Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m - Vpod
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März 2019 Das VPOD-Magazin erscheint 10-mal pro Jahr Die Gewerkschaft Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste Streikende Frauen Lysistrata, Myrrhine, Helvetia, Lotti Genner, Doris Schüepp, Romy Schneider u. v. m.
Frauen*streik! Frauen streik! Mach Mit ! Jede Frau ist willkommen ! WWW.VPOD.CH/fRAUENSTREIK Die starke Gewerkschaft im Service public Designvorlage_Frauenstreik.indd 1 29.01.2019 08:15:42
Editorial und Inhalt | VPOD Themen des Monats 5 Der grosse Unterschied Lohngleichheit: Die Frauen können nicht mehr warten 6 Mehr Mittel für die Mittelschicht Die Verbilligung der Krankenkassenprämien muss mehr Leuten zugute kommen als bisher 7 Ja zur zweiten Kohäsionsmilliarde Christoph Schlatter ist Redaktor des VPOD-Magazins Daniel Lampart und Vasco Pedrina plädieren für einen Akt der Solidarität 8 Das Ende aller Zeiten? Der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden ist durch Deregulierung bedroht Der Grenzzaun Nein, das geht nicht, dass die da in Massen zu uns kommen aus ih- 11–17 Dossier: Streikende Frauen rem Süden. Wer weiss, was die alles einschleppen. Drogen, Krank- Lysistrata und Kolleginnen, Athen und Sparta 411 v.u.Z. heiten, Verbrechen und Sittenzerfall. Die wollen ja bloss teilhaben an Gymnasiallehrerinnen, Basel 1959 unserem Reichtum und Wohlstand. Da werden dann ohne eigene Ar- Frauen, ganze Schweiz 1991 beit und ohne Rücksicht auf Kollateralschäden unsere Vorratsschrän- ke und Mülltonnen geplündert. Statt sich mit Eicheln und Giersch zu bescheiden, schaufelt man bei nächtlichen Orgien junge Hühnchen und Kaninchen, Mais und Kartoffeln in sich rein. Arbeiten? Eher nicht so. Lieber den ganzen Tag auf der faulen Haut Rubriken liegen. Allein oder zu mehreren alle Viere von sich strecken und vor sich hinschnarchen, während unsereins zur Arbeit in die Legofabri- 4 Gewerkschaftsnachrichten ken geht. Und wenn in der heringverarbeitenden Industrie endlich Feierabend ist, haben diese lustigen Zuwanderer sicher gerade Well- 8 Aus den Regionen und Sektionen ness: Fango oder Kieferrindenmassage. Ein bisschen Spass muss sein. 10 Sunil Mann: Bedingungslos (Teil 2) Säue sind das, wie die sich ohne Verstand und Verhütung fortpflan- zen. 6, 7, 8, 10, 12 Kinder sind keine Seltenheit. Manchmal weiss 18 Wirtschaftslektion: Erfolgreiche Lohnpolitik fortsetzen die Mutter selber nicht, wie viele es sind. Und meistens weiss sie auch nicht einmal, wer der Vater ihrer Kinder ist; man kann ja seine 19 Wettbewerb: Küchenpersonal Augen nicht überall haben. Aber das ist auch egal, denn Papa bräch- te eh kein Geld nach Hause. Da kann er sich ebenso gut anderswo 20 VPOD aktuell verlustieren. Von Gewalt habe ich noch gar nicht gesprochen. Sogar weibliche Ge- 21 Hier half der VPOD: Am Ende ihrer Kraft walt. Mütter werden standardmässig aggressiv, wenn sie kleine Kinder haben. Kaum sind die Jungs gross und schwererziehbar, werden sie 22 Solidar Suisse: Kinderarbeit auf Burkina Fasos aus dem Familienverband geschmissen. Dann schlagen sie sich mit Baumwollfeldern ihresgleichen um eine neue Hackordnung und verwüsten unsere blü- henden Landschaften. 23 Menschen im VPOD: Guy Bollag, Gratwanderer Und wer weiss, was für Krankheiten ins Land geschleppt werden von diesen Dreckschweinen. ABS, ADHS, AIDS. Und besonders ASP, die gefährliche Afrikanische Schweinepest. Genau darum lassen wir sie jetzt nicht mehr in unser Land. Hier bei uns in Dänemark soll es nämlich so hyggelig bleiben wie eh und je. Also haben wir einen Zaun an unsere Südgrenze gestellt. Von Tønder bis Sønderborg, 70 Kilome- ter lang, anderthalb Meter hoch. Und 50 Zentimeter tief in den Boden Redaktion /Administration: Postfach 8279, 8036 Zürich rein, damit sich deutsche Wildschweine nicht zu uns nach Dänemark Telefon 044 266 52 52, Telefax 044 266 52 53 wühlen können. Nr. 2, März 2019 (Leider keine Glosse. Leider alles wahr. Auch die Untauglichkeit der E-Mail: redaktion@vpod-ssp.ch | www.vpod.ch Massnahme: Wie die Droge in Amerika reist auch die Schweinepest in Erscheint 10-mal pro Jahr Europa auf menschlichen Wegen und beim Zoll legal ein.) März 2019 3
VPOD | Gewerkschaftsnachrichten Neue Lok beim SEV. Neuer GAV bei Syndicom. gegen ins Land drängende Dumping-Plattformen à la UberEats auf- gebaut. Solche Anbieter foutieren sich um die soziale Verantwortung, indem sie ihr Personal als Scheinselbständige tarnen. Der GAV sichert einen Mindestlohn, regelt Zuschläge, Pikettdienste sowie Einsatzplä- ne und garantiert einen Vaterschaftsurlaub. Angestrebt wird die All- gemeinverbindlichkeit des Vertrags, damit die Schmutzkonkurrenz draussen bleibt. | slt/syndicom (Foto: Syndicom) Uber in Genf: Massnahmen erwartet Die Unia freut sich über den Beschluss des Genfer Staatsrates, wo- nach auch digitale Plattformen wie Uber das Arbeitsgesetz einhalten müssen und sozialversicherungspflichtig sind. Uber und ähnlich ge- lagerte Gesellschaften weigern sich derzeit, ihre Mitarbeitenden als Angestellte einzustufen. Sie zahlen weder Mindestlöhne noch Sozi- alversicherungsbeiträge. Die Gewerkschaft erwartet, dass die Stadt Genf dem Lohndumping durch Uber & Co. jetzt ein Ende setzt. Wer systematisch gegen Gesetze verstösst, muss mit einem Geschäftsver- bot belegt werden. | unia SEV mit eigener Lok Der SEV startet mit einer Loktaufe in sein Jubiläumsjahr: Giorgio Tuti Digitalisierung: Markt richtet’s nicht taufte das Fahrzeug im Februar in Bellinzona auf den Namen seiner Die Syndicom ist überzeugt, dass die sogenannte Vierte industrielle Gewerkschaft. Ein Jahr lang wird die Lok auf dem SBB-Netz unter- Revolution – also Robotisierung und Digitalisierung im Verbund mit wegs sein. Sie erinnert damit an den Zusammenschluss mehrerer Ei- Globalisierung – nicht weniger, sondern mehr Staat erfordert. Im Fo- senbahner-Unterverbände zum Schweizerischen Eisenbahnerverband kus steht für die Gewerkschaft die Netzneutralität. Wenn man allein am 30. November 1919 – eine direkte Folge des Landesstreiks vom die Marktkräfte machen lässt, schnappen sich wenige Unternehmen November 1918, für welchen es entscheidend war, dass die Bähnler die Kontrolle über alles und diskriminieren die übrigen. Laut Syndi- mitmachten. Im Juni schickt der SEV – heute als «Gewerkschaft des com muss auch definiert werden, welche Bereiche zum Service public Verkehrspersonals» auch im Agglomerations- und im touristischen gehören und öffentlich bereitzustellen sind. | slt Verkehr tätig – zusätzlich einen Ausstellungsbus auf Tour. «Darin begegnet man Schlüsselmomenten aus der Geschichte des SEV, aber Swiss Post Solutions: 2 bis 3 Klassen auch den Herausforderungen der Zukunft», sagte Tuti bei der Feier in Syndicom kritisiert bei der Swiss Post Solutions «mindestens eine Bellinzona. Den Schlusspunkt soll am eigentlichen Jubiläumsdatum Zweiklassengesellschaft». Während das Kader regelmässig an kost- im November die SEV-Jugend setzen. | slt (Foto: SEV) spieligen Ausflügen opulent verwöhnt wird, spürt das gewöhnliche Personal die Sparschraube. Es finanziert so die Eskapaden der Chefs Ein Initiativkomitee gibt auf – wie die jüngst enthüllte in Vietnam. Die Firma braucht aus Sicht der Die Eidgenössische Volksinitiative «Krankenversicherung: Für die Gewerkschaft dringend einen Kulturwandel, wenn sie das Image der Organisationsfreiheit der Kantone» ist gescheitert. Das Komitee hat Schweizerischen Post AG, deren Tochter sie ist, nicht weiter beschä- im Februar mitgeteilt, dass es die Unterschriftensammlung einstellt. digen soll. | syndicom/slt Nach drei Vierteln der Sammelfrist sei weniger als die Hälfte der er- forderlichen 100 000 Signaturen zusammengekommen. Die Initia- Erster Velokurier-GAV Europas tive wollte die Kantone zu kantonalen Einheitskassen ermächtigen. Zumindest in Europa ist er ein Novum: Der GAV für Velokurierinnen Obwohl auch der VPOD das Volksbegehren unterstützt hat, fand die und -kuriere, den die Sozialpartner im Februar in Bern unterzeich- in der Westschweiz geborene Idee in der Deutschschweiz zu wenig net haben. Die Gewerkschaft Syndicom und der Arbeitgeberverband Support. Wohl auch, weil derartige kantonale Kassen diesseits des Swiss Messenger Logistics SML haben damit einen ersten Schutzwall Röstigrabens politisch wenig realistisch sind. | slt 4 März 2019
Frauenstreik | VPOD Die fehlenden Fortschritte bei der Lohngleichheit sind ein Grund für den Frauenstreik Der grosse Unterschied Von wegen «kleiner Unterschied»: Die Differenz zwischen Männerlöhnen und Frauenlöhnen will nicht weggehen. Unter anderem darum rufen die Gewerkschaften mit vielen weiteren Organisationen für den 14. Juni zum Frauenstreik (oder: «Frauen*streik») auf. | Text: SGB (Foto: bit.it/Photocase.de) Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Am Ende der Geduld Männern halten sich hartnäckig. Dass Frau- und daher im Streik: Gewerkschafterinnen. en, die die Männer bezüglich Bildung inzwi- schen überholt haben, immer noch rund einen Fünftel weniger verdienen als diese, ist skandalös. Es braucht dringend griffige Massnahmen gegen die Diskriminierung der Frauen im Erwerbsleben. Dafür wird auch am 14. Juni gekämpft. 2016 haben Frauen im privaten Sektor ge- mäss der soeben veröffentlichten Lohnstruk- turerhebung 19,6 Prozent weniger verdient als Männer. Auch der «erklärbare» Unter- schied ist inakzeptabel: Frauen sind im Tief- lohnbereich übervertreten, sie wählen Teil- zeitjobs und prekäre Beschäftigungen, um Zeit für unbezahlte Care-Arbeit zu haben – während Männer die Lohnleiter hochklettern. Nötig sind darum unter anderem existenz- sichernde Mindestlöhne, eine generelle Ver- kürzung der Lebens-, Jahres- und Wochen- arbeitszeit sowie Investitionen in den Service public – damit die unbezahlte Arbeit nicht mehr grösstenteils auf den Frauen lastet. Ankommen im 21. Jahrhundert Alter erklärt werden, 2016 waren es wieder Doch die Frauen sind nicht mehr bereit, die- Der «unerklärbare», also diskriminierende 42,9 Prozent. Schon junge Berufsfrauen sen Malus zu akzeptieren. Am 14. Juni werden Anteil des Lohnunterschieds hat in jüngs- müssen einen beträchtlichen Frauenmalus die Gewerkschafterinnen mit vielen anderen ter Zeit sogar noch zugenommen. 2014 in Kauf nehmen: Je jünger sie sind, desto Frauen für mehr Lohn, Zeit und Respekt strei- konnten 39,1 Prozent der Lohndifferenz grösser ist der diskriminierende Anteil des ken. Damit die Schweiz punkto Gleichstellung nicht mit Ausbildung, Verantwortung oder Lohnunterschieds. endlich im 21. Jahrhundert ankommt. Wir können nicht mehr warten Bei der Befragung durch das Zentrum für Demo- denziell mit einem höheren Anteil an sprachli- Tatsächlich haben die Frauen allen Grund, auf kratie Aarau ging es zwar eigentlich um etwas chen Minderheiten Hand in Hand. Gleichstellung Verbindlichkeit zu pochen. Die Vertretung von anderes, nämlich um die Sprachenverteilung und Sprachproporz stehen also nicht miteinan- Frauen im Topkader zeigt, wie bitter notwendig in der Bundesverwal- der in Konkurrenz, im Gegenteil. zwingende Quoten wären. Trotz langjähriger An- tung. Quasi als Beifang Einmal mehr zeigt die Studie aber auch die ver- strengungen, trotz Gleichstellungs-Controlling- wurde auch die Frau- breitete Angst vor verbindlichen Massnahmen. Programmen und Lippenbekenntnissen beträgt enquote in den ein- Vergleichswerte und Empfehlungen werden von der Anteil der Frauen in den 9 obersten Lohnklas- zelnen Sprachgruppen den Befragten als sinnvoll angesehen, bei Quo- sen gerade einmal 20,7 Prozent. Diese beschä- erhoben. Interessantes ten hört die Zustimmung aber auf. Männer gaben mende Realität zeigt: Man kann nicht warten, bis Resultat: Ein höherer Quoten auf einer Skala von 1 bis 4 durchschnitt- Männer Quoten toll finden, man muss sie einfüh- Frauenanteil geht ten- lich 2,7 Punkte, Frauen vergaben 3,4 Punkte. ren! | Christine Flitner, VPOD-Zentralsekretärin März 2019 5
VPOD | Krankenkassen Nach dem Bundesgerichtsurteil müssen die Prämienverbilligungen in den Kantonen erhöht werden Mehr Mittel für die Mittelschicht Das Bundesgericht hat im Fall Luzern klargemacht: Das KVG soll auch dem «unteren Mittelstand» Krankenkassen-Prämienverbilligungen gewähren. Das Urteil wird Wirkung haben. | Text: Reto Wyss, SGB-Zentralsekretär (Foto: bm4221/iStockphoto) Es ist eine schallende Ohrfeige für die Sozial- den Richtprämien, Eintrittsschwellen und auf diese Weise weiter verschärfen. Sie sind abbauer in den Kantonen: Das Bundesgericht Verbilligungsanteile gekürzt, mit jeweils nun im Gegenteil gerichtlich dazu verpflich- hat in einem wegweisenden Urteil befunden, nur einem Ziel: weniger Prämienverbilligun- tet, eine Kehrtwende zu vollziehen und ihre dass der Spielraum für Kürzungen bei Prämi- gen für weniger Haushalte. So kam es dazu, Bedingungen für den Anspruch auf Prämi- enverbilligungen klar begrenzt ist. So muss dass der Kantonsanteil an den Prämienver- enverbilligungen schnellstmöglich gesetzes- die Prämienlast laut KVG nicht nur für Haus- billigungen (neben jenem des Bundes) von konform auszugestalten. Auch rückwirkend halte mit tiefen Einkommen, sondern auch 50 Prozent im Jahr 2010 auf 42 Prozent im werden vorenthaltene Verbilligungen auszu- für Familien des «unteren Mittelstandes» mit Jahr 2017 sank. 11 Kantone geben heute für richten sein, und das nicht nur im Kanton Prämienverbilligungen gemindert werden. Prämienverbilligungen weniger aus als vor Luzern (dessen Regierung dies bereits ange- Diesen Grundsatz hat nicht nur der Kanton 10 Jahren – trotz des starken Bevölkerungs- kündigt hat). Kommen die Kantone diesem Luzern – Ursprungskanton der Klage – jah- wachstums und trotz des noch stärkeren Prä- Auftrag nicht nach, werden bald weitere Kla- relang in krasser Art und Weise verletzt, son- mienwachstums! gen eingereicht werden – und zwar Klagen dern grundsätzlich alle Kantone, mit einer mit ungetrübter Erfolgsaussicht! einzigen Ausnahme: Graubünden. Sofort korrigieren Unabhängig vom Korrekturbedarf in den Während Jahren hat man sich in den meis- Der SGB hat diese Entwicklungen regelmäs- Kantonen bleibt die vom Bundesgericht auf- ten Kantonen nicht um die sozialen Folgen sig stark kritisiert und in seinem Verteilungs- gezeigte grundsätzliche Problematik zumin- der unaufhaltsam steigenden Kopfprämien bericht jeweils aufgezeigt, wie alarmierend dest teilweise bestehen: Die Kantone werden in der Grundversicherung geschert. Ganz im die Lage bei der Prämienlast wirklich ist. weiterhin einen zu grossen Definitionsspiel- Gegenteil: Um die Ausfälle der aggressiven Nun kommt mit dem Bundesgerichtsurteil raum für die Gewährung von Prämienver- Steuersenkungen zu kompensieren, wurde endlich Bewegung in die Sache. Die Kantone billigungen besitzen – insbesondere bei den vielerorts auch bei den Prämienverbilligun- können soziale Missstände nicht mehr ein- kinderlosen Haushalten mit tiefen und mitt- gen das Messer angesetzt. Kurzerhand wur- fach in Hinterzimmern wegdefinieren und leren Einkommen. Abhilfe kann hier nur ein schweizweit einheitliches Sozialziel schaffen, das auf dem Papier auch der Bundesrat seit mehr als 25 Jahren befürwortet. Die Sorge des Bundesgerichts und des SGB gilt der unteren Mittelschicht. Neuer Anlauf Einen neuen Anlauf in diese Richtung un- ternimmt die demnächst unterschriftsreife «Prämien-Entlastungs-Initiative», die ver- langt, dass kein Haushalt in der Schweiz mehr als 10 Prozent seines Budgets für Prä- mien ausgeben muss. Zu finanzieren wäre dies mit mehr Prämienverbilligungen. Aber nicht nur durch die Kantone, sondern zu mindestens zwei Dritteln auch durch den Bund. Eine solche schweizweit gültige Be- lastungsgrenze ist dringend nötig. Denn das heutige System der kantonalen Kopfprämien bestraft gleich doppelt: Nicht nur bezahlt die Schuhverkäuferin genau die gleiche Prämie wie der Wirtschaftsanwalt, sie ist in der Re- gel auch viel weniger mobil, um sich einen Kanton mit tiefen Prämien und/oder hohen Prämienverbilligungen (bei gleichzeitig be- zahlbarer Miete) auszusuchen. 6 März 2019
Europapolitik | VPOD Die sogenannte Kohäsionsmilliarde an die EU gibt auch innerhalb der Linken zu reden Ein Akt der Solidarität Derzeit berät das Parlament über einen zweiten Entwicklungsbeitrag an ausgewählte EU-Staaten. 1,3 Milliarden Franken, von denen der grösste Teil in Länder mit autoritären Regimes fliesst? Die Autoren sehen die zweite «Kohäsionsmilliarde» als Unterstützung der sozial Schwachen. | Text: Vasco Pedrina und Daniel Lampart (Foto: sanzios85/iStock) Die «Kohäsionsmilliarde» soll die Zivilgesellschaft stärken – auch in Städten wie dem polnischen Łódź. 2006, unmittelbar nach der EU-Osterweite- nenmarkt. Deshalb soll sie weiterhin zum Ab- halb ist es gut, dass die Schweiz mindestens rung, haben die Schweizer Stimmberechtig- bau der Ungleichheit beitragen. Die Erfahrun- die Hälfte der für grössere Länder vorgesehe- ten dem sogenannten Erweiterungsbeitrag gen mit der ersten «Kohäsionsmilliarde» sind nen Mittel für deren weniger entwickelte und zugestimmt: 1 Milliarde Franken auf 10 Jahre insgesamt positiv. Der zweite Beitrag sollte abgelegene Regionen reserviert. Damit man zur Verringerung des sozialen Gefälles zwi- aber thematisch und geografisch noch besser mit dem Geld eine Kanalisation baut oder eine schen West- und Osteuropa. Jetzt steht eine fokussiert sein. Die Projekte müssen zu einer Trinkwasserversorgung. Oder soziale Projekte zweite Zahlung von 1,3 Milliarden Franken Verringerung des sozialen Gefälles beitragen; in Betreuung und Integration finanziert. zur Debatte. Die SVP ist sowieso dagegen. sie sollen die Zivilgesellschaft stärken und Zugegeben: Die Flüchtlingsthematik wird der- Einige Linke begründen ihr Nein mit den po- nicht den Autoritarismus. Die neuen Schwer- zeit in vielen Ländern auf populistische Weise litischen Entwicklungen in den ostmittel- und punkte «Migration» und «Berufsbildung» missbraucht. Trotzdem ist es nicht falsch, sei- osteuropäischen Ländern. Es darf doch nicht können wirksam dazu beitragen. Der SGB tens der Schweiz auch mit diesen Staaten wei- sein, sagen sie, dass die Schweiz mit viel Geld begrüsst beispielsweise, dass Griechenland, terhin den Dialog für eine menschliche Asyl- Regierungen wie die polnische oder die un- das von Migration besonders betroffen ist, und Flüchtlingspolitik zu führen. Denn trotz garische unterstützt, welche Menschenrechte 200 Millionen Franken – einen Sechstel der abstossender Rhetorik auf nationaler Ebene und demokratische Grundregeln mit Füssen Gesamtsumme – erhält. Dieser Beitrag muss besteht lokal ein grosser Unterstützungsbe- treten. jedoch für den Schutz und die Integration der darf (etwa in polnischen Städten, die eine fort- Aufgenommenen reserviert sein. schrittliche Integrationspolitik umsetzen). Nur lupenreine Demokratien? Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Auch die Gewerkschaften sind besorgt über den zentral- und südosteuropäischen Ländern Positive Signale senden diese Entwicklungen. Mit dem zweiten Beitrag verläuft in unterschiedlichem Tempo. Polen Umstritten ist bei der zweiten «Kohäsions- sollen in diesen Ländern jedoch die Zivilgesell- und Ungarn, die von der ersten Zahlung viel milliarde» auch die Frage, ob die Schweiz die schaft und die sozial benachteiligten Schich- bekommen haben, werden vom zweiten Bei- Zahlung von der Haltung der EU zum Rah- ten der Gesellschaft unterstützt werden – und trag weniger erhalten. Ein wesentlich höherer menabkommen abhängig machen soll. Wenn nicht die fragwürdigen Regierungen. Ginge Anteil geht dagegen an wirtschaftlich weniger die Schweiz, wie von den Gewerkschaften ge- es nach der Logik der radikalen Linken, wäre entwickelte Länder wie Rumänien und Bulga- fordert, das Rahmenabkommen in der jetzigen die Schweiz gezwungen, drei Viertel ihrer Ent- rien. Aber auch in Polen und Ungarn leben Form nicht gutheisst und auf weitere Verhand- wicklungszusammenarbeit weltweit zusam- immer noch viele unter dem Existenzmini- lungen pocht, ist es umso wichtiger, der EU menzustreichen. Denn diese fliesst keineswegs mum. Namentlich Minderheiten – die Roma, positive Signale zu senden: mit einem Ja zum nur in «lupenreine Demokratien». aber auch Ältere, Menschen mit Behinderung, zweiten Beitrag, mit einem Nein zum Waffen- Unsere Haltung ist klar. Die Schweiz profitiert Migrantinnen – haben keinen oder nur einge- gesetz Mitte Jahr und mit einem Nein zur SVP- dank den bilateralen Verträgen vom EU-Bin- schränkten Zugang zum Service public. Des- Begrenzungsinitiative 2020 oder 2021. März 2019 7
VPOD | Aus den Regionen und Sektionen Das Freiburger Stadtpersonal erreicht eine Milderung der Verschlechterungen bei der Pensionskasse. Das Nein der baselstädtischen Stimmbevölkerung zur Spital-AG ist vor allem ein Nein zur Privatisierung. Waadt: Heim- und Spitexpersonal begehrt auf In der Waadt gibt es einen GAV für den Bereich «Santé parapublique», also für Heime, Spitexdienste und Regionalspitäler. Die Löhne liegen dort aber deutlich tiefer als im Universitätsspital CHUV und im Spital Rennaz. Die Mindestlöhne sind mit 3748 gegenüber 4000 Franken ebenso geringer wie die Löhne von ausgebildetem Personal: Eine di- plomierte Pflegefachfrau im Regionalspital verliert im Verlauf ihrer Lohnkarriere fast eine Viertelmillion Franken gegenüber der Kollegin am CHUV. Verhandlungen sind aus VPOD-Sicht dringend, auch für die Arbeitgeber: weil sonst die Leute davonlaufen. | vpod Junge Berner FaGe wollen mehr Fast die Hälfte des weiblichen Gesundheitspersonals steigt wieder aus dem Beruf aus. Grund: Der in der Branche herrschende Druck ist auf Dauer kaum zu ertragen. Wenn in den kommenden Jahren die Baby- boomer in Rente gehen, werden sich die Zustände noch verschlim- mern. Der VPOD Bern hat angehende Fachfrauen und Fachmänner Gesundheit (FaGe) gefragt, was es braucht, damit sie auch mit 60 noch im Beruf sind. Die Forderungen sind: mehr Anerkennung und Stadt Freiburg: Mobilisierung bringt Erfolg Respekt für die Arbeit, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und Erfolgreiche Mobilisierung in der Stadt Freiburg: Gegen Verschlech- eine bessere Vereinbarkeit von Familie. | slt terungen bei der Pensionskasse der Stadt Freiburg wurde im Februar gestreikt. Mit 200 Leuten war ein Drittel der Gesamtbelegschaft auf Spital Affoltern: Wer zahlt den Preis? der Strasse. Der VPOD konstatiert eine «historische Mobilisierung» Der Stadtrat von Affoltern will sein Spital zum Abschuss freigeben – und einen Erfolg: Das Stadtparlament (in Freiburg: Generalrat) be- es wäre das erste Opfer der Fallpauschalen. Der VPOD fragt, wer den grenzte in der abendlichen Sitzung die maximalen Renteneinbussen Preis für die Schliessung bezahlt. Er wird sich jedenfalls dafür ein- von 18 auf 10 Prozent. Zu diesem Zweck wurde die Übergangsfinan- setzen, dass die Krise von jenen ausgebadet wird, die am wenigsten zierung von 8 auf 12 Millionen Franken ausgebaut. Am Wechsel vom daran schuld sind: den Spitalangestellten. Ein guter Sozialplan ist das Leistungs- zum Beitragsprimat wird aber festgehalten. Stadtpräsi- absolute Minimum. | vpod dent Thierry Steiert (SP) war trotzdem verärgert über die «Hauruck- übung». Den VPOD freut die Verbesserung; der Unmut über die har- Zürich lehnt verfehltes Wassergesetz ab . . . te Haltung des Stapis war an der Demo aber deutlich wahrnehmbar. Das Wassergesetz ist von den Zürcher Stimmberechtigten klar bachab Auch so müssen die städtischen Angestellten mit Renteneinbussen geschickt worden. Der VPOD freut sich, dass damit einer möglichen von mehreren hundert Franken rechnen. | vpod (Foto: Eric Roset) Teilprivatisierung der Trinkwasserversorgung ein Riegel geschoben wurde. Jetzt besteht die Chance auf ein besseres Gesetz, das auch den Winterthur: Aufsichtskommission drückt sich Umweltanliegen und dem Seeuferzugang besser Rechnung trägt. | vpod Die Aufsichtskommission des Winterthurer Gemeinderates drückt sich mit der Zurückweisung eines Zusatzkredites für die Pensionskasse vor . . . und Basel die Spital-AG ihrer Verantwortung. Der VPOD findet den Entscheid, die 144 Millio- Die Ablehnung der Spitalfusion in Basel-Stadt ist für den VPOD ein nen Franken zurückzuhalten, unverantwortlich. Das Geld ist zwingend Zeichen dafür, dass die baselstädtische Stimmbevölkerung das Unispi- nötig, um die laufenden Renten nachzufinanzieren. Ob die Pensions- tal nicht dem freien Markt aussetzen will. Die Umwandlung in eine kasse in eine andere Trägerschaft übergeht, spielt dabei keine Rolle; die AG hätte auch die Bedingungen fürs Personal verschlechtert, zumal Differenz im Deckungsgrad muss ja bei einer Übernahme ausgegli- der GAV noch nicht ausgehandelt ist. Eine Partnerschaft zwischen den chen werden. Etwa von den Arbeitnehmenden? Der Stadtrat immerhin Halbkantonen muss gleiche Rechte und gleiche Pflichten für beide hält an den 144 Millionen fest; er will aber die Kasse mittelfristig liqui- bringen. An einer sinnvollen Koordination der Gesundheitsleistungen dieren und einer anderen – mutmasslich der BVK – einverleiben. | slt führt ohnehin kein Weg vorbei. | vpod (Foto: Patrik Tschudin/flickr-CC) 8 März 2019
Arbeitszeit | VPOD Unbelehrbar? Der Angriff auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden geht weiter Das Ende aller Zeiten Trotz negativer Vernehmlassungsbilanz zeigt sich die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats (WAK-S) unbelehrbar: Sie hält an ihrem Frontalangriff auf den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden fest. | Text: SGB (Foto: malerapaso/iStockphoto) Zur Erinnerung: Mit der auf die Vorstösse Wer war das? Die WAK des von Karin Keller-Sutter und Konrad Graber Ständerats hat sich an der Uhr zu schaffen gemacht. zurückgehenden Revision des Arbeitsgesetzes will die Ständeratskommission die wöchentli- che Höchstarbeitszeit, die maximale tägliche Überzeitarbeit und für einen grossen Teil der Arbeitnehmenden sogar die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung abschaffen. Gleichzeitig will sie das Sonntagsarbeitsverbot aufweichen und für leitende Angestellte sowie Fachspezi- alistinnen Sonntagsarbeit einführen. Blosse Verschleierungstaktik Gemäss den neusten Beschlüssen der WAK werden zwar die Arbeiten rund um die Fra- ge der Arbeitszeiterfassung sistiert. Diese inakzeptabel, denn ein Grossteil der Kantone, Die Allianz gegen Stress und Gratisarbeit wird können aber jederzeit wieder aufgenommen die Gewerkschaften und andere Arbeitneh- diese Änderungen des Arbeitsgesetzes vehe- werden. Damit ist dieser Entscheid blosse merorganisationen, Verbände im Gesund- ment bekämpfen. Die darin vereinigten Or- Verzögerungs- und Verschleierungstaktik. heitswesen sowie die Kirchen haben sich klar ganisationen wissen dabei eine Mehrheit der Das Festhalten an den anderen Deregulie- gegen die Pläne ausgesprochen. Bevölkerung hinter sich. Denn 15-Stunden- rungsplänen zeigt, dass die WAK die scharfe Studien zeigen es deutlich: Immer mehr Leu- Arbeitstage, 73,5-Stunden-Wochen und eine Kritik und den breiten Widerstand aus der te leiden unter Stress am Arbeitsplatz und den immer öfter gestörte Sonntagsruhe finden in Vernehmlassung in den Wind schlägt. Das ist damit verbundenen gesundheitlichen Folgen. einer Abstimmung keine Mehrheit. Wechselwirkung Zwar handelt es sich nur um eine Auslegeord- Flexibilität fremdbestimmt ist, verliert sie ihren ven Effekt auf die Gesundheit haben, ist wissen- nung, nicht um eine eigenständige Studie: Trotz- positiven Effekt. Und dieser tritt auch dann nicht schaftlich nicht eindeutig erbracht. Der Effekt der dem ist die «Kurz-Review zur Arbeitszeitflexibili- ein, wenn unrealistische Anforderungen über kurzfristigen Erholung ist dagegen unzweifelhaft. sierung» von Georg Bauer und Team von der Uni den «Output» bestehen. Das betrifft die Pausen (lieber häufig und kurz Zürich brisant. Das ist allein daraus abzulesen, Ein Burnout droht also am ehesten jenen, die zu als selten und lang) sowie die Auszeiten «Feier dass der Auftraggeber, der Wirtschaftsprüferver- viel in zu kurzer Zeit bewältigen müssen, zumal abend» und «Wochenende». Der 8-Stunden- band Expertsuisse, die Ergebnisse zunächst nicht wenn sie gleichzeitig geringe Autonomie und zu Tag hat tatsächlich eine empirische Evidenz: Ab veröffentlichen wollte. Erst auf Druck der Gewerk- wenig soziale Unterstützung geniessen. Die po- 8 Stunden pro Tag zeigt sich in zahlreichen Un- schaften wurde das Papier publik. sitiven Elemente scheinen sogar massgeblicher tersuchungen, dass die Produktivität sinkt und Georg Bauer, Rebecca Brauchli und Gregor Jen- zu sein als die negativen: Eine hohe Arbeitsbe- die Fehlerquote zunimmt. ny tragen darin zusammen, was die Forschung lastung lässt sich schultern, wenn die genannten Jedenfalls geben Bauer und Kollegen keineswegs über den Einfluss von flexiblen Arbeitszeiten auf Ressourcen ausreichend vorhanden sind. Die ar- den wohl vom Auftraggeber erhofften «Freipass» Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten beitsgesundheitliche Problemzone liegt hingegen für eine beliebige Flexibilisierung der Arbeits- herausgefunden hat. Erkenntnis: Autonomie bei dort, wo es an Autonomie, an «Ganzheitlichkeit zeiten. Sie legen vielmehr den Finger auf die der Arbeit vermag die schädlichen Wirkungen und Bedeutsamkeit der Arbeit», an konstrukti- Autonomie. Wo diese «nur auf dem Papier be- von Belastungen zu mildern (oder zu «puffern»). vem Feedback von der Chefin und an Unterstüt- steht, kann es zu einem Bruch des sogenannten Das heisst: Flexible Arbeitszeiten wirken sich nur zung von den Kollegen mangelt. psychologischen Vertrags kommen». Geben und dann günstig aus, wenn sie durch die Arbeit- Auch auf die Freizeit geht die Studie ein. Der Nehmen müssen unterm Strich einigermassen nehmenden selbst bestimmt sind. Sobald die Nachweis, dass Ferien einen anhaltenden positi- wechselseitig sein. | slt März 2019 9
VPOD | Recht und Unrecht Mutterschaftsurlaub «frisst» Ferien Für Sozialdetektive Eine Kindergartenlehrerin, die ein Kind bekam und ihren 16-wöchi- braucht es strenge Regeln. gen Mutterschaftsurlaub bezog, wollte den regulären Ferienanspruch für diese Zeit (4 Wochen Sommerferien plus 2½ Wochen für die Vor- bereitung des neuen Schuljahres) nachbeziehen. Sie drang damit aber auch vor dem Bundesgericht nicht durch. Es sei ok, sagt das Gericht, wenn Ferien, die in den Mutterschaftsurlaub fallen, in der unterrichts- freien Zeit nachbezogen würden. Diese sei ja sowohl für die Erholung als auch für die Vorbereitung gedacht. Vorbereitung falle in der Zeit, in der eine Stellvertretung zum Einsatz kam, nicht an. Die so gesparte Zeit könne genutzt werden. | vpod VPOD verlangt strenge Regeln für Sozialdetektive Deutschland: Sonderstatus der Kirchen bröckelt Der VPOD plädiert für eine strenge Ausgestaltung der Verordnung Der Fall eines katholischen Chefarztes an einem katholischen Spital in zum Gesetz über die Überwachung von Sozialversicherten. In der Düsseldorf (das VPOD-Magazin berichtete) ist geklärt. Nach einem Ur- Vernehmlassung verlangt er, dass hohe fachliche und charakterliche teil des EuGH hat jetzt auch das deutsche Bundesarbeitsgericht festge- Anforderungen an Observierende gestellt werden. Nur so ist ein ver- halten: Scheidung und Wiederverheiratung können auf keinen Fall zu antwortungsvoller Umgang mit der Privatsphäre der Versicherten einer Kündigung führen, wie katholisch auch immer das Krankenhaus wahrscheinlich. Und nur so hat das Gesetz eine Chance, dereinst sein mag . . . Das gilt jedenfalls dann, wenn es für die spezifische Tätig- auch in Strassburg Bestand zu haben. Dagegen sind die Rechte der keit nicht nötig ist, das Eheverständnis oder sonstige Lehren des Arbeit- Observierten zu stärken; die Hürden für die Akteneinsicht sollen gebers zu teilen. Was man für einen Mediziner mit Fug und Recht pos- niedrig sein. Diesbezügliche Rechte müssten auch für jene gelten, tulieren kann. Auch Verdi fordert von den Kirchen, die in Deutschland die als unbeteiligte Dritte im Observationsmaterial erscheinen, fordert zu den grossen Arbeitgebern im Gesundheits- und Sozialwesen zählen, der VPOD. | vpod (Foto: complize/Photocase.de) endlich das allgemeine Arbeitsrecht anzuwenden. | slt Sunil Mann Bedingungslos (Teil 2) Sie erinnern sich: Jasmin hat eine Initiative gestartet, die in der Bevöl- doch dem stehen die Parteiin- kerung ein gewaltiges Echo ausgelöst hat. «Bedingungslose Grundehr- teressen diametral gegenüber. lichkeit» verlangt sie von Politikern, das Ende aller Lügen und halbher- Die Mitte will irgendwann zigen Ausflüchte. Dinge, an die man sich im Verlauf der Zeit so sehr einlenken, Wahljahr, da muss gewöhnt hat, dass man auf entsprechende Enthüllung höchstens noch man doch schauen, meint sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken reagiert. und will sich schon auf den Selbstverständlich sind die Parteien allesamt empört. Rücken der neuen Sau schwin- «Und wie stellt sich diese Jasmin das vor?», schreit es von rechts. «Sol- gen. Doch ihre Geldgeber len wir ab jetzt etwa die Wahrheit sagen?» Hämisches Lachen und schütteln panisch die Köpfe. Schenkelklopfen aus den eigenen Reihen. «Zugeben, dass wir längst «Auf gar keinen Fall!», jaulen keine Ahnung mehr haben, was das Volk will, und uns das eigentlich Banken und Pharmafirmen auch total egal ist, solange wir unsere eigenen ausschliesslich weissen und eine ganze Anzahl wei- Sunil Mann ist Krimi- und Schäfchen ins Trockene bringen?» – «Und wir?», krähen die Linken. terer finanzstarker Branchen. Kinderbuchautor sowie Flugbegleiter. «Müssen wir zugeben, dass uns die ganz grossen Ideen ausgegangen «Sonst kommt noch jemand sind? Dass wir schon vor Jahren vom Zeitgeist an die Wand geschleu- auf die Idee nachzufragen, wer euch eigentlich finanziert. Für wen ihr dert wurden und ihm seither verzweifelt hinterherhumpeln?» Politik macht, wessen Lied ihr singt!» – Ertappt steigt die Mitte wieder «Ha!» tönt es aus der Mitte. «Von wegen keine Ideen! Da könnten wir von der Sau. definitiv mehr als nur ein Liedchen singen, das ergäbe schon fast ein «Schon wieder singen, die sind echt musikalisch», bemerkt die Partei- abendfüllendes Konzert. Sollen wir etwa in aller Öffentlichkeit einge- lose, doch niemand findet das lustig. stehen, dass wir uns auf jede beliebige Sau setzen, die gerade durchs Der Bundesrat rauft sich die Haare, am Ende erarbeitet er einen Gegen- Dorf getrieben wird? Gestern noch Klimaschutz ade, heute Öko olé?» vorschlag, der fordert, dass Politiker nur am Wochenende die Wahrheit Kopfschütteln und spöttisches Grinsen. – «Ich finde, wir könnten es sagen müssen, doch das Parlament versenkt die Idee sogleich. Am En- wenigstens versuchen», meldet sich eine Parteilose zu Wort, der Rest de bleibt nichts anderes übrig, als die Initiative zur Ablehnung zu emp- ihres Vorschlags geht im dröhnenden Gelächter unter. fehlen. Und wie so viele Initiativen zuvor ereilt auch Jasmins Anliegen Durch die breite Ablehnung in den Parteien gerät auch das Parlament ein trauriges Schicksal: An der Urne hat es keine Chance. unter Druck, die Vorlage wird hektisch zwischen National- und Stän- Nehmen Sie einen Schluck Rotwein, lehnen Sie sich auf ihrem Sofa derat hin- und hergeschoben. Keiner will sich die Finger verbrennen. zurück und stellen Sie sich ganz kurz vor, Jasmin hätte Erfolg gehabt. Der Volkswille ist klar und deutlich, daran gibt es nichts zu rütteln, Eine faszinierende Idee, nicht? 10 März 2019
Dossier: Streikende Frauen In Aristophanes’ Komödie «Lysistrata» bringt ein Sexstreik der Frauen die Männer zu Vernunft und Frieden Frauenstreik 1.0 Frauenstreik anno 411 v. u. Z.: Nach 20 Jahren Krieg haben die Athenerinnen genug und verweigern sich ihren Männern, bis Frieden ist. Aristophanes’ Komödie wird bis heute gespielt – und fast noch lieber adaptiert. Die Kombination von Sex und Pazifismus bleibt explosiv: «Make love, not war . . .» | Text: Christoph Schlatter Frau: «Nun setz dich doch nicht gleich auf «Lysistrata» 2017 am Women’s diesen dreckigen Sitzplatz! Ich hab’ extra ‘n March in Oakland, Kalifornien. Lappen dabei zum Drüberwischen.» Mann: «Is’ doch egal . . .» Frau: «Ja, dir ist das natür- lich egal! Du musst ja auch nicht waschen! Du hast die Tunika erst gestern frisch an- gezogen, und jetzt ist sie schon wieder dre- ckig!» Mit einem kleinen Ehegezänk vor Vorstellungsbeginn in den Publikumsreihen eines griechischen Theaters lässt der Comic zeichner Ralf König seine «Lysistrata» begin- nen. Der Band erschien 1987 und war eine zugegebenermassen «sehr freie» Adaption der Komödie von Aristophanes. Der Dichter schildert im Original die «Mut- ter aller Frauenstreiks». Im Jahr der Urauf- führung, 411 v. u. Z., stand Athen im 20. Jahr des Krieges gegen Sparta. Der Peloponnesi- sche Krieg sollte trotz «Lysistrata» noch bis 404 andauern; er endete mit der Niederlage Athens. In der Komödie wird dem Schlach- ten durch eine Verschwörung der Frauen ein Ende gesetzt: Unter Führung Lysistratas Sparta läuft eine parallele Aktion der sexu- diese Sorge angewiesen sind. Demnach ge- vereinbaren die Athenerinnen einen Sex- ellen Verweigerung. Diese «Aushungerung» hört die Arbeit mit Kindern und Kranken, mit streik. O-Ton aus der Comic-Adaption: «Ach demoralisiert zunächst den Athener Kinesias Betagten und mit Menschen mit Behinderung übrigens . . . Ab heute verweigern sich alle und später die restlichen Krieger beider Par- dazu – aber die Bespassung und Umsorgung Frauen ihren Männern, bis der Krieg been- teien dermassen, dass sie einem Friedens- gesunder erwachsener Männer eher nicht. Se- det wird. Wir werden also ab sofort keinen schluss zustimmen. Natürlich ist das alles mit xualität ist – im modernen Idealfall zumindest Geschlechtsverkehr mehr ausüben.» «Na allerhand Komplikationen verbunden: Jung- – keine Dienstleistung, die jemand für jeman- und? Das tun wir doch schon seit zehn Jah- verliebte Frauen wollen aus der Akropolis den erbrächte, sondern ein von beiden (oder ren nicht mehr!» «Stimmt. Aber ab jetzt tun ausbrechen, und wütende Männer versuchen, allen) Beteiligten gleichermassen gewünsch- wir’s erst recht nicht.» – In der ersten die Burg mit Gewalt zu nehmen, was tes Geschehen. Die eheliche Pflicht hat aus- Theaterpause sind wir wieder bei aber je vereitelt wird. gedient. Ebenso die Darstellung des Mannes unserem Zuschauerpaar. Die Sc hw e i z , 2 0 1 9 : Fü r d e n als ein Dampfkessel, der explodiert, wenn Frau erwägt sexuelle Verwei- 14. Juni rufen die Organisa- der Druck nicht durch das dafür vorgesehene gerung, «bis du dich nicht torinnen nicht zu einem Ventil entweichen kann. (Zumal das Ventil ja mehr mit frischgewaschener Sexstreik auf. Vielmehr be- auch in Selbstbedienung funktioniert.) Tunika auf dreckige Stühle tonen die Komitees, dass Immerhin: Dass auch in heutigen Beziehun- setzt». sich der Aktionstag nicht gen die Gewährung oder Verweigerung von gegen die Männer richtet. Sex als Verhandlungsmasse eingesetzt wird, Demoralisierte Krieger Zwar geht es durchaus um suggeriert zumindest die regelmässige Lektü- Die Frauen verschanzen sich Care-Arbeit, aber wo beginnt re der Blick-Rubrik «Fux über Sex». Auch bei (bei Ralf König genauso wie bei und wo endet die? Eine schlüs- Aristophanes ist der Frauenstreik übrigens Aristophanes) auf der Akropolis, sige Definition besagt, dass keineswegs auf die sexuelle Frage beschränkt. womit sie zugleich die Kriegskas- «Care» die Betreuung derjenigen In der zentralen Szene wird auch die Kinder- se unter ihrer Kontrolle haben. In Aristophanes. umschreibt, die abhängig und auf betreuung thematisiert: Der Athener Kinesias März 2019 11
Dossier: Streikende Frauen will seine auf der Akropolis verschanzte Frau Beispiel (aus dem grossen Abstinenzschwur Myrrhine zu Eidbruch und Geschlechtsver- der Athenerinnen): «Ich lass keinen Mann kehr überreden und bringt auch den Säug- zu mir kommen, weder Liebsten noch Gat- ling mit zur Burg: «Hast du kein Mitleid mit ten, auch wenn er kommt wie ein Sturmbock, deinem kleinen Jungen, der schon sechs Ta- der Mauern bricht.» (Erich Fried) gegenüber ge nicht gewaschen und gestillt worden ist?» «Keiner, weder ein Liebhaber noch ein Ehe- Das Baby wird dann allerdings ungesäugt mann, soll mir nahen mit steifem Schwanz.» und ungewaschen dem Sklaven zurückge- (Niklas Holzberg). geben, weil Myrrhine andeutet, zu Sex bereit Ein spezieller Fall ist Lampito, die im Origi- zu sein – bloss nicht vor dem Kind. Was sie nal spartanischen Dialekt spricht. Holzberg dann, nachdem das Kind fort- und Bett, Ma- lässt sie bayrisch reden: «Und i daad direkt tratze und Kissen herbeigeschafft sind, doch aufn Taygetos-Berg kraxln, wenn i vo dort an nicht ist . . . Friedn seng kann!» Bei Seeger bäärneret sie: «Mir wär der Taygetos nit z’höch, wenn i der Die Männerherrschaft fällt Friede nume fänd dert obe!» Das Berndeut- Ludwig Seeger. Auch die Frage der Macht wird in «Lysistra- sche ist übrigens kein Zufall: Ludwig See- ta» verhandelt. Die Athenerinnen bemäch- ger (1810–1864), der aus dem Schwarzwald tigen sich auf der Akropolis ja zugleich des stammte, wirkte mehr als ein Jahrzehnt lang Goldschatzes, und ohne diesen war der Krieg als Dozent für alte Sprachen in Bern. (Man auch im klassischen Griechenland nicht zu nannte ihn auch den «schwäbischen Heine», führen. Etwas deutlicher wird die Machtfra- nicht nur wegen seines literarischen Schaf- ge in einer späteren Aristophanes-Komödie fens, sondern auch, weil er sich politisch für gestellt: «Frauen in der Volksversammlung» die Revolution engagierte, für die er 1848 beschreibt 391 v. u. Z., 20 Jahre nach «Lysis- nach Württemberg zurückkehrte.) trata», die Übernahme der Macht im Staat durch die Frauen. In männlicher Verkleidung Anachronismen aller Art schleichen sich die Athenerinnen in die ih- Als eines von wenigen Theaterstücken der nen sonst versperrte Versammlung und brin- Antike wird die «Lysistrata» bis heute auf- gen mit ihrer Mehrheit die Männerherrschaft geführt. Vor allem aber scheint die Vorlage zu Fall. Diese erste Szene muss für das da- geradezu nach Bearbeitung und Parodie zu malige Publikum besonders komisch gewe- rufen, von denen unser Rundgang einige sen sein: Sämtliche Rollen im klassischen streifen wird. Der Comic wurde bereits er- Romy Schneider (l.) und Barbara Rütting im griechischen Theater wurden ja von Männern wähnt: Ralf König macht sich darin einen Fernsehspiel «Die Sendung der Lysistrata», 1961. gespielt. Es waren also als Frauen verkleide- Heidenspass aus Anachronismen aller Art. te Männer, die sich mit Bärten und anderen Sein Plot: Die Athener Schwulen verfolgen Accessoires auf der Bühne wiederum in Män- angesichts der sexuell darbenden Hetero- ner verwandelten . . . Die Frauen führen dann, männer ihren ganz eigenen und höchst ei- kaum an der Macht, den Kommunismus ein. gennützigen Plan. Um ein Haar wäre der Jeglicher Besitz wird Gemeingut, auch Kinder auch aufgegangen. Aber am Ende klagt Sül- – und Frauen. zos: «Mein Hetero ist auch wieder bei seiner Der Tatsache, dass sich dann alle Männer um Frau. Dabei haben wir gestern Abend noch die Schönste balgen, trägt ein Gesetz Rech- zusammen im Bett gelegen und Denver ge- nung, wonach zuerst die Alten und die Häss- guckt. Tja, nun ist wieder alles, wie es war . . .» lichen zu befriedigen sind. Das ergibt eine (Nicht ganz, muss man sagen. Wenigstens Dionysos-Theater in Athen, Uraufführungsort. mit Anzüglichkeiten und derben Scherzen im Fall von Ödipos und Hepatitos hält die gespickte Szene. Ähnlich Deftiges findet sich neue Liebe dem Frieden stand.) in der «Lysistrata». Interessant ist, wie unter- «Lysistrata 1958 oder: Lysi und die verhin- schiedlich die Übersetzer das Altgriechische derten Männer» heisst eine Parodie von Max ins Deutsche übertragen haben. Das lässt Werner Lenz, die in der Regie von Ettore sich gut zeigen anhand der bereits erwähn- Cella 1958 an der SAFFA in Zürich aufge- ten Begegnung an der Akropolis (Myrrhine führt wurde. Diese nach 1928 zweite, von scheint trotz des Schwurs dem Begehren ih- Frauenverbänden organisierte «Schweize- res Mannes nachzugeben, nur um ihn dann rische Ausstellung für Frauenarbeit» sollte umso brüsker zurückzuweisen). «Ich leide ein Gesamtbild des Schaffens der Schweizer Brunst», sagt Kinesias in der Übersetzung Frauen geben. Motto: «Lebenskreis der Frau von Ludwig Seeger. Niklas Holzberg über- in Familie, Beruf und Staat.» Das kabarettis- Frauenausstellung Saffa 1958 in Zürich. setzt mit «Mir steht er stramm». Ein anderes tische Theaterstück, von der Schweizerischen 12 März 2019
Dossier: Streikende Frauen Lehrerinnen-Zeitung als «witzige Werbung für Szenenwechsel: «Glühwürmchen, Glüh- das Frauenstimmrecht» bezeichnet, wurde würmchen flimmre, flimmre, Glühwürm- über 30-mal gegeben; unter anderen spielten chen, Glühwürmchen, schimmre, schimm- Stephanie Glaser und Jörg Schneider (der re, führe uns auf rechten Wegen, führe uns spätere Kasperliplatten-Kasperli) mit. dem Glück entgegen . . .» Das sogenannte Glühwürmchen-Idyll ist eine der bekanntes- Sissi gegen Atomwaffen ten Kompositionen von Paul Lincke, der als Gut zwei Jahre später, am 17. Januar 1961 um «Vater der Berliner Operette» für seine Stadt 22.15 Uhr, lief im Deutschen Fernsehen «Die etwas Ähnliches war wie Johann Strauss für Sendung der Lysistrata», ein Fernsehspiel von Wien. «Frau Luna» (mit dem Schlager «Ber- Fritz Kortner. In ganz Deutschland? Nein, liner Luft») wird noch hie und da aufgeführt, die Gebiete des Südwestfunks, des Westdeut- die «Lysistrata», der das Glühwürmchen-Idyll schen, des Bayerischen und des Süddeut- entstammt, kaum mehr je. Aber die eine schen Rundfunks hatten sich ausgeklinkt. Nummer daraus war auch in den USA lan- Grund: Kortner hatte Teile der originalen ge Zeit sehr populär, weil sie 1952 als leicht (wenn auch entschärften) «Lysistrata» in ei- angejazzter «Glow Worm» in die Hitparade ner Rahmenhandlung der Jetztzeit platziert, katapultiert wurde («Shine, little glow worm, Titelblatt «Glühwürmchen-Idyll», Berlin 1902. als Stück im Stück. Zwei Schauspielerinnen, glimmer, glimmer .. .»). Ansonsten kann man die darin auftreten, schauen nun die Fern- von einem obrigkeitsnahen Preussen der vor- sehausstrahlung am TV an, zusammen mit letzten Jahrhundertwende kaum ein gross ihren Männern und weiteren Gästen. Vor die artiges Plädoyer gegen den Krieg erwarten antike Handlung schiebt sich so eine aktuelle – und bekommt auch keins. Anzüglich- und Diskussion über Aufrüstung und Pazifismus. Schlüpfrigkeiten aber schon: Der Friedens- (Die Gründung der Bundeswehr lag zu jener schluss zwischen Athen und Sparta ist weni- Zeit erst 6 Jahre zurück, die eventuelle Aus- ger auf den Sexstreik zurückzuführen als auf stattung der Bundesrepublik mit Atomwaffen die Liaison Lysistratas mit einem Spartaner wurde gerade heftig diskutiert und von ersten sowie auf Verstrickungen von deren Gatten Friedensmärschen bekämpft.) im Rotlichtmilieu. Erneut wirkte die Kombination von Sex und Pazifismus explosiv. «Das sittliche Emp- Männer werden weggefurzt finden der Zuschauer wird verletzt», klagte Weiteren musikalischen Niederschlag fand der Bayerische Fernsehdirektor Clemens Lysistrata in einem Ballett von Boris Blacher Münster. Zugleich war er der Ansicht, «die (1950) und in Opern von Karl Winkler (1961) Verfechter einer Atomrüstung» würden und von Mikis Theodorakis (2001). In der «auf eine Weise karikiert, die einfach unfair bildenden Kunst stechen zwei Namen her- ist». Letzteres dürfte vor allem auf die stark vor: Pablo Picasso, der 1934 eine Serie von geschminkte und bepelzte ältere Dame ge- Zeichnungen zum Stück schuf. Und Aubrey Ralf König: «Lysistrata» – Filmplakat 2002. münzt gewesen sein, die gleich zu Anfang Beardsley: Der englische Grafiker und -Illust- fragt, ob dieser Aristophanes «ein Linker» sei. rator (1872–1898) prägte den Jugendstil mass- Der Titel der Produktion ist extra doppeldeu- geblich, trotz seines frühen Todes. Seinerseits tig: «Sendung» kann als Ausstrahlung eines war er inspiriert von griechischen Vasen und Rundfunkbeitrags verstanden werden (worin japanischen Holzschnitten. Am berühmtes- ja wirklich die Rahmenhandlung besteht), ten sind seine Zeichnungen zu Oscar Wildes aber natürlich auch als Botschaft, womöglich «Salome»; fast ebenso sehr aber die Blätter an die Heutigen. Die Hauptrollen spielten zur «Lysistrata», die teilweise als Pornografie Barbara Rütting, Ruth-Maria Kubitschek und angefeindet wurden, jedenfalls nicht durch- – Romy Schneider! Das war vielleicht über- wegs jugendfrei sind. Für die Publikation in haupt die grösste Provokation des Films (der diesem Heft eignet sich zumindest jenes Bild, aus heutiger Sicht auch ein paar Längen hat): auf dem die Athenerinnen einen der angrei- Ausgerechnet die wenige Jahre zuvor noch so fenden Männer mittels Fürzen und Nacht- sittliche Sissi äussert hier die Absicht, nach topfentleerung von der Akropolis vertreiben. Friedensschluss «ohne Ansehen der Person Bildnachweis. Seite 11: Tom Hilton/Wikimedia/CC; aus: als Opfer mich den Männern» zu verschen- Alfred John Church: «Pictures from Greek Life and Story», ken, «zum Dank dafür, dass meiner mir zu- 1893. Seite 12: Die Gartenlaube; Wikimedia/CC; Keystone/ Interfoto/Friedrich; Werner Friedli/ETH-Bibliothek; Sei- rückgekehrt». Und sie sehnt sich (später he- te 13: Keystone/AKG-Images, Keystone/United Archives; rausgeschnitten) nach einem «achtzölligen Wikimedia/CC. Aubrey Beardsley: Tröster». «Lysistrata verteidigt die Akropolis» (1896). März 2019 13
Dossier: Streikende Frauen Zwei Tage nach der Ablehnung des nationalen Frauenstimmrechts 1959 streikten die Lehrerinnen des Basler Mädchengymnasiums Eine Frage der Würde Der erste Schweizer Frauenstreik war nicht 1991, sondern 1959: Basler Gymnasiallehrerinnen liessen aus Empörung über das Männer-Nein zum Frauenstimmrecht einen Unterrichtstag ausfallen. Ihre Aktion hatte grosses Echo. | Text und Fotos: Christoph Schlatter* 1. Februar 1959: Eidgenössische Volksabstim- Appenzell-Innerrhoden. Ein Nein auf der na- hen im Jahr zuvor das Frauenstimmrecht be- mung. Stimmberechtigt sind 1 488 555 Perso- tionalen Ebene hatte man erwarten müssen. schlossen. Die Enttäuschung muss am Mon- nen. 1 488 555 Männer, um genau zu sein. Aber so deutlich? tag danach auch im Lehrerinnenzimmer des Ziemlich präzis zwei Drittel von ihnen gehen Basler Mädchengymnasiums enorm gewesen an die Urne. Und von diesen lehnen wieder- Rechtsanspruch missachtet sein. Der Lehrkörper dieser Anstalt, die im um zwei Drittel den «Bundesbeschluss vom Dass auch im Stadtkanton Basel eine Mehr- Volksmund «Affenkasten» genannt wurde, 13.06.1958 über die Einführung des Frauen- heit der Männer mit Nein stimmte, empörte bestand zu jener Zeit aus rund 70 männlichen stimm- und -wahlrechts in eidgenössischen die dortigen Befürworterinnen des Frauen- und gut 50 weiblichen Lehrkräften. Nicht nur Angelegenheiten» ab. Lediglich aus den Kan- stimmrechts. Ihre Hoffnung, dass wenigstens die Lehrerzimmer waren nach Geschlecht tonen Genf, Neuenburg und Waadt kommt «ihre» fortschrittlichen Männer mehrheitlich getrennt. Unterschiedlich waren auch die ein Ja; die Deutschschweizer Kantone liegen ein Ja einwerfen würden, war ja nicht ganz Arbeitsbedingungen: Frauen verdienten we- zwischen 53,2 Prozent Ablehnung in Basel- ohne Anlass. Immerhin hatten die Männer niger als die Männer, und vor allem verloren Stadt und fast stalinistischen 95,1 Prozent in in den Bürgergemeinden von Basel und Rie- sie mit einer Heirat die feste Anstellung samt der Mitgliedschaft in der Pensionskasse. (Die «Zölibatsklausel» fiel 1961.) Leere Gänge: Der Umstand eines separaten Lehrerinnen- Am 3. Februar fiel der zimmers dürfte für das, was nun geschah, Unterricht im damaligen nicht unwesentlich gewesen sein. Zahlreiche Basler Mädchengym nasium (heute: Gymna- Lehrerinnen waren in der Frauenrechtsbewe- sium Leonhard) aus. gung engagiert, und zumal die ältere Genera- tion hatte für Matura und Studium kämpfen und Widerstand überwinden müssen. Der Gedanke eines Proteststreiks stiess offenbar sofort auf fruchtbaren Boden. Die Umsetzung wurde gleich an die Hand genommen, und am Ende des Schulmorgens hatten 50 von 54 weiblichen Lehrkräften eine Solidaritätsver- pflichtung unterschrieben – auch wenn nicht alle gleichermassen überzeugt waren vom Sinn und von der Tonalität der Aktion. Hurra, die Schule streikt! Abzüglich der kranken, beurlaubten und der dienstags dienstfreien Lehrerinnen blieben 39 Streikfähige und -willige. Geheimhaltung wurde bis Montagabend geübt; den Rektor in- formierte Konrektorin Lotti Genner erst dann per Telefon und mittels Notiz: «Sehr geehr- ter Herr Rektor, ich teile Ihnen mit, dass die Lehrerinnen des Mädchengymnasiums am Dienstag, 3. Februar 1959, aus Protest gegen die neuerlich dokumentierte Missachtung unseres staatsbürgerlichen Rechtsanspruchs streiken werden.» Und am Dienstag? Tat- sächlich wurde die Schule nach der ersten Lektion um 9 Uhr geschlossen, alle Schüle- 14 März 2019
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