Fallgruben und Sackgassen

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Fallgruben und Sackgassen
Fallgruben und Sackgassen
Zur Entwicklung der schweizerischen Sozialhilfe in den
letzten Jahrzehnten

April 2016
Ruth Gurny und Ueli Tecklenburg

Bedrohliche Kostenexplosion bei der Sozialhilfe, Missbrauch und sozialromantische Exzesse,
boomende Sozialbranche und überstrapazierte Solidarität - die Sozialhilfe stellt seit einiger
Zeit das beliebteste Angriffsziel der politischen Rechten in unserem Land dar, gleich neben
den AusländerInnen und den Asylsuchenden. Seit Jahren legt die SVP politische Fallstricke
aus und diktiert die politische Agenda. Leider erfolgreich, wie man sehen kann: In den letzten
zwei Jahrzehnten fand eine massive Senkung des Leistungsniveaus der Sozialhilfe statt. Par-
allel zur Kürzung der Leistungen wurde der Druck auf die Sozialhilfebeziehenden massiv
erhöht. Als Bedingung für den Sozialhilfebezug werden Arbeitsleistungen gefordert und das
Sanktionssystem und die Kontrollmassnahmen wurden drastisch verschärft. Das Kerngeschäft
der sozialen Arbeit, die Unterstützung und Betreuung der vom Ausschluss bedrohten Perso-
nen, droht unterzugehen. Die föderalistische Struktur der schweizerischen Sozialhilfe führt
ihrerseits zu kantonalen Unterschieden, welche die Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit
massiv in Frage stellen. Es besteht kein Zweifel: nicht nur die Sozialhilfebeziehenden befin-
den sich in einer Notlage, sondern auch die schweizerische Sozialhilfe selbst.

Der vorliegende Text räumt mit den vielen Unwahrheiten und Falschinformationen unserer
politischen Gegner auf: Wir dokumentieren die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten mit
dem Ziel, die Diskussion rund um die Sozialhilfe auf eine sachliche Ebene zu stellen und den
Weg heraus aus der Sackgasse zu zeigen.
Fallgruben und Sackgassen
Denknetz Grundlagen                                 Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

1. Von der Einzelfallhilfe zur                      abhängig sind. Die soziale Sicherung trägt
Abdeckung struktureller Risiken                     dieser Entwicklung nur begrenzt Rechnung .
                                                    Die ebenfalls steigende Scheidungsrate führt
„Braucht die Schweiz eine neue Sozialhilfe?“,       zu einer steigenden Anzahl von Einelternfami-
fragten sich Knöpfel / Ferroni in ihrem Artikel     lien, dabei handelt es sich in den meisten Fäl-
bereits im Jahre 1999 und verwiesen damit auf       len um Haushalte alleinerziehende Mütter.
den schleichenden Funktionswandel der Sozi-         Mangelnde Vereinbarkeit von Berufstätigkeit
alhilfe. Obwohl seither über 15 Jahre vergan-       und Kinderbetreuung, die damit verbundene
gen sind, hat der Text nichts von seiner Aktua-     notwendige Teilarbeitszeit, Erwerbstätigkeiten
lität eingebüsst. Im Gegenteil: die von den         vielmals im unteren Lohnbereich sind hier die
Autoren beschriebenen Entwicklungen haben           Stichworte. Die Konsequenzen sind seit Jahren
sich in der Zwischenzeit sogar noch verstärkt.      bekannt. Auch neueste Zahlen (Bundesamt für
Auf der anderen Seite hat es die Sozialpolitik      Statistik, 2015) zeigen, dass die Sozialhilfe-
der letzten Jahre weitgehend unterlassen, den       quote mit 18,8% bei Einelternhaushalten die
Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das           weitaus höchste ist im Vergleich mit allen
System der schweizerischen sozialen Sicher-         Haushaltstypen (Unterstützungsquote aller
heit im Allgemeinen und auf die Sozialhilfe im      Haushaltstypen: 4,6%).
Besonderen Rechnung zu tragen. So gilt denn         Die neuen Erwerbsbiographien sind direkt mit
auch heute noch weitgehend, dass: „die zentra-      dem wirtschaftlichen Strukturwandel verbun-
len Säulen, auf denen das System der sozialen       den. Die für Schweizer Verhältnisse auf einem
Sicherung in der Schweiz basiert, die traditio-     relativ hohen Niveau verharrende Arbeitslo-
nelle Familienform und die Vollbeschäftigung        senquote führt dazu, dass viele Erwerbsbiogra-
sind. Beide Stützen haben sich radikal verän-       phien eine oder mehrere Phasen von Erwerbs-
dert“ (Knöpfel & Ferroni, 1999).                    losigkeit aufweisen. Für ältere Erwerbstätige
                                                    wird es zunehmend schwieriger, wieder auf
Der neoliberale wirtschaftliche Struktur-           dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Aus dem
wandel                                              neuesten Sozialbericht des Kantons Bern geht
                                                    hervor, dass sich die Armutsgefährdungsquote,
Der neoliberale Strukturwandel in der Wirt-         also der Anteil jener Personen, deren Einkom-
schaft, gekennzeichnet durch Liberalisierung        men sich unter dem Niveau der Armutsgefähr-
und Deregulierung der Märkte, Verschärfung          dung befindet, bei den 51-60jährigen zwischen
des internationalen Wettbewerbs und die Op-         2001 und 2013 um mehr als Hälfte vergrössert
timierung des Standort-Portfolios, aber auch        hat (Regierungsrat des Kantons Bern, 2015).
der Abbau von Arbeitsplätzen und die Obso-          Sinkende Integration in den Arbeitsmarkt wird
leszenz gewisser hergebrachter beruflicher          dabei als hauptsächlichster Erklärungsfaktor
Fähigkeiten führt gemäss den Autoren dazu,          angeführt. Doch auch (nicht erwünschte) Teil-
dass der Sozialstaat nur noch als Standortfaktor    zeitarbeit, Arbeit auf Abruf, befristete Arbeits-
interpretiert wird. Dieser wirtschaftliche Struk-   verhältnisse führen vielmals zu ungenügendem
turwandel wird zwar in der Öffentlichkeit           oder wechselhaftem Einkommen, welches
wahrgenommen, nicht aber der parallel dazu          durch die Sozialhilfe kompensiert werden
verlaufende soziale Strukturwandel und seine        muss. Auch unabhängig vom Alter sind vor
Folgen für das System der sozialen Sicherung.       allem niedrigqualifizierte Personen vom Aus-
Gemäss den Autoren sind dabei drei Bereiche         schluss aus dem Arbeitsmarkt bedroht. So
besonders zu beachten:                              verfügen gemäss den neuesten Zahlen zur So-
                                                    zialhilfe die Hälfte der BezügerInnen (50,3%)
•    Wandel der Lebensformen                        über keine nachobligatorische Bildung (Bun-
•    Neue Erwerbsbiographien                        desamt für Statistik, 2015).
•    Auswirkungen der Migration                     Die Zusammensetzung der Migrationspopula-
                                                    tion hat sich in den letzten Jahrzehnten stark
Der Wandel der Lebensformen zeigt sich im           verändert. Während in den 50er und 60er Jah-
Wandel der traditionellen Familienform: die         ren des letzten Jahrhunderts ein Grossteil der
steigende Erwerbstätigkeit der Frauen führt         Einwanderer aus dem südlichen Europa
dazu, dass ihre Sozialversicherungsansprüche        stammte – sie kamen über das Saisonnierstatut,
immer weniger von denjenigen des Ehemannes          gegebenenfalls über den späteren Familien-

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nachzug in die Schweiz – verlagerte sich in der   trägt dieser Veränderung Rechnung. Dieser
Folge der Kreis der Herkunftsländer auf au-       Funktionswandel zeigt sich unter anderem klar
ssereuropäische Länder, vor allem auf Afrika,     in der Entwicklung der Bezugsdauer. Laut
Asien und Lateinamerika. Mit Inkrafttreten der    neuester Sozialhilfestatistik (Bundesamt für
Personenfreizügigkeit setzte eine sogenannte      Statistik, 2015) stieg der Medianwert der Be-
„neue Zuwanderung“ von hoch qualifizierten        zugsdauer seit 2008 um vier Monate von 19
Arbeitskräften vor allem aus Nord- und West-      auf 23 Monate. Wenn aber die Hälfte aller
europa ein. Diese scheint zwar in allerletzter    Sozialhilfebeziehenden schweizweit über zwei
Zeit ihren Höhepunkt überschritten zu haben,      Jahre auf diese Unterstützung angewiesen sind,
bleibt aber bedeutend. Die aussereuropäische      kann schwerlich noch von einer Unterstützung
Immigration – abgesehen von der aktuellen         in einer vorübergehenden Notlage gesprochen
Flüchtlingsproblematik – wird bereits zuweilen    werden.
als „alte Zuwanderung“ bezeichnet. Ein nicht
unbedeutender Anteil dieser Personen verfügt
über keine oder eine niedrige berufliche Aus-     2. Die rechtliche Verankerung der
bildung. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt     Sozialhilfe
wird zusätzlich durch Diskriminierungen und /
                                                  Die Sozialhilfe in der Schweiz unterliegt dem
oder Nichtanerkennung ihrer trotzdem beste-
                                                  sogenannten Subsidiaritätsprinzip. Das heisst,
henden beruflichen Qualifikation erschwert.
                                                  sie kommt erst zum Tragen, wenn alle anderen
Dies erklärt weitgehend die Tatsache, dass
                                                  möglichen Einnahmequellen (Erwerbs-, Ren-
heute 46,7% der SozialhilfebezügerInnen aus-
                                                  ten-, Kapitaleinkommen, Einnahmen aus ande-
ländischer Nationalität sind. Dabei sind die
                                                  ren Bedarfsleistungen, usw.) nicht vorhanden,
Sozialhilfequoten je nach Herkunftsregion
                                                  ungenügend oder nicht rechtzeitig erhältlich
äusserst unterschiedlich. Während die Einwan-
                                                  sind. Ungenügend heisst, dass sich die Ein-
derer aus EU-Ländern eine mit den Schweizern
                                                  kommen unter den Ansätzen für die Sozialhilfe
vergleichbare     Sozialhilfequote   aufweisen
                                                  befinden. Sie wird deshalb auch als bedarfsab-
(3,2%), steigt diese bei den Einwanderern aus
                                                  hängige Sozialleistung bezeichnet. Die Sozial-
Asien auf 11,8%, aus Lateinamerika auf 13%,
                                                  hilfe folgt dem sogenannten Finalitätsprinzip,
und aus Afrika gar auf 28,8% (Bundesamt für
                                                  das heisst, sie wird unabhängig vom Grund für
Statistik, 2015). Der Ausschluss aus dem Ar-
                                                  die Armut gewährt. Dies im Gegensatz zu den
beitsmarkt zeigt sich auch bei den anerkannten
                                                  Sozialversicherungen, welche dem Kausali-
Flüchtlingen und den vorläufig aufgenomme-
                                                  tätsprinzip folgen. Sie wird über allgemeine
nen Personen. Von ihnen sind rund 80% auf
                                                  Steuermittel finanziert und nicht wie die Sozi-
Sozialhilfeunterstützung angewiesen. 59%
                                                  alversicherungen über Beitragszahlungen.
dieser Personen verfügen über keine berufliche
Ausbildung und 84,8% sind Erwerbslose oder
                                                  Die Sozialhilfe in der Bundesverfassung
Nichterwerbspersonen (ibid.).
                                                  Gemäss Artikel 115 der Bundesverfassung
Von der vorübergehenden zur dauerhaften           liegt die Sozialhilfe in der Kompetenz der
Unterstützung                                     Kantone, welche sie ganz oder teilweise an die
                                                  Gemeinden weiter delegieren können. Die
Die erwähnten Risiken werden vom schweize-
                                                  Kantone sind zur Gewährung der Sozialhilfe
rischen System sozialer Sicherung auch heute
                                                  verpflichtet, denn Artikel 12 der Bundesverfas-
noch nur ungenügend abgedeckt und führen
                                                  sung bestimmt: „Wer in Not gerät und nicht in
dazu, dass sich die Sozialhilfe – als letztes
                                                  der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, hat An-
soziales (subsidiäres) Auffangnetz - in den
                                                  spruch auf Hilfe und Betreuung und auf Mittel,
letzten 20 Jahren von der Unterstützung im
                                                  die für ein menschenwürdiges Dasein unerläss-
Einzelfall zu einer Abdeckung struktureller
                                                  lich sind“. Zu berücksichtigen ist ebenfalls
Risiken gewandelt hat. In Ermangelung einer
                                                  Artikel 7 der Bundesverfassung, welcher die
anderen Form sozialer Unterstützung mutiert
                                                  Menschenwürde schützt. Der Passus im Artikel
die Sozialhilfe von ihrer subsidiären und vorü-
                                                  12 BV „und nicht in der Lage ist“ wird von der
bergehenden Unterstützungsfunktion im Ein-
                                                  Rechtsprechung im Sinne der erwähnten Sub-
zelfall zu einer Art dauerhaften Rente. Doch
                                                  sidiarität interpretiert. Die Anspruchsbedin-
weder ihre Organisationsform noch die be-
                                                  gungen auf die Sozialhilfe sind demnach erst
darfsabhängige Berechnung ihrer Leistungen
                                                  dann erfüllt, wenn alle anderen Einkommens-

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quellen ungenügend oder nicht verfügbar sind.       fegesetzgebungen rechtswirksam1. Die in die-
Dies betrifft insbesondere auch das mit der         sen Richtlinien enthaltene Festlegung des
eigenen Arbeitsleistung verbundene Einkom-          Grundbedarfs (Existenzminimum) ist aller-
men. Wer also beispielsweise ein „zumutba-          dings keine absolute Grösse und unterliegt
res“ Arbeitsangebot ausschlägt, wird gemäss         weitgehend sozialen und politischen Aushand-
dieser Rechtsauffassung durch eine mögliche         lungen. Dies zeigt sich unter anderem darin,
Einstellung der Sozialhilfeleistungen nicht         dass es in der Schweiz mindestens drei Defini-
sanktioniert, sondern erfüllt die Anspruchsbe-      tionen des Existenzminimums gibt: das betrei-
dingungen nicht (oder nicht mehr). Das mag          bungsrechtliches Existenzminimum, das Exi-
zwar als juristische Haarspalterei angesehen        stenzminimum der Ergänzungsleistungen zu
werden, hat aber Konsequenzen, wenn es dar-         AHV/IV und das durch die SKOS definierte
um geht, zwischen Kürzung von Sozialhilfelei-       Existenzminimum für die Sozialhilfe. Diese
stungen und deren Einstellung zu entscheiden.       weichen deutlich voneinander ab:
Zu erwähnen ist schliesslich auch, dass Artikel
12 zwar ein „Recht auf Hilfe in Notlagen“           Grundbedarf für den Lebensunterhalt pro Mo-
stipuliert, aber keine Angaben zur materiellen      nat für eine Einzelperson 2015 in CHF2:
Höhe einer solchen Hilfe macht.
                                                    • Grundbedarf nach Betreibungsrecht3 :
                                                      CHF 1200
Die gesetzliche Verankerung der Sozialhilfe         • Grundbedarf Ergänzungsleistungen zu
auf Ebene Bund und Kantone                            AHV/IV: CHF 1608
                                                    • Grundbedarf Sozialhilfe (SKOS):
Ausser den erwähnten Verfassungsbestim-               CHF 986
mungen gibt es bis heute keine gesetzlichen
Vorgaben zur Sozialhilfe auf Bundesebene.           Es ist dabei nicht unmittelbar einsehbar, wes-
Ausnahme ist das sogenannte „Bundesgesetz           halb beispielsweise das Existenzminimum
über die Zuständigkeit für die Unterstützung
                                                    eines IV-Rentners rund 60% höher liegt als
Bedürftiger“ (ZUG), das aber, wie sein Name         dasjenige eines ausgesteuerten Arbeitslosen in
besagt, lediglich die Zuständigkeit der Kantone     der Sozialhilfe. Die Unterschiede werden mei-
im Einzelfall regelt. Seine Einführung im Jahre     stens damit begründet, dass die Ergänzungslei-
1977 kann als Abschluss des Übergangs vom           stungen als längerfristige Unterstützung konzi-
Heimat- zum Wohnortsprinzip betrachtet wer-         piert sind, während die Sozialhilfe eine kurz-
den (Schmid, 2005a).                                fristige Überbrückung von Notlagen darstellt.
 Obwohl die Kantone zur Gewährung der So-           Dies ist aber aufgrund des schleichend einge-
zialhilfe verpflichtet sind, können sie eigen-      tretenen Funktionswandel der Sozialhilfe im-
ständig über deren Organisation und Finanzie-       mer weniger der Fall (siehe Kapitel 1).
rung und – in einem gewissen grundrechtlichen
Rahmen – über die Festlegung der materiellen
Höhe der Unterstützung bestimmen. Diese dem
Föderalismus geschuldete Situation führt zu 26
recht unterschiedlichen Sozialhilfegesetzge-
bungen in den Kantonen. Ausgewählte Aspek-
te dieser Diversität beleuchten wir in Kapitel 4.

Die Definition des Existenzminimums

Um eine minimale Koordination und Harmoni-          1
                                                     Die SKOS ist formalrechtlich ein privater Verein.
sierung unter den Kantonen zu erreichen, gibt
                                                    In diesem sind alle Kantone, etwa 800 Gemeinden
die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe        und Städte, private Hilfsorganisationen und Bun-
(SKOS) „Richtlinien zur Ausgestaltung und           desämter vertreten.
Bemessung der Sozialhilfe“ heraus (siehe dazu       2
Kapitel 5). Diese Richtlinien haben jedoch nur        Der Grundbedarf für abgewiesene Asylbewerber
                                                    und Asylbewerber ist hier nicht berücksichtigt. Er
empfehlenden Charakter und werden erst
                                                    liegt bedeutend tiefer als die hier erwähnten Beträ-
durch die verschiedenen kantonalen Sozialhil-       ge.
                                                    3
                                                      Empfehlungen gemäss Konferenz der Betrei-
                                                    bungs- und Konkursbeamten der Schweiz.

                                                                                                            4
Denknetz Grundlagen                                    Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

3. Die Konsequenzen des Föderalis-                 Die Sozialhilfekosten und die frei verfügba-
mus                                                ren Einkommen von Sozialhilfebezügern

Die Folgen der dezentralen kantonalen Zustän-      Die Aufwendungen für die Sozialhilfe variie-
digkeit in der Sozialhilfe sind vielfältig. Sie    ren stark von Kanton zu Kanton. Die Gesamt-
zeigen sich in grossen interkantonalen Unter-      ausgaben hängen natürlich direkt von der Grö-
schieden in der Organisationsform, im Finan-       sse des Kantons und der Anzahl Sozialhilfebe-
zierungsmodus, in den Rechten und Pflichten        zügerInnen ab. Werden diese Ausgaben auf die
der SozialhilfebezügerInnen und nicht zuletzt      einzelnen SozialhilfeempfängerInnen aufge-
auch in der Höhe der Unterstützungsleistun-        schlüsselt, zeigen sich eklatante Unterschiede.
gen. Die Unterschiede sind zuweilen so gross,      So können sich die jährlichen Nettoausgaben
dass sie schweizweit das verfassungsmässige        für Sozialhilfe pro EmpfängerIn vom einen
Recht auf Rechtsgleichheit und Rechtssicher-       zum anderen Kanton mehr als verdoppeln: die
heit in Frage stellen. Es ist im Rahmen dieses     tiefsten Ausgaben finden sich im Kanton Fri-
Textes nicht möglich, eine vollständige Liste      bourg mit 5‘025.- Franken pro EmpfängerIn,
der zahlreichen kantonalen Besonderheiten zu       während der Kanton Graubünden mit 12‘097.-
präsentieren. Wir beschränken uns auf einige       Franken den Spitzenreiter darstellt. Zu den
Beispiele.                                         höchstplatzierten (10‘000 und mehr) gehören
                                                   auch die Kantone Zürich, Bern, Solothurn,
Die Finanzierung                                   Basel-Stadt und Tessin, während Uri und Nid-
                                                   walden der untersten Kategorie (weniger als
Wie erwähnt, können die Kantone ihre Zustän-       6‘000) angehören6. Diese massiven Unter-
digkeit im Bereich der Sozialhilfe an die Ge-      schiede sind nicht nur auf eine unterschiedliche
meinden delegieren. Dies zeigt sich unter an-      Zusammensetzung der jeweiligen Sozialhilfe-
derem in der finanziellen Lastenverteilung         population zurückzuführen, sondern wider-
zwischen dem Kanton und den Gemeinden4             spiegeln ohne Zweifel auch sehr unterschiedli-
(siehe dazu auch Kapitel 11). Nur in drei Kan-     che Praktiken in der Gewährung der Sozialhil-
tonen sind die Sozialhilfekosten vollständig       fe. Die Unterschiedlichkeit betrifft auch das
kantonalisiert (AI, GL, GE), während in zehn       frei verfügbare Einkommen von Sozialhilfebe-
Kantonen ausschliesslich die Gemeinden für         zügerInnen. Dies geht unter anderem aus einer
die Finanzierung der Sozialhilfe zuständig         Studie der SKOS hervor, die bereits 2007 pu-
sind. In den übrigen Kantonen werden die Ko-       bliziert wurde (Knupfer, Pfister, & Bieri,
sten zwischen Kanton und Gemeinden aufge-          2007). Darin wird anhand von Fallbeispielen
teilt, wobei der Kantonsanteil zwischen 5%         gezeigt, dass das jährliche frei verfügbare Ein-
und 75% variiert. Zudem kennen viele Kanto-        kommen (also das Einkommen nach Abzug
ne auch einen Mechanismus zum Lastenaus-           von Fixkosten (Miete, Krankenkassenprämien,
gleich zwischen den Gemeinden, weil ärmere         Kinderbetreuungskosten, ggf. Steuern) einer
Gemeinden vielmals übermässig durch Sozial-        alleinerziehenden Mutter mit einem 3
hilfekosten belastet sind. Auch hier sind grosse   1/2jährigen Kind, welche vollständig auf Sozi-
Unterschiede festzustellen. Es geht vom voll-      alhilfe angewiesen ist, vom Minimum von
ständigen Ausgleich der effektiven Sozialhilfe-    rund 17‘000.- Franken in Appenzell bis zum
ausgaben zwischen allen Gemeinden (z.B.            Maximum von rund 23‘000.- Franken in Sitten
Bern, Solothurn, Waadt, Jura, Fribourg) über       variieren kann. Die entsprechenden Zahlen für
den teilweisen Ausgleich der effektiven Sozi-      eine Familie mit zwei Kindern sind rund
alhilfekosten zwischen den Gemeinden (z.B.         26‘500.- Franken in Bellinzona und 29‘000.-
Graubünden) und der teilweisen Kompensation        Franken in Lausanne7. Die absoluten Zahlen
überdurchschnittlicher Kosten durch den Kan-
ton (z.B. Aargau, Thurgau, St. Gallen) bis hin
einer totalen Absenz eines innerkantonalen         6
                                                      Bundesamt für Statistik, Statistisches Lexikon der
Soziallastenausgleichs (z.B. Obwalden, Zü-         Schweiz (die Zahlen beziehen sich auf das Jahr
rich)5.                                            2012).
                                                   7
                                                     „Die Unterschiede in den frei verfügbaren Ein-
                                                   kommen entstehen einerseits durch Abweichungen
                                                   beim Grundbedarf für den Lebensunterhalt, ande-
4
    (SKOS, 2014)                                   rerseits durch die unterschiedliche Anwendung der
5
    Ibid.                                          Anreizelemente“ (Knupfer, Pfister, & Bieri, 2007).

                                                                                                           5
Denknetz Grundlagen                                    Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

dürften sich seit 2007 verändert haben, aber die       von vornherein ausgeschlossen, nicht aber im
Varietät hat seither kaum abgenommen.                  Kanton Aargau. Zwischen diesen Positionen
                                                       liegt eine Vielzahl von Varianten in den ande-
Die sozialhilferechtliche Rückerstattungs-             ren Kantonen. Neben den gesetzlichen Be-
pflicht                                                stimmungen besteht die Unterschiedlichkeit
                                                       auch in der tatsächlich angewandten Praxis.
In der Schweiz ist die Sozialhilfe im Prinzip          Wird nach Austritt aus der Sozialhilfe systema-
rückerstattungspflichtig. Das heisst, Sozialhil-       tisch und über längere Zeit nachgeprüft, ob
febezügerInnen bürden sich mit dem Bezug               sich ehemalige SozialhilfebezügerInnen in
von Sozialhilfe eine potentielle Schuld auf, die       „besseren wirtschaftlichen Verhältnissen“ be-
zurückzuerstatten ist, falls sie sich nach Ablö-       findet oder wird das nur punktuell und mehr
sung von der Sozialhilfe in „wirtschaftlich            zufällig abgeklärt? Und was geschieht, wenn
besseren Verhältnissen“ befinden. Diesen               die betreffenden SozialhilfebezügerInnen den
Sachverhalt hat die OECD bereits 1999 in               Kanton oder gar das Land gewechselt haben?
einer Studie über die Sozialhilfe in der               Zudem wird mancherorts die Rückerstattungs-
Schweiz und in Kanada (OECD, 1999) als eine            pflicht als Mittel zur Senkung der Sozialhilfe-
von drei „archaischen Zugangsbarrieren“ zur            kosten und als Druckmittel betrachtet. Dies
Sozialhilfe in der Schweiz bezeichnet8. Die            führt dazu, dass die Rückerstattungspflicht
SKOS empfiehlt „grundsätzlich keine Gel-               zuweilen am Rande der Legalität geltend ge-
tendmachung von Rückerstattungen aus späte-            macht wird (Szabo, 2008).
ren Erwerbseinkommen“9. Aber auch hier
müssen bedeutende Unterschiede zwischen den
Kantonen festgestellt werden. So hat bei-              Die Verwandtenunterstützungspflicht
spielsweise der Kanton Waadt die Rückerstat-
tungspflicht durch einen Verfassungsartikel            Gemäss Artikel 328 und 329 des schweizeri-
praktisch aufgehoben. In diesem wird eine              schen Zivilgesetzbuches (ZGB) können Ver-
Sozialhilfe postuliert, die „im Prinzip“ nicht         wandte in auf- und absteigender Linie (Kinder-
rückerstattungspflichtig ist10. Im Kanton Aar-         Eltern-Grosseltern) zur Unterstützung von
gau hingegen gilt eine allgemeine Rückerstat-          SozialhilfebezügerInnen beigezogen werden,
tungspflicht „wenn sich die wirtschaftlichen           sofern sie sich in „wirtschaftlich günstigen
Verhältnisse so weit gebessert haben, dass eine        Verhältnissen“ befinden. Auch diese Bestim-
Rückerstattung ganz oder teilweise zugemutet           mung wurde von OECD als „archaische Zu-
werden kann“11, wobei der Regierungsrat Aus-           gangsbarriere“ bezeichnet. Die sogenannte
nahmen festlegen kann“, während im Sozial-             „Rückgriffspraxis“ ist wiederum sehr unein-
hilfegesetz des Kantons Genf12 die ausseror-           heitlich. „Sie reicht von einer systematischen
dentlichen Situationen bezeichnet werden, in           Prüfung der Beitragsfähigkeit in jedem einzel-
welchen eine Rückerstattung gefordert werden           nen Fall bis zu punktuellen Abklärungen in
kann (unrechtmässiger Bezug, Sozialhilfe als           Einzelfällen, in denen die Behörden (oft zufäl-
Vorbezug von Sozialversicherungsleistungen,            lig) von der Existenz von Verwandten erfahren
Sozialhilfeleistungen bei Immobilienbesitz,            haben“ (Schmid & Maravic, 2009). Auch hier
hoher Vermögensanfall (Lotteriegewinne, Erb-           stellt sich natürlich die Frage, was geschieht,
schaften)). Rückerstattungen bei späterem              wenn sich die in „wirtschaftlich günstigen
Erwerbseinkommen sind also im Kanton Genf              Verhältnissen“ lebenden Verwandten im Aus-
                                                       land befinden oder wenn „die Steuerämter mit
                                                       Berufung auf den Datenschutz die Auskunft
8
  Die zwei anderen « archaischen Zugangsbarrie-        verweigern“(ibid.).
ren » in der Schweiz sind laut OECD die Verwand-
tenunterstützungspflicht und die Tatsache, dass an
vielen Orten immer noch politisch zusammenge-          Die Rechte und Pflichten der Sozialhilfebe-
setzte Sozialkommission über die Gewährung von         züger und die Gewährung von Zulagen
Sozialhilfe entscheiden.
9
  SKOS-Richtlinien E.3-2                               Die interkantonalen Unterschiede betreffend
10
   Constitution du Canton de Vaud, Artikel 60, al. b
11                                                     Rechte und Pflichten der SozialhilfebezügerIn-
   Sozialhilfe- und Präventionsgesetz Kanton Aar-
gau, Artikel 20.
                                                       nen zeigen sich in besonderes krasser Weise
12
   Loi sur l’insertion et l’aide sociale (LIASI)       im Bereiche der gesetzlichen Bestimmungen
République et Canton de Genève, Artikel 36ff.          zu den Integrationsmassnahmen. So stipuliert

                                                                                                           6
Denknetz Grundlagen                                  Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

beispielsweise das Tessiner Gesetz zur Sozial-       4. Von der Amenpflege über die
hilfe ein Recht der BezügerInnen auf soziale
Integrationsmassnahmen13, während im Neu-
                                                     SKöF zur SKOS
enburger Gesetz genau das Gegenteil zu finden        Auf dem Hintergrund der kantonalen bzw.
ist, nämlich: „Der Sozialhilfebezüger hat kein       kommunalen Zuständigkeiten in der Sozialhil-
Anrecht auf ein Integrationsprojekt, kann aber       fe und der damit verbundenen grossen Unter-
diesem unterworfen werden“14. In diesem letz-        schiede insbesondere im Bereich der Unter-
teren Beispiel kommt der Zwangscharakter auf         stützungsleistungen gab es bereits anfangs des
gesetzlicher Ebene wohl am klarsten zum Aus-         20. Jahrhunderts Bestrebungen zu einer mini-
druck. Zwischen diesen beiden Extremen fin-          malen schweizweiten Koordination und Har-
det sich wiederum eine Vielzahl von Varianten        monisierung.
in den anderen Kantonen.                             Die heutige SKOS (Schweizerische Konferenz
Eine weitere Uneinheitlichkeit zeigt sich in der     für Sozialhilfe) wurde im Jahre 1905 unter
Gewährung von Zulagen. Gemäss SKOS-                  dem Namen „Armenpflegerkonferenz“ in
Richtlinien werden zusätzlich zum Grundbe-           Brugg von VertreterInnen von „bürgerlichen
darf und je nach Fall folgende Zulagen ge-           und privaten Armenpflegen“ gegründet. Diese
währt: der Einkommensfreibetrag (EFB) für            standen damals noch unter einem starken
erwerbstätige SozialhilfebezügerInnen, die           kirchlichen Einfluss: Nicht weniger als ein
Integrationszulage (IZU) für BezügerInnen,           Drittel der 47 in Brugg anwesenden Delegier-
welche an einem Integrations- oder Beschäfti-        ten bekleideten das Amt eines Pfarrers. Gleich
gungsprogramm teilnehmen und bis zur Richt-          zu Beginn stand der Wille zur besseren Koor-
linienrevision von 2015 (siehe Kapitel 9) auch       dination und Harmonisierung der „Armenpfle-
die minimale Integrationszulage (MIZ) für            ge“ im Vordergrund. Die Konferenz sollte „ein
BezügerInnen, welche vor allem aus gesund-           vorzügliches Mittel (sein), um die einzelnen
heitlichen Gründen nicht an einem Beschäfti-         Kantone einander zu nähern, das gegenseitige
gungsprogramm teilnehmen können oder für             Verständnis zu fördern, gemeinsame Ziele
welche der zuständige Sozialdienst keine Inte-       aufzustellen, zu besprechen und zu fördern“
grationsmassnahme zu Verfügung stellt. Ge-           (Aregger, 2005). Dabei stand ebenfalls von
mäss einer Studie des Büro BASS (Dubach &            Anfang an die Rolle des Bundes zur Debatte:
et al., 2015) variiert die Vergabequote einer        „Da die Stunde für eine schweizerische
irgendwie gearteten Zulage in der Sozialhilfe        Armengesetzgebung aber noch nicht vorhan-
zwischen 30% und 40% in gewissen Kantonen            den sei“, müsse etwas unternommen werden,
bis hin zu 70% bis 90% in anderen Kantonen.          „um das Kommen dieser Stunde vorzubereiten
Dies kommt der Willkür nahe und stellt die           und zu beschleunigen“ (ibid.). Die bis heute
Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit mas-       unerfüllte Forderung nach einer Bundesrege-
siv in Frage, denn diese Zulagen machen oft          lung über die Sozialhilfe wurde in der Folge
einen nicht unbedeutenden Anteil der Sozial-         gewissermassen zum „ceterum censeo“ des
hilfeunterstützung aus. Aber auch das Zulagen-       Verbandes, denn auch noch an der 50 Jahr-
system selbst ist sehr unterschiedlich ausge-        Feier der Konferenz im Jahre 1955 in Interla-
staltet: 18 Kantone übernehmen alle drei Lei-        ken „nannte Bundesrat Feldmann die Gründe,
stungen mit Anreizcharakter, sechs Kantone           weshalb trotz einer gewissen Berechtigung der
übernehmen nur einzelne Zulagen und zwei             alten Forderung, in naher Zukunft mit deren
Kantone gar keine (ibid).                            Verwirklichung nicht gerechnet werden kön-
                                                     ne“ (Schmid, 2005b).
                                                     In der Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahr-
                                                     hunderts änderte der Verband seinen Namen
                                                     und wurde zur „Schweizerischen Konferenz
                                                     für öffentliche Fürsorge“ (SKöF). Noch unter
                                                     dem Namen der „Armenpflegerkonferenz“
                                                     erliess dieser im Jahre 1963 die ersten fran-
13                                                   kenmässig bezifferten „Richtsätze für die Be-
   Legge sull’assistenza sociale, Repubblica e
                                                     messung von Unterstützungen“. Diese an die
Cantone Ticino, Artikel 31a
14
   Loi sur l’action sociale (LASoc), République et   Kantone und Gemeinden gerichteten „Empfeh-
Canton de Neuchâtel, Artikel 57 (Übersetzung         lungen stützen sich auf die Ergebnisse einer
durch Verfasser)                                     1961/1962 durch die Ständige Kommission

                                                                                                         7
Denknetz Grundlagen                                Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

durchgeführten Erhebung über Unterstüt-           Wichtige Veränderungen fanden in den Jahren
zungsansätze bei verschiedenen Armenpfle-         1992 und 1998 statt. Zunächst fand eine erste
gen“15. Der empfohlene Grundbedarf für den        Pauschalisierung des Grundbedarfs statt, in-
Unterhalt, noch in einer Bandbreite ausgewie-     dem gewisse Leistungen der „zusätzlichen
sen, belief sich damals für eine alleinstehende   Hilfen“ in den Grundbedarf aufgenommen und
Person zwischen 180.- und 210.- Franken, für      die Unterhaltsberechnung nicht mehr vom
ein Ehepaar ohne Kinder zwischen 280.- und        Alter und vom Zivilstand, sondern von der rein
320.- Franken. In den folgenden Jahrzehnten       zahlenmässigen Zusammensetzung des Haus-
wurde dieser Grundbedarf in rascher Folge und     haltes abhängig gemacht wurden. 1998 wurde
zum Teil in bedeutendem Ausmass angehoben         diese Pauschalisierung vervollständigt und
(siehe Kasten 1). In den Anfangsjahren wurde      zusätzlich zum „Grundbedarf für den Lebens-
der Grundbedarf durch „zusätzliche Hilfen         unterhalt“ (GBL), der inzwischen für eine al-
nach Bedarf“, wie beispielsweise für Beklei-      leinstehende Person auf Fr. 1010.- angewach-
dung, Heizung, Gesundheitspflege, Ver-            sen war, der Grundbedarf I (GBI I) 16 und der
kehrsausgaben, Bildung und Erholung ergänzt       Grundbedarf II (GBII: zur Teilnahme am so-
und es wurde ein „Taschengeld“ (später frei       zialen Leben) eingeführt. Dabei ging aber auch
verfügbare Quote) gewährt. Auch die aner-         die bisherige „frei verfügbare Quote“ im neuen
kannten Ausgaben waren dem gesellschaftli-        Grundbedarf auf. Erstmals war hier von
chen Wandel unterworfen: So wurden „in den        „Massnahmen zur beruflichen und sozialen
1980er-Jahren beispielsweise die Gebühren für     Integration“ die Rede und es wurden die Be-
Radio, Fernsehen und Telefon in die Liste der     griffe von „Leistung und Gegenleistung“ ein-
zusätzlichen     Leistungen     aufgenommen“      geführt.
(Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe         Inzwischen hatte der Verband 1996 seinen
SKOS, 2014a).                                     Namen erneut geändert und wurde nun zur
                                                  „Schweizerischen Konferenz für Sozialhil-
                                                  fe“ (SKOS). Dies vor allem deshalb, weil
                                                  von nun an neben den Organisationen der
                                                  öffentlichen Sozialhilfe auch private
                                                  Hilfswerke im Vorstand vertreten waren.

15                                                16
  Empfehlungen der Ständigen Kommission der         Der Grundbedarf I (GBI I) wurde gewährt, wenn
Schweiz. Armenpflegerkonferenz vom 24. Septem-    der Haushalt mehr als drei Personen von mehr als
ber 1963                                          16 Jahren umfasste.

                                                                                                       8
Denknetz Grundlagen                                         Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

Entwicklung des Grundbedarfs für Einpersonenhaushalte und Ehepaare ohne Kinder
(Zweipersonenhaushalt) 1963 bis 2016 (Hänzi, 2011; ab 1998 SKOS Richtlinien verschiede-
ne Ausgaben)
Jahr     Einpersonenhaushalt       Zweipersonen-                 Bemerkungen
                                   haushalt
196317   180.- bis 210.-           280.- bis 320.-
1967     200.- bis 240.-           310.- bis 360.-
1970     250.- bis 300.-           390.- bis 450.-
1972     360.-                     540.-                         Abschaffung Bandbreiten,        „Taschengeld“
         + Taschengeld: 80.-       + Taschengeld: 160.-          wird als fixer Betrag ausgewiesen
1974     430.-                     650.-
         + Taschengeld: 90.-       + Taschengeld: 180.-
1980     475.-                     715.-
         + Taschengeld: 100.-      + Taschengeld: 200.-
1982     510.-                     765.-
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:
         te: 120.-                 240.-
1985     510.-                     765.-                         Taschengeld wird „frei verfügbare Quote“
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:
         te: 120.-                 240.-
1987     560.-                     820.-
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:
         te: 135.-                 270.-
1989     590.-                     860.-
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:
         te: 150.-                 300.-
1991     640.-                     930.-                         Erstmals Empfehlungen für Integrationspro-
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:      gramme
         te: 150.-                 300.-
1992     670.-                     1000.-                        Erste Ansätze zu Pauschalisierung, Einfüh-
         + Frei verfügbare Quo-    + Frei verfügbare Quote:      rung Erwerbsunkosten
         te: 150.-                 300.-

1998     1010.- + GBII: 45.- bis   1545.- + GBII: 70.- bis       Vervollständigung Pauschalisierung, Einfüh-
         100.-                     155.-                         rung GB I (ab 3. Person) und GB II (Teilnah-
                                                                 me am sozialen Leben), „frei verfügbare Quo-
                                                                 te“ im Grundbedarf inbegriffen
2003     1030.- + GBII: 46.- bis   1576.- + GBII: 71.- bis
         160.-                     244.-
2005     960.-                     1469.-                        Einführung: EFB (400 bis 700); IZU (100 bis
                                                                 300), MIZ (100); Abschaffung GBI und GBII
2011     977.-                     1495.-                        Plus EFB, IZU, MIZ
2013     986.-                     1509.-                        Plus EFB, IZU, MIZ
2016     986.-                     1509.-                        Absenkung für Jugendliche, Grossfamilien,
                                                                 Abschaffung MIZ

17
   Bis zur Einführung der Pauschalisierung wurden “zusätzliche Hilfen nach Bedarf » ausbezahlt und zwar
hauptsächlich für Bekleidung, Heizung, Gesundheitspflege, Sozialabgaben, Verkehrsausgaben, Bildung und
Erholung. Bis 1972 figurierte auch das „Taschengeld“ unter dieser Rubrik. Diese Posten sind heute weitgehend
in den Grundbedarf integriert.

                                                                                                                9
Denknetz Grundlagen                                 Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

5 Der Paradigmawechsel von 2005                     wird die Referenzgrösse auf die 10% einkom-
                                                    mensschwächsten Haushalte herabgesetzt.
Die Revision der SKOS-Richtlinien von 2005          Somit wird auch der Grundbedarf um rund 7%
kann als eigentlicher Paradigmawechsel be-          gesenkt und gleichzeitig der GBI und der GBII
zeichnet werden, indem nun die Leistungsori-        abgeschafft. Dem Anreizprinzip folgend wird
entierung zuungunsten der bisher vorherr-           im Gegenzug das bereits erwähnte Zulagensy-
schenden Bedarfsorientierung in den Vorder-         stem eingeführt: Es umfasst den Einkommens-
grund tritt. Der bereits in den 90er-Jahren des     freibetrag (EFB von 400 bis 700 Franken) für
letzten Jahrhunderts entstandene Begriff des        erwerbstätige SozialhilfebezügerInnen, der die
„aktivierenden Sozialstaates“ hält nun auch in      bereits bestehende Erwerbsunkostenpauschale
der Sozialhilfe Einzug. Mit der Einführung von      (250 Franken) ablöst. Für nicht erwerbstätige,
„arbeitsmarktlichen Massnahmen“ im soge-            aber an Integrationsmassnahmen teilnehmende
nannten Solothurner Kompromiss in der Ar-           BezügerInnen wird die Integrationszulage
beitslosenversicherung kam die Leistungsori-        (IZU von 100 bis 300 Franken) geschaffen.
entierung im schweizerischen Sozialwesen als        Schliesslich entsteht auch die minimale Inte-
erstes zum Tragen. Nach dem massiven An-            grationszulage MIZ 100 Franken) für Perso-
steigen der Arbeitslosenzahlen zu Beginn der        nen, welche vor allem aus gesundheitlichen
90er Jahre steht die Forderung im Zentrum,          Gründen nicht in der Lage sind, an einer Inte-
dass „Arbeit sich lohnen solle“, und dass die       grationsmassnahme teilzunehmen oder wel-
SozialhilfebezügerInnen durch finanzielle An-       chen von den zuständigen Behörden keine
reize wieder in den Arbeitsmarkt zurückge-          Angebote an Integrationsmassnahmen zu Ver-
führt werden sollen. Dieser Anreiz wird im          fügung gestellt werden.
doppelten Sinne verstanden, und zwar so, dass
einerseits Arbeitsbemühungen und andere Ak-         Die Änderungen in den SKOS-Richtlinien vom
tivitäten finanziell belohnt, andererseits Nicht-   Jahre 2005 können auch deshalb als Paradig-
bemühungen und Nichtkooperation finanziell          mawechsel verstanden werden, weil erstmals
sanktioniert werden sollen. Der Leitspruch          in der Geschichte der SKöF / SKOS die
heisst von nun an „Fördern und Fordern“, wo-        Grundansätze im Zeichen des „aktivierenden
bei in der folgenden Praxisumsetzung an vielen      Sozialstaates“ gesenkt werden. Allerdings wird
Orten vor allem dem zweiten Prinzip nachge-         diese Senkung in jenem Zeitpunkt durch die
lebt wird.                                          Einführung der Zulagen noch teilweise kom-
Im Zeichen der Finanzkrise gewinnen auch            pensiert, was in der nachfolgenden Revision
finanzielle Erwägungen immer mehr an Be-            von 2015 nicht mehr der Fall ist. Die hehre
deutung. Steigende Bezügerzahlen und Ausga-         Absicht dieser Kompensation wird in der Folge
ben setzen die SKOS unter Druck, sich den           aber vielmals unterlaufen, weil einerseits die
neuen Gegebenheiten anzupassen. Einzelne            Gewährung der Zulagen von Kanton zu Kan-
nicht unbedeutende Kantone wie beispielswei-        ton sehr unterschiedlich ist und zuweilen kaum
se Zürich drohen mit der Herausgabe eigener         einen Drittel der BezügerInnen erreicht (siehe
Richtlinien, und stellen somit das einzige na-      dazu Kapitel 4). Andererseits steht nun an vie-
tionale Regelwerk im Bereiche der Sozialhilfe       len Orten die Sanktions- und Zwangsfunktion
in Frage. Im Jahre 2004 gibt die SKOS eine          und nicht das „Fördern“ im Vordergrund.
Studie zur „Evaluation der Richtlinien der
SKOS“ in Auftrag (Gerfin, 2004). Diese
kommt zum Schluss, dass die Unterstützungs-         6. Die Polemik der SVP: Vom An-
ansätze „aufgrund der empirischen Befunde
tendenziell zu hoch“ seien, da die damals gül-      griff gegen die Scheininvaliden zur
tige Referenzgrösse für die Berechnung dieser       Diffamierung der SKOS und der
Ansätze, sich am Konsumverhalten der 20%            „Sozialindustrie“
einkommensschwächsten Haushalte zu mes-
                                                    Die Polemik der schweizerischen Volkspartei
sen, impliziere, dass „dies die Armutspopulati-
                                                    gegen den schweizerischen Sozialstaat ist
on ist, d.h. dass die Armutsquote 20% beträgt“,
                                                    nichts Neues. Die Durchsicht der Parteiäusse-
und somit zu hoch sei. Sie seien aber auch zu
                                                    rungen der letzten 15 Jahre zeigt allerdings,
hoch im Hinblick auf die potentielle Anreiz-
                                                    dass die Sozialhilfe und die SKOS zu Beginn
wirkung auf die BezügerInnen, eine Erwerbs-
                                                    des neuen Millenniums noch nicht im Fokus
arbeit anzunehmen. In der Folge dieser Studie
                                                    stehen. Die Parteistrategen richten in dieser

                                                                                                        10
Denknetz Grundlagen                               Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

Zeit ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die        „ Explodierende Sozialausgaben und ausufern-
Schweizerische Invalidenversicherung und          de Sozialbürokratie“ wird behauptet, dass die
lancieren den Begriff der Scheininvaliden         Kostenexplosion bei der Sozialhilfe bedrohli-
(Schweizerische Volkspartei SVP, 2004):           che Züge annehme. Und weiter:
 „Um die Invalidenversicherung steht es
schlecht. Die Zahl der IV-Rentenbezüger hat       „Die Ausgaben von Bund, Kantonen und Ge-
sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdop-    meinden für die Sozialhilfe haben sich zwi-
pelt und wächst immer schneller. Aus dem          schen 2003 und 2012 verdoppelt und betrugen
Sozialwerk für Invalide ist ein Topf für Miss-    2012 satte 2,4 Milliarden Franken. Darüber
brauch und Zweckentfremdung geworden.“            hinaus zeigen inzwischen diverse Einzelfälle,
Ab 2007 verschiebt sich der Fokus. Im Partei-     dass Gemeinden die Kosten dieser uferlosen
programm 2007-2011 (Schweizerische Volks-         Sozialpolitik nicht mehr bezahlen können. Die
partei SVP, 2007: 16) wird dem Thema Sozi-        dadurch ausgelösten Steuererhöhungen sind
alhilfe nun ein eigener Abschnitt gewidmet.       für die Steuerzahler nicht tragbar. In der Stadt
Darin wird behauptet, dass die SKOS Ansätze       Biel (BE) gehen beispielsweise rund 80 Pro-
zu hoch seien und die Sozialhilfe massiv miss-    zent der Steuereinnahmen von 137 Millionen
braucht werde. Es gelte, die Fehlanreize aus-     Franken in die Sozialhilfe. Aufgrund des star-
zumerzen. Folgende Forderungen werden er-         ken Finanzausgleichs im Kanton Bern bezah-
hoben:                                            len dies insbesondere die Gebergemeinden. In
    -­‐ Einstellen der Leistungen bei Fehlver-    Freienstein-Teufen (ZH) kostet ein einziger
         halten wie Verletzung der Mitwir-        Sozialfall mit 270‘000 Franken vier Prozent
         kungspflichten oder Nichteinhaltung      der Steuereinnahmen.“
         von Auflagen;
    -­‐ Einsetzen von Sozialdetektiven und        Die Schuldigen sind auch bald benannt: „Die
         Lockerung des Datenschutzes;             SKOS steht unter der Fuchtel der Sozialroman-
    -­‐ Intensivierung der Verwandtenunter-       tiker“. Die Kostenexplosion, die die SVP ortet,
         stützung.                                resultiere nicht aus einer Zunahme von Ar-
                                                  mutsfällen, sondern aus zu hohen Grundlei-
Im Parteiprogramm 2011-2015 wird weiter an        stungen, Missbräuchen und einer sozialroman-
der Schraube gegen die Sozialhilfebeziehenden     tischen Weltanschauung der Sozialindustrie.
gedreht. Explizit wird eine Korrektur der         Und weiter:
SKOS-Ansätze nach unten gefordert (Schwei-        „Die sogenannte Professionalisierung, d.h. der
zerische Volkspartei SVP, 2011: 78). Unter        vermehrte und meist unverhältnismässige Ein-
dem Titel „Sozialhilfe darf keine Hängematte      bezug von Spezialisten wie Juristen, Treuhän-
sein“ wird behauptet, dass die hohen Ansätze      dern, Psychiatern, Coaches und Sozialarbei-
das soziale Netz in denjenigen Kantonen, die      tern hat das System zusätzlich verteuert und
die SKOS Richtlinien übernehmen, zu einer         führt zu einer Überversorgung und Pathologi-
bequemen Hängematte machen. „Die Kantone          sierung Bedürftiger, sowie zu einer Ausweitung
sind gefordert, die Sozialhilfegesetzgebung so    der Betreuung über die Bedürftigkeit hinaus.
auszugestalten, dass die Sozialhilfe nicht län-   Es ist eine regelrechte Sozialbürokratie und
ger ausgenutzt werden kann. Wer sich nicht        Sozialindustrie entstanden.“
um Integration und Arbeit bemüht, soll auch       Der daraus abgeleitete Forderungskatalog ist
keine Hilfe bekommen.“                            lang. Neben dem bereits im Parteiprogramm
Vier Jahre später, im Programm 2015-2019,         geforderten Austritt der Gemeinden, Städte,
wird die Stimmung gegen die Sozialhilfe wei-      Kantone und Amtsstellen aus der SKOS und
ter angeheizt (Schweizerische Volkspartei         der grundsätzlichen Anpassung der SKOS-
SVP, 2015b: 57). Die Verbindlichkeit der          Richtlinien nach unten wird die Verankerung
SKOS-Richtlinien soll nun gemäss SVP aus          des Grundsatzes „wer zahlt, befiehlt“ verlangt,
allen kantonalen Soziahilfegesetzen gestrichen    d.h. Verantwortung und Finanzierung der So-
werden und das Milizsystem gegenüber der          zialhilfe sollen auf Gemeindeebene verankert
Professionalisierung Vorrang haben. Im Posi-      werden. Regelmässiger Sozialhilfebezug soll
tionspapier aus dem gleichen Jahr (Schweizeri-    zum Entzug der Aufenthaltsbewilligung führen
sche Volkspartei SVP, 2015a) mit dem Titel        und ausländische SozialhilfebetrügerInnen
                                                  konsequent ausgeschafft werden. Last but not
                                                  least sollen die Ausbildungslehrgänge und

                                                                                                      11
Denknetz Grundlagen                                   Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

Studienplätze im Sozialbereich deutlich redu-        Das Positionspapier hat den Charakter eines
ziert werden. Statt hochgeschulter Sozialarbei-      eigentlichen Kampagnenpapiers: Die Hälfte
terInnen sollten bei der täglichen Bewältigung       des Dokuments entfällt auf Musteranträge auf
der Herausforderungen der Sozialhilfe und            Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene (Inter-
Vormundschaft vor allem Berufsleute mit wirt-        pellationen, Anfragen, Postulate, Motionen),
schaftlicher Denkweise und Zusatzausbildung          die den Abbau der Sozialhilfe, den Austritt aus
nebenamtlich eingesetzt werden.                      der     SKOS    etc.   zum      Ziel   haben.

Die Armen als Sündenböcke – kein neues Phänomen
Menschen in Armut zu Sündenböcken zu machen ist leider kein neues Phänomen. Bereits im 14. Jahr-
hundert wurden die Armen, die lange Zeit als Ebenbild Christi betrachtet wurden, in den Städten des
sogenannt christlichen Abendlandes zur Projektionsfläche der Ängste der damaligen Menschen. Ab
dem 15. Jahrhundert wurden in den rasch wachsenden Städten Bettlergesetze, Verordnungen gegen
Müßiggänger und Vagabunden erlassen. Armut wurde nicht mehr wie bislang als Tugend, sondern als
Folge von Müssiggang denunziert. Die Armen sollten sich an neue Verhaltensmassregeln wie Gehor-
sam und Arbeitsdisziplin gewöhnen. Den auswärtigen Armen wurde das Betteln in der Stadt verboten.
Generell wurde der Zuzug von Armen in die Städte erschwert, denn Bettler wurden verantwortlich
gemacht für die Ausbreitung von Pest und anderen Krankheiten.
Was vor mehr als fünfhundert Jahren galt, gilt auch heute: Fühlen sich Menschen bedroht, richten sie
ihre Aggressionen auf Gruppen, die leicht identifizierbar und machtlos sind. „Dies kann auch mittels
einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit
dem Ziel, bestimmte soziale, ethnische oder politische Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Kri-
senerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation ab-
zulenken. Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine iden-
titätsstiftende Funktion bekommen.“ (Wikipedia, 2016). Diese Formulierung trifft ins Schwarze: Die
politische Elite der Schweizer Rechten, der Schweizerischen Volkspartei SVP, macht die Armen in
diesem Land, die Sozialhilfebeziehenden und die Asylsuchenden, zum Feindbild. Damit lenkt sie ihre
Klientel von der realen Ursachen ihrer Probleme ab: der Bedrohung des kollektiven Abstiegs im Zug
der Globalisierung. Anstatt ein zukunftsgerichtetes politisches Projekt gegen den Bedeutungsverluste
der bisherigen beruflichen Qualifikationen zu formulieren und real etwas gegen Stellenabbau, Lohn-
druck, steigende Ungleichheit und ungerechte Steuerbelastung zu unternehmen, wird schlicht behaup-
tet, die Armen stellten die wahre Gefährdung des Gemeinwesens dar und höhlten zusammen mit den
Asylsuchenden die Grundlagen unseres Staates aus.

7. Die Revision SKOS-Richtlinien                     über den „Sozialschmarotzer Beat“. Durch
                                                     einen Bundesgerichtsentscheid18 wehrt sich
2015                                                 dieser erfolgreich gegen den Entscheid der
Die Kampagne gegen die Sozialhilfe ver-              Gemeinde, die Sozialhilfe wegen „unkoopera-
schärft sich                                         tiven“ Verhaltens einzustellen. Das Urteil
                                                     weist auf Verfahrensmängel der Gemeinde hin
Die orchestrierte Kampagne der SVP gegen             und hält fest, dass renitentes Verhalten nicht
die Sozialhilfe beginnt Früchte zu tragen. Ver-      mit missbräuchlichem Verhalten gleichzuset-
schiedene Einzelfälle werden hochgespielt –          zen sei. Diese Position wird vom damaligen
wie beispielsweise der „BMW-Fall“ in Zürich          Präsidenten der SKOS verteidigt mit der Be-
– und unbesehen auf das ganze System über-           gründung, dass auch unkooperative KlientIn-
tragen. Die strukturellen Probleme, denen sich       nen Anrecht auf Sozialhilfe hätten, was ver-
die Sozialhilfe ausgesetzt sieht, werden dabei       schiedene Gemeinden veranlasst – darunter
geflissentlich übersehen. In der Stadt Bern          Rorschach, Dübendorf und auch Berikon –
wird ohne jegliche empirische Grundlage be-          medienwirksam ihren Austritt aus der SKOS
hauptet, 30% der Sozialhilfefälle seien Miss-
brauchsfälle. Im Jahre 2013 entfacht die Aar-
gauer Gemeinde Berikon einen Mediensturm             18
                                                          BGE: 8C_500/2012

                                                                                                          12
Denknetz Grundlagen                                   Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

bekannt zu geben, weil sie sich einseitig für die     lich zum Grundbedarf für Grossfamilien, für
SozialhilfebezügerInnen einsetze.                     junge Erwachsene, zu den Zulagen, zu Schwel-
In der Zeit zwischen Mitte 2013 und Mitte             leneffekten, Sanktionen und schliesslich zu
2015 werden in nicht weniger als 17 Kantons-          den situationsbedingten Leistungen. Die Er-
parlamenten Vorstösse zur Sozialhilfe einge-          gebnisse der Vernehmlassung werden im Mai
reicht, parallel dazu auch in einer Vielzahl von      2015 publiziert (Schweizerische Konferenz für
Gemeinden. Urheberin ist in vielen Fällen die         Sozialhilfe SKOS, 2015) und lassen sich wie
SVP, doch nun werden auch FDP, CVP, EDU               folgt zusammenfassen:
und manchmal die GLP aktiv. In vielen dieser
Vorstösse wird der Austritt aus der SKOS ge-              •   Allgemeiner Grundbedarf: 50% der
fordert. Dies wird aber in mindestens fünf                    antwortenden SKOS-Mitglieder unter-
Kantonen und 14 Gemeinden abgelehnt. Wei-                     stützen zumindest den Status quo
tere Vorstösse beziehen sich auf das Verbot                   (81% in der Romandie);
des Autobesitzes, die Verschärfung der Sank-
tionen, die Absenkung des Grundbedarfs, die               •   Ansätze für Grossfamilien ab sechs
Rechtsverbindlichkeit der SKOS-Richtlinien                    Personen: 62% sprechen sich für die
und sogar die Befristung von Sozialhilfelei-                  Beibehaltung der bestehenden Pau-
stungen.                                                      schalisierung aus;

                                                      • 87% sind für reduzierte Ansätze für junge
Die Reaktion der SKOS                                   Erwachsene mit eigenem Haushalt, welche
                                                        keine Ausbildung absolvieren, keine Kinder
Durch die tatsächlichen oder angedrohten Aus-           betreuen und nicht arbeiten;
tritte und den anhaltenden Mediensturm gerät
die SKOS zunehmend unter Druck. Sie ent-              • Zulagen: Beibehaltung des Einkommens-
schliesst sich im Jahre 2014 zwei Studien in            freibetrages (EFB): 91%; Beibehaltung der
Auftrag zu geben, die eine an das Bundesamt             Integrationszulage (IZU): 83%; Beibehal-
für Statistik zur Überprüfung des Grundbedarfs          tung der Minimalen Integrationszulage
(Bundesamt für Statistik, 2014), die zweite an          (MIZ): 51%;
das Büro BASS zur „Evaluation der Leistun-
gen mit Anreizcharakter gemäss SKOS-                  • Klarere Regelungen zur Vermeidung von
Richtlinien“ (Dubach & et al., 2015). Die Er-           Schwelleneffekten: 71% Zustimmung;
gebnisse der beiden Studien werden anfangs            • Sanktionen: allgemeine Beibehaltung des
2015 veröffentlicht. Die erste gelangt zum              heutigen Systems: 81% Zustimmung; aber
Schluss, dass der Grundbedarf für Ein- und              Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten:
Zweipersonenhaushalte um rund 100 Franken               86% Zustimmung (62% in der Romandie);
zu tief angesetzt sei. Die zweite Studie sieht
sich ausserstande, die Wirksamkeit dieser             • Situationsbedingte Leistungen (SIL): Bei-
„Leistungen mit Anreizcharakter“ aufgrund               behaltung der heutigen Form: 77% Zu-
der bestehenden statistischen Datensätzen tat-          stimmung.
sächlich messen zu können. Sie stellt aber fest,
dass die Gewährung von Zulagen von Kanton             Abgesehen von den Stellungnahmen zu den
zu Kanton äusserst unterschiedlich gehandhabt         Ansätzen für junge Erwachsene lassen diese
wird (siehe dazu auch Kapitel 4).                     Ergebnisse nicht den Schluss zu, dass ein drin-
In der Folge dieser Studien kündigt die SKOS          gender Bedarf nach einer Reform der SKOS-
anfangs 2015 eine Revision der Richtlinien an         Richtlinien besteht. Trotzdem gelangt im Mai
und eröffnet dazu eine Vernehmlassung bei             2015 die SKOS zusammen mit der SODK
ihren Mitgliedern. 70% der knapp 1000 Mit-            (Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen
glieder nehmen daran teil. Im Rahmen der              und Sozialdirektoren) mit der Ankündigung an
Vernehmlassung kann allgemein zum Grund-              die Öffentlichkeit, dass die SKOS-Richtlinien
bedarf19 Stellung genommen werden, zusätz-            in folgender Weise geändert werden sollen:

19
  Es stehen vier Varianten zum Grundbedarf zur
Debatte: (1) Status quo, (2) Erhöhung Grundbedarf
gemäss Studienergebnissen, (3) Erhöhung bei klei-     quo bei kleinen, Reduktion bei grösseren Haushal-
nen, Reduktion bei grösseren Haushalten, (4) Status   ten.

                                                                                                          13
Denknetz Grundlagen                                 Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen

•    Grossfamilien: Der Grundbedarf wird bei       auf eine überwiegende Zustimmung gestossen
     Haushalten ab 6 Personen um 76 Franken        waren. Durch die Nichtbeachtung der Resulta-
     pro Person und Monat reduziert;               te der erwähnten Studien desavouiert die
                                                   SKOS sich selbst. Sie verabschiedet sich vom
•    Junge Erwachsene: Die Ansätze für junge       Prinzip, ihre Entscheide wissenschaftlich abzu-
     Erwachsene bis 25 Jahre mit eigenem           stützen, wie sie dies anlässlich der Revision
     Haushalt werden von heute 986 Franken         2005 durch die „Gerfin-Studie“ noch getan
     um 20% auf 789 Franken reduziert;             hatte. Zudem kündigt die SKOS eine „zweite
                                                   Revisionsetappe an“, die auf den 1. Januar
•    Sanktionen: In schwerwiegenden Fällen
                                                   2017 in Kraft gesetzt werden soll. Diese zweite
     kann der Grundbedarf bis 30% gekürzt          Etappe umfasst folgende Bereiche:
     werden. Damit besteht neu eine Bandbrei-
     te für Sanktionen von 5% bis 30%;             •    Überprüfung der situationsbedingten Lei-
•    Integrationszulage: Die minimale Integra-          stungen (SIL)
     tionszulage (MIZ) wird abgeschafft.           •    Empfehlungen zur Verminderung von
                                                        Schwelleneffekten
Zum ersten Mal in der Geschichte der SKOS          •    Abgrenzung zwischen Sozialhilfe und
wird also der Grundbedarf zumindest für ge-             Nothilfe
wisse Bezügergruppen ohne Kompensation             •    Empfehlungen zu den Mietkosten
nominal gesenkt. Zudem wird dadurch auch           •    Empfehlungen zur Arbeitsintegration von
die Referenzgrösse für die Bestimmung des               Müttern
Grundbedarfs, sich an den 10% einkommens-
schwächsten Haushalten zu messen, implizit         Die Diskussion um die Sozialhilfeleistungen
aufgegeben20. Wenn aber keine Referenzgrösse       ist damit definitiv auf der politischen Ebene
mehr besteht, ist die Gefahr gross, dass in Zu-    angelangt. Angesichts des herrschenden politi-
kunft die Bestimmung des lebensnotwenigen          schen Kräfteverhältnisses muss befürchtet
Grundbedarfs nur noch Spielball des herr-          werden, dass mit einem weiteren Abbau der
schenden politischen Kräfteverhältnisses wird.     Leistungen gerechnet werden muss.

Die SODK übernimmt den Lead                        8. Die Büchse der Pandora ist geöff-
Die Revision wird von der SODK an ihrer
                                                   net
Sitzung vom 21. September 2015 definitiv           Der Wettlauf nach unten ist eröffnet, die Büch-
gutgeheissen. Die beiden Konferenzen hatten        se der Pandora ist geöffnet. Das zeigt das Bei-
sich nämlich bereits im Herbst 2014 geeinigt,      spiel des Kantons Bern. Hier überweist der
dass zukünftig die SODK die Sozialhilfericht-      Grosse Rat 2013 eine Motion der SVP mit dem
linien erlassen werde. Obwohl mit diesem           Titel „Kostenoptimierung in der Sozialhilfe“,
Übergang zu einem politischen Organ (SODK)         welche eine generelle Absenkung der Sozial-
eine gewisse Erhöhung der Legitimation der         hilfeansätze um 10% verlangt21. Diese Forde-
SKOS-Richtlinien erwartet werden kann, ver-        rung ist umso stossender, als der Kanton Bern
abschiedet sich die SKOS damit von ihrer her-      nicht einmal den von der SKOS empfohlenen
kömmlichen Funktion als Fachorgan und ver-         Teuerungsausgleich der Sozialhilfeansätze von
lagert damit auch die Auseinandersetzung um        2013 nachvollzieht. Der Regierungsrat eröff-
die Ansätze in der Sozialhilfe definitiv auf die   net dazu eine Vernehmlassung zur entspre-
Ebene der politischen Auseinandersetzung.          chenden Revision des Sozialhilfegesetzes22.
Dies zeigt sich auch darin, dass mehrere Revi-
sionspunkte in der fachlichen Diskussion (sie-     21
                                                      Im Wallis wird kurz darauf eine fast gleichlau-
he Vernehmlassungsergebnisse) keineswegs           tende Motion, diesmal seitens CVP, eingereicht.
                                                   22
                                                      Im Revisionsvorschlag des Sozialhilfegesetzes
20
  Neben dem Verzicht auf die Absenkung des         des Regierungsrates wird nicht nur reine Reduktion
Grundbedarfs für junge Erwachsene und Grossfa-     der Ansätze für junge Erwachsene vorgeschlagen,
milien, hätte der Grundbedarf für Ein- und Zwei-   sondern auch für den Regierungsrat die Möglich-
personenhaushalte unter Beibehaltung der Refe-     keit eröffnet, „für weitere Personengruppen die
renzgrösse von 10% gemäss Studie des BFS um        wirtschaftliche Hilfe einzuschränken“ (Art. 30,
rund 100 Franken erhöht werden müssen.             Antrag Regierungsrat, Änderung SHG). Würde

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