Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...

Die Seite wird erstellt Vera Harms
 
WEITER LESEN
Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...
Abschlussbericht

Geflüchtete Familien
wirksam unterstützen.
Eine systemische
Evaluationsstudie der
Familienbildungs-
programme
Willkommen mit IMPULS,
HIPPY und Opstapje.

Forschungsleitung
Prof. Dr. Annette Korntheuer,
Katholische Universität
Eichstätt-Ingolstadt

Eichstätt, Januar 2021
Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...
ABBILDUNGEN
Inhaltsverzeichnis

                                                                                     Abb. 1: Geflüchtete in Deutschland (eigene Darstel-
                                                                                              lung; Quellen: Bundesamt für Migration und
                                                                                              Flüchtlinge, 2019b; Statistisches Bundesamt,
                                                                                              2019)                                        8
                                                                                     Abb. 2: Forschungsprozess und Datenquelle
                                                                                              (Im vergleich mit S.11, eigene Herstellung) 12
                     Wir danken allen Kindern, Eltern, Hausbesucherinnen             Abb. 3: Entwicklung der Teilnehmendenzahlen HIPPY
                     und Koordinatorinnen, die an dieser Studie mitgewirkt                    und Opstapje 2015 - 2018
                     haben, für ihre Zeit und Unterstützung, für die offenen                  (eigene Darstellung)                        18
                     Gespräche und dafür, dass wir Hausbesuche und                   Abb. 4: Teilnahme von Familien aus Asylherkunfts-
                     Gruppentreffen begleiten durften. Im Rahmen der                          ländern nach Bildungsprogramm 2015
                     Programmbeobachtung mit Kindern, Eltern und                              (eigene Darstellung)                        20
                     Hausbesucherinnen erhielt jedes Kind ein Geschenk               Abb. 5: Teilnahme von Familien aus Asylherkunfts-
                     bestehend aus Mal- und Zeichenmaterialien und wurde                      ländern nach Bildungsprogramm 2018
                     gefragt, ob es ein Bild der Hausbesucherin bzw. des                      (eigene Darstellung)                        20
                     Hausbesuchs malen wolle. Die Eltern und Hausbesuche-            Abb. 6: Barrieren der Programmteilnahme
                     rinnen wurden gebeten, sich zurückzuhalten und das                       (eigene Darstellung)                        21
                     Kind malen bzw. zeichnen zu lassen, was immer es                Abb. 7: Laufende, abgeschlossene und abgebrochene
                     wollte. Die teilnehmenden Kinder waren zwischen 18                       Programmteilnahme 2018 (eigene Darstellung)22
                     Monaten und 6 Jahren alt. Die zwischen den Kapiteln             Abb. 8: Auswirkungen auf die Integration
                     eingefügten Bilder vermitteln einen kleinen Eindruck                     geflüchteter Familien (eigene Darstellung) 23
                     davon, wie sie die Hausbesuche und Hausbesucherin-              Abb. 9: Primäre Ressourcen für erfolgreiche
                     nen wahrgenommen haben.                                                  Programmteilnahme (eigene Darstellung) 27
                                                                                     Abb. 10: Sprachgebrauch während der Hausbesuche
                                                                                              (eigene Darstellung)                        32

                     Forschungsleitung
                     Prof. Dr. Annette Korntheuer
                                                                                     TABELLEN
                     Fakultät für Soziale Arbeit
                     Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt                    Tab. 1: Evaluationskriterien (eigene Darstellung
                                                                                             basierend auf Ager & Strang, 2008; IMPULS
                                                                                             Deutschland Stiftung e.V., 2018)          13
                     Forschungsteam (in alphabetischer Reihenfolge)                  Tab. 2: Übersicht über die untersuchten Programme
                     Nisrin Habib                                                            und Samplegrößen (eigene Darstellung)     17
                     Rayan Korri
                                                                                     Tab. 3: Teilnehmende aus Asylherkunftsländern
                     Sarah Kluge
                     Sarah Schönweitz                                                        2015-2018 (eigene Darstellung)            19
                     Naseem Sadet Tayebi                                             Tab. 4: Falldimensionen (eigene Darstellung)      24

                     Studie gefördert durch

                                          Immigration, Refugees                   Immigration, Réfugiés
                                          and Citizenship Canada                  and Citoyenneté Canada

                     DOI: 10.17904/ku.edoc.25487

                     Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
                     Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...
INHALTSVERZEICHNIS
1.      Einleitung                                                                                            5
2.      Die Situation geflüchteter Familien in Deutschland: Stand der Forschung                               7
2.1     Fakten und Zahlen zu geflüchteten Familien in Deutschland                                             7
2.2     Eingeschränkte Möglichkeiten: Teilhabe geflüchteter Familien an der Aufnahmegesellschaft              8
2.3     Stand der Forschung zu Familien mit Flucht- und Migrationserfahrung in Familienbildungsprogrammen    10
3.      Durchführung der Mixed-Methods-Evaluationsstudie                                                     12
3.1     Forschungsdesign                                                                                     12
3.2     Theoretischer Rahmen und Evaluationskriterien                                                        13
3.3     Forschungsfragen                                                                                     14
3.4     Datenerhebung und Sample                                                                             14
3.5     Datenanalyse                                                                                         15
4.      Familien mit Fluchterfahrung in Familienbildungsprogrammen:
        HIPPY, Opstapje und Willkommen mit IMPULS                                                            16
4.1     Überblick über die untersuchten Programme: HIPPY, Opstapje und Willkommen mit IMPULS                 16
4.2     Allgemeine Befunde: Teilnahme geflüchteter Familien, Herausforderungen und Wirkungen                 18
4.2.1   Programmteilnahme                                                                                    18
4.2.2   Programmzugang für geflüchtete Familien                                                              21
4.2.3   Herausforderungen für geflüchtete Familien und vorzeitiger Abbruch der Teilnahme                     21
4.2.4   Programmspezifische Herausforderungen                                                                22
4.2.5   Wirkungen (Outcomes) der Programme                                                                   23
5.      Die Rolle von Familienbildungsprogrammen in der Inklusion geflüchteter Familien in Deutschland       24
5.1     Die herausfordernde Lebenssituation von Familien mit Fluchterfahrung                                 24
5.2     Wie beeinflussen Familienbildungsprogramme die Inklusion geflüchteter Familien?                      27
5.2.1   Vertrauen schaffen: Emotionale Stabilisierung durch langfristige Beziehungen                         27
5.2.2   Brücken bauen: Kontakte zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft knüpfen                            28
5.2.3   Förderung der kognitiven, sprachlichen und sozialen Kompetenzen der Kinder                           30
5.2.4   Mehrsprachigkeit in der Familie leben: Abbau von Kommunikationsbarrieren durch Vertrauen
        in die Familiensprache                                                                               33
5.2.5   Nachdenken über Geschlechterrollen, Familienarbeit und Erwerbstätigkeit fördern                      34
5.2.6   Grenzen und Herausforderungen der Programme für geflüchtete Familien                                 37
5.3     Überblick zu den Evaluationskriterien: Aufbau sozialer Beziehungen und Erreichen der Programmziele   40
5.3.1   Nicht oder nur teilweise zutreffende Kriterien                                                       40
5.3.2   Teilweise bis größtenteils erfüllte Evaluationskriterien                                             41
5.3.3    Größtenteils oder vollständig erfüllte Evaluationskriterien                                         41
6.      Diskussion der Ergebnisse                                                                            43
6.1     Transnationales „doing family“ unter restriktiven Bedingungen                                        43
6.2     Essentialisierung geflüchteter Familien und zielgruppenspezifische Ansätze                           44
6.3     Politische Dimensionen von Familienbildung im Kontext von Fluchtmigration                            45
6.4     Aufsuchende Arbeit und Peer-to-Peer-Ansatz                                                           46
7.      Konkrete Handlungsempfehlungen: Stärkung des Diversitäts- und Intersektionalitäts-
        bewusstseins in Familienbildungsprogrammen                                                           48
8.      Literatur                                                                                            50
9.      Anhang mit Untersuchungsinstrumenten und Tabellen                                                    53
Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...
ZUSAMMENFASSUNG
Zusammenfassung

                  Deutschland hat von 2015 bis 2018 viele geflüchtete       Fallanalysen von Programmstandorten und einer
                  Familien aufgenommen (Korntheuer et al., 2020; BAMF,      deutschlandweiten Onlinebefragung weiterer Pro-
                  2019b). Zwischen Januar 2014 und Dezember 2018            grammstandorte (N = 68) rekonstruieren wir fünf
                  kamen so ca. 144.000 geflüchtete Kinder unter sieben      zentrale Funktionen für die Inklusion geflüchteter Fami-
                  Jahren als Asylsuchende nach Deutschland (Gambaro         lien: i) Aufbau von Vertrauen: emotionale Stabilisierung
                  et al., 2019). Laut aktueller Forschungsergebnisse        durch langfristige Beziehungen zu den Hausbesu-
                  bedarf es flexiblerer und individueller zugeschnittener   cher*innen; ii) Brückenfunktion: Kontakte zu den
                  Programme oder Peer-to-Peer-Ansätze, um geflüchtete       Institutionen der Aufnahmegesellschaft werden
                  Mütter und ihre Familien wirksam zu unterstützen.         gestärkt; iii) Förderung der kognitiven, sprachlichen
                  Aufsuchende Bildungs- und Beratungsformate werden         und emotionalen Entwicklung der Kinder; iv) Abbau
                  als Promising Practices beschrieben, um die gesell-       von Kommunikationsbarrieren durch Stärkung des
                  schaftliche Inklusion dieser Familien zu ermöglichen      Vertrauens in die Verwendung der Familiensprache
                  (BMFSJ, 2018; Mörath, 2019).                              und v) Förderung der Reflexion von Geschlechterrollen,
                  Diese Evaluationsstudie geht der Frage nach, welche       Familienarbeit und Berufstätigkeit. Unserer Ansicht
                  Rolle Familienbildungsprogramme bei der Förderung         nach liegen die Grenzen bzw. Herausforderungen,
                  erfolgreicher Integrationswege geflüchteter Familien in   denen sich die Programme vor allem stellen müssen, in
                  Deutschland spielen. Laufende Programme wie               der Verwendung standardisierter Materialien für
                  Willkommen mit IMPULS (WmI), HIPPY (Home Instruc-         heterogene Familien und im begrenzten Zeitrahmen
                  tion for Parents of Preschool Youngsters) und Opstapje    der Hausbesuche. Ziel unserer konkreten Handlungs-
                  werden untersucht. Unser Ziel ist ein besseres Ver-       empfehlungen ist, dass Familienbildungsprogramme
                  ständnis sowohl der Lebenssituationen von geflüchte-      mehr Bewusstsein für Diversität und Intersektionalität
                  ter Familien in Deutschland als auch der Bedeutung        entwickeln. Wir empfehlen acht konkrete Schritte, um
                  von Familienbildung für die Inklusion in der Aufnahme-    die Programme weiterzuentwickeln, den Bedarfen von
                  gesellschaft. Unser Mixed-Methods-Ansatz umfasst          Familien mit Fluchterfahrung noch besser gerecht zu
                  qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtung, die     werden und zur Verwirklichung ihrer Bildungsrechte
                  Analyse quantitativer Teilnehmendendaten und eine         beizutragen.
                  Onlinebefragung. Die Zahl der in Deutschland an
                  IMPULS-Programmen wie HIPPY und Opstapje teilneh-
                  menden und aus Asylherkunftsländern stammenden
                  Familien ist von 351 im Jahr 2015 auf 719 im Jahr 2018
                  gestiegen. Wie die Daten belegen, lässt sich dieser
                  Trend hauptsächlich durch den kontinuierlichen
                  Zuwachs an Familien aus vier Herkunftsländern
                  erklären: Syrien, Afghanistan, Eritrea und Sudan. Die
                  Zahl der Familien syrischer Herkunft hat sich während
                  des Untersuchungszeitraums beispielsweise versieben-
                  facht. Anhand von 22 Fallanalysen von Familien, sieben
1. EINLEITUNG

Heute war es aber anders. Wir saßen mit der Hausbesu-                  Kanada und Deutschland stehen vor ähnlichen
                                                                                                                                     04 / 05
cherin zusammen und sie fing an zu spielen. Also, sie                  Herausforderungen
haben das Essen hingestellt und so, Kindersachen meine
ich… Sie fingen an, zusammen zu kochen, zusammenzu-                    Beide Länder haben von 2015 bis 2018 eine hohe Zahl
spielen. Ich hatte das Gefühl, dass sie [die Tochter] ein              geflüchteter Familien aufgenommen (Korntheuer et al.,
wenig mit ihr interagierte. Das gefiel mir, weil das ihre              2020). Zwischen Januar 2014 und Dezember 2018
Persönlichkeit stärkt. Das macht ihre Persönlichkeit                   kamen ca. 144.000 geflüchtete Kinder unter sieben
stärker, sie ist [dann] nicht mehr so schüchtern und hat               Jahren als Asylsuchende nach Deutschland (Gambaro
nicht mehr Angst vor irgendjemandem. (Transkript,                      et al., 2019, S.2). Kanada nahm zwischen 2015 und
2_RK) 1                                                                2018 über 120,000 Geflüchtete im Rahmen humanitä-
                                                                       rer Resettlement-Programme auf, davon rund ein
Mit diesen Worten beschreibt Nadia, Mutter einer                       Drittel syrischer Herkunft (Pritchard et al., 2020, S. 14).
zweijährigen Tochter, die positiven Auswirkungen des                   Ziel dieser kanadischen Programme ist es, besonders
Opstapje-Programms auf ihr Kind. Nadia und ihr                         schutzbedürftige Personengruppen Zuflucht zu bieten.
Ehepartner sind vor dem Krieg in Syrien geflohen und                   Vorrang haben Familien, gefährdete Frauen und
leben seit rund vier Jahren in Deutschland. Hier kam                   LGBTI-Personen (IRCC, 2018). Diese Priorisierung zeigt
ihre Tochter Mahdia zur Welt.                                          sich an den über 25.000 syrischen Geflüchteten, die
                                                                       zwischen November 2015 und Januar 2016 in Kanada
Mahdias Eltern gehörten zu den vielen Einzelpersonen                   ankamen. Über die Hälfte der Gruppe war jünger als 18
und Familien, die im sogenannten „Sommer der                           Jahre und viele gehörten zu Familien mit 4 bis 6
Migration“ 2015 nach Deutschland kamen. Der                            Mitgliedern (40 %). 765 der neuzugewanderten
plötzliche Anstieg der Zahlen von Schutzsuchenden im                   Familien haten mehr als 6 Familienmitglieder (IRCC,
Jahr 2015 schärfte das Bewusstsein dafür, dass der                     2018, S. 19). Zudem kam eine große Zahl Asylsuchen-
Zugang von geflüchteten Familien und Kindern in das                    der nach Kanada, 50.000 im Jahr 2017 und 55.000 im
gesamte Bildungssystem gefördert werden muss.                          Jahr 2018. Mit 26 %, war ein bedeutender Anteil der
Verschiedenste Akteur*innen: Praktiker*innen,                          Asylsuchenden von 2017 Kinder zwischen 0 und 14
Organisationen und öffentliche Einrichtungen in                        Jahren (Pritchard et al. 2020; Statistics Canada, 2019).
Aufnahmeländern bemühen sich seither darum,
bedarfsorientierte Lösungen zu entwickeln, um die                      Aktuelle Daten aus Deutschland belegen, dass die neue
Inklusion von Familien mit Fluchterfahrung zu unter-                   Kohorte Geflüchteter gut integriert ist, vor allem mit
stützen.                                                               Blick auf den Arbeitsmarkt (Brücker et al., 2019a). Laut
                                                                       einer kürzlich erschienen Studie (BMFSJ, 2019) sind in
Diese von Immigration, Refugees and Citizenship                        Deutschland über 78 % der geflüchteten Frauen
Canada (IRCC)2 finanzierte Studie untersucht die                       zugleich Mütter. Es gibt zunehmend wissenschaftliche
Situation geflüchteter Familien in Deutschland sowie                   Belege dafür, dass geflüchtete Mütter in der Aufnah-
die Umsetzung und Wirkung von Familienbildungspro-                     megesellschaft mit stärkeren Barrieren als andere
grammen. Ziel ist ein besseres Verständnis sowohl der                  Neuzugewanderte konfrontiert sind (Brücker et al.,
Lebenswelten geflüchteter Familien in Deutschland als                  2019a; Worbs & Baraulina, 2017). Die Teilhabe an
auch der Rolle von Familienbildung bei der Inklusion in                Spracherwerb und Arbeitsmarkt zeigt sich eng ver-
die Aufnahmegesellschaft. Anhand unserer Studiener-                    knüpft mit dem Geschlecht und der familiären Situati-
gebnisse können wir „Promising Practices“, notwendige                  on. Herausfordernd für Familien ist der begrenzte
Rahmenbedingungen und Handlungsempfehlungen                            Zugang zu frühkindlicher Bildung und Kinderbetreuung
herausarbeiten.                                                        (Gambaro et al., 2019). Die Initiative für die vorliegende

1
    In den Transkripten steht (...) für eine Auslassung von Text, (---) für eine Sprechpause. Anmerkungen, Erklärungen und
    nonverbale Kommunikation sind in eckigen Klammern [] hinzugefügt.
2
    Das kanadische Ministerium für Einwanderung, Geflüchtete und Staatsbürgerschaft.
Studie ging von den kanadischen und deutschen             Aufbau des Berichts
            Nichtregierungsorganisationen Mother Matters und
            IMPULS Deutschland e.V. aus. Auch ihre Praxiserfah-       Dieser Bericht liefert im ersten Schritt einen kurzen
Kapitel 1

            rungen bestätigten erschwerte Integrationsbedingun-       Einblick in den aktuellen Forschungsstand hinsichtlich
            gen für geflüchtete Familien in beiden nationalen         der Lage geflüchteter Familien in Deutschland (Kap. 2).
            Kontexten.                                                Zwischen 2015 und 2018 hat Deutschland eine große
                                                                      Zahl geflüchteter Familien aufgenommen. Diese kamen
            Wie tragen Familienbildungsprogramme zu erfolgrei-        meist als Asylsuchende ins Land. Rechtliche Rahmen-
            cheren Integrationsverläufen bei?                         bedingungen und das Asylverfahren können, neben
                                                                      individuellen und anderen strukturellen Faktoren, die
            Laut aktueller Forschungsberichte bedarf es flexiblerer   Chancen und Optionen von Eltern und Kindern mit
            und stärker individuell zugeschnittener Programme         Fluchterfahrung einschränken. Die Bedeutung von
            oder Peer-to-Peer-Ansätze, um wirksame Unterstüt-         Familienbildungsprogramme wie HIPPY und Opstapje
            zungsstrukturen für geflüchtete Mütter zu schaffen.       für die Integration von Familien mit Migrationserfah-
            Darüber hinaus werden Formen von aufsuchender             rung wurde bereits mehrfach empirisch bearbeitet.
            Arbeit und niedrigschwellige Angebote empfohlen           Auch hier geben wir einen kurzen Einblick in bisherige
            (BMFSJ, 2018; Mörath, 2019).                              Ergebnisse.

            Diese empirische Studie untersucht, welche Rolle          Im zweiten Schritt (Kap. 3) zeigen wir, wie unsere
            Familienbildungsprogramme bei der Unterstützung von       Mixed-Methods-Evaluationsstudie methodologisch
            geflüchteten Familien in Deutschland spielen. Program-    umgesetzt wurde. Unsere Ergebnisse diskutieren wir in
            me wie Willkommen mit IMPULS (WmI), HIPPY und             den darauffolgenden drei Abschnitten, beginnend mit
            Opstapje wurden auf übertragbare Erfolgsfaktoren hin      einem kurzen Überblick über Familien mit Fluchterfah-
            untersucht. Der Mixed-Methods-Ansatz umfasst              rung in den IMPULS-Programmen HIPPY, Opstapje und
            qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtung, die     Willkommen mit IMPULS (WmI) (Kap. 4). Die Auseinan-
            Analyse quantitativer Teilnehmendendaten und eine         dersetzung mit der Frage, welche Funktion Familienbil-
            Onlinebefragung.                                          dungsprogramme für diese Zielgruppe haben (Kap .5),
                                                                      setzt voraus, die Lebenssituation geflüchteter Familien
            Wir analysieren, inwiefern Familienbildungsprogramme      in Deutschland zu erforschen und zu verstehen (5.1).
            auf soziale Beziehungsnetzwerke der geflüchteten          Basierend auf unserer Analyse von 22 Fallanalysen von
            Familien wirken und somit als wichtige Vermittlungsin-    Familien, sieben Fallanalysen von Programmstandorten
            stanzen für erfolgreiche Integrationsverläufe im Sinne    und einer Onlinebefragung (N = 68) erläutern wir fünf
            des von Ager und Strang (2008) entwickelten Integrati-    zentrale Funktionen der Programme für die Inklusion
            onsmodells gelten können. Gelingt es durch oder in        der geflüchteten Familien und legen dar, wo die
            den untersuchten Programmen soziale Brücken zu            Programme an Grenzen stoßen und vor welchen
            Angehörigen der Aufnahmegesellschaft zu schlagen          Herausforderungen sie stehen (5.2). Anschließend
            und soziale Bindungen und Beziehungen zu Angehöri-        fassen wir die Befunde mit Blick auf die Bewertungskri-
            gen der eigenen ethnokulturellen, sprachlichen oder       terien zusammen (5.3) und diskutieren unsere Ergeb-
            religiösen Community zu fördern? Wir fragen zudem,        nisse (Kap. 6). Ziel unserer konkreten Handlungsemp-
            ob sie Zugang zu Institutionen der Aufnahmegesell-        fehlungen (Kap. 7) ist, dass Familienbildungs
            schaft eröffnen. Zusätzlich orientieren sich unsere       Programme ein höheres Bewusstsein für Diversität und
            Evaluationskriterien an den konzeptionellen und           Intersektionalität entwickeln. Wir formulieren acht
            strategischen Zielsetzungen der IMPULS-Programme.         konkrete Schritte mithilfe derer Programme den
            Ihr Ziel ist die Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung und   Bedarfen und Bildungsrechten von Familien mit
            der elterlichen Handlungsfähigkeit sowie die Förderung    Fluchterfahrung besser gerecht werden können.
            der kindlichen Entwicklung durch ein ganzheitliches
            Programm zur frühkindlichen Bildung (IMPULS
            Deutschland Stiftung e.V., 2018).
2.       DIE SITUATION GEFLÜCHTETER FAMILIEN IN
         DEUTSCHLAND: STAND DER FORSCHUNG

2.1 Fakten und Zahlen zu geflüchteten                              aufgenommene Geflüchtete umfasst (Statistisches
    Familien in Deutschland                                        Bundesamt, 2019, S. 5). Für unsere Studie nutzen wir           06
                                                                                                                                  06//07
                                                                                                                                      07

                                                                   den Begriff „geflüchtete Familien“ oder „Familien mit
Aufgrund ihrer geografischen Lage im Verhältnis zu                 Fluchterfahrung“ für Menschen mit unterschiedlichem
Konfliktschauplätzen und Migrationswegen sowie ihrer               Aufenthaltsstatus, die in Deutschland Schutz suchen.
jeweiligen politischen Kontexte und humanitären                    Abbildung 1 gibt einen Überblick zu den Zahlen von
Verpflichtungen gehen Länder wie Deutschland und                   Schutzsuchenden und Asylbewerber*innen in Deutsch-
Kanada unterschiedlich mit Fluchtmigration um. Daher               land. Die Zahl neu ankommender Asylbewerber*innen
unterscheiden sich auch die für Geflüchtete jeweils                ist seit 2016 signifikant gesunken, während die Gruppe
geltenden rechtlichen Definitionen und Kategorien. In              der Schutzsuchenden nur noch leicht ansteigt. Am 31.
Deutschland beantragen Geflüchtete üblicherweise bei               Dezember 2018 lebten über 167.000 „schutzsuchende
ihrer Ankunft im Land Asyl. Andere nationale und                   Kinder“ unter 6 Jahren in Deutschland. Zwischen
europäische Möglichkeiten, wie das humanitäre                      Januar 2014 und Dezember 2018 kamen rund 144.000
Aufnahme- oder Resettlement-Programm3, sind                        geflüchtete Kinder unter sieben Jahren als Asylsuchen-
weniger bekannt. Kanada hingegen verfügt über                      de nach Deutschland (Gambaro et al., 2019, S.2). Das
langjährige Erfahrung mit Resettlement. Dort richten               häufigste Herkunftsland der hier lebenden Geflüchte-
sich Unterstützungsangebote mehrheitlich an Geflüch-               ten ist Syrien (745.645), gefolgt von Afghanistan, Irak
tete, die im Rahmen von Resettlement-Programmen                    und Iran (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 148).
aufgenommen wurden, und nicht an Asylsuchende
(Hynie et al., 2019).                                              Ein Gutachten des Bundesministeriums für Familie,
                                                                   Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gibt Aufschluss
Der Rechtsstatus als Geflüchtete*r wird gemeinhin auf              über die Familienstrukturen geflüchteter Familien in
Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention definiert.              Deutschland. Beim Familienstatus zeigen sich deutliche
Allerdings kann man diese Definition auch kritisch                 Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Die
sehen, da sie die Heterogenität und Diversität der                 überwiegende Mehrheit (81 %) der Frauen ist verheira-
Gründe und Prozesse, die zu Fluchtmigration führen,                tet, während der Anteil verheirateter Männer bei 47 %
nicht ausreichend berücksichtigt. (Arbeits-) Migration             liegt (BMFSFJ 2019). Mit 81 % kamen die meisten
und Fluchtmigration sollten nicht als binäres Gegen-               geflüchteten Frauen in Begleitung ihrer Familie nach
satzpaar verstanden werden, denn Erfahrungen                       Deutschland, wohingegen 53 % der Männer alleine
existenzieller Armut und bewaffneter Konflikte                     eingereist sind. Von den Frauen haben 78,4 % mindes-
überschneiden sich im Einzelfall häufig mit der Hoff-              tens ein Kind unter 18 Jahren und über die Hälfte
nung auf Bildungschancen und wirtschaftlichen                      dieser geflüchteten Mütter (51,8 %) hat mindestens ein
Wohlstand (Scherr & Scherschel, 2019). Das Statisti-               Kind unter 6 Jahren (BMFSFJ, 2019, S. 14). Der Bericht
sche Bundesamt verwendet den Begriff „Schutzsu-                    enthält auch Angaben zur Familiengröße: 18 % der
chende“, um eine weiter gefasste Kategorie zu definie-             Frauen haben ein Kind, 24,5 % zwei Kinder und 36 %
ren, die Asylsuchende, anerkannte Geflüchtete,                     drei oder mehr Kinder unter 18 Jahren (BMFSFJ, 2019,
Personen mit einer so genannten Duldung4 und im                    S. 16). Alleinerziehend sind 15 % der geflüchteten
Rahmen humanitärer Resettlement-Programme                          Mütter, aber lediglich 6 % der Väter. Bei 9 % der

3
  „Resettlement bezeichnet die dauerhafte Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus einem Land, in dem sie bereits
als Geflüchtete leben, in einen zur Aufnahme bereiten Drittstaat. Dieser Staat gewährt den Betroffenen eine direkte und sichere
Einreise und einen umfassenden Flüchtlingsschutz. Die Flüchtlinge werden in einem komplexen Verfahren unter Beteiligung des
Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) ausgewählt. Resettlement ist kein Ersatz für reguläre Asylverfahren, son-
dern nur eine Ergänzung zum Schutz besonders vulnerabler Flüchtlinge.“ (www.resettlement.de, Zugriff am 20.10.2020)
4
  Wenn der Asylantrag abgelehnt wurde, aber Abschiebehindernisse bestehen (z. B. keine Reisedokumente vorliegen), erhält die
betreffende Person in der Regel eine sogenannte Duldung. Dieser Status bedeutet lediglich eine Aussetzung der Abschiebung und
geht mit einer hochgradigen Rechtsunsicherheit einher (Korntheuer, 2017).
geflüchteten Eltern lebt mindestens ein Kind in einem             Restriktionen beim Familiennachzug (Westphal et al.,
            anderen Land. Die Trennung von den Kindern beein-                 2019). Geflüchtete Familien sind oftmals auseinander-
            trächtigt die Lebenszufriedenheit der Eltern am                   gerissen und über die ganze Welt verstreut. Die
Kapitel 2

            stärksten – ihr Wohlbefinden leidet erheblich, wenn               familiäre Einheit über verschiedene Orte und Zeiten
            eines (oder gar alle) ihrer Kinder im Ausland lebt                hinweg aufrechtzuerhalten und weiterzuführen
            (BMBFSJ, 2019).                                                   erfordert transnationale Formen der familiären
                                                                              Kommunikation und Interaktion. In diesem Zusammen-
            Laut Westphal et al. findet geflüchtetes Familienleben            hang bedeutet „doing family“ die Wiederherstellung
            in restriktiven Strukturen und im transnationalen                 und Stärkung der familiären Bindungen durch häufige
            Rahmen statt (Westphal & Aden, i.E.; Westphal,                    (Video-)Telefonate, Whatsapp-Nachrichten oder
            Motzek-Öz & Aden, 2019). Im Gegensatz zu einem                    Geldüberweisungen (Westphal et al., i.E.).
            modernen und wissenschaftlichen Verständnis,
            wonach Familie als Begriff für unterschiedliche Formen            2.2 Eingeschränkte Möglichkeiten: Teilhabe
            des intergenerationalen Zusammenlebens steht, wird                    geflüchteter Familien an der Aufnahme-
            sie im Kontext der Fluchtmigration auf konservative                   gesellschaft
            und traditionelle Weise als aus Vater, Mutter und ihren
            Kindern bestehend definiert. Abgesehen von der                    Geflüchtete Familien kommen mehrheitlich als Asylsu-
            Tatsache, dass diese Definition die Lebensrealität vieler         chende nach Deutschland. Restriktive Asylpolitik kann
            geflüchteter Familien gar nicht widerspiegelt, sind               zu unsicheren und schwierigen Lebensverhältnissen
            sogar „Kern- oder Normfamilien“ von rechtlichen                   führen und Teilhabeprozesse in der Aufnahmegesell-
            Beschränkungen betroffen, beispielsweise durch                    schaft behindern. Nach dem Asylbewerberleistungsge-

                                              2.000.000

                                              1.800.000

                                              1.600.000

                                              1.400.000

                                              1.200.000

                                              1.000.000

                                                800.000

                                                600.000

                                                400.000

                                                200.000

                                                       0
                                                                  2 015             2 016             2 017             2 018
                          Registrierte Asylbewerber*innen       890.000            2 80.000          186.644           164.693
                          Anzahl der Asylanträge                441.899            722.370           198.317           161.931
                          Schutzsuchende                       1.036.240          1.597.565         1.680.705         1.781.750
                          Schutzsuchende Kinder unter 6
                                                                 70.464            135.793           156.306           167.484
                                     Jahren

                 Abbildung 1: Geflüchtete in Deutschland (eigene Darstellung; Quellen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2019b;
                 Statistisches Bundesamt, 2019)
setz (AsylBLG) bekommen Asylsuchende eine Unter-          me am gesellschaftlichen Leben, sondern fördert auch
kunft zur Verfügung gestellt (meist in Gemeinschafts-     ihre Selbstbestimmung (Babeyeva et al., 2018, S. 58).
unterkünften) und erhalten medizinische Grundversor-      Allerdings belegen diverse Studien, dass für geflüchtete
gung und Grundsicherung zum Teil in Form von              Frauen und insbesondere für Mütter hohe Zugangsbar-
Sachleistungen. Wie lange geflüchtete Familien unter      rieren bestehen (BMFSFJ, 2018; Brücker et al., 2019a;
diesen Bedingungen leben müssen, hängt von der            Gambaro et al., 2019; Liebig & Tronstad, 2018; Worbs &
                                                                                                                     08 / 09
Dauer ihres Asylverfahrens ab. Eine anhaltende            Baraulina, 2017). Eine kürzlich im Auftrag des Deut-
Unsicherheit des Rechtsstatus kann schwerwiegende         schen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW) durch-
Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das        geführte Studie zeigt die zunehmende Teilnahme
Wohlbefinden Geflüchteter haben (Lewek & Naber,           Geflüchteter an Sprachkursen und am Arbeitsmarkt
2017, S. 9). Nach dem Wechsel in eine dauerhaftere        (Brücker et al., 2019a). Dennoch ist der Zugang zu
Unterkunft werden sie zumeist in kommunal betriebe-       Sprachkursen und insofern auch zu sprachlichen
nen Einrichtungen untergebracht, die von kleineren        Kompetenzen stark mit dem Geschlecht und der
Einheiten für nur wenige Familien bis zu Massenunter-     familiären Situation verknüpft. Während 48 % der
künften mit Hunderten von Wohneinheiten reichen           kinderlosen Männer über gute bis sehr gute deutsche
können. Der Koalitionsvertrag der seit 2018 amtieren-     Sprachkenntnisse verfügen, trifft dies nur für 19 % der
den Bundesregierung sieht die Einführung einer neuen      geflüchteten Mütter zu. Im zweiten Halbjahr 2017
Art von Aufnahmeeinrichtung vor: Ankunfts-, Entschei-     waren 27 % der geflüchteten Männer erwerbstätig,
dungs-, kommunale Verteilungs- und Rückführungszen-       aber nur 6 % der geflüchteten Frauen. Mit nur 3 % liegt
tren (AnkER-Zentren). Allerdings wurde dieses Modell      die Erwerbsquote geflüchteter Mütter mit kleinen
bislang noch nicht in allen Bundesländern umgesetzt.      Kindern besonders niedrig (Brücker et al., 2019a).
Ungeachtet ihres Herkunftslandes und ihrer Bleibeaus-
sichten in Deutschland sollen Asylsuchende bis zur        Beschäftigungshindernisse zeigen sich in den folgenden
Entscheidung über ihren Asylantrag in diesen Zentren      Bereichen:
verbleiben (maximal für 18 Monate, Familien mit           - Qualifikation: fehlende Nachweise und Berufs-
Kindern maximal für 9 Monate) (BAMF, 2019a).                erfahrung
                                                          - Psychische Verfassung: traumatische Erfahrungen
Das Gesetz erlaubt anerkannten Geflüchteten, von der        vor, während und nach der Flucht
Gemeinschaftsunterkunft in eine eigene Wohnung            - Familie: Fokus auf Familien- und Care-Arbeit
umzuziehen. Sie können Sozialleistungen in Anspruch       - Kulturelles Milieu: traditionelle Geschlechterrollen
nehmen, staatlich finanzierte Sprach- und Integrations-   - Strukturelle Beschränkungen: begrenzter Zugang zu
kurse besuchen und an Qualifizierungsprogrammen             Sprachkursen, fehlende Kinderbetreuung während
des Jobcenters bzw. der Arbeitsagentur teilnehmen.          der Kurse und die eingeschränkte Verfügbarkeit und
Dennoch stehen sie vor grundlegenden Herausforde-           Zugänglichkeit von frühkindlicher Bildung für
rungen und Hindernissen wie etwa der Wohnungs-              jüngere Kinder (BMFSFJ, 2018; Brücker et al., 2019a;
knappheit in den großen urbanen Zentren (Korntheuer         Gambaro et al., 2019; Liebig & Tronstad, 2018;
& Hergenröther, 2020).                                      Worbs & Baraulina, 2017).

Teilhabe an und Zugang zu wichtigen Bereichen der         Der Schlüssel für gelungene Teilhabe der Mütter
Aufnahmegesellschaft, wie beispielsweise Gesund-          scheint auch darin zu liegen, Kindern den schnellstmög-
heitsversorgung, Wohnraum, Arbeitsmarkt und               lichen Zugang zum Bildungssystem zu eröffnen.
Bildungswesen, sind multifaktorielle Prozesse, die von    Allerdings ist dies ebenfalls mit deutlichen Schwierig-
individuellen wie strukturellen Faktoren beeinflusst      keiten verbunden, denn der gleichberechtigten
werden. Die folgenden Abschnitte untersuchen zwei         Bildungsteilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher
miteinander verknüpfte Aspekte des gegenwärtigen          stehen signifikante Hindernisse entgegen (El-Mafaalani
Forschungsstandes: i) den begrenzten Zugang geflüch-      & Massumi, 2019; Korntheuer, 2016; Korntheuer &
teter Mütter zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt         Damm, 2019; Pavia Lareiro, 2019, S. 3). Der Zugang
und ii) die eingeschränkte Bildungsteilhabe geflüchte-    hängt zum einen davon ab, in welchem Bundesland das
ter Kinder.                                               Kind lebt, und zum anderen vom Herkunftsland und
                                                          den damit verbundenen individuellen Bleibeaussichten
Der Zugang zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt           (Abdallah-Steinkopf, 2018, S. 20; El-Mafaalani &
ermöglicht geflüchteten Mütter nicht nur die Teilnah-     Massumi, 2019, S. 10). Die Zugangsmöglichkeiten zu
frühkindlicher Bildung verbessern sich mit wachsender      Bedeutung von Familienbildung in den Integrations-
            Aufenthaltsdauer, vor allem nach dem Auszug aus der        wegen geflüchteter Familien. Die wenigen Publikatio-
            Gemeinschaftsunterkunft. Wenn Kinder aus geflüchte-        nen zum Thema Familienbildung für Geflüchtete
Kapitel 2

            ten Familien endlich eine frühkindliche Bildungseinrich-   beziehen sich bislang zumeist auf Befunde aus Studien
            tung besuchen, profitieren nicht nur sie, sondern auch     zu Familien mit allgemeiner Migrationserfahrung
            ihre Eltern von der besseren sozialen Integration und      (Fischer, 2019) oder auf praktische Erfahrungen im Feld
            dem gestiegenen Wohlbefinden (Gambaro et al., 2019).       (Abdallah-Steinkopf, 2018).
            Rund 60 % der geflüchteten Kinder im Alter von drei
            Jahren besuchen eine Kindertagesstätte, bei den            Lüken-Klaßen und Neumann (2019) analysieren 50
            Vier- und Fünfjährigen sind es 72 %. Allerdings liegen     Interviews mit Praktiker*innen aus dem Bereich der
            diese Teilnahmequoten geflüchteter Kinder immer            Familienbildung und identifizieren fünf wesentliche
            noch signifikant unter dem Bundesdurchschnitt,             Barrieren für geflüchtete Familien: i) Sprach- und
            wonach 90-95 % der Kinder dieser Altersgruppe              Kommunikationsbarrieren, ii) spezifische fluchtbezoge-
            frühkindliche Bildung erhalten (Gambaro et al., 2019, S.   ne Stressoren, iii) begrenzte Erfahrung mit sozialer
            809).                                                      Arbeit, iv) unterschiedliche Wertesysteme und v)
                                                                       unpassende Angebotskonzeption. Zur besseren
                                                                       Förderung der Integration geflüchteter Familien
            2.3 Stand der Forschung zu Familien mit                    schlagen sie vor, durch entsprechende Schulungen die
                Flucht- und Migrationserfahrung in                     interkulturellen Kompetenzen der Mitarbeiter*innen zu
                Familienbildungsprogrammen                             erweitern und ihr Bewusstsein für Machtgefälle zu
                                                                       schärfen. Ebenso müsse die Sozialraumorientierung
            Nach dem „Sommer der Migration“ von 2015 ist das           der Angebote gestärkt werden. Lüken-Klaßen und
            Bewusstsein dafür gewachsen, dass Familien mit             Neumann definieren geflüchtete Familien als Zielgrup-
            Fluchterfahrung Unterstützungsbedarfe in den               pe mit besonderen Bedarfen. Da geflüchtete Familien
            unterschiedlichen Bereichen des Bildungssystems            jedoch heterogen seien, müssten die Vorteile zielgrup-
            haben. In ihrem aktuellen Band zu Familienbildung und      penspezifischer Unterstützungsprogramme und die
            Migration in Deutschland stellen Geisen et al. (2019, S.   Nachteile einer Homogenisierung von Teilnehmenden
            9) fest, dass „Migration daher für Anbietende von          sorgfältig abgewogen werden (Lüken-Klaßen &
            Eltern- und Familienbildung zu einer augenfälligen und     Neumann, 2019, S. 201). Ähnlich plädiert auch Fischer
            signalhaften Thematik geworden“ ist. Dennoch besteht       (2019) für einen intersektionalen Ansatz anstelle
            ein deutlicher Mangel an empirischen Belegen für die       getrennter Schwerpunktsetzungen auf Geschlecht,
                                                                       Alter, Bildungsstand oder Fluchterfahrung. Zielgrup-
                                                                       penspezifische Angebote bergen ihrer Ansicht nach die
                                                                       Gefahr, die Familien zu essenzialisieren und Prozesse
                                                                       des „Othering“ auszulösen, sie also als „die Anderen“
                                                                       oder „die Fremden“ zu stigmatisieren. Auf der normati-
                                                                       ven Grundlage der Menschenrechte fordert sie, dass
                                                                       Anerkennung, Antidiskriminierung/Antirassismus,
                                                                       Teilhabe und Empowerment in der Bildungsarbeit mit
                                                                       Familien in all ihrer Vielfalt handlungsleitend sein
                                                                       sollten (Fischer, 2019, S. 33).

                                                                       Geflüchtete Familien sind von sozialer Exklusion
                                                                       betroffen. Ihr Zugang zu wichtigen Ressourcen und
                                                                       Funktionsbereichen der Aufnahmegesellschaft, wie
                                                                       Bildung, Wohnraum, Gesundheit, Arbeitsmarkt und
                     Zeichnung des Sohnes von Amime, 3,5 Jahre alt.    politischer Teilhabe, ist durch rechtliche Strukturen und
                                                                       Institutionen eingeschränkt (siehe 2.2). Beim Versuch,
                                                                       Zugang zu Familienbildungsprogrammen zu bekom-
                                                                       men, stoßen Familien mit Migrations- oder Fluchter-
                                                                       fahrung auf organisatorische Hindernisse und Informa-
                                                                       tionsbarrieren. Peer-to-Peer-Ansätze und aufsuchende
Arbeit werden als Mittel vorgeschlagen, um marginali-        zu Deutschen. Bei den Kindern ließ sich beobachten,
sierten Bevölkerungsgruppen – wie beispielsweise             dass sie offener im Umgang und kreativer wurden und
Familien mit Fluchterfahrung – einen besseren Zugang         auch ihre Deutschkenntnisse verbesserten sich
zu und mehr Teilhabe an (Familien-)Bildung zu eröffnen       (Bierschock et al., 2008).
(BMFSFJ, 2018; Fischer, 2018; Fischer, 2019). Communi-
ty- und sozialraumorientierte Ansätze haben sich in der      Die Evaluation des Opstapje-Programms durch das
                                                                                                                       10 / 11
Arbeit mit gesellschaftlich benachteiligten und margi-       Deutsche Jugendinstitut im Jahr 2004 zeigte, dass sich
nalisierten Familien als erfolgreich erwiesen (Fischer,      die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder
2018). Das HIPPY-Programm mit seinen Hausbesuchen            unmittelbar nach Ende des Programms signifikant
wird in diesem Zusammenhang als vielversprechende            verbessert hatten (Izyumska, 2013, S. 34f.). Allerdings
Praxis diskutiert (Fischer, 2019). Andererseits kritisiert   ergab eine Folgeevaluation von 2005, dass die erreich-
Autor*innen HIPPY für genau diesen aufsuchenden              ten Kompetenzsteigerungen neun Monate nach Ende
Ansatz und das damit verbundene Eindringen in die            des Programms wieder auf das Ausgangsniveau
familiäre Privatsphäre. Zwar könnten Hausbesuche die         zurückgegangen waren (Izyumska, 2013, S. 42). Eine
Grundlage für eine vertrauensvolle Partnerschaft             langfristig angelegte Unterstützung der Familien und
zwischen Familie und Institution schaffen, aber              ihrer Kinder wird daher dringend empfohlen. Ein
gleichzeitig ermöglichten sie einen direkteren öffentli-     Kritikpunkt an Opstapje war zudem, dass keine
chen Zugriff auf die Familien. Besonders gefährlich          Materialien in den Familiensprachen der Zielgruppe zur
seien diese Situationen dann, wenn an heterogene und         Verfügung stehen (Izyumska, 2013, S. 42).
vielfältige Familienrealitäten normative Vorstellungen
der „traditionellen Familie“ angelegt werden (Amirpur,       Das „Rucksack-Programm“ basiert auf einem Familien-
2019).                                                       bildungskonzept aus den Niederlanden. Im Rahmen
                                                             eines Multiplikator*innen-Peer-Ansatzes arbeitet das
In Deutschland liegen bislang nur einige wenige              Programm mit Eltern als bilinguale Assistent*innen.
Evaluations- und Forschungsberichte zu HIPPY, Opstap-        Familien mit Migrationserfahrung werden durch
je und dem Familienbildungsprogramm „Rucksack“ vor.          Bildungsmaterialien in ihrer jeweiligen Herkunftsspra-
Sowohl HIPPY (Home Instruction for Parents of                che, regelmäßige Gruppentreffen und Hausaufgaben-
Preschool Youngsters) als auch Opstapje sind internati-      übungen unterstützt. Der Multiplikator*innen-Peer-An-
onal etablierte und lizensierte Programme. Beide             satz und die starke Betonung der Familiensprache
haben das Ziel, Erziehungskompetenzen zu fördern,            fördern gleichermaßen Literacyaktivitäten in der
familiäre Bindungen zu stärken und Kinder beim               Familie und stärken die Mütter bzw. ehemaligen
Übergang in Vorschule oder Schule zu unterstützen,           Teilnehmer*innen, die als bilinguale Assistent*innen
beispielsweise durch Verbesserung ihrer Sprach- und          fungieren (Roth et al., 2015). Dieses Empowerment gilt
Literacykompetenzen. HIPPY wurde 1969 in Israel              als zentrales Element des Programms, das stark auf den
entwickelt, um zugewanderte Familien mit hohem               Aufbau von Beziehungen zwischen den bilingualen
Förderbedarf zu unterstützen. Die 2008 in Bayern             Assistent*innen und den Müttern setzt (Roth, 2015).
durchgeführte Evaluation des HIPPY-Programms zeigte,
dass die teilnehmenden Familien in signifikantem Maße
von dem Programm profitierten. Der Hauptgrund (73
%) der Teilnahme war die Förderung des deutschen
Spracherwerbs der Kinder (Bierschock et al.; 2009, S.
27). Beobachtet wurden verbesserte Eltern-Kind-Inter-
aktionen und eine verstärkte Integration der Mütter
und ihrer Kinder. Zudem zeigte sich eine Zunahme der
Literacyaktivitäten in den Familien, wie häufigeres
Lesen und miteinander Sprechen. Je länger die Familien
teilnahmen, umso mehr stieg die Wahrscheinlichkeit,
dass sich die Eltern Zeit für die Übungen nahmen und
diese zum integralen Bestandteil ihres Alltagslebens
wurden (Bierschock et al., 2008, S. 42). Die Sprachkom-
petenzen der Mütter verbesserten sich, sie wurden
selbstbewusster und knüpften mehr soziale Kontakte
3. DURCHFÜHRUNG DER MIXED-METHODS-EVALUATIONS
               STUDIE
Kapitel 3

            3.1 Forschungsdesign                                             kerte Evaluationspraxis können die Befunde gleichzeitig
                                                                             auch in wissenschaftliche und öffentliche Diskurse
            Die Exploration des Feldes erfolgte im Rahmen eines              eingebracht werden.
            Mixed-Methods-Ansatzes und eines systemischen
            Evaluationsmodells (Kuckartz et al., 2008; Kuckartz,             Die systemische Evaluationspraxis berücksichtigt
            2004; Lamprecht, 2012; Döring & Bortz, 2016). Dies               Programminput, -abläufe und -ergebnisse und aus-
            umfasste Fallstudien auf der Grundlage qualitativer              drücklich auch den Kontext, in dem das Programm
            Interviews und teilnehmender Beobachtung, eine                   durchgeführt wird. Indem wir mehr über die Lebenssi-
            Onlinebefragung sowie die Analyse quantitativer                  tuationen geflüchteter Familien erfahren, können wir
            Teilnehmendendaten aus dem Zeitraum von 2015 bis                 besser verstehen, welche Ressourcen sie mitbringen
            2018. Die Kombination qualitativer und quantitativer             und welche Bedarfe die Programme sowohl konzeptio-
            Forschungsmethoden ermöglicht eine mehrperspekti-                nell als auch in ihren Abläufen adressieren sollten
            vische Analyse, wobei die Zusammenführung und                    (Döring & Bortz, 2016).
            Verknüpfung der Datenquellen die Validität der
            Befunde erhöht (Kuckartz, 2014).                                 Abbildung 2 vermittelt einen Überblick über den
                                                                             Forschungsprozess. Ein erstes Treffen der kanadischen
            Unsere Evaluation war, wie von Lamprecht (2012)                  und deutschen Forschungspartner*innen (Mothers
            empfohlen, nicht strikt organisational bzw. institutio-          Matter Canada, IMPULS Deutschland e.V.) und eine
            nell ausgerichtet. Evaluation soll Erkenntnisse auf              Vorstudie bestehend aus Besuchen im Feld, ersten
            individueller, institutioneller und soziopolitischer             Interviews und Gesprächen mit Koordinatorinnen,
            Ebene generieren (Lamprecht, 2012 S. 280f.). Inner-              Hausbesucherinnen und Eltern im November 2018
            halb des Evaluationsprozesses konnten wir Eltern,                bildeten die Grundlage für die Entwicklung des For-
            Hausbesucherinnen und Koordinatorinnen dazu                      schungsdesigns und der Erhebungsinstrumente. Die
            anregen, ihr eigenes Handeln zu reflektieren. IMPULS             Datenerhebung selbst begann im Februar 2019 und
            als Institution kann die Ergebnisse der Evaluation für           beruhte auf drei Datenquellen: i) der Analyse von
            die weitere Organisationsentwicklung nutzen und                  Teilnehmendendaten aus IMPULS-Programmen
            durch eine breiter angelegte und im Kontext veran-               zwischen 2015 und 2018, ii) einer Onlinebefragung

               Abbildung 2: Forschungsprozess und Datenquellen (eigene Darstellung)
unter Beteiligung von 68 Programmstandorten von                      3.2 Theoretischer Rahmen und
WmI, Opstapje und HIPPY und iii) qualitativen Fallstudi-                 Evaluationskriterien
en zu 22 Familien und 7 Programmstandorten durch 55
Interviews und Feldbeobachtung. Datenerhebung und                    Für die Analyse der Integrationswege von Familien mit
-analyse erfolgten in einem eng miteinander verknüpf-                Fluchterfahrung sind herkömmliche Integrationsmodel-
ten, iterativen Prozess (Corbin & Strauss, 2008), in                 le (z. B. Esser, 2008) möglicherweise nicht geeignet, da
                                                                                                                                  12
                                                                                                                                   12//13
                                                                                                                                        13
dessen Verlauf die aus den verschiedenen Datenquel-                  sie den Integrationserfolg zumeist lediglich anhand
len generierten Ergebnisse zusammengeführt wurden.                   funktioneller Indikatoren wie beispielsweise der
Nach dem Einreichen des vorläufigen Berichts im April                Arbeitsmarktintegration und dem Spracherwerb
2020 und des Abschlussberichts im Juli 2020 sind bis                 festmachen. Das von Ager und Strang (2008) entwickel-
April 2021 diverse Aktivitäten zur Wissensmobilisie-                 te Modell hingegen weist eine ganzheitliche Ausrich-
rung und -verbreitung geplant, wie etwa wissenschaft-                tung auf, mit der sich individuelle und sozialstrukturelle
liche Publikationen, Konferenzbeiträge und das                       Faktoren erfassen lassen. Integrationsprozesse gestal-
Erstellen mehrsprachiger Kurzzusammenfassungen der                   ten sich durch soziale Kontakte (social connections),
Ergebnisse und Handlungsempfehlungen sowie eines                     wie beispielsweise soziale Brücken (social bridges) zur
an die teilnehmenden Eltern und Hausbesucherinnen                    Aufnahmegesellschaft, soziale Bindungen (social bonds)
gerichteten, ebenfalls mehrsprachigen Kurzvideos.                    an ethnische und religiöse Communities und Zugänge
                                                                     (social links) zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft.
                                                                     Integration wird durch „Kontakte zwischen Individuen

Tabelle 1: Evaluationskriterien (eigene Darstellung basierend auf Ager & Strang, 2008;
IMPULS Deutschland Stiftung e.V., 2018)

     Evaluationskriterien für erfolgreiche                             Konzeptionelle und strategische Evaluations-
     Integration durch soziale Kontakte                                kriterien der IMPULS-Programme

     1. Soziale Brücken: Soziale Kontakte und                         1. Ganzheitliche Förderung der kindlichen Ent-
        Beziehungen zu Mitgliedern der Aufnahme                          wicklung (motorische, soziale, emotionale und
        gesellschaft werden ermöglicht / gestärkt                        kognitive Entwicklung, Selbstvertrauen und
                                                                         Neugier, deutscher SpracherwerbLiteracy)
     2. Soziale Bindungen: Soziale Kontakte und
        Beziehungen zu Mitgliedern der eigenen                        2. Stärkung der Eltern- Kind Bindung
        ethno-kulturellen, sprachlichen oder religiö
        sen Community werden ermöglicht / gestärkt                    3. Stärkung der Beziehungs- und Erziehungs-
                                                                         kompetenzen der Eltern
     3. Institutionelle Zugänge: zu Institutionen der
        Aufnahmegesellschaft (Kitas und Vorschulen,                   4. Eltern und Kinder erleben Selbstwirksamkeit
        Schulen, Sprachkurse, Gesundheitsdienst-                         und werden befähigt, entsprechend der
        leister, soziale Dienste) werden ermöglicht /                    eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu
        gestärkt                                                         handeln und sich für die eigenen Rechte
                                                                         einzusetzen (Empowerment)

                                                                      5. Kinder erleben ihre Eltern als aktive Akteur*in
                                                                         nen für Erziehung und Bildung

                                                                      6. Gesundheitsförderung und Prävention
                                                                         werden unterstützt

                                                                      7. Integration und Vernetzung der Familien in
                                                                         den Sozialraum

                                                                      8. Die Bildungschancen der Kinder werden ver-
                                                                         bessert und Bildungsgerechtigkeit gefördert

                                                                      9. Durch Qualifikation werden die Arbeitsmarkt-
                                                                         chancen der Hausbesucherinnen verbessert
und staatlichen Strukturen wie Behörden“ gerahmt           iii) Welches sind die erfolgversprechenden, übertrag-
            (Ager & Strang, 2008, S. 181).                             baren Praxisansätze zur Unterstützung der Integrati-
            Zusätzlich orientierten sich unsere Evaluationskriterien   onswege geflüchteter Familien?
Kapitel 3

            an der konzeptionellen und strategischen Ausrichtung       → Wie werden die Familienbildungsprogramme
            der IMPULS-Programme. Ungeachtet der Unterschiede                umgesetzt und welche Auswirkung hat dies darauf,
            zwischen den in dieser Studie untersuchten Program-              ob die angebotene Unterstützung für die verschie
            men (HIPPY, Opstapje, Willkommen mit IMPULS) lassen              denen Zielgruppen hilfreich ist?
            sich neun gemeinsame Programmziele identifizieren          → Welches sind die Erfolgsfaktoren für eine wirksa
            (IMPULS, 2018, S. 14ff.). Die nachfolgende Tabelle 1             me Umsetzung der Programme?
            gibt einen Überblick über die beiden Bereiche der          → Wie lassen sich diese Erfolgsfaktoren auf andere
            Evaluationskriterien.                                            Zusammenhänge übertragen?

            3.3 Forschungsfragen                                       3.4 Datenerhebung und Sample

            Die Studie untersucht die Lebensumstände geflüchte-        Methodologisch basiert die unsere Mixed-Me-
            ter Familien in Deutschland sowie die Umsetzung und        thods-Evaluationsstudie auf drei Säulen:
            Wirkung von Familienbildungsprogrammen mit Blick
            auf diese Zielgruppe, um Promising Practice, notwendi-     I. Analyse der Teilnehmendendaten der IMPULS-Pro-
            ge Rahmenbedingungen und Handlungsempfehlungen             gramme HIPPY und Opstapje von 2015 bis 2018:
            herauszuarbeiten. Unsere Forschungsfragen nehmen           Darüber lassen sich Muster erkennen, wie sich die
            auf die Evaluationskriterien Bezug und sind drei           Anzahl der teilnehmenden Familien aus bestimmten
            Fragebereichen zugeordnet:                                 Herkunftsländern über die letzten Jahre verändert hat,
                                                                       in welchen geografischen Regionen diese Familien an
            i) Wie werden Eltern-Kind-Interaktionen / familiären       den Programmen teilnehmen und wie hoch die
            Beziehungen durch Fluchtmigration beeinflusst?             Abbruchquoten sind.
            → Wie sieht der Alltag geflüchteter Familien aus?
            → Vor welchen Herausforderungen stehen geflüch-            II. Analyse der Onlinebefragung von 2019: Achtund-
                 tete Familien und auf welche Ressourcen können        sechzig Programmstandorte von HIPPY, Opstapje und
                 sie zurückgreifen?                                    Willkommen mit IMPULS gaben detaillierte Rückmel-
            → Wie wirkt sich die Fluchtmigration auf die fami-         dungen über die Teilnahme geflüchteter Familien.
                 liären Beziehungen und die Eltern-Kind-Inter-         Diese Daten umfassen Informationen zu den Lebens-
                 aktionen aus?                                         umständen und Sprachkompetenzen der teilnehmen-
            → Welche Rolle spielen die sozialen Bindungen              den Familien mit Fluchterfahrung und erlauben
                 (social bonds) zu ethnischen bzw. religiösen oder     Rückschlüsse hinsichtlich der Zugänglichkeit der
                 sprachlichen Communities?                             Programme und der notwendigen Rahmenbedingun-
                                                                       gen.
            ii) Welche Rolle spielen Familienbildungsprogramme
            für den Integrationsprozess?                               III. Qualitative Fallstudien zu 22 Familien und 7
            → Welche Kontakte haben die Familien zur Aufnah            Programmstandorten zum besseren Verständnis der
                 megesellschaft und deren Bildungseinrichtungen        Lebenssituationen geflüchteter Familien in Deutsch-
                 (soziale Brücken/institutionelle Zugänge)?            land und zur Evaluation der Wirkung von Familienbil-
            → Wie nehmen die Familien ihre Teilnahme am                dungsprogrammen auf die Integrationswege der
                 Familienbildungsprogramm wahr (was empfinden          Familien. Zu diesem Zweck wurden 55 Interviews und
                 sie als wirksame Unterstützung, was als problema      teilnehmende Beobachtungen mit Eltern, Hausbesu-
                 tisch, was sollte anders sein)?                       cherinnen und Koordinatorinnen durchgeführt. Die
            → Welche Effekte hat die Programmteilnahme für die         Kinder stellten ihre Sicht auf die Hausbesuche durch
                 geflüchteten Familien? Wie verhalten sich diese       Bilder dar.
                 Effekte zu den strategischen und konzeptionellen
                 Programmzielen (siehe Tab. 1)?
            → Wie wirkt sich die Programmteilnahme auf die
                 familiären Beziehungen aus?
Für jede der 22 Familien gab es zwei Erhebungszeit-                  der Daten sowie die Einholung eines informierten
punkte: i) qualitative Interviews mit Eltern und Hausbe-             Einverständnisses wo möglich formell und immer auch
sucherinnen zu Beginn der Teilnahme und ii) teilneh-                 in einem kommunikativen Prozess durch muttersprach-
mende Beobachtung und qualitative Interviews mit                     liche Interviewerinnen. Schon bei der Konzipierung der
den Eltern nach mindestens 4 Wochen Programmteil-                    leitenden Forschungsfragen achteten wir darauf, den
nahme. Die zweite Interviewrunde wies eine ausge-                    Fokus auf die gegenwärtige Lebenssituation zu richten
                                                                                                                                      14 / 15
sprochen hohe Beteiligung auf, nur vier Familien waren               und nicht auf traumatische Erlebnisse vor und während
nicht in der Lage, auch bei der zweiten Erhebungsphase               der Flucht. Dennoch wollten einige der Untersu-
mitzuwirken5.                                                        chungsteilnehmer*innen auch über diesen Aspekt ihrer
                                                                     Geschichte sprechen. In diesen oftmals sehr emotiona-
Ziel der qualitativen Samplingstrategie war es, reichhal-            len Situationen wurde den Interviewten Raum gege-
tige Daten von einem breiten Spektrum an Intervie-                   ben, Erlebtes zu erzählen, und die Interviewerinnen
wpartner*innen zu gewinnen, um die Dimensionen,                      brachten verbal und nonverbal Anerkennung, Wert-
Variationen und Merkmale der im Zuge der Analyse                     schätzung und Respekt zum Ausdruck.
entwickelten Konzepte zu maximieren (Corbin &
Strauss, 2008). Daher umfasste das Sample Familien
mit unterschiedlichem ethnokulturellen Hintergrund                   3.5 Datenanalyse
und Bildungshintergrund aus städtischem wie aus eher
ländlichem Umfeld, die an unterschiedlichen und von                  Mixed-Methods-Ansätze kombinieren verschiedene
verschiedenen Standortpartnern durchgeführten                        Datenquellen sowie qualitative und quantitative
Familienbildungsprogrammen teilnahmen. So konnte                     Analysen, um die Perspektiven auf den Forschungsge-
eine breite Datenbasis für Maximal- und Minimalver-                  genstand zu erweitern (Kuckartz, 2014). Durch die
gleiche ermöglicht werden.                                           Kombination qualitativer Fallstudien mit quantitativen
                                                                     Daten aus den Onlinebefragungen und Teilnehmenden-
Die Interviews mit den geflüchteten Eltern sowie den                 daten war es uns möglich, Prozesse auf der Einzelfalle-
Koordinatorinnen und Hausbesucherinnen wurden                        bene zu verstehen und anschließend die Validität
anhand teilstrukturierter Interviewleitfäden in der von              dieser Erkenntnisse zu erhöhen, indem wir sie mit den
den jeweiligen Interviewpartner*innen bevorzugten                    Ergebnissen aus den größeren Datensätzen verknüpf-
Sprache durchgeführt (Deutsch oder Herkunftsspra-                    ten. Für die Fallstudien wurden die Daten mithilfe der
che). Alle Interviews wurden aufgezeichnet, zusam-                   Grounded-Theory-Methodologie (GTM) (Corbin &
mengefasst und transkribiert6. Zur Dokumentation der                 Strauss, 2008; Charmaz, 2011) analysiert. Die induktive
teilnehmenden Beobachtung wurden Feldnotizen                         Kategorienbildung erfolgte Satz für Satz und Sequenz
angefertigt.                                                         für Sequenz, indem die Interview- und Beobachtungs-
                                                                     daten verglichen und einander gegenübergestellt
Während des gesamten Forschungsprozesses wurde                       wurden. Wir beschlossen, die Zeichnungen der Kinder
der Tatsache Rechnung getragen, dass geflüchtete                     als Illustrationsquellen und nicht zur Datenanalyse zu
Familien oftmals in schwierigen Lebenssituationen und                verwenden. Da eine Videoaufzeichnung nicht möglich
unter der Bedingung rechtlicher Unsicherheit leben.                  war, weil sie für Teilnehmer*innen mit unsicherem
Der Schutz der Untersuchungsteilnehmer*innen war                     Rechtsstatus zu riskant erschien, blieben die Interaktio-
unsere oberste Priorität (Clark-Kazak, 2017; Unger,                  nen zwischen Interviewerinnen und den Kindern
2018) 7. Dies beinhaltete eine strikte Anonymisierung                während der Datenerhebung zu vage und die Analyse
                                                                     dieser Daten zu spekulativ.

5
  Für einen Überblick über das Sample, siehe Anhang.
6
  Die Mehrzahl der Transkriptionen wurde direkt aus dem Arabischen/Farsi/Dari ins Englische übersetzt und von den mehrsprachigen
Forschungsassistenten des Projekts in englischer Sprache verfasst. Da die Forscherinnen selbst die Interviews in der Herkunftsspra-
che der Interviewpartner*innen führten, war es ihnen möglich, die Interviews im Kontext der Interviewsituation zu verstehen. Es
muss jedoch klargestellt werden, dass die Übersetzungen der Interviews aus der Herkunftssprache ins Englische zunächst nicht von
professionellen Übersetzern vorgenommen wurden. Um mögliche Übersetzungsfehler zu überprüfen, wurden einige der Interviews
ins Arabische transkribiert und von einem professionellen Übersetzer in deutsche Sprache übersetzt. Auszüge aus den Interviews
wurden sprachlich leicht angepasst.
7
  Forschungsethische und methodologische Aspekte bei der Durchführung von Forschungs- und Evaluierungsprojekten mit Flücht-
lingsfamilien in Kanada und Deutschland werden im Detail erörtert in: Korntheuer & Ohta (forthcoming): Ethics in practice and
beyond: a comparative study of ethical considerations for evaluation research with refugee families in Canada and Germany. In: Ali,
M.: Ethical Issues in Working with Refugee Children and Youth.
Sie können auch lesen