Fallgruben und Sackgassen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Fallgruben und Sackgassen Zur Entwicklung der schweizerischen Sozialhilfe in den letzten Jahrzehnten April 2016 Ruth Gurny und Ueli Tecklenburg Bedrohliche Kostenexplosion bei der Sozialhilfe, Missbrauch und sozialromantische Exzesse, boomende Sozialbranche und überstrapazierte Solidarität - die Sozialhilfe stellt seit einiger Zeit das beliebteste Angriffsziel der politischen Rechten in unserem Land dar, gleich neben den AusländerInnen und den Asylsuchenden. Seit Jahren legt die SVP politische Fallstricke aus und diktiert die politische Agenda. Leider erfolgreich, wie man sehen kann: In den letzten zwei Jahrzehnten fand eine massive Senkung des Leistungsniveaus der Sozialhilfe statt. Par- allel zur Kürzung der Leistungen wurde der Druck auf die Sozialhilfebeziehenden massiv erhöht. Als Bedingung für den Sozialhilfebezug werden Arbeitsleistungen gefordert und das Sanktionssystem und die Kontrollmassnahmen wurden drastisch verschärft. Das Kerngeschäft der sozialen Arbeit, die Unterstützung und Betreuung der vom Ausschluss bedrohten Perso- nen, droht unterzugehen. Die föderalistische Struktur der schweizerischen Sozialhilfe führt ihrerseits zu kantonalen Unterschieden, welche die Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit massiv in Frage stellen. Es besteht kein Zweifel: nicht nur die Sozialhilfebeziehenden befin- den sich in einer Notlage, sondern auch die schweizerische Sozialhilfe selbst. Der vorliegende Text räumt mit den vielen Unwahrheiten und Falschinformationen unserer politischen Gegner auf: Wir dokumentieren die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten mit dem Ziel, die Diskussion rund um die Sozialhilfe auf eine sachliche Ebene zu stellen und den Weg heraus aus der Sackgasse zu zeigen.
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen 1. Von der Einzelfallhilfe zur abhängig sind. Die soziale Sicherung trägt Abdeckung struktureller Risiken dieser Entwicklung nur begrenzt Rechnung . Die ebenfalls steigende Scheidungsrate führt „Braucht die Schweiz eine neue Sozialhilfe?“, zu einer steigenden Anzahl von Einelternfami- fragten sich Knöpfel / Ferroni in ihrem Artikel lien, dabei handelt es sich in den meisten Fäl- bereits im Jahre 1999 und verwiesen damit auf len um Haushalte alleinerziehende Mütter. den schleichenden Funktionswandel der Sozi- Mangelnde Vereinbarkeit von Berufstätigkeit alhilfe. Obwohl seither über 15 Jahre vergan- und Kinderbetreuung, die damit verbundene gen sind, hat der Text nichts von seiner Aktua- notwendige Teilarbeitszeit, Erwerbstätigkeiten lität eingebüsst. Im Gegenteil: die von den vielmals im unteren Lohnbereich sind hier die Autoren beschriebenen Entwicklungen haben Stichworte. Die Konsequenzen sind seit Jahren sich in der Zwischenzeit sogar noch verstärkt. bekannt. Auch neueste Zahlen (Bundesamt für Auf der anderen Seite hat es die Sozialpolitik Statistik, 2015) zeigen, dass die Sozialhilfe- der letzten Jahre weitgehend unterlassen, den quote mit 18,8% bei Einelternhaushalten die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das weitaus höchste ist im Vergleich mit allen System der schweizerischen sozialen Sicher- Haushaltstypen (Unterstützungsquote aller heit im Allgemeinen und auf die Sozialhilfe im Haushaltstypen: 4,6%). Besonderen Rechnung zu tragen. So gilt denn Die neuen Erwerbsbiographien sind direkt mit auch heute noch weitgehend, dass: „die zentra- dem wirtschaftlichen Strukturwandel verbun- len Säulen, auf denen das System der sozialen den. Die für Schweizer Verhältnisse auf einem Sicherung in der Schweiz basiert, die traditio- relativ hohen Niveau verharrende Arbeitslo- nelle Familienform und die Vollbeschäftigung senquote führt dazu, dass viele Erwerbsbiogra- sind. Beide Stützen haben sich radikal verän- phien eine oder mehrere Phasen von Erwerbs- dert“ (Knöpfel & Ferroni, 1999). losigkeit aufweisen. Für ältere Erwerbstätige wird es zunehmend schwieriger, wieder auf Der neoliberale wirtschaftliche Struktur- dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Aus dem wandel neuesten Sozialbericht des Kantons Bern geht hervor, dass sich die Armutsgefährdungsquote, Der neoliberale Strukturwandel in der Wirt- also der Anteil jener Personen, deren Einkom- schaft, gekennzeichnet durch Liberalisierung men sich unter dem Niveau der Armutsgefähr- und Deregulierung der Märkte, Verschärfung dung befindet, bei den 51-60jährigen zwischen des internationalen Wettbewerbs und die Op- 2001 und 2013 um mehr als Hälfte vergrössert timierung des Standort-Portfolios, aber auch hat (Regierungsrat des Kantons Bern, 2015). der Abbau von Arbeitsplätzen und die Obso- Sinkende Integration in den Arbeitsmarkt wird leszenz gewisser hergebrachter beruflicher dabei als hauptsächlichster Erklärungsfaktor Fähigkeiten führt gemäss den Autoren dazu, angeführt. Doch auch (nicht erwünschte) Teil- dass der Sozialstaat nur noch als Standortfaktor zeitarbeit, Arbeit auf Abruf, befristete Arbeits- interpretiert wird. Dieser wirtschaftliche Struk- verhältnisse führen vielmals zu ungenügendem turwandel wird zwar in der Öffentlichkeit oder wechselhaftem Einkommen, welches wahrgenommen, nicht aber der parallel dazu durch die Sozialhilfe kompensiert werden verlaufende soziale Strukturwandel und seine muss. Auch unabhängig vom Alter sind vor Folgen für das System der sozialen Sicherung. allem niedrigqualifizierte Personen vom Aus- Gemäss den Autoren sind dabei drei Bereiche schluss aus dem Arbeitsmarkt bedroht. So besonders zu beachten: verfügen gemäss den neuesten Zahlen zur So- zialhilfe die Hälfte der BezügerInnen (50,3%) • Wandel der Lebensformen über keine nachobligatorische Bildung (Bun- • Neue Erwerbsbiographien desamt für Statistik, 2015). • Auswirkungen der Migration Die Zusammensetzung der Migrationspopula- tion hat sich in den letzten Jahrzehnten stark Der Wandel der Lebensformen zeigt sich im verändert. Während in den 50er und 60er Jah- Wandel der traditionellen Familienform: die ren des letzten Jahrhunderts ein Grossteil der steigende Erwerbstätigkeit der Frauen führt Einwanderer aus dem südlichen Europa dazu, dass ihre Sozialversicherungsansprüche stammte – sie kamen über das Saisonnierstatut, immer weniger von denjenigen des Ehemannes gegebenenfalls über den späteren Familien- 2
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen nachzug in die Schweiz – verlagerte sich in der trägt dieser Veränderung Rechnung. Dieser Folge der Kreis der Herkunftsländer auf au- Funktionswandel zeigt sich unter anderem klar ssereuropäische Länder, vor allem auf Afrika, in der Entwicklung der Bezugsdauer. Laut Asien und Lateinamerika. Mit Inkrafttreten der neuester Sozialhilfestatistik (Bundesamt für Personenfreizügigkeit setzte eine sogenannte Statistik, 2015) stieg der Medianwert der Be- „neue Zuwanderung“ von hoch qualifizierten zugsdauer seit 2008 um vier Monate von 19 Arbeitskräften vor allem aus Nord- und West- auf 23 Monate. Wenn aber die Hälfte aller europa ein. Diese scheint zwar in allerletzter Sozialhilfebeziehenden schweizweit über zwei Zeit ihren Höhepunkt überschritten zu haben, Jahre auf diese Unterstützung angewiesen sind, bleibt aber bedeutend. Die aussereuropäische kann schwerlich noch von einer Unterstützung Immigration – abgesehen von der aktuellen in einer vorübergehenden Notlage gesprochen Flüchtlingsproblematik – wird bereits zuweilen werden. als „alte Zuwanderung“ bezeichnet. Ein nicht unbedeutender Anteil dieser Personen verfügt über keine oder eine niedrige berufliche Aus- 2. Die rechtliche Verankerung der bildung. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt Sozialhilfe wird zusätzlich durch Diskriminierungen und / Die Sozialhilfe in der Schweiz unterliegt dem oder Nichtanerkennung ihrer trotzdem beste- sogenannten Subsidiaritätsprinzip. Das heisst, henden beruflichen Qualifikation erschwert. sie kommt erst zum Tragen, wenn alle anderen Dies erklärt weitgehend die Tatsache, dass möglichen Einnahmequellen (Erwerbs-, Ren- heute 46,7% der SozialhilfebezügerInnen aus- ten-, Kapitaleinkommen, Einnahmen aus ande- ländischer Nationalität sind. Dabei sind die ren Bedarfsleistungen, usw.) nicht vorhanden, Sozialhilfequoten je nach Herkunftsregion ungenügend oder nicht rechtzeitig erhältlich äusserst unterschiedlich. Während die Einwan- sind. Ungenügend heisst, dass sich die Ein- derer aus EU-Ländern eine mit den Schweizern kommen unter den Ansätzen für die Sozialhilfe vergleichbare Sozialhilfequote aufweisen befinden. Sie wird deshalb auch als bedarfsab- (3,2%), steigt diese bei den Einwanderern aus hängige Sozialleistung bezeichnet. Die Sozial- Asien auf 11,8%, aus Lateinamerika auf 13%, hilfe folgt dem sogenannten Finalitätsprinzip, und aus Afrika gar auf 28,8% (Bundesamt für das heisst, sie wird unabhängig vom Grund für Statistik, 2015). Der Ausschluss aus dem Ar- die Armut gewährt. Dies im Gegensatz zu den beitsmarkt zeigt sich auch bei den anerkannten Sozialversicherungen, welche dem Kausali- Flüchtlingen und den vorläufig aufgenomme- tätsprinzip folgen. Sie wird über allgemeine nen Personen. Von ihnen sind rund 80% auf Steuermittel finanziert und nicht wie die Sozi- Sozialhilfeunterstützung angewiesen. 59% alversicherungen über Beitragszahlungen. dieser Personen verfügen über keine berufliche Ausbildung und 84,8% sind Erwerbslose oder Die Sozialhilfe in der Bundesverfassung Nichterwerbspersonen (ibid.). Gemäss Artikel 115 der Bundesverfassung Von der vorübergehenden zur dauerhaften liegt die Sozialhilfe in der Kompetenz der Unterstützung Kantone, welche sie ganz oder teilweise an die Gemeinden weiter delegieren können. Die Die erwähnten Risiken werden vom schweize- Kantone sind zur Gewährung der Sozialhilfe rischen System sozialer Sicherung auch heute verpflichtet, denn Artikel 12 der Bundesverfas- noch nur ungenügend abgedeckt und führen sung bestimmt: „Wer in Not gerät und nicht in dazu, dass sich die Sozialhilfe – als letztes der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, hat An- soziales (subsidiäres) Auffangnetz - in den spruch auf Hilfe und Betreuung und auf Mittel, letzten 20 Jahren von der Unterstützung im die für ein menschenwürdiges Dasein unerläss- Einzelfall zu einer Abdeckung struktureller lich sind“. Zu berücksichtigen ist ebenfalls Risiken gewandelt hat. In Ermangelung einer Artikel 7 der Bundesverfassung, welcher die anderen Form sozialer Unterstützung mutiert Menschenwürde schützt. Der Passus im Artikel die Sozialhilfe von ihrer subsidiären und vorü- 12 BV „und nicht in der Lage ist“ wird von der bergehenden Unterstützungsfunktion im Ein- Rechtsprechung im Sinne der erwähnten Sub- zelfall zu einer Art dauerhaften Rente. Doch sidiarität interpretiert. Die Anspruchsbedin- weder ihre Organisationsform noch die be- gungen auf die Sozialhilfe sind demnach erst darfsabhängige Berechnung ihrer Leistungen dann erfüllt, wenn alle anderen Einkommens- 3
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen quellen ungenügend oder nicht verfügbar sind. fegesetzgebungen rechtswirksam1. Die in die- Dies betrifft insbesondere auch das mit der sen Richtlinien enthaltene Festlegung des eigenen Arbeitsleistung verbundene Einkom- Grundbedarfs (Existenzminimum) ist aller- men. Wer also beispielsweise ein „zumutba- dings keine absolute Grösse und unterliegt res“ Arbeitsangebot ausschlägt, wird gemäss weitgehend sozialen und politischen Aushand- dieser Rechtsauffassung durch eine mögliche lungen. Dies zeigt sich unter anderem darin, Einstellung der Sozialhilfeleistungen nicht dass es in der Schweiz mindestens drei Defini- sanktioniert, sondern erfüllt die Anspruchsbe- tionen des Existenzminimums gibt: das betrei- dingungen nicht (oder nicht mehr). Das mag bungsrechtliches Existenzminimum, das Exi- zwar als juristische Haarspalterei angesehen stenzminimum der Ergänzungsleistungen zu werden, hat aber Konsequenzen, wenn es dar- AHV/IV und das durch die SKOS definierte um geht, zwischen Kürzung von Sozialhilfelei- Existenzminimum für die Sozialhilfe. Diese stungen und deren Einstellung zu entscheiden. weichen deutlich voneinander ab: Zu erwähnen ist schliesslich auch, dass Artikel 12 zwar ein „Recht auf Hilfe in Notlagen“ Grundbedarf für den Lebensunterhalt pro Mo- stipuliert, aber keine Angaben zur materiellen nat für eine Einzelperson 2015 in CHF2: Höhe einer solchen Hilfe macht. • Grundbedarf nach Betreibungsrecht3 : CHF 1200 Die gesetzliche Verankerung der Sozialhilfe • Grundbedarf Ergänzungsleistungen zu auf Ebene Bund und Kantone AHV/IV: CHF 1608 • Grundbedarf Sozialhilfe (SKOS): Ausser den erwähnten Verfassungsbestim- CHF 986 mungen gibt es bis heute keine gesetzlichen Vorgaben zur Sozialhilfe auf Bundesebene. Es ist dabei nicht unmittelbar einsehbar, wes- Ausnahme ist das sogenannte „Bundesgesetz halb beispielsweise das Existenzminimum über die Zuständigkeit für die Unterstützung eines IV-Rentners rund 60% höher liegt als Bedürftiger“ (ZUG), das aber, wie sein Name dasjenige eines ausgesteuerten Arbeitslosen in besagt, lediglich die Zuständigkeit der Kantone der Sozialhilfe. Die Unterschiede werden mei- im Einzelfall regelt. Seine Einführung im Jahre stens damit begründet, dass die Ergänzungslei- 1977 kann als Abschluss des Übergangs vom stungen als längerfristige Unterstützung konzi- Heimat- zum Wohnortsprinzip betrachtet wer- piert sind, während die Sozialhilfe eine kurz- den (Schmid, 2005a). fristige Überbrückung von Notlagen darstellt. Obwohl die Kantone zur Gewährung der So- Dies ist aber aufgrund des schleichend einge- zialhilfe verpflichtet sind, können sie eigen- tretenen Funktionswandel der Sozialhilfe im- ständig über deren Organisation und Finanzie- mer weniger der Fall (siehe Kapitel 1). rung und – in einem gewissen grundrechtlichen Rahmen – über die Festlegung der materiellen Höhe der Unterstützung bestimmen. Diese dem Föderalismus geschuldete Situation führt zu 26 recht unterschiedlichen Sozialhilfegesetzge- bungen in den Kantonen. Ausgewählte Aspek- te dieser Diversität beleuchten wir in Kapitel 4. Die Definition des Existenzminimums Um eine minimale Koordination und Harmoni- 1 Die SKOS ist formalrechtlich ein privater Verein. sierung unter den Kantonen zu erreichen, gibt In diesem sind alle Kantone, etwa 800 Gemeinden die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe und Städte, private Hilfsorganisationen und Bun- (SKOS) „Richtlinien zur Ausgestaltung und desämter vertreten. Bemessung der Sozialhilfe“ heraus (siehe dazu 2 Kapitel 5). Diese Richtlinien haben jedoch nur Der Grundbedarf für abgewiesene Asylbewerber und Asylbewerber ist hier nicht berücksichtigt. Er empfehlenden Charakter und werden erst liegt bedeutend tiefer als die hier erwähnten Beträ- durch die verschiedenen kantonalen Sozialhil- ge. 3 Empfehlungen gemäss Konferenz der Betrei- bungs- und Konkursbeamten der Schweiz. 4
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen 3. Die Konsequenzen des Föderalis- Die Sozialhilfekosten und die frei verfügba- mus ren Einkommen von Sozialhilfebezügern Die Folgen der dezentralen kantonalen Zustän- Die Aufwendungen für die Sozialhilfe variie- digkeit in der Sozialhilfe sind vielfältig. Sie ren stark von Kanton zu Kanton. Die Gesamt- zeigen sich in grossen interkantonalen Unter- ausgaben hängen natürlich direkt von der Grö- schieden in der Organisationsform, im Finan- sse des Kantons und der Anzahl Sozialhilfebe- zierungsmodus, in den Rechten und Pflichten zügerInnen ab. Werden diese Ausgaben auf die der SozialhilfebezügerInnen und nicht zuletzt einzelnen SozialhilfeempfängerInnen aufge- auch in der Höhe der Unterstützungsleistun- schlüsselt, zeigen sich eklatante Unterschiede. gen. Die Unterschiede sind zuweilen so gross, So können sich die jährlichen Nettoausgaben dass sie schweizweit das verfassungsmässige für Sozialhilfe pro EmpfängerIn vom einen Recht auf Rechtsgleichheit und Rechtssicher- zum anderen Kanton mehr als verdoppeln: die heit in Frage stellen. Es ist im Rahmen dieses tiefsten Ausgaben finden sich im Kanton Fri- Textes nicht möglich, eine vollständige Liste bourg mit 5‘025.- Franken pro EmpfängerIn, der zahlreichen kantonalen Besonderheiten zu während der Kanton Graubünden mit 12‘097.- präsentieren. Wir beschränken uns auf einige Franken den Spitzenreiter darstellt. Zu den Beispiele. höchstplatzierten (10‘000 und mehr) gehören auch die Kantone Zürich, Bern, Solothurn, Die Finanzierung Basel-Stadt und Tessin, während Uri und Nid- walden der untersten Kategorie (weniger als Wie erwähnt, können die Kantone ihre Zustän- 6‘000) angehören6. Diese massiven Unter- digkeit im Bereich der Sozialhilfe an die Ge- schiede sind nicht nur auf eine unterschiedliche meinden delegieren. Dies zeigt sich unter an- Zusammensetzung der jeweiligen Sozialhilfe- derem in der finanziellen Lastenverteilung population zurückzuführen, sondern wider- zwischen dem Kanton und den Gemeinden4 spiegeln ohne Zweifel auch sehr unterschiedli- (siehe dazu auch Kapitel 11). Nur in drei Kan- che Praktiken in der Gewährung der Sozialhil- tonen sind die Sozialhilfekosten vollständig fe. Die Unterschiedlichkeit betrifft auch das kantonalisiert (AI, GL, GE), während in zehn frei verfügbare Einkommen von Sozialhilfebe- Kantonen ausschliesslich die Gemeinden für zügerInnen. Dies geht unter anderem aus einer die Finanzierung der Sozialhilfe zuständig Studie der SKOS hervor, die bereits 2007 pu- sind. In den übrigen Kantonen werden die Ko- bliziert wurde (Knupfer, Pfister, & Bieri, sten zwischen Kanton und Gemeinden aufge- 2007). Darin wird anhand von Fallbeispielen teilt, wobei der Kantonsanteil zwischen 5% gezeigt, dass das jährliche frei verfügbare Ein- und 75% variiert. Zudem kennen viele Kanto- kommen (also das Einkommen nach Abzug ne auch einen Mechanismus zum Lastenaus- von Fixkosten (Miete, Krankenkassenprämien, gleich zwischen den Gemeinden, weil ärmere Kinderbetreuungskosten, ggf. Steuern) einer Gemeinden vielmals übermässig durch Sozial- alleinerziehenden Mutter mit einem 3 hilfekosten belastet sind. Auch hier sind grosse 1/2jährigen Kind, welche vollständig auf Sozi- Unterschiede festzustellen. Es geht vom voll- alhilfe angewiesen ist, vom Minimum von ständigen Ausgleich der effektiven Sozialhilfe- rund 17‘000.- Franken in Appenzell bis zum ausgaben zwischen allen Gemeinden (z.B. Maximum von rund 23‘000.- Franken in Sitten Bern, Solothurn, Waadt, Jura, Fribourg) über variieren kann. Die entsprechenden Zahlen für den teilweisen Ausgleich der effektiven Sozi- eine Familie mit zwei Kindern sind rund alhilfekosten zwischen den Gemeinden (z.B. 26‘500.- Franken in Bellinzona und 29‘000.- Graubünden) und der teilweisen Kompensation Franken in Lausanne7. Die absoluten Zahlen überdurchschnittlicher Kosten durch den Kan- ton (z.B. Aargau, Thurgau, St. Gallen) bis hin einer totalen Absenz eines innerkantonalen 6 Bundesamt für Statistik, Statistisches Lexikon der Soziallastenausgleichs (z.B. Obwalden, Zü- Schweiz (die Zahlen beziehen sich auf das Jahr rich)5. 2012). 7 „Die Unterschiede in den frei verfügbaren Ein- kommen entstehen einerseits durch Abweichungen beim Grundbedarf für den Lebensunterhalt, ande- 4 (SKOS, 2014) rerseits durch die unterschiedliche Anwendung der 5 Ibid. Anreizelemente“ (Knupfer, Pfister, & Bieri, 2007). 5
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen dürften sich seit 2007 verändert haben, aber die von vornherein ausgeschlossen, nicht aber im Varietät hat seither kaum abgenommen. Kanton Aargau. Zwischen diesen Positionen liegt eine Vielzahl von Varianten in den ande- Die sozialhilferechtliche Rückerstattungs- ren Kantonen. Neben den gesetzlichen Be- pflicht stimmungen besteht die Unterschiedlichkeit auch in der tatsächlich angewandten Praxis. In der Schweiz ist die Sozialhilfe im Prinzip Wird nach Austritt aus der Sozialhilfe systema- rückerstattungspflichtig. Das heisst, Sozialhil- tisch und über längere Zeit nachgeprüft, ob febezügerInnen bürden sich mit dem Bezug sich ehemalige SozialhilfebezügerInnen in von Sozialhilfe eine potentielle Schuld auf, die „besseren wirtschaftlichen Verhältnissen“ be- zurückzuerstatten ist, falls sie sich nach Ablö- findet oder wird das nur punktuell und mehr sung von der Sozialhilfe in „wirtschaftlich zufällig abgeklärt? Und was geschieht, wenn besseren Verhältnissen“ befinden. Diesen die betreffenden SozialhilfebezügerInnen den Sachverhalt hat die OECD bereits 1999 in Kanton oder gar das Land gewechselt haben? einer Studie über die Sozialhilfe in der Zudem wird mancherorts die Rückerstattungs- Schweiz und in Kanada (OECD, 1999) als eine pflicht als Mittel zur Senkung der Sozialhilfe- von drei „archaischen Zugangsbarrieren“ zur kosten und als Druckmittel betrachtet. Dies Sozialhilfe in der Schweiz bezeichnet8. Die führt dazu, dass die Rückerstattungspflicht SKOS empfiehlt „grundsätzlich keine Gel- zuweilen am Rande der Legalität geltend ge- tendmachung von Rückerstattungen aus späte- macht wird (Szabo, 2008). ren Erwerbseinkommen“9. Aber auch hier müssen bedeutende Unterschiede zwischen den Kantonen festgestellt werden. So hat bei- Die Verwandtenunterstützungspflicht spielsweise der Kanton Waadt die Rückerstat- tungspflicht durch einen Verfassungsartikel Gemäss Artikel 328 und 329 des schweizeri- praktisch aufgehoben. In diesem wird eine schen Zivilgesetzbuches (ZGB) können Ver- Sozialhilfe postuliert, die „im Prinzip“ nicht wandte in auf- und absteigender Linie (Kinder- rückerstattungspflichtig ist10. Im Kanton Aar- Eltern-Grosseltern) zur Unterstützung von gau hingegen gilt eine allgemeine Rückerstat- SozialhilfebezügerInnen beigezogen werden, tungspflicht „wenn sich die wirtschaftlichen sofern sie sich in „wirtschaftlich günstigen Verhältnisse so weit gebessert haben, dass eine Verhältnissen“ befinden. Auch diese Bestim- Rückerstattung ganz oder teilweise zugemutet mung wurde von OECD als „archaische Zu- werden kann“11, wobei der Regierungsrat Aus- gangsbarriere“ bezeichnet. Die sogenannte nahmen festlegen kann“, während im Sozial- „Rückgriffspraxis“ ist wiederum sehr unein- hilfegesetz des Kantons Genf12 die ausseror- heitlich. „Sie reicht von einer systematischen dentlichen Situationen bezeichnet werden, in Prüfung der Beitragsfähigkeit in jedem einzel- welchen eine Rückerstattung gefordert werden nen Fall bis zu punktuellen Abklärungen in kann (unrechtmässiger Bezug, Sozialhilfe als Einzelfällen, in denen die Behörden (oft zufäl- Vorbezug von Sozialversicherungsleistungen, lig) von der Existenz von Verwandten erfahren Sozialhilfeleistungen bei Immobilienbesitz, haben“ (Schmid & Maravic, 2009). Auch hier hoher Vermögensanfall (Lotteriegewinne, Erb- stellt sich natürlich die Frage, was geschieht, schaften)). Rückerstattungen bei späterem wenn sich die in „wirtschaftlich günstigen Erwerbseinkommen sind also im Kanton Genf Verhältnissen“ lebenden Verwandten im Aus- land befinden oder wenn „die Steuerämter mit Berufung auf den Datenschutz die Auskunft 8 Die zwei anderen « archaischen Zugangsbarrie- verweigern“(ibid.). ren » in der Schweiz sind laut OECD die Verwand- tenunterstützungspflicht und die Tatsache, dass an vielen Orten immer noch politisch zusammenge- Die Rechte und Pflichten der Sozialhilfebe- setzte Sozialkommission über die Gewährung von züger und die Gewährung von Zulagen Sozialhilfe entscheiden. 9 SKOS-Richtlinien E.3-2 Die interkantonalen Unterschiede betreffend 10 Constitution du Canton de Vaud, Artikel 60, al. b 11 Rechte und Pflichten der SozialhilfebezügerIn- Sozialhilfe- und Präventionsgesetz Kanton Aar- gau, Artikel 20. nen zeigen sich in besonderes krasser Weise 12 Loi sur l’insertion et l’aide sociale (LIASI) im Bereiche der gesetzlichen Bestimmungen République et Canton de Genève, Artikel 36ff. zu den Integrationsmassnahmen. So stipuliert 6
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen beispielsweise das Tessiner Gesetz zur Sozial- 4. Von der Amenpflege über die hilfe ein Recht der BezügerInnen auf soziale Integrationsmassnahmen13, während im Neu- SKöF zur SKOS enburger Gesetz genau das Gegenteil zu finden Auf dem Hintergrund der kantonalen bzw. ist, nämlich: „Der Sozialhilfebezüger hat kein kommunalen Zuständigkeiten in der Sozialhil- Anrecht auf ein Integrationsprojekt, kann aber fe und der damit verbundenen grossen Unter- diesem unterworfen werden“14. In diesem letz- schiede insbesondere im Bereich der Unter- teren Beispiel kommt der Zwangscharakter auf stützungsleistungen gab es bereits anfangs des gesetzlicher Ebene wohl am klarsten zum Aus- 20. Jahrhunderts Bestrebungen zu einer mini- druck. Zwischen diesen beiden Extremen fin- malen schweizweiten Koordination und Har- det sich wiederum eine Vielzahl von Varianten monisierung. in den anderen Kantonen. Die heutige SKOS (Schweizerische Konferenz Eine weitere Uneinheitlichkeit zeigt sich in der für Sozialhilfe) wurde im Jahre 1905 unter Gewährung von Zulagen. Gemäss SKOS- dem Namen „Armenpflegerkonferenz“ in Richtlinien werden zusätzlich zum Grundbe- Brugg von VertreterInnen von „bürgerlichen darf und je nach Fall folgende Zulagen ge- und privaten Armenpflegen“ gegründet. Diese währt: der Einkommensfreibetrag (EFB) für standen damals noch unter einem starken erwerbstätige SozialhilfebezügerInnen, die kirchlichen Einfluss: Nicht weniger als ein Integrationszulage (IZU) für BezügerInnen, Drittel der 47 in Brugg anwesenden Delegier- welche an einem Integrations- oder Beschäfti- ten bekleideten das Amt eines Pfarrers. Gleich gungsprogramm teilnehmen und bis zur Richt- zu Beginn stand der Wille zur besseren Koor- linienrevision von 2015 (siehe Kapitel 9) auch dination und Harmonisierung der „Armenpfle- die minimale Integrationszulage (MIZ) für ge“ im Vordergrund. Die Konferenz sollte „ein BezügerInnen, welche vor allem aus gesund- vorzügliches Mittel (sein), um die einzelnen heitlichen Gründen nicht an einem Beschäfti- Kantone einander zu nähern, das gegenseitige gungsprogramm teilnehmen können oder für Verständnis zu fördern, gemeinsame Ziele welche der zuständige Sozialdienst keine Inte- aufzustellen, zu besprechen und zu fördern“ grationsmassnahme zu Verfügung stellt. Ge- (Aregger, 2005). Dabei stand ebenfalls von mäss einer Studie des Büro BASS (Dubach & Anfang an die Rolle des Bundes zur Debatte: et al., 2015) variiert die Vergabequote einer „Da die Stunde für eine schweizerische irgendwie gearteten Zulage in der Sozialhilfe Armengesetzgebung aber noch nicht vorhan- zwischen 30% und 40% in gewissen Kantonen den sei“, müsse etwas unternommen werden, bis hin zu 70% bis 90% in anderen Kantonen. „um das Kommen dieser Stunde vorzubereiten Dies kommt der Willkür nahe und stellt die und zu beschleunigen“ (ibid.). Die bis heute Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit mas- unerfüllte Forderung nach einer Bundesrege- siv in Frage, denn diese Zulagen machen oft lung über die Sozialhilfe wurde in der Folge einen nicht unbedeutenden Anteil der Sozial- gewissermassen zum „ceterum censeo“ des hilfeunterstützung aus. Aber auch das Zulagen- Verbandes, denn auch noch an der 50 Jahr- system selbst ist sehr unterschiedlich ausge- Feier der Konferenz im Jahre 1955 in Interla- staltet: 18 Kantone übernehmen alle drei Lei- ken „nannte Bundesrat Feldmann die Gründe, stungen mit Anreizcharakter, sechs Kantone weshalb trotz einer gewissen Berechtigung der übernehmen nur einzelne Zulagen und zwei alten Forderung, in naher Zukunft mit deren Kantone gar keine (ibid). Verwirklichung nicht gerechnet werden kön- ne“ (Schmid, 2005b). In der Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahr- hunderts änderte der Verband seinen Namen und wurde zur „Schweizerischen Konferenz für öffentliche Fürsorge“ (SKöF). Noch unter dem Namen der „Armenpflegerkonferenz“ erliess dieser im Jahre 1963 die ersten fran- 13 kenmässig bezifferten „Richtsätze für die Be- Legge sull’assistenza sociale, Repubblica e messung von Unterstützungen“. Diese an die Cantone Ticino, Artikel 31a 14 Loi sur l’action sociale (LASoc), République et Kantone und Gemeinden gerichteten „Empfeh- Canton de Neuchâtel, Artikel 57 (Übersetzung lungen stützen sich auf die Ergebnisse einer durch Verfasser) 1961/1962 durch die Ständige Kommission 7
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen durchgeführten Erhebung über Unterstüt- Wichtige Veränderungen fanden in den Jahren zungsansätze bei verschiedenen Armenpfle- 1992 und 1998 statt. Zunächst fand eine erste gen“15. Der empfohlene Grundbedarf für den Pauschalisierung des Grundbedarfs statt, in- Unterhalt, noch in einer Bandbreite ausgewie- dem gewisse Leistungen der „zusätzlichen sen, belief sich damals für eine alleinstehende Hilfen“ in den Grundbedarf aufgenommen und Person zwischen 180.- und 210.- Franken, für die Unterhaltsberechnung nicht mehr vom ein Ehepaar ohne Kinder zwischen 280.- und Alter und vom Zivilstand, sondern von der rein 320.- Franken. In den folgenden Jahrzehnten zahlenmässigen Zusammensetzung des Haus- wurde dieser Grundbedarf in rascher Folge und haltes abhängig gemacht wurden. 1998 wurde zum Teil in bedeutendem Ausmass angehoben diese Pauschalisierung vervollständigt und (siehe Kasten 1). In den Anfangsjahren wurde zusätzlich zum „Grundbedarf für den Lebens- der Grundbedarf durch „zusätzliche Hilfen unterhalt“ (GBL), der inzwischen für eine al- nach Bedarf“, wie beispielsweise für Beklei- leinstehende Person auf Fr. 1010.- angewach- dung, Heizung, Gesundheitspflege, Ver- sen war, der Grundbedarf I (GBI I) 16 und der kehrsausgaben, Bildung und Erholung ergänzt Grundbedarf II (GBII: zur Teilnahme am so- und es wurde ein „Taschengeld“ (später frei zialen Leben) eingeführt. Dabei ging aber auch verfügbare Quote) gewährt. Auch die aner- die bisherige „frei verfügbare Quote“ im neuen kannten Ausgaben waren dem gesellschaftli- Grundbedarf auf. Erstmals war hier von chen Wandel unterworfen: So wurden „in den „Massnahmen zur beruflichen und sozialen 1980er-Jahren beispielsweise die Gebühren für Integration“ die Rede und es wurden die Be- Radio, Fernsehen und Telefon in die Liste der griffe von „Leistung und Gegenleistung“ ein- zusätzlichen Leistungen aufgenommen“ geführt. (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe Inzwischen hatte der Verband 1996 seinen SKOS, 2014a). Namen erneut geändert und wurde nun zur „Schweizerischen Konferenz für Sozialhil- fe“ (SKOS). Dies vor allem deshalb, weil von nun an neben den Organisationen der öffentlichen Sozialhilfe auch private Hilfswerke im Vorstand vertreten waren. 15 16 Empfehlungen der Ständigen Kommission der Der Grundbedarf I (GBI I) wurde gewährt, wenn Schweiz. Armenpflegerkonferenz vom 24. Septem- der Haushalt mehr als drei Personen von mehr als ber 1963 16 Jahren umfasste. 8
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen Entwicklung des Grundbedarfs für Einpersonenhaushalte und Ehepaare ohne Kinder (Zweipersonenhaushalt) 1963 bis 2016 (Hänzi, 2011; ab 1998 SKOS Richtlinien verschiede- ne Ausgaben) Jahr Einpersonenhaushalt Zweipersonen- Bemerkungen haushalt 196317 180.- bis 210.- 280.- bis 320.- 1967 200.- bis 240.- 310.- bis 360.- 1970 250.- bis 300.- 390.- bis 450.- 1972 360.- 540.- Abschaffung Bandbreiten, „Taschengeld“ + Taschengeld: 80.- + Taschengeld: 160.- wird als fixer Betrag ausgewiesen 1974 430.- 650.- + Taschengeld: 90.- + Taschengeld: 180.- 1980 475.- 715.- + Taschengeld: 100.- + Taschengeld: 200.- 1982 510.- 765.- + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: te: 120.- 240.- 1985 510.- 765.- Taschengeld wird „frei verfügbare Quote“ + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: te: 120.- 240.- 1987 560.- 820.- + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: te: 135.- 270.- 1989 590.- 860.- + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: te: 150.- 300.- 1991 640.- 930.- Erstmals Empfehlungen für Integrationspro- + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: gramme te: 150.- 300.- 1992 670.- 1000.- Erste Ansätze zu Pauschalisierung, Einfüh- + Frei verfügbare Quo- + Frei verfügbare Quote: rung Erwerbsunkosten te: 150.- 300.- 1998 1010.- + GBII: 45.- bis 1545.- + GBII: 70.- bis Vervollständigung Pauschalisierung, Einfüh- 100.- 155.- rung GB I (ab 3. Person) und GB II (Teilnah- me am sozialen Leben), „frei verfügbare Quo- te“ im Grundbedarf inbegriffen 2003 1030.- + GBII: 46.- bis 1576.- + GBII: 71.- bis 160.- 244.- 2005 960.- 1469.- Einführung: EFB (400 bis 700); IZU (100 bis 300), MIZ (100); Abschaffung GBI und GBII 2011 977.- 1495.- Plus EFB, IZU, MIZ 2013 986.- 1509.- Plus EFB, IZU, MIZ 2016 986.- 1509.- Absenkung für Jugendliche, Grossfamilien, Abschaffung MIZ 17 Bis zur Einführung der Pauschalisierung wurden “zusätzliche Hilfen nach Bedarf » ausbezahlt und zwar hauptsächlich für Bekleidung, Heizung, Gesundheitspflege, Sozialabgaben, Verkehrsausgaben, Bildung und Erholung. Bis 1972 figurierte auch das „Taschengeld“ unter dieser Rubrik. Diese Posten sind heute weitgehend in den Grundbedarf integriert. 9
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen 5 Der Paradigmawechsel von 2005 wird die Referenzgrösse auf die 10% einkom- mensschwächsten Haushalte herabgesetzt. Die Revision der SKOS-Richtlinien von 2005 Somit wird auch der Grundbedarf um rund 7% kann als eigentlicher Paradigmawechsel be- gesenkt und gleichzeitig der GBI und der GBII zeichnet werden, indem nun die Leistungsori- abgeschafft. Dem Anreizprinzip folgend wird entierung zuungunsten der bisher vorherr- im Gegenzug das bereits erwähnte Zulagensy- schenden Bedarfsorientierung in den Vorder- stem eingeführt: Es umfasst den Einkommens- grund tritt. Der bereits in den 90er-Jahren des freibetrag (EFB von 400 bis 700 Franken) für letzten Jahrhunderts entstandene Begriff des erwerbstätige SozialhilfebezügerInnen, der die „aktivierenden Sozialstaates“ hält nun auch in bereits bestehende Erwerbsunkostenpauschale der Sozialhilfe Einzug. Mit der Einführung von (250 Franken) ablöst. Für nicht erwerbstätige, „arbeitsmarktlichen Massnahmen“ im soge- aber an Integrationsmassnahmen teilnehmende nannten Solothurner Kompromiss in der Ar- BezügerInnen wird die Integrationszulage beitslosenversicherung kam die Leistungsori- (IZU von 100 bis 300 Franken) geschaffen. entierung im schweizerischen Sozialwesen als Schliesslich entsteht auch die minimale Inte- erstes zum Tragen. Nach dem massiven An- grationszulage MIZ 100 Franken) für Perso- steigen der Arbeitslosenzahlen zu Beginn der nen, welche vor allem aus gesundheitlichen 90er Jahre steht die Forderung im Zentrum, Gründen nicht in der Lage sind, an einer Inte- dass „Arbeit sich lohnen solle“, und dass die grationsmassnahme teilzunehmen oder wel- SozialhilfebezügerInnen durch finanzielle An- chen von den zuständigen Behörden keine reize wieder in den Arbeitsmarkt zurückge- Angebote an Integrationsmassnahmen zu Ver- führt werden sollen. Dieser Anreiz wird im fügung gestellt werden. doppelten Sinne verstanden, und zwar so, dass einerseits Arbeitsbemühungen und andere Ak- Die Änderungen in den SKOS-Richtlinien vom tivitäten finanziell belohnt, andererseits Nicht- Jahre 2005 können auch deshalb als Paradig- bemühungen und Nichtkooperation finanziell mawechsel verstanden werden, weil erstmals sanktioniert werden sollen. Der Leitspruch in der Geschichte der SKöF / SKOS die heisst von nun an „Fördern und Fordern“, wo- Grundansätze im Zeichen des „aktivierenden bei in der folgenden Praxisumsetzung an vielen Sozialstaates“ gesenkt werden. Allerdings wird Orten vor allem dem zweiten Prinzip nachge- diese Senkung in jenem Zeitpunkt durch die lebt wird. Einführung der Zulagen noch teilweise kom- Im Zeichen der Finanzkrise gewinnen auch pensiert, was in der nachfolgenden Revision finanzielle Erwägungen immer mehr an Be- von 2015 nicht mehr der Fall ist. Die hehre deutung. Steigende Bezügerzahlen und Ausga- Absicht dieser Kompensation wird in der Folge ben setzen die SKOS unter Druck, sich den aber vielmals unterlaufen, weil einerseits die neuen Gegebenheiten anzupassen. Einzelne Gewährung der Zulagen von Kanton zu Kan- nicht unbedeutende Kantone wie beispielswei- ton sehr unterschiedlich ist und zuweilen kaum se Zürich drohen mit der Herausgabe eigener einen Drittel der BezügerInnen erreicht (siehe Richtlinien, und stellen somit das einzige na- dazu Kapitel 4). Andererseits steht nun an vie- tionale Regelwerk im Bereiche der Sozialhilfe len Orten die Sanktions- und Zwangsfunktion in Frage. Im Jahre 2004 gibt die SKOS eine und nicht das „Fördern“ im Vordergrund. Studie zur „Evaluation der Richtlinien der SKOS“ in Auftrag (Gerfin, 2004). Diese kommt zum Schluss, dass die Unterstützungs- 6. Die Polemik der SVP: Vom An- ansätze „aufgrund der empirischen Befunde tendenziell zu hoch“ seien, da die damals gül- griff gegen die Scheininvaliden zur tige Referenzgrösse für die Berechnung dieser Diffamierung der SKOS und der Ansätze, sich am Konsumverhalten der 20% „Sozialindustrie“ einkommensschwächsten Haushalte zu mes- Die Polemik der schweizerischen Volkspartei sen, impliziere, dass „dies die Armutspopulati- gegen den schweizerischen Sozialstaat ist on ist, d.h. dass die Armutsquote 20% beträgt“, nichts Neues. Die Durchsicht der Parteiäusse- und somit zu hoch sei. Sie seien aber auch zu rungen der letzten 15 Jahre zeigt allerdings, hoch im Hinblick auf die potentielle Anreiz- dass die Sozialhilfe und die SKOS zu Beginn wirkung auf die BezügerInnen, eine Erwerbs- des neuen Millenniums noch nicht im Fokus arbeit anzunehmen. In der Folge dieser Studie stehen. Die Parteistrategen richten in dieser 10
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen Zeit ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die „ Explodierende Sozialausgaben und ausufern- Schweizerische Invalidenversicherung und de Sozialbürokratie“ wird behauptet, dass die lancieren den Begriff der Scheininvaliden Kostenexplosion bei der Sozialhilfe bedrohli- (Schweizerische Volkspartei SVP, 2004): che Züge annehme. Und weiter: „Um die Invalidenversicherung steht es schlecht. Die Zahl der IV-Rentenbezüger hat „Die Ausgaben von Bund, Kantonen und Ge- sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdop- meinden für die Sozialhilfe haben sich zwi- pelt und wächst immer schneller. Aus dem schen 2003 und 2012 verdoppelt und betrugen Sozialwerk für Invalide ist ein Topf für Miss- 2012 satte 2,4 Milliarden Franken. Darüber brauch und Zweckentfremdung geworden.“ hinaus zeigen inzwischen diverse Einzelfälle, Ab 2007 verschiebt sich der Fokus. Im Partei- dass Gemeinden die Kosten dieser uferlosen programm 2007-2011 (Schweizerische Volks- Sozialpolitik nicht mehr bezahlen können. Die partei SVP, 2007: 16) wird dem Thema Sozi- dadurch ausgelösten Steuererhöhungen sind alhilfe nun ein eigener Abschnitt gewidmet. für die Steuerzahler nicht tragbar. In der Stadt Darin wird behauptet, dass die SKOS Ansätze Biel (BE) gehen beispielsweise rund 80 Pro- zu hoch seien und die Sozialhilfe massiv miss- zent der Steuereinnahmen von 137 Millionen braucht werde. Es gelte, die Fehlanreize aus- Franken in die Sozialhilfe. Aufgrund des star- zumerzen. Folgende Forderungen werden er- ken Finanzausgleichs im Kanton Bern bezah- hoben: len dies insbesondere die Gebergemeinden. In -‐ Einstellen der Leistungen bei Fehlver- Freienstein-Teufen (ZH) kostet ein einziger halten wie Verletzung der Mitwir- Sozialfall mit 270‘000 Franken vier Prozent kungspflichten oder Nichteinhaltung der Steuereinnahmen.“ von Auflagen; -‐ Einsetzen von Sozialdetektiven und Die Schuldigen sind auch bald benannt: „Die Lockerung des Datenschutzes; SKOS steht unter der Fuchtel der Sozialroman- -‐ Intensivierung der Verwandtenunter- tiker“. Die Kostenexplosion, die die SVP ortet, stützung. resultiere nicht aus einer Zunahme von Ar- mutsfällen, sondern aus zu hohen Grundlei- Im Parteiprogramm 2011-2015 wird weiter an stungen, Missbräuchen und einer sozialroman- der Schraube gegen die Sozialhilfebeziehenden tischen Weltanschauung der Sozialindustrie. gedreht. Explizit wird eine Korrektur der Und weiter: SKOS-Ansätze nach unten gefordert (Schwei- „Die sogenannte Professionalisierung, d.h. der zerische Volkspartei SVP, 2011: 78). Unter vermehrte und meist unverhältnismässige Ein- dem Titel „Sozialhilfe darf keine Hängematte bezug von Spezialisten wie Juristen, Treuhän- sein“ wird behauptet, dass die hohen Ansätze dern, Psychiatern, Coaches und Sozialarbei- das soziale Netz in denjenigen Kantonen, die tern hat das System zusätzlich verteuert und die SKOS Richtlinien übernehmen, zu einer führt zu einer Überversorgung und Pathologi- bequemen Hängematte machen. „Die Kantone sierung Bedürftiger, sowie zu einer Ausweitung sind gefordert, die Sozialhilfegesetzgebung so der Betreuung über die Bedürftigkeit hinaus. auszugestalten, dass die Sozialhilfe nicht län- Es ist eine regelrechte Sozialbürokratie und ger ausgenutzt werden kann. Wer sich nicht Sozialindustrie entstanden.“ um Integration und Arbeit bemüht, soll auch Der daraus abgeleitete Forderungskatalog ist keine Hilfe bekommen.“ lang. Neben dem bereits im Parteiprogramm Vier Jahre später, im Programm 2015-2019, geforderten Austritt der Gemeinden, Städte, wird die Stimmung gegen die Sozialhilfe wei- Kantone und Amtsstellen aus der SKOS und ter angeheizt (Schweizerische Volkspartei der grundsätzlichen Anpassung der SKOS- SVP, 2015b: 57). Die Verbindlichkeit der Richtlinien nach unten wird die Verankerung SKOS-Richtlinien soll nun gemäss SVP aus des Grundsatzes „wer zahlt, befiehlt“ verlangt, allen kantonalen Soziahilfegesetzen gestrichen d.h. Verantwortung und Finanzierung der So- werden und das Milizsystem gegenüber der zialhilfe sollen auf Gemeindeebene verankert Professionalisierung Vorrang haben. Im Posi- werden. Regelmässiger Sozialhilfebezug soll tionspapier aus dem gleichen Jahr (Schweizeri- zum Entzug der Aufenthaltsbewilligung führen sche Volkspartei SVP, 2015a) mit dem Titel und ausländische SozialhilfebetrügerInnen konsequent ausgeschafft werden. Last but not least sollen die Ausbildungslehrgänge und 11
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen Studienplätze im Sozialbereich deutlich redu- Das Positionspapier hat den Charakter eines ziert werden. Statt hochgeschulter Sozialarbei- eigentlichen Kampagnenpapiers: Die Hälfte terInnen sollten bei der täglichen Bewältigung des Dokuments entfällt auf Musteranträge auf der Herausforderungen der Sozialhilfe und Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene (Inter- Vormundschaft vor allem Berufsleute mit wirt- pellationen, Anfragen, Postulate, Motionen), schaftlicher Denkweise und Zusatzausbildung die den Abbau der Sozialhilfe, den Austritt aus nebenamtlich eingesetzt werden. der SKOS etc. zum Ziel haben. Die Armen als Sündenböcke – kein neues Phänomen Menschen in Armut zu Sündenböcken zu machen ist leider kein neues Phänomen. Bereits im 14. Jahr- hundert wurden die Armen, die lange Zeit als Ebenbild Christi betrachtet wurden, in den Städten des sogenannt christlichen Abendlandes zur Projektionsfläche der Ängste der damaligen Menschen. Ab dem 15. Jahrhundert wurden in den rasch wachsenden Städten Bettlergesetze, Verordnungen gegen Müßiggänger und Vagabunden erlassen. Armut wurde nicht mehr wie bislang als Tugend, sondern als Folge von Müssiggang denunziert. Die Armen sollten sich an neue Verhaltensmassregeln wie Gehor- sam und Arbeitsdisziplin gewöhnen. Den auswärtigen Armen wurde das Betteln in der Stadt verboten. Generell wurde der Zuzug von Armen in die Städte erschwert, denn Bettler wurden verantwortlich gemacht für die Ausbreitung von Pest und anderen Krankheiten. Was vor mehr als fünfhundert Jahren galt, gilt auch heute: Fühlen sich Menschen bedroht, richten sie ihre Aggressionen auf Gruppen, die leicht identifizierbar und machtlos sind. „Dies kann auch mittels einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit dem Ziel, bestimmte soziale, ethnische oder politische Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Kri- senerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation ab- zulenken. Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine iden- titätsstiftende Funktion bekommen.“ (Wikipedia, 2016). Diese Formulierung trifft ins Schwarze: Die politische Elite der Schweizer Rechten, der Schweizerischen Volkspartei SVP, macht die Armen in diesem Land, die Sozialhilfebeziehenden und die Asylsuchenden, zum Feindbild. Damit lenkt sie ihre Klientel von der realen Ursachen ihrer Probleme ab: der Bedrohung des kollektiven Abstiegs im Zug der Globalisierung. Anstatt ein zukunftsgerichtetes politisches Projekt gegen den Bedeutungsverluste der bisherigen beruflichen Qualifikationen zu formulieren und real etwas gegen Stellenabbau, Lohn- druck, steigende Ungleichheit und ungerechte Steuerbelastung zu unternehmen, wird schlicht behaup- tet, die Armen stellten die wahre Gefährdung des Gemeinwesens dar und höhlten zusammen mit den Asylsuchenden die Grundlagen unseres Staates aus. 7. Die Revision SKOS-Richtlinien über den „Sozialschmarotzer Beat“. Durch einen Bundesgerichtsentscheid18 wehrt sich 2015 dieser erfolgreich gegen den Entscheid der Die Kampagne gegen die Sozialhilfe ver- Gemeinde, die Sozialhilfe wegen „unkoopera- schärft sich tiven“ Verhaltens einzustellen. Das Urteil weist auf Verfahrensmängel der Gemeinde hin Die orchestrierte Kampagne der SVP gegen und hält fest, dass renitentes Verhalten nicht die Sozialhilfe beginnt Früchte zu tragen. Ver- mit missbräuchlichem Verhalten gleichzuset- schiedene Einzelfälle werden hochgespielt – zen sei. Diese Position wird vom damaligen wie beispielsweise der „BMW-Fall“ in Zürich Präsidenten der SKOS verteidigt mit der Be- – und unbesehen auf das ganze System über- gründung, dass auch unkooperative KlientIn- tragen. Die strukturellen Probleme, denen sich nen Anrecht auf Sozialhilfe hätten, was ver- die Sozialhilfe ausgesetzt sieht, werden dabei schiedene Gemeinden veranlasst – darunter geflissentlich übersehen. In der Stadt Bern Rorschach, Dübendorf und auch Berikon – wird ohne jegliche empirische Grundlage be- medienwirksam ihren Austritt aus der SKOS hauptet, 30% der Sozialhilfefälle seien Miss- brauchsfälle. Im Jahre 2013 entfacht die Aar- gauer Gemeinde Berikon einen Mediensturm 18 BGE: 8C_500/2012 12
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen bekannt zu geben, weil sie sich einseitig für die lich zum Grundbedarf für Grossfamilien, für SozialhilfebezügerInnen einsetze. junge Erwachsene, zu den Zulagen, zu Schwel- In der Zeit zwischen Mitte 2013 und Mitte leneffekten, Sanktionen und schliesslich zu 2015 werden in nicht weniger als 17 Kantons- den situationsbedingten Leistungen. Die Er- parlamenten Vorstösse zur Sozialhilfe einge- gebnisse der Vernehmlassung werden im Mai reicht, parallel dazu auch in einer Vielzahl von 2015 publiziert (Schweizerische Konferenz für Gemeinden. Urheberin ist in vielen Fällen die Sozialhilfe SKOS, 2015) und lassen sich wie SVP, doch nun werden auch FDP, CVP, EDU folgt zusammenfassen: und manchmal die GLP aktiv. In vielen dieser Vorstösse wird der Austritt aus der SKOS ge- • Allgemeiner Grundbedarf: 50% der fordert. Dies wird aber in mindestens fünf antwortenden SKOS-Mitglieder unter- Kantonen und 14 Gemeinden abgelehnt. Wei- stützen zumindest den Status quo tere Vorstösse beziehen sich auf das Verbot (81% in der Romandie); des Autobesitzes, die Verschärfung der Sank- tionen, die Absenkung des Grundbedarfs, die • Ansätze für Grossfamilien ab sechs Rechtsverbindlichkeit der SKOS-Richtlinien Personen: 62% sprechen sich für die und sogar die Befristung von Sozialhilfelei- Beibehaltung der bestehenden Pau- stungen. schalisierung aus; • 87% sind für reduzierte Ansätze für junge Die Reaktion der SKOS Erwachsene mit eigenem Haushalt, welche keine Ausbildung absolvieren, keine Kinder Durch die tatsächlichen oder angedrohten Aus- betreuen und nicht arbeiten; tritte und den anhaltenden Mediensturm gerät die SKOS zunehmend unter Druck. Sie ent- • Zulagen: Beibehaltung des Einkommens- schliesst sich im Jahre 2014 zwei Studien in freibetrages (EFB): 91%; Beibehaltung der Auftrag zu geben, die eine an das Bundesamt Integrationszulage (IZU): 83%; Beibehal- für Statistik zur Überprüfung des Grundbedarfs tung der Minimalen Integrationszulage (Bundesamt für Statistik, 2014), die zweite an (MIZ): 51%; das Büro BASS zur „Evaluation der Leistun- gen mit Anreizcharakter gemäss SKOS- • Klarere Regelungen zur Vermeidung von Richtlinien“ (Dubach & et al., 2015). Die Er- Schwelleneffekten: 71% Zustimmung; gebnisse der beiden Studien werden anfangs • Sanktionen: allgemeine Beibehaltung des 2015 veröffentlicht. Die erste gelangt zum heutigen Systems: 81% Zustimmung; aber Schluss, dass der Grundbedarf für Ein- und Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten: Zweipersonenhaushalte um rund 100 Franken 86% Zustimmung (62% in der Romandie); zu tief angesetzt sei. Die zweite Studie sieht sich ausserstande, die Wirksamkeit dieser • Situationsbedingte Leistungen (SIL): Bei- „Leistungen mit Anreizcharakter“ aufgrund behaltung der heutigen Form: 77% Zu- der bestehenden statistischen Datensätzen tat- stimmung. sächlich messen zu können. Sie stellt aber fest, dass die Gewährung von Zulagen von Kanton Abgesehen von den Stellungnahmen zu den zu Kanton äusserst unterschiedlich gehandhabt Ansätzen für junge Erwachsene lassen diese wird (siehe dazu auch Kapitel 4). Ergebnisse nicht den Schluss zu, dass ein drin- In der Folge dieser Studien kündigt die SKOS gender Bedarf nach einer Reform der SKOS- anfangs 2015 eine Revision der Richtlinien an Richtlinien besteht. Trotzdem gelangt im Mai und eröffnet dazu eine Vernehmlassung bei 2015 die SKOS zusammen mit der SODK ihren Mitgliedern. 70% der knapp 1000 Mit- (Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen glieder nehmen daran teil. Im Rahmen der und Sozialdirektoren) mit der Ankündigung an Vernehmlassung kann allgemein zum Grund- die Öffentlichkeit, dass die SKOS-Richtlinien bedarf19 Stellung genommen werden, zusätz- in folgender Weise geändert werden sollen: 19 Es stehen vier Varianten zum Grundbedarf zur Debatte: (1) Status quo, (2) Erhöhung Grundbedarf gemäss Studienergebnissen, (3) Erhöhung bei klei- quo bei kleinen, Reduktion bei grösseren Haushal- nen, Reduktion bei grösseren Haushalten, (4) Status ten. 13
Denknetz Grundlagen Entwicklung der Sozialhilfe: Fallstricke und Sackgassen • Grossfamilien: Der Grundbedarf wird bei auf eine überwiegende Zustimmung gestossen Haushalten ab 6 Personen um 76 Franken waren. Durch die Nichtbeachtung der Resulta- pro Person und Monat reduziert; te der erwähnten Studien desavouiert die SKOS sich selbst. Sie verabschiedet sich vom • Junge Erwachsene: Die Ansätze für junge Prinzip, ihre Entscheide wissenschaftlich abzu- Erwachsene bis 25 Jahre mit eigenem stützen, wie sie dies anlässlich der Revision Haushalt werden von heute 986 Franken 2005 durch die „Gerfin-Studie“ noch getan um 20% auf 789 Franken reduziert; hatte. Zudem kündigt die SKOS eine „zweite Revisionsetappe an“, die auf den 1. Januar • Sanktionen: In schwerwiegenden Fällen 2017 in Kraft gesetzt werden soll. Diese zweite kann der Grundbedarf bis 30% gekürzt Etappe umfasst folgende Bereiche: werden. Damit besteht neu eine Bandbrei- te für Sanktionen von 5% bis 30%; • Überprüfung der situationsbedingten Lei- • Integrationszulage: Die minimale Integra- stungen (SIL) tionszulage (MIZ) wird abgeschafft. • Empfehlungen zur Verminderung von Schwelleneffekten Zum ersten Mal in der Geschichte der SKOS • Abgrenzung zwischen Sozialhilfe und wird also der Grundbedarf zumindest für ge- Nothilfe wisse Bezügergruppen ohne Kompensation • Empfehlungen zu den Mietkosten nominal gesenkt. Zudem wird dadurch auch • Empfehlungen zur Arbeitsintegration von die Referenzgrösse für die Bestimmung des Müttern Grundbedarfs, sich an den 10% einkommens- schwächsten Haushalten zu messen, implizit Die Diskussion um die Sozialhilfeleistungen aufgegeben20. Wenn aber keine Referenzgrösse ist damit definitiv auf der politischen Ebene mehr besteht, ist die Gefahr gross, dass in Zu- angelangt. Angesichts des herrschenden politi- kunft die Bestimmung des lebensnotwenigen schen Kräfteverhältnisses muss befürchtet Grundbedarfs nur noch Spielball des herr- werden, dass mit einem weiteren Abbau der schenden politischen Kräfteverhältnisses wird. Leistungen gerechnet werden muss. Die SODK übernimmt den Lead 8. Die Büchse der Pandora ist geöff- Die Revision wird von der SODK an ihrer net Sitzung vom 21. September 2015 definitiv Der Wettlauf nach unten ist eröffnet, die Büch- gutgeheissen. Die beiden Konferenzen hatten se der Pandora ist geöffnet. Das zeigt das Bei- sich nämlich bereits im Herbst 2014 geeinigt, spiel des Kantons Bern. Hier überweist der dass zukünftig die SODK die Sozialhilfericht- Grosse Rat 2013 eine Motion der SVP mit dem linien erlassen werde. Obwohl mit diesem Titel „Kostenoptimierung in der Sozialhilfe“, Übergang zu einem politischen Organ (SODK) welche eine generelle Absenkung der Sozial- eine gewisse Erhöhung der Legitimation der hilfeansätze um 10% verlangt21. Diese Forde- SKOS-Richtlinien erwartet werden kann, ver- rung ist umso stossender, als der Kanton Bern abschiedet sich die SKOS damit von ihrer her- nicht einmal den von der SKOS empfohlenen kömmlichen Funktion als Fachorgan und ver- Teuerungsausgleich der Sozialhilfeansätze von lagert damit auch die Auseinandersetzung um 2013 nachvollzieht. Der Regierungsrat eröff- die Ansätze in der Sozialhilfe definitiv auf die net dazu eine Vernehmlassung zur entspre- Ebene der politischen Auseinandersetzung. chenden Revision des Sozialhilfegesetzes22. Dies zeigt sich auch darin, dass mehrere Revi- sionspunkte in der fachlichen Diskussion (sie- 21 Im Wallis wird kurz darauf eine fast gleichlau- he Vernehmlassungsergebnisse) keineswegs tende Motion, diesmal seitens CVP, eingereicht. 22 Im Revisionsvorschlag des Sozialhilfegesetzes 20 Neben dem Verzicht auf die Absenkung des des Regierungsrates wird nicht nur reine Reduktion Grundbedarfs für junge Erwachsene und Grossfa- der Ansätze für junge Erwachsene vorgeschlagen, milien, hätte der Grundbedarf für Ein- und Zwei- sondern auch für den Regierungsrat die Möglich- personenhaushalte unter Beibehaltung der Refe- keit eröffnet, „für weitere Personengruppen die renzgrösse von 10% gemäss Studie des BFS um wirtschaftliche Hilfe einzuschränken“ (Art. 30, rund 100 Franken erhöht werden müssen. Antrag Regierungsrat, Änderung SHG). Würde 14
Sie können auch lesen