorgio Tuti
Digitalisierung: Markt richtet’s nicht                                   taufte das Fahrzeug im Februar in Bellinzona auf den Namen seiner
Die Syndicom ist überzeugt, dass die sogenannte Vierte industrielle      Gewerkschaft. Ein Jahr lang wird die Lok auf dem SBB-Netz unter-
Revolution – also Robotisierung und Digitalisierung im Verbund mit       wegs sein. Sie erinnert damit an den Zusammenschluss mehrerer Ei-
Globalisierung – nicht weniger, sondern mehr Staat erfordert. Im Fo-     senbahner-Unterverbände zum Schweizerischen Eisenbahnerverband
kus steht für die Gewerkschaft die Netzneutralität. Wenn man allein      am 30. November 1919 – eine direkte Folge des Landesstreiks vom
die Marktkräfte machen lässt, schnappen sich wenige Unternehmen          November 1918, für welchen es entscheidend war, dass die Bähnler
die Kontrolle über alles und diskriminieren die übrigen. Laut Syndi-     mitmachten. Im Juni schickt der SEV – heute als «Gewerkschaft des
com muss auch definiert werden, welche Bereiche zum Service public       Verkehrspersonals» auch im Agglomerations- und im touristischen
gehören und öffentlich bereitzustellen sind. | slt                       Verkehr tätig – zusätzlich einen Ausstellungsbus auf Tour. «Darin
                                                                         begegnet man Schlüsselmomenten aus der Geschichte des SEV, aber
Swiss Post Solutions: 2 bis 3 Klassen                                    auch den Herausforderungen der Zukunft», sagte Tuti bei der Feier in
Syndicom kritisiert bei der Swiss Post Solutions «mindestens eine        Bellinzona. Den Schlusspunkt soll am eigentlichen Jubiläumsdatum
Zweiklassengesellschaft». Während das Kader regelmässig an kost-         im November die SEV-Jugend setzen. | slt (Foto: SEV)
spieligen Ausflügen opulent verwöhnt wird, spürt das gewöhnliche
Personal die Sparschraube. Es finanziert so die Eskapaden der Chefs      Ein Initiativkomitee gibt auf
– wie die jüngst enthüllte in Vietnam. Die Firma braucht aus Sicht der   Die Eidgenössische Volksinitiative «Krankenversicherung: Für die
Gewerkschaft dringend einen Kulturwandel, wenn sie das Image der         Organisationsfreiheit der Kantone» ist gescheitert. Das Komitee hat
Schweizerischen Post AG, deren Tochter sie ist, nicht weiter beschä-     im Februar mitgeteilt, dass es die Unterschriftensammlung einstellt.
digen soll. | syndicom/slt                                               Nach drei Vierteln der Sammelfrist sei weniger als die Hälfte der er-
                                                                         forderlichen 100 000 Signaturen zusammengekommen. Die Initia-
Erster Velokurier-GAV Europas                                            tive wollte die Kantone zu kantonalen Einheitskassen ermächtigen.
Zumindest in Europa ist er ein Novum: Der GAV für Velokurierinnen        Obwohl auch der VPOD das Volksbegehren unterstützt hat, fand die
und -kuriere, den die Sozialpartner im Februar in Bern unterzeich-       in der Westschweiz geborene Idee in der Deutschschweiz zu wenig
net haben. Die Gewerkschaft Syndicom und der Arbeitgeberverband          Support. Wohl auch, weil derartige kantonale Kassen diesseits des
Swiss Messenger Logistics SML haben damit einen ersten Schutzwall        Röstigrabens politisch wenig realistisch sind. | slt

4 März 2019
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
Frauenstreik      |   VPOD

Die fehlenden Fortschritte bei der Lohngleichheit sind ein Grund für den Frauenstreik

Der grosse Unterschied
Von wegen «kleiner Unterschied»: Die Differenz zwischen Männerlöhnen und Frauenlöhnen will nicht
weggehen. Unter anderem darum rufen die Gewerkschaften mit vielen weiteren Organisationen für den
14. Juni zum Frauenstreik (oder: «Frauen*streik») auf. | Text: SGB (Foto: bit.it/Photocase.de)

Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und                    Am Ende der Geduld
Männern halten sich hartnäckig. Dass Frau-                  und daher im Streik:
                                                            Gewerkschafterinnen.
en, die die Männer bezüglich Bildung inzwi-
schen überholt haben, immer noch rund
einen Fünftel weniger verdienen als diese,
ist skandalös. Es braucht dringend griffige
Massnahmen gegen die Diskriminierung der
Frauen im Erwerbsleben. Dafür wird auch
am 14. Juni gekämpft.
2016 haben Frauen im privaten Sektor ge-
mäss der soeben veröffentlichten Lohnstruk-
turerhebung 19,6 Prozent weniger verdient
als Männer. Auch der «erklärbare» Unter-
schied ist inakzeptabel: Frauen sind im Tief-
lohnbereich übervertreten, sie wählen Teil-
zeitjobs und prekäre Beschäftigungen, um
Zeit für unbezahlte Care-Arbeit zu haben –
während Männer die Lohnleiter hochklettern.
Nötig sind darum unter anderem existenz-
sichernde Mindestlöhne, eine generelle Ver-
kürzung der Lebens-, Jahres- und Wochen-
arbeitszeit sowie Investitionen in den Service
public – damit die unbezahlte Arbeit nicht
mehr grösstenteils auf den Frauen lastet.

Ankommen im 21. Jahrhundert                        Alter erklärt werden, 2016 waren es wieder         Doch die Frauen sind nicht mehr bereit, die-
Der «unerklärbare», also diskriminierende          42,9 Prozent. Schon junge Berufsfrauen             sen Malus zu akzeptieren. Am 14. Juni werden
Anteil des Lohnunterschieds hat in jüngs-          müssen einen beträchtlichen Frauenmalus            die Gewerkschafterinnen mit vielen anderen
ter Zeit sogar noch zugenommen. 2014               in Kauf nehmen: Je jünger sie sind, desto          Frauen für mehr Lohn, Zeit und Respekt strei-
konnten 39,1 Prozent der Lohndifferenz             grösser ist der diskriminierende Anteil des        ken. Damit die Schweiz punkto Gleichstellung
nicht mit Ausbildung, Verantwortung oder           Lohnunterschieds.                                  endlich im 21. Jahrhundert ankommt.

Wir können nicht mehr warten
Bei der Befragung durch das Zentrum für Demo-      denziell mit einem höheren Anteil an sprachli-     Tatsächlich haben die Frauen allen Grund, auf
kratie Aarau ging es zwar eigentlich um etwas      chen Minderheiten Hand in Hand. Gleichstellung     Verbindlichkeit zu pochen. Die Vertretung von
anderes, nämlich um die Sprachenverteilung         und Sprachproporz stehen also nicht miteinan-      Frauen im Topkader zeigt, wie bitter notwendig
                        in der Bundesverwal-       der in Konkurrenz, im Gegenteil.                   zwingende Quoten wären. Trotz langjähriger An-
                        tung. Quasi als Beifang    Einmal mehr zeigt die Studie aber auch die ver-    strengungen, trotz Gleichstellungs-Controlling-
                        wurde auch die Frau-       breitete Angst vor verbindlichen Massnahmen.       Programmen und Lippenbekenntnissen beträgt
                        enquote in den ein-        Vergleichswerte und Empfehlungen werden von        der Anteil der Frauen in den 9 obersten Lohnklas-
                        zelnen Sprachgruppen       den Befragten als sinnvoll angesehen, bei Quo-     sen gerade einmal 20,7 Prozent. Diese beschä-
                        erhoben. Interessantes     ten hört die Zustimmung aber auf. Männer gaben     mende Realität zeigt: Man kann nicht warten, bis
                        Resultat: Ein höherer      Quoten auf einer Skala von 1 bis 4 durchschnitt-   Männer Quoten toll finden, man muss sie einfüh-
                        Frauenanteil geht ten-     lich 2,7 Punkte, Frauen vergaben 3,4 Punkte.       ren! | Christine Flitner, VPOD-Zentralsekretärin

                                                                                                                                         März 2019 5
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
VPOD        | Krankenkassen

Nach dem Bundesgerichtsurteil müssen die Prämienverbilligungen in den Kantonen erhöht werden

Mehr Mittel für die Mittelschicht
Das Bundesgericht hat im Fall Luzern klargemacht: Das KVG soll auch dem «unteren Mittelstand»
Krankenkassen-Prämienverbilligungen gewähren. Das Urteil wird Wirkung haben.
| Text: Reto Wyss, SGB-Zentralsekretär (Foto: bm4221/iStockphoto)

Es ist eine schallende Ohrfeige für die Sozial-         den Richtprämien, Eintrittsschwellen und          auf diese Weise weiter verschärfen. Sie sind
abbauer in den Kantonen: Das Bundesgericht              Verbilligungsanteile gekürzt, mit jeweils         nun im Gegenteil gerichtlich dazu verpflich-
hat in einem wegweisenden Urteil befunden,              nur einem Ziel: weniger Prämienverbilligun-       tet, eine Kehrtwende zu vollziehen und ihre
dass der Spielraum für Kürzungen bei Prämi-             gen für weniger Haushalte. So kam es dazu,        Bedingungen für den Anspruch auf Prämi-
enverbilligungen klar begrenzt ist. So muss             dass der Kantonsanteil an den Prämienver-         enverbilligungen schnellstmöglich gesetzes-
die Prämienlast laut KVG nicht nur für Haus-            billigungen (neben jenem des Bundes) von          konform auszugestalten. Auch rückwirkend
halte mit tiefen Einkommen, sondern auch                50 Prozent im Jahr 2010 auf 42 Prozent im         werden vorenthaltene Verbilligungen auszu-
für Familien des «unteren Mittelstandes» mit            Jahr 2017 sank. 11 Kantone geben heute für        richten sein, und das nicht nur im Kanton
Prämienverbilligungen gemindert werden.                 Prämienverbilligungen weniger aus als vor         Luzern (dessen Regierung dies bereits ange-
Diesen Grundsatz hat nicht nur der Kanton               10 Jahren – trotz des starken Bevölkerungs-       kündigt hat). Kommen die Kantone diesem
Luzern – Ursprungskanton der Klage – jah-               wachstums und trotz des noch stärkeren Prä-       Auftrag nicht nach, werden bald weitere Kla-
relang in krasser Art und Weise verletzt, son-          mienwachstums!                                    gen eingereicht werden – und zwar Klagen
dern grundsätzlich alle Kantone, mit einer                                                                mit ungetrübter Erfolgsaussicht!
einzigen Ausnahme: Graubünden.                          Sofort korrigieren                                Unabhängig vom Korrekturbedarf in den
Während Jahren hat man sich in den meis-                Der SGB hat diese Entwicklungen regelmäs-         Kantonen bleibt die vom Bundesgericht auf-
ten Kantonen nicht um die sozialen Folgen               sig stark kritisiert und in seinem Verteilungs-   gezeigte grundsätzliche Problematik zumin-
der unaufhaltsam steigenden Kopfprämien                 bericht jeweils aufgezeigt, wie alarmierend       dest teilweise bestehen: Die Kantone werden
in der Grundversicherung geschert. Ganz im              die Lage bei der Prämienlast wirklich ist.        weiterhin einen zu grossen Definitionsspiel-
Gegenteil: Um die Ausfälle der aggressiven              Nun kommt mit dem Bundesgerichtsurteil            raum für die Gewährung von Prämienver-
Steuersenkungen zu kompensieren, wurde                  endlich Bewegung in die Sache. Die Kantone        billigungen besitzen – insbesondere bei den
vielerorts auch bei den Prämienverbilligun-             können soziale Missstände nicht mehr ein-         kinderlosen Haushalten mit tiefen und mitt-
gen das Messer angesetzt. Kurzerhand wur-               fach in Hinterzimmern wegdefinieren und           leren Einkommen. Abhilfe kann hier nur ein
                                                                                                          schweizweit einheitliches Sozialziel schaffen,
                                                                                                          das auf dem Papier auch der Bundesrat seit
                                                                                                          mehr als 25 Jahren befürwortet.
Die Sorge des Bundesgerichts und des SGB gilt der unteren Mittelschicht.
                                                                                                          Neuer Anlauf
                                                                                                          Einen neuen Anlauf in diese Richtung un-
                                                                                                          ternimmt die demnächst unterschriftsreife
                                                                                                          «Prämien-Entlastungs-Initiative», die ver-
                                                                                                          langt, dass kein Haushalt in der Schweiz
                                                                                                          mehr als 10 Prozent seines Budgets für Prä-
                                                                                                          mien ausgeben muss. Zu finanzieren wäre
                                                                                                          dies mit mehr Prämienverbilligungen. Aber
                                                                                                          nicht nur durch die Kantone, sondern zu
                                                                                                          mindestens zwei Dritteln auch durch den
                                                                                                          Bund. Eine solche schweizweit gültige Be-
                                                                                                          lastungsgrenze ist dringend nötig. Denn das
                                                                                                          heutige System der kantonalen Kopfprämien
                                                                                                          bestraft gleich doppelt: Nicht nur bezahlt die
                                                                                                          Schuhverkäuferin genau die gleiche Prämie
                                                                                                          wie der Wirtschaftsanwalt, sie ist in der Re-
                                                                                                          gel auch viel weniger mobil, um sich einen
                                                                                                          Kanton mit tiefen Prämien und/oder hohen
                                                                                                          Prämienverbilligungen (bei gleichzeitig be-
                                                                                                          zahlbarer Miete) auszusuchen.

6 März 2019
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
Europapolitik         |   VPOD

Die sogenannte Kohäsionsmilliarde an die EU gibt auch innerhalb der Linken zu reden

Ein Akt der Solidarität
Derzeit berät das Parlament über einen zweiten Entwicklungsbeitrag an ausgewählte EU-Staaten. 1,3 Milliarden
Franken, von denen der grösste Teil in Länder mit autoritären Regimes fliesst? Die Autoren sehen die zweite
«Kohäsionsmilliarde» als Unterstützung der sozial Schwachen. | Text: Vasco Pedrina und Daniel Lampart (Foto: sanzios85/iStock)

                                                          Die «Kohäsions­milliarde» soll die Zivilgesellschaft stärken – auch in Städten wie dem polnischen Łódź.

2006, unmittelbar nach der EU-Osterweite-          nenmarkt. Deshalb soll sie weiterhin zum Ab-           halb ist es gut, dass die Schweiz mindestens
rung, haben die Schweizer Stimmberechtig-          bau der Ungleichheit beitragen. Die Erfahrun-          die Hälfte der für grössere Länder vorgesehe-
ten dem sogenannten Erweiterungsbeitrag            gen mit der ersten «Kohäsionsmilliarde» sind           nen Mittel für deren weniger entwickelte und
zugestimmt: 1 Milliarde Franken auf 10 Jahre       insgesamt positiv. Der zweite Beitrag sollte           abgelegene Regionen reserviert. Damit man
zur Verringerung des sozialen Gefälles zwi-        aber thematisch und geografisch noch besser            mit dem Geld eine Kanalisation baut oder eine
schen West- und Osteuropa. Jetzt steht eine        fokussiert sein. Die Projekte müssen zu einer          Trinkwasserversorgung. Oder soziale Projekte
zweite Zahlung von 1,3 Milliarden Franken          Verringerung des sozialen Gefälles beitragen;          in Betreuung und Integration finanziert.
zur Debatte. Die SVP ist sowieso dagegen.          sie sollen die Zivilgesellschaft stärken und           Zugegeben: Die Flüchtlingsthematik wird der-
Einige Linke begründen ihr Nein mit den po-        nicht den Autoritarismus. Die neuen Schwer-            zeit in vielen Ländern auf populistische Weise
litischen Entwicklungen in den ostmittel- und      punkte «Migration» und «Berufsbildung»                 missbraucht. Trotzdem ist es nicht falsch, sei-
osteuropäischen Ländern. Es darf doch nicht        können wirksam dazu beitragen. Der SGB                 tens der Schweiz auch mit diesen Staaten wei-
sein, sagen sie, dass die Schweiz mit viel Geld    begrüsst beispielsweise, dass Griechenland,            terhin den Dialog für eine menschliche Asyl-
Regierungen wie die polnische oder die un-         das von Migration besonders betroffen ist,             und Flüchtlingspolitik zu führen. Denn trotz
garische unterstützt, welche Menschenrechte        200 Millionen Franken – einen Sechstel der             abstossender Rhetorik auf nationaler Ebene
und demokratische Grundregeln mit Füssen           Gesamtsumme – erhält. Dieser Beitrag muss              besteht lokal ein grosser Unterstützungsbe-
treten.                                            jedoch für den Schutz und die Integration der          darf (etwa in polnischen Städten, die eine fort-
                                                   Aufgenommenen reserviert sein.                         schrittliche Integrationspolitik umsetzen).
Nur lupenreine Demokratien?                        Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in
Auch die Gewerkschaften sind besorgt über          den zentral- und südosteuropäischen Ländern            Positive Signale senden
diese Entwicklungen. Mit dem zweiten Beitrag       verläuft in unterschiedlichem Tempo. Polen             Umstritten ist bei der zweiten «Kohäsions-
sollen in diesen Ländern jedoch die Zivilgesell-   und Ungarn, die von der ersten Zahlung viel            milliarde» auch die Frage, ob die Schweiz die
schaft und die sozial benachteiligten Schich-      bekommen haben, werden vom zweiten Bei-                Zahlung von der Haltung der EU zum Rah-
ten der Gesellschaft unterstützt werden – und      trag weniger erhalten. Ein wesentlich höherer          menabkommen abhängig machen soll. Wenn
nicht die fragwürdigen Regierungen. Ginge          Anteil geht dagegen an wirtschaftlich weniger          die Schweiz, wie von den Gewerkschaften ge-
es nach der Logik der radikalen Linken, wäre       entwickelte Länder wie Rumänien und Bulga-             fordert, das Rahmenabkommen in der jetzigen
die Schweiz gezwungen, drei Viertel ihrer Ent-     rien. Aber auch in Polen und Ungarn leben              Form nicht gutheisst und auf weitere Verhand-
wicklungszusammenarbeit weltweit zusam-            immer noch viele unter dem Existenzmini-               lungen pocht, ist es umso wichtiger, der EU
menzustreichen. Denn diese fliesst keineswegs      mum. Namentlich Minderheiten – die Roma,               positive Signale zu senden: mit einem Ja zum
nur in «lupenreine Demokratien».                   aber auch Ältere, Menschen mit Behinderung,            zweiten Beitrag, mit einem Nein zum Waffen-
Unsere Haltung ist klar. Die Schweiz profitiert    Migrantinnen – haben keinen oder nur einge-            gesetz Mitte Jahr und mit einem Nein zur SVP-
dank den bilateralen Verträgen vom EU-Bin-         schränkten Zugang zum Service public. Des-             Begrenzungsinitiative 2020 oder 2021.

                                                                                                                                                  März 2019 7
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
VPOD      | Aus   den Regionen und Sektionen

                                                                              Das Freiburger Stadtpersonal erreicht eine Milderung
                                                                              der Verschlechterungen bei der Pensionskasse.

                                                                              Das Nein der baselstädtischen Stimmbevölkerung zur
                                                                              Spital-AG ist vor allem ein Nein zur Privatisierung.

                                                                              Waadt: Heim- und Spitexpersonal begehrt auf
                                                                              In der Waadt gibt es einen GAV für den Bereich «Santé parapublique»,
                                                                              also für Heime, Spitexdienste und Regionalspitäler. Die Löhne liegen
                                                                              dort aber deutlich tiefer als im Universitätsspital CHUV und im Spital
                                                                              Rennaz. Die Mindestlöhne sind mit 3748 gegenüber 4000 Franken
                                                                              ebenso geringer wie die Löhne von ausgebildetem Personal: Eine di-
                                                                              plomierte Pflegefachfrau im Regionalspital verliert im Verlauf ihrer
                                                                              Lohnkarriere fast eine Viertelmillion Franken gegenüber der Kollegin
                                                                              am CHUV. Verhandlungen sind aus VPOD-Sicht dringend, auch für
                                                                              die Arbeitgeber: weil sonst die Leute davonlaufen. | vpod

                                                                              Junge Berner FaGe wollen mehr
                                                                              Fast die Hälfte des weiblichen Gesundheitspersonals steigt wieder aus
                                                                              dem Beruf aus. Grund: Der in der Branche herrschende Druck ist auf
                                                                              Dauer kaum zu ertragen. Wenn in den kommenden Jahren die Baby-
                                                                              boomer in Rente gehen, werden sich die Zustände noch verschlim-
                                                                              mern. Der VPOD Bern hat angehende Fachfrauen und Fachmänner
                                                                              Gesundheit (FaGe) gefragt, was es braucht, damit sie auch mit 60
                                                                              noch im Beruf sind. Die Forderungen sind: mehr Anerkennung und
Stadt Freiburg: Mobilisierung bringt Erfolg                                   Respekt für die Arbeit, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und
Erfolgreiche Mobilisierung in der Stadt Freiburg: Gegen Verschlech-           eine bessere Vereinbarkeit von Familie. | slt
terungen bei der Pensionskasse der Stadt Freiburg wurde im Februar
gestreikt. Mit 200 Leuten war ein Drittel der Gesamtbelegschaft auf           Spital Affoltern: Wer zahlt den Preis?
der Strasse. Der VPOD konstatiert eine «historische Mobilisierung»            Der Stadtrat von Affoltern will sein Spital zum Abschuss freigeben –
und einen Erfolg: Das Stadtparlament (in Freiburg: Generalrat) be-            es wäre das erste Opfer der Fallpauschalen. Der VPOD fragt, wer den
grenzte in der abendlichen Sitzung die maximalen Renteneinbussen              Preis für die Schliessung bezahlt. Er wird sich jedenfalls dafür ein-
von 18 auf 10 Prozent. Zu diesem Zweck wurde die Übergangsfinan-              setzen, dass die Krise von jenen ausgebadet wird, die am wenigsten
zierung von 8 auf 12 Millionen Franken ausgebaut. Am Wechsel vom              daran schuld sind: den Spitalangestellten. Ein guter Sozialplan ist das
Leistungs- zum Beitragsprimat wird aber festgehalten. Stadtpräsi-             absolute Minimum. | vpod
dent Thierry Steiert (SP) war trotzdem verärgert über die «Hauruck-
übung». Den VPOD freut die Verbesserung; der Unmut über die har-              Zürich lehnt verfehltes Wassergesetz ab .  .  .
te Haltung des Stapis war an der Demo aber deutlich wahrnehmbar.              Das Wassergesetz ist von den Zürcher Stimmberechtigten klar bachab
Auch so müssen die städtischen Angestellten mit Renteneinbussen               geschickt worden. Der VPOD freut sich, dass damit einer möglichen
von mehreren hundert Franken rechnen. | vpod (Foto: Eric Roset)               Teilprivatisierung der Trinkwasserversorgung ein Riegel geschoben
                                                                              wurde. Jetzt besteht die Chance auf ein besseres Gesetz, das auch den
Winterthur: Aufsichtskommission drückt sich                                   Umweltanliegen und dem Seeuferzugang besser Rechnung trägt. | vpod
Die Aufsichtskommission des Winterthurer Gemeinderates drückt sich
mit der Zurückweisung eines Zusatzkredites für die Pensionskasse vor          .  .  . und Basel die Spital-AG
ihrer Verantwortung. Der VPOD findet den Entscheid, die 144 Millio-           Die Ablehnung der Spitalfusion in Basel-Stadt ist für den VPOD ein
nen Franken zurückzuhalten, unverantwortlich. Das Geld ist zwingend           Zeichen dafür, dass die baselstädtische Stimmbevölkerung das Unispi-
nötig, um die laufenden Renten nachzufinanzieren. Ob die Pensions-            tal nicht dem freien Markt aussetzen will. Die Umwandlung in eine
kasse in eine andere Trägerschaft übergeht, spielt dabei keine Rolle; die     AG hätte auch die Bedingungen fürs Personal verschlechtert, zumal
Differenz im Deckungsgrad muss ja bei einer Übernahme ausgegli-               der GAV noch nicht ausgehandelt ist. Eine Partnerschaft zwischen den
chen werden. Etwa von den Arbeitnehmenden? Der Stadtrat immerhin              Halbkantonen muss gleiche Rechte und gleiche Pflichten für beide
hält an den 144 Millionen fest; er will aber die Kasse mittelfristig liqui-   bringen. An einer sinnvollen Koordination der Gesundheitsleistungen
dieren und einer anderen – mutmasslich der BVK – einverleiben. | slt          führt ohnehin kein Weg vorbei. | vpod (Foto: Patrik Tschudin/flickr-CC)

8 März 2019
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
Arbeitszeit     |   VPOD

Unbelehrbar? Der Angriff auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden geht weiter

Das Ende aller Zeiten
Trotz negativer Vernehmlassungsbilanz zeigt sich die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats
(WAK-S) unbelehrbar: Sie hält an ihrem Frontalangriff auf den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden fest.
| Text: SGB (Foto: malerapaso/iStockphoto)

Zur Erinnerung: Mit der auf die Vorstösse                 Wer war das? Die WAK des
von Karin Keller-Sutter und Konrad Graber              Ständerats hat sich an der Uhr
                                                                zu schaffen gemacht.
zurückgehenden Revision des Arbeitsgesetzes
will die Ständeratskommission die wöchentli-
che Höchstarbeitszeit, die maximale tägliche
Überzeitarbeit und für einen grossen Teil
der Arbeitnehmenden sogar die Pflicht zur
Arbeitszeiterfassung abschaffen. Gleichzeitig
will sie das Sonntagsarbeitsverbot aufweichen
und für leitende Angestellte sowie Fachspezi-
alistinnen Sonntagsarbeit einführen.

Blosse Verschleierungstaktik
Gemäss den neusten Beschlüssen der WAK
werden zwar die Arbeiten rund um die Fra-
ge der Arbeitszeiterfassung sistiert. Diese          inakzeptabel, denn ein Grossteil der Kantone,        Die Allianz gegen Stress und Gratisarbeit wird
können aber jederzeit wieder aufgenommen             die Gewerkschaften und andere Arbeitneh-             diese Änderungen des Arbeitsgesetzes vehe-
werden. Damit ist dieser Entscheid blosse            merorganisationen, Verbände im Gesund-               ment bekämpfen. Die darin vereinigten Or-
Verzögerungs- und Verschleierungstaktik.             heitswesen sowie die Kirchen haben sich klar         ganisationen wissen dabei eine Mehrheit der
Das Festhalten an den anderen Deregulie-             gegen die Pläne ausgesprochen.                       Bevölkerung hinter sich. Denn 15-Stunden-
rungsplänen zeigt, dass die WAK die scharfe          Studien zeigen es deutlich: Immer mehr Leu-          Arbeitstage, 73,5-Stunden-Wochen und eine
Kritik und den breiten Widerstand aus der            te leiden unter Stress am Arbeitsplatz und den       immer öfter gestörte Sonntagsruhe finden in
Vernehmlassung in den Wind schlägt. Das ist          damit verbundenen gesundheitlichen Folgen.           einer Abstimmung keine Mehrheit.

Wechselwirkung
Zwar handelt es sich nur um eine Auslegeord-         Flexibilität fremdbestimmt ist, verliert sie ihren   ven Effekt auf die Gesundheit haben, ist wissen-
nung, nicht um eine eigenständige Studie: Trotz-     positiven Effekt. Und dieser tritt auch dann nicht   schaftlich nicht eindeutig erbracht. Der Effekt der
dem ist die «Kurz-Review zur Arbeitszeitflexibili-   ein, wenn unrealistische Anforderungen über          kurzfristigen Erholung ist dagegen unzweifelhaft.
sierung» von Georg Bauer und Team von der Uni        den «Output» bestehen.                               Das betrifft die Pausen (lieber häufig und kurz
Zürich brisant. Das ist allein daraus abzulesen,     Ein Burnout droht also am ehesten jenen, die zu      als selten und lang) sowie die Auszeiten «Feier­
dass der Auftraggeber, der Wirtschaftsprüferver-     viel in zu kurzer Zeit bewältigen müssen, zumal      abend» und «Wochenende». Der 8-Stunden-
band Expertsuisse, die Ergebnisse zunächst nicht     wenn sie gleichzeitig geringe Autonomie und zu       Tag hat tatsächlich eine empirische Evidenz: Ab
veröffentlichen wollte. Erst auf Druck der Gewerk-   wenig soziale Unterstützung geniessen. Die po-       8 Stunden pro Tag zeigt sich in zahlreichen Un-
schaften wurde das Papier publik.                    sitiven Elemente scheinen sogar massgeblicher        tersuchungen, dass die Produktivität sinkt und
Georg Bauer, Rebecca Brauchli und Gregor Jen-        zu sein als die negativen: Eine hohe Arbeitsbe-      die Fehlerquote zunimmt.
ny tragen darin zusammen, was die Forschung          lastung lässt sich schultern, wenn die genannten     Jedenfalls geben Bauer und Kollegen keineswegs
über den Einfluss von flexiblen Arbeitszeiten auf    Ressourcen ausreichend vorhanden sind. Die ar-       den wohl vom Auftraggeber erhofften «Freipass»
Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten        beitsgesundheitliche Problemzone liegt hingegen      für eine beliebige Flexibilisierung der Arbeits-
herausgefunden hat. Erkenntnis: Autonomie bei        dort, wo es an Autonomie, an «Ganzheitlichkeit       zeiten. Sie legen vielmehr den Finger auf die
der Arbeit vermag die schädlichen Wirkungen          und Bedeutsamkeit der Arbeit», an konstrukti-        Autonomie. Wo diese «nur auf dem Papier be-
von Belastungen zu mildern (oder zu «puffern»).      vem Feedback von der Chefin und an Unterstüt-        steht, kann es zu einem Bruch des sogenannten
Das heisst: Flexible Arbeitszeiten wirken sich nur   zung von den Kollegen mangelt.                       psychologischen Vertrags kommen». Geben und
dann günstig aus, wenn sie durch die Arbeit-         Auch auf die Freizeit geht die Studie ein. Der       Nehmen müssen unterm Strich einigermassen
nehmenden selbst bestimmt sind. Sobald die           Nachweis, dass Ferien einen anhaltenden positi-      wechselseitig sein. | slt

                                                                                                                                              März 2019 9
Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
VPOD      | Recht   und Unrecht

Mutterschaftsurlaub «frisst» Ferien                                                      Für Sozialdetektive
Eine Kindergartenlehrerin, die ein Kind bekam und ihren 16-wöchi-                  braucht es strenge Regeln.

gen Mutterschaftsurlaub bezog, wollte den regulären Ferienanspruch
für diese Zeit (4 Wochen Sommerferien plus 2½ Wochen für die Vor-
bereitung des neuen Schuljahres) nachbeziehen. Sie drang damit aber
auch vor dem Bundesgericht nicht durch. Es sei ok, sagt das Gericht,
wenn Ferien, die in den Mutterschaftsurlaub fallen, in der unterrichts-
freien Zeit nachbezogen würden. Diese sei ja sowohl für die Erholung
als auch für die Vorbereitung gedacht. Vorbereitung falle in der Zeit,
in der eine Stellvertretung zum Einsatz kam, nicht an. Die so gesparte
Zeit könne genutzt werden. | vpod

VPOD verlangt strenge Regeln für Sozialdetektive                             Deutschland: Sonderstatus der Kirchen bröckelt
Der VPOD plädiert für eine strenge Ausgestaltung der Verordnung              Der Fall eines katholischen Chefarztes an einem katholischen Spital in
zum Gesetz über die Überwachung von Sozialversicherten. In der               Düsseldorf (das VPOD-Magazin berichtete) ist geklärt. Nach einem Ur-
Vernehmlassung verlangt er, dass hohe fachliche und charakterliche           teil des EuGH hat jetzt auch das deutsche Bundesarbeitsgericht festge-
Anforderungen an Observierende gestellt werden. Nur so ist ein ver-          halten: Scheidung und Wiederverheiratung können auf keinen Fall zu
antwortungsvoller Umgang mit der Privatsphäre der Versicherten               einer Kündigung führen, wie katholisch auch immer das Krankenhaus
wahrscheinlich. Und nur so hat das Gesetz eine Chance, dereinst              sein mag .  .  . Das gilt jedenfalls dann, wenn es für die spezifische Tätig-
auch in Strassburg Bestand zu haben. Dagegen sind die Rechte der             keit nicht nötig ist, das Eheverständnis oder sonstige Lehren des Arbeit-
Observierten zu stärken; die Hürden für die Akteneinsicht sollen             gebers zu teilen. Was man für einen Mediziner mit Fug und Recht pos-
niedrig sein. Diesbezügliche Rechte müssten auch für jene gelten,            tulieren kann. Auch Verdi fordert von den Kirchen, die in Deutschland
die als unbeteiligte Dritte im Observationsmaterial erscheinen, fordert      zu den grossen Arbeitgebern im Gesundheits- und Sozialwesen zählen,
der VPOD. | vpod (Foto: complize/Photocase.de)                               endlich das allgemeine Arbeitsrecht anzuwenden. | slt

Sunil Mann Bedingungslos (Teil 2)
Sie erinnern sich: Jasmin hat eine Initiative gestartet, die in der Bevöl-   doch dem stehen die Parteiin-
kerung ein gewaltiges Echo ausgelöst hat. «Bedingungslose Grundehr-          teressen diametral gegenüber.
lichkeit» verlangt sie von Politikern, das Ende aller Lügen und halbher-     Die Mitte will irgendwann
zigen Ausflüchte. Dinge, an die man sich im Verlauf der Zeit so sehr         einlenken, Wahljahr, da muss
gewöhnt hat, dass man auf entsprechende Enthüllung höchstens noch            man doch schauen, meint sie
mit einem gleichgültigen Schulterzucken reagiert.                            und will sich schon auf den
Selbstverständlich sind die Parteien allesamt empört.                        Rücken der neuen Sau schwin-
«Und wie stellt sich diese Jasmin das vor?», schreit es von rechts. «Sol-    gen. Doch ihre Geldgeber
len wir ab jetzt etwa die Wahrheit sagen?» Hämisches Lachen und              schütteln panisch die Köpfe.
Schenkelklopfen aus den eigenen Reihen. «Zugeben, dass wir längst            «Auf gar keinen Fall!», jaulen
keine Ahnung mehr haben, was das Volk will, und uns das eigentlich           Banken und Pharmafirmen
auch total egal ist, solange wir unsere eigenen ausschliesslich weissen      und eine ganze Anzahl wei-                         Sunil Mann ist Krimi- und
Schäfchen ins Trockene bringen?» – «Und wir?», krähen die Linken.            terer finanzstarker Branchen.             ­Kinderbuchautor sowie Flugbegleiter.
«Müssen wir zugeben, dass uns die ganz grossen Ideen ausgegangen             «Sonst kommt noch jemand
sind? Dass wir schon vor Jahren vom Zeitgeist an die Wand geschleu-          auf die Idee nachzufragen, wer euch eigentlich finanziert. Für wen ihr
dert wurden und ihm seither verzweifelt hinterherhumpeln?»                   Politik macht, wessen Lied ihr singt!» – Ertappt steigt die Mitte wieder
«Ha!» tönt es aus der Mitte. «Von wegen keine Ideen! Da könnten wir          von der Sau.
definitiv mehr als nur ein Liedchen singen, das ergäbe schon fast ein        «Schon wieder singen, die sind echt musikalisch», bemerkt die Partei-
abendfüllendes Konzert. Sollen wir etwa in aller Öffentlichkeit einge-       lose, doch niemand findet das lustig.
stehen, dass wir uns auf jede beliebige Sau setzen, die gerade durchs        Der Bundesrat rauft sich die Haare, am Ende erarbeitet er einen Gegen-
Dorf getrieben wird? Gestern noch Klimaschutz ade, heute Öko olé?»           vorschlag, der fordert, dass Politiker nur am Wochenende die Wahrheit
Kopfschütteln und spöttisches Grinsen. – «Ich finde, wir könnten es          sagen müssen, doch das Parlament versenkt die Idee sogleich. Am En-
wenigstens versuchen», meldet sich eine Parteilose zu Wort, der Rest         de bleibt nichts anderes übrig, als die Initiative zur Ablehnung zu emp-
ihres Vorschlags geht im dröhnenden Gelächter unter.                         fehlen. Und wie so viele Initiativen zuvor ereilt auch Jasmins Anliegen
Durch die breite Ablehnung in den Parteien gerät auch das Parlament          ein trauriges Schicksal: An der Urne hat es keine Chance.
unter Druck, die Vorlage wird hektisch zwischen National- und Stän-          Nehmen Sie einen Schluck Rotwein, lehnen Sie sich auf ihrem Sofa
derat hin- und hergeschoben. Keiner will sich die Finger verbrennen.         zurück und stellen Sie sich ganz kurz vor, Jasmin hätte Erfolg gehabt.
Der Volkswille ist klar und deutlich, daran gibt es nichts zu rütteln,       Eine faszinierende Idee, nicht?

10 März 2019
Dossier: Streikende Frauen

In Aristophanes’ Komödie «Lysistrata» bringt ein Sexstreik der Frauen die Männer zu Vernunft und Frieden

Frauenstreik 1.0
Frauenstreik anno 411 v. u. Z.: Nach 20 Jahren Krieg haben die Athenerinnen genug und verweigern sich
ihren Männern, bis Frieden ist. Aristophanes’ Komödie wird bis heute gespielt – und fast noch lieber adaptiert.
Die Kombination von Sex und Pazifismus bleibt explosiv: «Make love, not war . .  .» | Text: Christoph Schlatter

Frau: «Nun setz dich doch nicht gleich auf               «Lysistrata» 2017 am Women’s
diesen dreckigen Sitzplatz! Ich hab’ extra ‘n           March in Oakland, Kalifornien.
Lappen dabei zum Drüberwischen.» Mann:
«Is’ doch egal .  .  .» Frau: «Ja, dir ist das natür-
lich egal! Du musst ja auch nicht waschen!
Du hast die Tunika erst gestern frisch an-
gezogen, und jetzt ist sie schon wieder dre-
ckig!» Mit einem kleinen Ehegezänk vor
Vorstellungsbeginn in den Publikumsreihen
eines griechischen Theaters lässt der Comic­
zeichner Ralf König seine «Lysistrata» begin-
nen. Der Band erschien 1987 und war eine
zugegebenermassen «sehr freie» Adaption
der Komödie von Aristophanes.
Der Dichter schildert im Original die «Mut-
ter aller Frauenstreiks». Im Jahr der Urauf-
führung, 411 v. u. Z., stand Athen im 20. Jahr
des Krieges gegen Sparta. Der Peloponnesi-
sche Krieg sollte trotz «Lysistrata» noch bis
404 andauern; er endete mit der Niederlage
Athens. In der Komödie wird dem Schlach-
ten durch eine Verschwörung der Frauen
ein Ende gesetzt: Unter Führung Lysistratas            Sparta läuft eine parallele Aktion der sexu-        diese Sorge angewiesen sind. Demnach ge-
vereinbaren die Athenerinnen einen Sex-                ellen Verweigerung. Diese «Aushungerung»            hört die Arbeit mit Kindern und Kranken, mit
streik. O-Ton aus der Comic-Adaption: «Ach             demoralisiert zunächst den Athener Kinesias         Betagten und mit Menschen mit Behinderung
übrigens . . . Ab heute verweigern sich alle           und später die restlichen Krieger beider Par-       dazu – aber die Bespassung und Umsorgung
Frauen ihren Männern, bis der Krieg been-              teien dermassen, dass sie einem Friedens-           gesunder erwachsener Männer eher nicht. Se-
det wird. Wir werden also ab sofort keinen             schluss zustimmen. Natürlich ist das alles mit      xualität ist – im modernen Idealfall zumindest
Geschlechtsverkehr mehr ausüben.» «Na                  allerhand Komplikationen verbunden: Jung-           – keine Dienstleistung, die jemand für jeman-
und? Das tun wir doch schon seit zehn Jah-             verliebte Frauen wollen aus der Akropolis           den erbrächte, sondern ein von beiden (oder
ren nicht mehr!» «Stimmt. Aber ab jetzt tun            ausbrechen, und wütende Männer versuchen,           allen) Beteiligten gleichermassen gewünsch-
wir’s erst recht nicht.» – In der ersten                      die Burg mit Gewalt zu nehmen, was           tes Geschehen. Die eheliche Pflicht hat aus-
Theaterpause sind wir wieder bei                                   aber je vereitelt wird.                 gedient. Ebenso die Darstellung des Mannes
unserem Zuschauerpaar. Die                                            Sc hw e i z , 2 0 1 9 : Fü r d e n   als ein Dampfkessel, der explodiert, wenn
Frau erwägt sexuelle Verwei-                                           14. Juni rufen die Organisa-        der Druck nicht durch das dafür vorgesehene
gerung, «bis du dich nicht                                              torinnen nicht zu einem            Ventil entweichen kann. (Zumal das Ventil ja
mehr mit frischgewaschener                                               Sexstreik auf. Vielmehr be-       auch in Selbstbedienung funktioniert.)
Tunika auf dreckige Stühle                                               tonen die Komitees, dass          Immerhin: Dass auch in heutigen Beziehun-
setzt».                                                                  sich der Aktionstag nicht         gen die Gewährung oder Verweigerung von
                                                                        gegen die Männer richtet.          Sex als Verhandlungsmasse eingesetzt wird,
Demoralisierte Krieger                                                  Zwar geht es durchaus um           suggeriert zumindest die regelmässige Lektü-
Die Frauen verschanzen sich                                            Care-Arbeit, aber wo beginnt        re der Blick-Rubrik «Fux über Sex». Auch bei
(bei Ralf König genauso wie bei                                      und wo endet die? Eine schlüs-        Aristophanes ist der Frauenstreik übrigens
Aristophanes) auf der Akropolis,                                    sige Definition besagt, dass           keineswegs auf die sexuelle Frage beschränkt.
womit sie zugleich die Kriegskas-                                 «Care» die Betreuung derjenigen          In der zentralen Szene wird auch die Kinder-
se unter ihrer Kontrolle haben. In             Aristophanes.    umschreibt, die abhängig und auf           betreuung thematisiert: Der Athener Kinesias

                                                                                                                                           März 2019 11
Dossier: Streikende Frauen

                                                   will seine auf der Akropolis verschanzte Frau      Beispiel (aus dem grossen Abstinenzschwur
                                                   Myrrhine zu Eidbruch und Geschlechtsver-           der Athenerinnen): «Ich lass keinen Mann
                                                   kehr überreden und bringt auch den Säug-           zu mir kommen, weder Liebsten noch Gat-
                                                   ling mit zur Burg: «Hast du kein Mitleid mit       ten, auch wenn er kommt wie ein Sturmbock,
                                                   deinem kleinen Jungen, der schon sechs Ta-         der Mauern bricht.» (Erich Fried) gegenüber
                                                   ge nicht gewaschen und gestillt worden ist?»       «Keiner, weder ein Liebhaber noch ein Ehe-
                                                   Das Baby wird dann allerdings ungesäugt            mann, soll mir nahen mit steifem Schwanz.»
                                                   und ungewaschen dem Sklaven zurückge-              (Niklas Holzberg).
                                                   geben, weil Myrrhine andeutet, zu Sex bereit       Ein spezieller Fall ist Lampito, die im Origi-
                                                   zu sein – bloss nicht vor dem Kind. Was sie        nal spartanischen Dialekt spricht. Holzberg
                                                   dann, nachdem das Kind fort- und Bett, Ma-         lässt sie bayrisch reden: «Und i daad direkt
                                                   tratze und Kissen herbeigeschafft sind, doch       aufn Taygetos-Berg kraxln, wenn i vo dort an
                                                   nicht ist . . .                                    Friedn seng kann!» Bei Seeger bäärneret sie:
                                                                                                      «Mir wär der Taygetos nit z’höch, wenn i der
                                                   Die Männerherrschaft fällt                         Friede nume fänd dert obe!» Das Berndeut-
Ludwig Seeger.                                     Auch die Frage der Macht wird in «Lysistra-        sche ist übrigens kein Zufall: Ludwig See-
                                                   ta» verhandelt. Die Athenerinnen bemäch-           ger (1810–1864), der aus dem Schwarzwald
                                                   tigen sich auf der Akropolis ja zugleich des       stammte, wirkte mehr als ein Jahrzehnt lang
                                                   Goldschatzes, und ohne diesen war der Krieg        als Dozent für alte Sprachen in Bern. (Man
                                                   auch im klassischen Griechenland nicht zu          nannte ihn auch den «schwäbischen Heine»,
                                                   führen. Etwas deutlicher wird die Machtfra-        nicht nur wegen seines literarischen Schaf-
                                                   ge in einer späteren Aristophanes-Komödie          fens, sondern auch, weil er sich politisch für
                                                   gestellt: «Frauen in der Volksversammlung»         die Revolution engagierte, für die er 1848
                                                   beschreibt 391 v. u. Z., 20 Jahre nach «Lysis-     nach Württemberg zurückkehrte.)
                                                   trata», die Übernahme der Macht im Staat
                                                   durch die Frauen. In männlicher Verkleidung        Anachronismen aller Art
                                                   schleichen sich die Athenerinnen in die ih-        Als eines von wenigen Theaterstücken der
                                                   nen sonst versperrte Versammlung und brin-         Antike wird die «Lysistrata» bis heute auf-
                                                   gen mit ihrer Mehrheit die Männerherrschaft        geführt. Vor allem aber scheint die Vorlage
                                                   zu Fall. Diese erste Szene muss für das da-        geradezu nach Bearbeitung und Parodie zu
                                                   malige Publikum besonders komisch gewe-            rufen, von denen unser Rundgang einige
                                                   sen sein: Sämtliche Rollen im klassischen          streifen wird. Der Comic wurde bereits er-
Romy Schneider (l.) und Barbara Rütting im         griechischen Theater wurden ja von Männern         wähnt: Ralf König macht sich darin einen
Fernsehspiel «Die Sendung der Lysistrata», 1961.   gespielt. Es waren also als Frauen verkleide-      Heidenspass aus Anachronismen aller Art.
                                                   te Männer, die sich mit Bärten und anderen         Sein Plot: Die Athener Schwulen verfolgen
                                                   Accessoires auf der Bühne wiederum in Män-         angesichts der sexuell darbenden Hetero-
                                                   ner verwandelten . . . Die Frauen führen dann,     männer ihren ganz eigenen und höchst ei-
                                                   kaum an der Macht, den Kommunismus ein.            gennützigen Plan. Um ein Haar wäre der
                                                   Jeglicher Besitz wird Gemeingut, auch Kinder       auch aufgegangen. Aber am Ende klagt Sül-
                                                   – und Frauen.                                      zos: «Mein Hetero ist auch wieder bei seiner
                                                   Der Tatsache, dass sich dann alle Männer um        Frau. Dabei haben wir gestern Abend noch
                                                   die Schönste balgen, trägt ein Gesetz Rech-        zusammen im Bett gelegen und Denver ge-
                                                   nung, wonach zuerst die Alten und die Häss-        guckt. Tja, nun ist wieder alles, wie es war . . .»
                                                   lichen zu befriedigen sind. Das ergibt eine        (Nicht ganz, muss man sagen. Wenigstens
Dionysos-Theater in Athen, Uraufführungsort.       mit Anzüglichkeiten und derben Scherzen            im Fall von Ödipos und Hepatitos hält die
                                                   gespickte Szene. Ähnlich Deftiges findet sich      neue Liebe dem Frieden stand.)
                                                   in der «Lysistrata». Interessant ist, wie unter-   «Lysistrata 1958 oder: Lysi und die verhin-
                                                   schiedlich die Übersetzer das Altgriechische       derten Männer» heisst eine Parodie von Max
                                                   ins Deutsche übertragen haben. Das lässt           Werner Lenz, die in der Regie von Ettore
                                                   sich gut zeigen anhand der bereits erwähn-         Cella 1958 an der SAFFA in Zürich aufge-
                                                   ten Begegnung an der Akropolis (Myrrhine           führt wurde. Diese nach 1928 zweite, von
                                                   scheint trotz des Schwurs dem Begehren ih-         Frauenverbänden organisierte «Schweize-
                                                   res Mannes nachzugeben, nur um ihn dann            rische Ausstellung für Frauenarbeit» sollte
                                                   umso brüsker zurückzuweisen). «Ich leide           ein Gesamtbild des Schaffens der Schweizer
                                                   Brunst», sagt Kinesias in der Übersetzung          Frauen geben. Motto: «Lebenskreis der Frau
                                                   von Ludwig Seeger. Niklas Holzberg über-           in Familie, Beruf und Staat.» Das kabarettis-
Frauenausstellung Saffa 1958 in Zürich.            setzt mit «Mir steht er stramm». Ein anderes       tische Theaterstück, von der Schweizerischen

12 März 2019
Dossier: Streikende Frauen

Lehrerinnen-Zeitung als «witzige Werbung für      Szenenwechsel: «Glühwürmchen, Glüh-
das Frauenstimmrecht» bezeichnet, wurde           würmchen flimmre, flimmre, Glühwürm-
über 30-mal gegeben; unter anderen spielten       chen, Glühwürmchen, schimmre, schimm-
Stephanie Glaser und Jörg Schneider (der          re, führe uns auf rechten Wegen, führe uns
spätere Kasperliplatten-Kasperli) mit.            dem Glück entgegen . . .» Das sogenannte
                                                  Glühwürmchen-Idyll ist eine der bekanntes-
Sissi gegen Atomwaffen                            ten Kompositionen von Paul Lincke, der als
Gut zwei Jahre später, am 17. Januar 1961 um      «Vater der Berliner Operette» für seine Stadt
22.15 Uhr, lief im Deutschen Fernsehen «Die       etwas Ähnliches war wie Johann Strauss für
Sendung der Lysistrata», ein Fernsehspiel von     Wien. «Frau Luna» (mit dem Schlager «Ber-
Fritz Kortner. In ganz Deutschland? Nein,         liner Luft») wird noch hie und da aufgeführt,
die Gebiete des Südwestfunks, des Westdeut-       die «Lysistrata», der das Glühwürmchen-Idyll
schen, des Bayerischen und des Süddeut-           entstammt, kaum mehr je. Aber die eine
schen Rundfunks hatten sich ausgeklinkt.          Nummer daraus war auch in den USA lan-
Grund: Kortner hatte Teile der originalen         ge Zeit sehr populär, weil sie 1952 als leicht
(wenn auch entschärften) «Lysistrata» in ei-      angejazzter «Glow Worm» in die Hitparade
ner Rahmenhandlung der Jetztzeit platziert,       katapultiert wurde («Shine, little glow worm,               Titelblatt «Glühwürmchen-Idyll», Berlin 1902.
als Stück im Stück. Zwei Schauspielerinnen,       glimmer, glimmer .. .»). Ansonsten kann man
die darin auftreten, schauen nun die Fern-        von einem obrigkeitsnahen Preussen der vor-
sehausstrahlung am TV an, zusammen mit            letzten Jahrhundertwende kaum ein gross­
ihren Männern und weiteren Gästen. Vor die        artiges Plädoyer gegen den Krieg erwarten
antike Handlung schiebt sich so eine aktuelle     – und bekommt auch keins. Anzüglich- und
Diskussion über Aufrüstung und Pazifismus.        Schlüpfrigkeiten aber schon: Der Friedens-
(Die Gründung der Bundeswehr lag zu jener         schluss zwischen Athen und Sparta ist weni-
Zeit erst 6 Jahre zurück, die eventuelle Aus-     ger auf den Sexstreik zurückzuführen als auf
stattung der Bundesrepublik mit Atomwaffen        die Liaison Lysistratas mit einem Spartaner
wurde gerade heftig diskutiert und von ersten     sowie auf Verstrickungen von deren Gatten
Friedensmärschen bekämpft.)                       im Rotlichtmilieu.
Erneut wirkte die Kombination von Sex und
Pazifismus explosiv. «Das sittliche Emp-          Männer werden weggefurzt
finden der Zuschauer wird verletzt», klagte       Weiteren musikalischen Niederschlag fand
der Bayerische Fernsehdirektor Clemens            Lysistrata in einem Ballett von Boris Blacher
Münster. Zugleich war er der Ansicht, «die        (1950) und in Opern von Karl Winkler (1961)
Verfechter einer Atomrüstung» würden              und von Mikis Theodorakis (2001). In der
«auf eine Weise karikiert, die einfach unfair     bildenden Kunst stechen zwei Namen her-
ist». Letzteres dürfte vor allem auf die stark    vor: Pablo Picasso, der 1934 eine Serie von
geschminkte und bepelzte ältere Dame ge-          Zeichnungen zum Stück schuf. Und Aubrey                     Ralf König: «Lysistrata» – Filmplakat 2002.
münzt gewesen sein, die gleich zu Anfang          Beardsley: Der englische Grafiker und -Illust-
fragt, ob dieser Aristophanes «ein Linker» sei.   rator (1872–1898) prägte den Jugendstil mass-
Der Titel der Produktion ist extra doppeldeu-     geblich, trotz seines frühen Todes. Seinerseits
tig: «Sendung» kann als Ausstrahlung eines        war er inspiriert von griechischen Vasen und
Rundfunkbeitrags verstanden werden (worin         japanischen Holzschnitten. Am berühmtes-
ja wirklich die Rahmenhandlung besteht),          ten sind seine Zeichnungen zu Oscar Wildes
aber natürlich auch als Botschaft, womöglich      «Salome»; fast ebenso sehr aber die Blätter
an die Heutigen. Die Hauptrollen spielten         zur «Lysistrata», die teilweise als Pornografie
Barbara Rütting, Ruth-Maria Kubitschek und        angefeindet wurden, jedenfalls nicht durch-
– Romy Schneider! Das war vielleicht über-        wegs jugendfrei sind. Für die Publikation in
haupt die grösste Provokation des Films (der      diesem Heft eignet sich zumindest jenes Bild,
aus heutiger Sicht auch ein paar Längen hat):     auf dem die Athenerinnen einen der angrei-
Ausgerechnet die wenige Jahre zuvor noch so       fenden Männer mittels Fürzen und Nacht-
sittliche Sissi äussert hier die Absicht, nach    topfentleerung von der Akropolis vertreiben.
Friedensschluss «ohne Ansehen der Person
                                                  Bildnachweis. Seite 11: Tom Hilton/Wikimedia/CC; aus:
als Opfer mich den Männern» zu verschen-          Alfred John Church: «Pictures from Greek Life and Story»,
ken, «zum Dank dafür, dass meiner mir zu-         1893. Seite 12: Die Gartenlaube; Wikimedia/CC; Keystone/
                                                  Interfoto/Friedrich; Werner Friedli/ETH-Bibliothek; Sei-
rückgekehrt». Und sie sehnt sich (später he-
                                                  te 13: Keystone/AKG-Images, Keystone/United Archives;
rausgeschnitten) nach einem «achtzölligen         Wikimedia/CC.                                               Aubrey Beardsley:
Tröster».                                                                                                     «Lysistrata verteidigt die Akropolis» (1896).

                                                                                                                                                 März 2019 13
Dossier: Streikende Frauen

Zwei Tage nach der Ablehnung des nationalen Frauenstimmrechts 1959 streikten die Lehrerinnen des Basler Mädchengymnasiums

Eine Frage der Würde
Der erste Schweizer Frauenstreik war nicht 1991, sondern 1959: Basler Gymnasiallehrerinnen liessen aus Empörung
über das Männer-Nein zum Frauenstimmrecht einen Unterrichtstag ausfallen. Ihre Aktion hatte grosses Echo.
| Text und Fotos: Christoph Schlatter*

1. Februar 1959: Eidgenössische Volksabstim-     Appenzell-Innerrhoden. Ein Nein auf der na-      hen im Jahr zuvor das Frauenstimmrecht be-
mung. Stimmberechtigt sind 1 488 555 Perso-      tionalen Ebene hatte man erwarten müssen.        schlossen. Die Enttäuschung muss am Mon-
nen. 1 488 555 Männer, um genau zu sein.         Aber so deutlich?                                tag danach auch im Lehrerinnenzimmer des
Ziemlich präzis zwei Drittel von ihnen gehen                                                      Basler Mädchengymnasiums enorm gewesen
an die Urne. Und von diesen lehnen wieder-       Rechtsanspruch missachtet                        sein. Der Lehrkörper dieser Anstalt, die im
um zwei Drittel den «Bundesbeschluss vom         Dass auch im Stadtkanton Basel eine Mehr-        Volksmund «Affenkasten» genannt wurde,
13.06.1958 über die Einführung des Frauen-       heit der Männer mit Nein stimmte, empörte        bestand zu jener Zeit aus rund 70 männlichen
stimm- und -wahlrechts in eidgenössischen        die dortigen Befürworterinnen des Frauen-        und gut 50 weiblichen Lehrkräften. Nicht nur
Angelegenheiten» ab. Lediglich aus den Kan-      stimmrechts. Ihre Hoffnung, dass wenigstens      die Lehrerzimmer waren nach Geschlecht
tonen Genf, Neuenburg und Waadt kommt            «ihre» fortschrittlichen Männer mehrheitlich     getrennt. Unterschiedlich waren auch die
ein Ja; die Deutschschweizer Kantone liegen      ein Ja einwerfen würden, war ja nicht ganz       Arbeitsbedingungen: Frauen verdienten we-
zwischen 53,2 Prozent Ablehnung in Basel-        ohne Anlass. Immerhin hatten die Männer          niger als die Männer, und vor allem verloren
Stadt und fast stalinistischen 95,1 Prozent in   in den Bürgergemeinden von Basel und Rie-        sie mit einer Heirat die feste Anstellung samt
                                                                                                  der Mitgliedschaft in der Pensionskasse. (Die
                                                                                                  «Zölibatsklausel» fiel 1961.)
                                                                        Leere Gänge:              Der Umstand eines separaten Lehrerinnen-
                                                                        Am 3. Februar fiel der    zimmers dürfte für das, was nun geschah,
                                                                        Unterricht im damaligen
                                                                                                  nicht unwesentlich gewesen sein. Zahlreiche
                                                                        Basler Mädchengym­
                                                                        nasium (heute: Gymna-     Lehrerinnen waren in der Frauenrechtsbewe-
                                                                        sium Leonhard) aus.       gung engagiert, und zumal die ältere Genera-
                                                                                                  tion hatte für Matura und Studium kämpfen
                                                                                                  und Widerstand überwinden müssen. Der
                                                                                                  Gedanke eines Proteststreiks stiess offenbar
                                                                                                  sofort auf fruchtbaren Boden. Die Umsetzung
                                                                                                  wurde gleich an die Hand genommen, und
                                                                                                  am Ende des Schulmorgens hatten 50 von 54
                                                                                                  weiblichen Lehrkräften eine Solidaritätsver-
                                                                                                  pflichtung unterschrieben – auch wenn nicht
                                                                                                  alle gleichermassen überzeugt waren vom
                                                                                                  Sinn und von der Tonalität der Aktion.

                                                                                                  Hurra, die Schule streikt!
                                                                                                  Abzüglich der kranken, beurlaubten und der
                                                                                                  dienstags dienstfreien Lehrerinnen blieben
                                                                                                  39 Streikfähige und -willige. Geheimhaltung
                                                                                                  wurde bis Montagabend geübt; den Rektor in-
                                                                                                  formierte Konrektorin Lotti Genner erst dann
                                                                                                  per Telefon und mittels Notiz: «Sehr geehr-
                                                                                                  ter Herr Rektor, ich teile Ihnen mit, dass die
                                                                                                  Lehrerinnen des Mädchengymnasiums am
                                                                                                  Dienstag, 3. Februar 1959, aus Protest gegen
                                                                                                  die neuerlich dokumentierte Missachtung
                                                                                                  unseres staatsbürgerlichen Rechtsanspruchs
                                                                                                  streiken werden.» Und am Dienstag? Tat-
                                                                                                  sächlich wurde die Schule nach der ersten
                                                                                                  Lektion um 9 Uhr geschlossen, alle Schüle-

14 März 2019
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