Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs-programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und ...
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Abschlussbericht Geflüchtete Familien wirksam unterstützen. Eine systemische Evaluationsstudie der Familienbildungs- programme Willkommen mit IMPULS, HIPPY und Opstapje. Forschungsleitung Prof. Dr. Annette Korntheuer, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Eichstätt, Januar 2021
ABBILDUNGEN Inhaltsverzeichnis Abb. 1: Geflüchtete in Deutschland (eigene Darstel- lung; Quellen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2019b; Statistisches Bundesamt, 2019) 8 Abb. 2: Forschungsprozess und Datenquelle (Im vergleich mit S.11, eigene Herstellung) 12 Wir danken allen Kindern, Eltern, Hausbesucherinnen Abb. 3: Entwicklung der Teilnehmendenzahlen HIPPY und Koordinatorinnen, die an dieser Studie mitgewirkt und Opstapje 2015 - 2018 haben, für ihre Zeit und Unterstützung, für die offenen (eigene Darstellung) 18 Gespräche und dafür, dass wir Hausbesuche und Abb. 4: Teilnahme von Familien aus Asylherkunfts- Gruppentreffen begleiten durften. Im Rahmen der ländern nach Bildungsprogramm 2015 Programmbeobachtung mit Kindern, Eltern und (eigene Darstellung) 20 Hausbesucherinnen erhielt jedes Kind ein Geschenk Abb. 5: Teilnahme von Familien aus Asylherkunfts- bestehend aus Mal- und Zeichenmaterialien und wurde ländern nach Bildungsprogramm 2018 gefragt, ob es ein Bild der Hausbesucherin bzw. des (eigene Darstellung) 20 Hausbesuchs malen wolle. Die Eltern und Hausbesuche- Abb. 6: Barrieren der Programmteilnahme rinnen wurden gebeten, sich zurückzuhalten und das (eigene Darstellung) 21 Kind malen bzw. zeichnen zu lassen, was immer es Abb. 7: Laufende, abgeschlossene und abgebrochene wollte. Die teilnehmenden Kinder waren zwischen 18 Programmteilnahme 2018 (eigene Darstellung)22 Monaten und 6 Jahren alt. Die zwischen den Kapiteln Abb. 8: Auswirkungen auf die Integration eingefügten Bilder vermitteln einen kleinen Eindruck geflüchteter Familien (eigene Darstellung) 23 davon, wie sie die Hausbesuche und Hausbesucherin- Abb. 9: Primäre Ressourcen für erfolgreiche nen wahrgenommen haben. Programmteilnahme (eigene Darstellung) 27 Abb. 10: Sprachgebrauch während der Hausbesuche (eigene Darstellung) 32 Forschungsleitung Prof. Dr. Annette Korntheuer TABELLEN Fakultät für Soziale Arbeit Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Tab. 1: Evaluationskriterien (eigene Darstellung basierend auf Ager & Strang, 2008; IMPULS Deutschland Stiftung e.V., 2018) 13 Forschungsteam (in alphabetischer Reihenfolge) Tab. 2: Übersicht über die untersuchten Programme Nisrin Habib und Samplegrößen (eigene Darstellung) 17 Rayan Korri Tab. 3: Teilnehmende aus Asylherkunftsländern Sarah Kluge Sarah Schönweitz 2015-2018 (eigene Darstellung) 19 Naseem Sadet Tayebi Tab. 4: Falldimensionen (eigene Darstellung) 24 Studie gefördert durch Immigration, Refugees Immigration, Réfugiés and Citizenship Canada and Citoyenneté Canada DOI: 10.17904/ku.edoc.25487 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung 5 2. Die Situation geflüchteter Familien in Deutschland: Stand der Forschung 7 2.1 Fakten und Zahlen zu geflüchteten Familien in Deutschland 7 2.2 Eingeschränkte Möglichkeiten: Teilhabe geflüchteter Familien an der Aufnahmegesellschaft 8 2.3 Stand der Forschung zu Familien mit Flucht- und Migrationserfahrung in Familienbildungsprogrammen 10 3. Durchführung der Mixed-Methods-Evaluationsstudie 12 3.1 Forschungsdesign 12 3.2 Theoretischer Rahmen und Evaluationskriterien 13 3.3 Forschungsfragen 14 3.4 Datenerhebung und Sample 14 3.5 Datenanalyse 15 4. Familien mit Fluchterfahrung in Familienbildungsprogrammen: HIPPY, Opstapje und Willkommen mit IMPULS 16 4.1 Überblick über die untersuchten Programme: HIPPY, Opstapje und Willkommen mit IMPULS 16 4.2 Allgemeine Befunde: Teilnahme geflüchteter Familien, Herausforderungen und Wirkungen 18 4.2.1 Programmteilnahme 18 4.2.2 Programmzugang für geflüchtete Familien 21 4.2.3 Herausforderungen für geflüchtete Familien und vorzeitiger Abbruch der Teilnahme 21 4.2.4 Programmspezifische Herausforderungen 22 4.2.5 Wirkungen (Outcomes) der Programme 23 5. Die Rolle von Familienbildungsprogrammen in der Inklusion geflüchteter Familien in Deutschland 24 5.1 Die herausfordernde Lebenssituation von Familien mit Fluchterfahrung 24 5.2 Wie beeinflussen Familienbildungsprogramme die Inklusion geflüchteter Familien? 27 5.2.1 Vertrauen schaffen: Emotionale Stabilisierung durch langfristige Beziehungen 27 5.2.2 Brücken bauen: Kontakte zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft knüpfen 28 5.2.3 Förderung der kognitiven, sprachlichen und sozialen Kompetenzen der Kinder 30 5.2.4 Mehrsprachigkeit in der Familie leben: Abbau von Kommunikationsbarrieren durch Vertrauen in die Familiensprache 33 5.2.5 Nachdenken über Geschlechterrollen, Familienarbeit und Erwerbstätigkeit fördern 34 5.2.6 Grenzen und Herausforderungen der Programme für geflüchtete Familien 37 5.3 Überblick zu den Evaluationskriterien: Aufbau sozialer Beziehungen und Erreichen der Programmziele 40 5.3.1 Nicht oder nur teilweise zutreffende Kriterien 40 5.3.2 Teilweise bis größtenteils erfüllte Evaluationskriterien 41 5.3.3 Größtenteils oder vollständig erfüllte Evaluationskriterien 41 6. Diskussion der Ergebnisse 43 6.1 Transnationales „doing family“ unter restriktiven Bedingungen 43 6.2 Essentialisierung geflüchteter Familien und zielgruppenspezifische Ansätze 44 6.3 Politische Dimensionen von Familienbildung im Kontext von Fluchtmigration 45 6.4 Aufsuchende Arbeit und Peer-to-Peer-Ansatz 46 7. Konkrete Handlungsempfehlungen: Stärkung des Diversitäts- und Intersektionalitäts- bewusstseins in Familienbildungsprogrammen 48 8. Literatur 50 9. Anhang mit Untersuchungsinstrumenten und Tabellen 53
ZUSAMMENFASSUNG Zusammenfassung Deutschland hat von 2015 bis 2018 viele geflüchtete Fallanalysen von Programmstandorten und einer Familien aufgenommen (Korntheuer et al., 2020; BAMF, deutschlandweiten Onlinebefragung weiterer Pro- 2019b). Zwischen Januar 2014 und Dezember 2018 grammstandorte (N = 68) rekonstruieren wir fünf kamen so ca. 144.000 geflüchtete Kinder unter sieben zentrale Funktionen für die Inklusion geflüchteter Fami- Jahren als Asylsuchende nach Deutschland (Gambaro lien: i) Aufbau von Vertrauen: emotionale Stabilisierung et al., 2019). Laut aktueller Forschungsergebnisse durch langfristige Beziehungen zu den Hausbesu- bedarf es flexiblerer und individueller zugeschnittener cher*innen; ii) Brückenfunktion: Kontakte zu den Programme oder Peer-to-Peer-Ansätze, um geflüchtete Institutionen der Aufnahmegesellschaft werden Mütter und ihre Familien wirksam zu unterstützen. gestärkt; iii) Förderung der kognitiven, sprachlichen Aufsuchende Bildungs- und Beratungsformate werden und emotionalen Entwicklung der Kinder; iv) Abbau als Promising Practices beschrieben, um die gesell- von Kommunikationsbarrieren durch Stärkung des schaftliche Inklusion dieser Familien zu ermöglichen Vertrauens in die Verwendung der Familiensprache (BMFSJ, 2018; Mörath, 2019). und v) Förderung der Reflexion von Geschlechterrollen, Diese Evaluationsstudie geht der Frage nach, welche Familienarbeit und Berufstätigkeit. Unserer Ansicht Rolle Familienbildungsprogramme bei der Förderung nach liegen die Grenzen bzw. Herausforderungen, erfolgreicher Integrationswege geflüchteter Familien in denen sich die Programme vor allem stellen müssen, in Deutschland spielen. Laufende Programme wie der Verwendung standardisierter Materialien für Willkommen mit IMPULS (WmI), HIPPY (Home Instruc- heterogene Familien und im begrenzten Zeitrahmen tion for Parents of Preschool Youngsters) und Opstapje der Hausbesuche. Ziel unserer konkreten Handlungs- werden untersucht. Unser Ziel ist ein besseres Ver- empfehlungen ist, dass Familienbildungsprogramme ständnis sowohl der Lebenssituationen von geflüchte- mehr Bewusstsein für Diversität und Intersektionalität ter Familien in Deutschland als auch der Bedeutung entwickeln. Wir empfehlen acht konkrete Schritte, um von Familienbildung für die Inklusion in der Aufnahme- die Programme weiterzuentwickeln, den Bedarfen von gesellschaft. Unser Mixed-Methods-Ansatz umfasst Familien mit Fluchterfahrung noch besser gerecht zu qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtung, die werden und zur Verwirklichung ihrer Bildungsrechte Analyse quantitativer Teilnehmendendaten und eine beizutragen. Onlinebefragung. Die Zahl der in Deutschland an IMPULS-Programmen wie HIPPY und Opstapje teilneh- menden und aus Asylherkunftsländern stammenden Familien ist von 351 im Jahr 2015 auf 719 im Jahr 2018 gestiegen. Wie die Daten belegen, lässt sich dieser Trend hauptsächlich durch den kontinuierlichen Zuwachs an Familien aus vier Herkunftsländern erklären: Syrien, Afghanistan, Eritrea und Sudan. Die Zahl der Familien syrischer Herkunft hat sich während des Untersuchungszeitraums beispielsweise versieben- facht. Anhand von 22 Fallanalysen von Familien, sieben
1. EINLEITUNG Heute war es aber anders. Wir saßen mit der Hausbesu- Kanada und Deutschland stehen vor ähnlichen 04 / 05 cherin zusammen und sie fing an zu spielen. Also, sie Herausforderungen haben das Essen hingestellt und so, Kindersachen meine ich… Sie fingen an, zusammen zu kochen, zusammenzu- Beide Länder haben von 2015 bis 2018 eine hohe Zahl spielen. Ich hatte das Gefühl, dass sie [die Tochter] ein geflüchteter Familien aufgenommen (Korntheuer et al., wenig mit ihr interagierte. Das gefiel mir, weil das ihre 2020). Zwischen Januar 2014 und Dezember 2018 Persönlichkeit stärkt. Das macht ihre Persönlichkeit kamen ca. 144.000 geflüchtete Kinder unter sieben stärker, sie ist [dann] nicht mehr so schüchtern und hat Jahren als Asylsuchende nach Deutschland (Gambaro nicht mehr Angst vor irgendjemandem. (Transkript, et al., 2019, S.2). Kanada nahm zwischen 2015 und 2_RK) 1 2018 über 120,000 Geflüchtete im Rahmen humanitä- rer Resettlement-Programme auf, davon rund ein Mit diesen Worten beschreibt Nadia, Mutter einer Drittel syrischer Herkunft (Pritchard et al., 2020, S. 14). zweijährigen Tochter, die positiven Auswirkungen des Ziel dieser kanadischen Programme ist es, besonders Opstapje-Programms auf ihr Kind. Nadia und ihr schutzbedürftige Personengruppen Zuflucht zu bieten. Ehepartner sind vor dem Krieg in Syrien geflohen und Vorrang haben Familien, gefährdete Frauen und leben seit rund vier Jahren in Deutschland. Hier kam LGBTI-Personen (IRCC, 2018). Diese Priorisierung zeigt ihre Tochter Mahdia zur Welt. sich an den über 25.000 syrischen Geflüchteten, die zwischen November 2015 und Januar 2016 in Kanada Mahdias Eltern gehörten zu den vielen Einzelpersonen ankamen. Über die Hälfte der Gruppe war jünger als 18 und Familien, die im sogenannten „Sommer der Jahre und viele gehörten zu Familien mit 4 bis 6 Migration“ 2015 nach Deutschland kamen. Der Mitgliedern (40 %). 765 der neuzugewanderten plötzliche Anstieg der Zahlen von Schutzsuchenden im Familien haten mehr als 6 Familienmitglieder (IRCC, Jahr 2015 schärfte das Bewusstsein dafür, dass der 2018, S. 19). Zudem kam eine große Zahl Asylsuchen- Zugang von geflüchteten Familien und Kindern in das der nach Kanada, 50.000 im Jahr 2017 und 55.000 im gesamte Bildungssystem gefördert werden muss. Jahr 2018. Mit 26 %, war ein bedeutender Anteil der Verschiedenste Akteur*innen: Praktiker*innen, Asylsuchenden von 2017 Kinder zwischen 0 und 14 Organisationen und öffentliche Einrichtungen in Jahren (Pritchard et al. 2020; Statistics Canada, 2019). Aufnahmeländern bemühen sich seither darum, bedarfsorientierte Lösungen zu entwickeln, um die Aktuelle Daten aus Deutschland belegen, dass die neue Inklusion von Familien mit Fluchterfahrung zu unter- Kohorte Geflüchteter gut integriert ist, vor allem mit stützen. Blick auf den Arbeitsmarkt (Brücker et al., 2019a). Laut einer kürzlich erschienen Studie (BMFSJ, 2019) sind in Diese von Immigration, Refugees and Citizenship Deutschland über 78 % der geflüchteten Frauen Canada (IRCC)2 finanzierte Studie untersucht die zugleich Mütter. Es gibt zunehmend wissenschaftliche Situation geflüchteter Familien in Deutschland sowie Belege dafür, dass geflüchtete Mütter in der Aufnah- die Umsetzung und Wirkung von Familienbildungspro- megesellschaft mit stärkeren Barrieren als andere grammen. Ziel ist ein besseres Verständnis sowohl der Neuzugewanderte konfrontiert sind (Brücker et al., Lebenswelten geflüchteter Familien in Deutschland als 2019a; Worbs & Baraulina, 2017). Die Teilhabe an auch der Rolle von Familienbildung bei der Inklusion in Spracherwerb und Arbeitsmarkt zeigt sich eng ver- die Aufnahmegesellschaft. Anhand unserer Studiener- knüpft mit dem Geschlecht und der familiären Situati- gebnisse können wir „Promising Practices“, notwendige on. Herausfordernd für Familien ist der begrenzte Rahmenbedingungen und Handlungsempfehlungen Zugang zu frühkindlicher Bildung und Kinderbetreuung herausarbeiten. (Gambaro et al., 2019). Die Initiative für die vorliegende 1 In den Transkripten steht (...) für eine Auslassung von Text, (---) für eine Sprechpause. Anmerkungen, Erklärungen und nonverbale Kommunikation sind in eckigen Klammern [] hinzugefügt. 2 Das kanadische Ministerium für Einwanderung, Geflüchtete und Staatsbürgerschaft.
Studie ging von den kanadischen und deutschen Aufbau des Berichts Nichtregierungsorganisationen Mother Matters und IMPULS Deutschland e.V. aus. Auch ihre Praxiserfah- Dieser Bericht liefert im ersten Schritt einen kurzen Kapitel 1 rungen bestätigten erschwerte Integrationsbedingun- Einblick in den aktuellen Forschungsstand hinsichtlich gen für geflüchtete Familien in beiden nationalen der Lage geflüchteter Familien in Deutschland (Kap. 2). Kontexten. Zwischen 2015 und 2018 hat Deutschland eine große Zahl geflüchteter Familien aufgenommen. Diese kamen Wie tragen Familienbildungsprogramme zu erfolgrei- meist als Asylsuchende ins Land. Rechtliche Rahmen- cheren Integrationsverläufen bei? bedingungen und das Asylverfahren können, neben individuellen und anderen strukturellen Faktoren, die Laut aktueller Forschungsberichte bedarf es flexiblerer Chancen und Optionen von Eltern und Kindern mit und stärker individuell zugeschnittener Programme Fluchterfahrung einschränken. Die Bedeutung von oder Peer-to-Peer-Ansätze, um wirksame Unterstüt- Familienbildungsprogramme wie HIPPY und Opstapje zungsstrukturen für geflüchtete Mütter zu schaffen. für die Integration von Familien mit Migrationserfah- Darüber hinaus werden Formen von aufsuchender rung wurde bereits mehrfach empirisch bearbeitet. Arbeit und niedrigschwellige Angebote empfohlen Auch hier geben wir einen kurzen Einblick in bisherige (BMFSJ, 2018; Mörath, 2019). Ergebnisse. Diese empirische Studie untersucht, welche Rolle Im zweiten Schritt (Kap. 3) zeigen wir, wie unsere Familienbildungsprogramme bei der Unterstützung von Mixed-Methods-Evaluationsstudie methodologisch geflüchteten Familien in Deutschland spielen. Program- umgesetzt wurde. Unsere Ergebnisse diskutieren wir in me wie Willkommen mit IMPULS (WmI), HIPPY und den darauffolgenden drei Abschnitten, beginnend mit Opstapje wurden auf übertragbare Erfolgsfaktoren hin einem kurzen Überblick über Familien mit Fluchterfah- untersucht. Der Mixed-Methods-Ansatz umfasst rung in den IMPULS-Programmen HIPPY, Opstapje und qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtung, die Willkommen mit IMPULS (WmI) (Kap. 4). Die Auseinan- Analyse quantitativer Teilnehmendendaten und eine dersetzung mit der Frage, welche Funktion Familienbil- Onlinebefragung. dungsprogramme für diese Zielgruppe haben (Kap .5), setzt voraus, die Lebenssituation geflüchteter Familien Wir analysieren, inwiefern Familienbildungsprogramme in Deutschland zu erforschen und zu verstehen (5.1). auf soziale Beziehungsnetzwerke der geflüchteten Basierend auf unserer Analyse von 22 Fallanalysen von Familien wirken und somit als wichtige Vermittlungsin- Familien, sieben Fallanalysen von Programmstandorten stanzen für erfolgreiche Integrationsverläufe im Sinne und einer Onlinebefragung (N = 68) erläutern wir fünf des von Ager und Strang (2008) entwickelten Integrati- zentrale Funktionen der Programme für die Inklusion onsmodells gelten können. Gelingt es durch oder in der geflüchteten Familien und legen dar, wo die den untersuchten Programmen soziale Brücken zu Programme an Grenzen stoßen und vor welchen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft zu schlagen Herausforderungen sie stehen (5.2). Anschließend und soziale Bindungen und Beziehungen zu Angehöri- fassen wir die Befunde mit Blick auf die Bewertungskri- gen der eigenen ethnokulturellen, sprachlichen oder terien zusammen (5.3) und diskutieren unsere Ergeb- religiösen Community zu fördern? Wir fragen zudem, nisse (Kap. 6). Ziel unserer konkreten Handlungsemp- ob sie Zugang zu Institutionen der Aufnahmegesell- fehlungen (Kap. 7) ist, dass Familienbildungs schaft eröffnen. Zusätzlich orientieren sich unsere Programme ein höheres Bewusstsein für Diversität und Evaluationskriterien an den konzeptionellen und Intersektionalität entwickeln. Wir formulieren acht strategischen Zielsetzungen der IMPULS-Programme. konkrete Schritte mithilfe derer Programme den Ihr Ziel ist die Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung und Bedarfen und Bildungsrechten von Familien mit der elterlichen Handlungsfähigkeit sowie die Förderung Fluchterfahrung besser gerecht werden können. der kindlichen Entwicklung durch ein ganzheitliches Programm zur frühkindlichen Bildung (IMPULS Deutschland Stiftung e.V., 2018).
2. DIE SITUATION GEFLÜCHTETER FAMILIEN IN DEUTSCHLAND: STAND DER FORSCHUNG 2.1 Fakten und Zahlen zu geflüchteten aufgenommene Geflüchtete umfasst (Statistisches Familien in Deutschland Bundesamt, 2019, S. 5). Für unsere Studie nutzen wir 06 06//07 07 den Begriff „geflüchtete Familien“ oder „Familien mit Aufgrund ihrer geografischen Lage im Verhältnis zu Fluchterfahrung“ für Menschen mit unterschiedlichem Konfliktschauplätzen und Migrationswegen sowie ihrer Aufenthaltsstatus, die in Deutschland Schutz suchen. jeweiligen politischen Kontexte und humanitären Abbildung 1 gibt einen Überblick zu den Zahlen von Verpflichtungen gehen Länder wie Deutschland und Schutzsuchenden und Asylbewerber*innen in Deutsch- Kanada unterschiedlich mit Fluchtmigration um. Daher land. Die Zahl neu ankommender Asylbewerber*innen unterscheiden sich auch die für Geflüchtete jeweils ist seit 2016 signifikant gesunken, während die Gruppe geltenden rechtlichen Definitionen und Kategorien. In der Schutzsuchenden nur noch leicht ansteigt. Am 31. Deutschland beantragen Geflüchtete üblicherweise bei Dezember 2018 lebten über 167.000 „schutzsuchende ihrer Ankunft im Land Asyl. Andere nationale und Kinder“ unter 6 Jahren in Deutschland. Zwischen europäische Möglichkeiten, wie das humanitäre Januar 2014 und Dezember 2018 kamen rund 144.000 Aufnahme- oder Resettlement-Programm3, sind geflüchtete Kinder unter sieben Jahren als Asylsuchen- weniger bekannt. Kanada hingegen verfügt über de nach Deutschland (Gambaro et al., 2019, S.2). Das langjährige Erfahrung mit Resettlement. Dort richten häufigste Herkunftsland der hier lebenden Geflüchte- sich Unterstützungsangebote mehrheitlich an Geflüch- ten ist Syrien (745.645), gefolgt von Afghanistan, Irak tete, die im Rahmen von Resettlement-Programmen und Iran (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 148). aufgenommen wurden, und nicht an Asylsuchende (Hynie et al., 2019). Ein Gutachten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gibt Aufschluss Der Rechtsstatus als Geflüchtete*r wird gemeinhin auf über die Familienstrukturen geflüchteter Familien in Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention definiert. Deutschland. Beim Familienstatus zeigen sich deutliche Allerdings kann man diese Definition auch kritisch Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Die sehen, da sie die Heterogenität und Diversität der überwiegende Mehrheit (81 %) der Frauen ist verheira- Gründe und Prozesse, die zu Fluchtmigration führen, tet, während der Anteil verheirateter Männer bei 47 % nicht ausreichend berücksichtigt. (Arbeits-) Migration liegt (BMFSFJ 2019). Mit 81 % kamen die meisten und Fluchtmigration sollten nicht als binäres Gegen- geflüchteten Frauen in Begleitung ihrer Familie nach satzpaar verstanden werden, denn Erfahrungen Deutschland, wohingegen 53 % der Männer alleine existenzieller Armut und bewaffneter Konflikte eingereist sind. Von den Frauen haben 78,4 % mindes- überschneiden sich im Einzelfall häufig mit der Hoff- tens ein Kind unter 18 Jahren und über die Hälfte nung auf Bildungschancen und wirtschaftlichen dieser geflüchteten Mütter (51,8 %) hat mindestens ein Wohlstand (Scherr & Scherschel, 2019). Das Statisti- Kind unter 6 Jahren (BMFSFJ, 2019, S. 14). Der Bericht sche Bundesamt verwendet den Begriff „Schutzsu- enthält auch Angaben zur Familiengröße: 18 % der chende“, um eine weiter gefasste Kategorie zu definie- Frauen haben ein Kind, 24,5 % zwei Kinder und 36 % ren, die Asylsuchende, anerkannte Geflüchtete, drei oder mehr Kinder unter 18 Jahren (BMFSFJ, 2019, Personen mit einer so genannten Duldung4 und im S. 16). Alleinerziehend sind 15 % der geflüchteten Rahmen humanitärer Resettlement-Programme Mütter, aber lediglich 6 % der Väter. Bei 9 % der 3 „Resettlement bezeichnet die dauerhafte Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge aus einem Land, in dem sie bereits als Geflüchtete leben, in einen zur Aufnahme bereiten Drittstaat. Dieser Staat gewährt den Betroffenen eine direkte und sichere Einreise und einen umfassenden Flüchtlingsschutz. Die Flüchtlinge werden in einem komplexen Verfahren unter Beteiligung des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) ausgewählt. Resettlement ist kein Ersatz für reguläre Asylverfahren, son- dern nur eine Ergänzung zum Schutz besonders vulnerabler Flüchtlinge.“ (www.resettlement.de, Zugriff am 20.10.2020) 4 Wenn der Asylantrag abgelehnt wurde, aber Abschiebehindernisse bestehen (z. B. keine Reisedokumente vorliegen), erhält die betreffende Person in der Regel eine sogenannte Duldung. Dieser Status bedeutet lediglich eine Aussetzung der Abschiebung und geht mit einer hochgradigen Rechtsunsicherheit einher (Korntheuer, 2017).
geflüchteten Eltern lebt mindestens ein Kind in einem Restriktionen beim Familiennachzug (Westphal et al., anderen Land. Die Trennung von den Kindern beein- 2019). Geflüchtete Familien sind oftmals auseinander- trächtigt die Lebenszufriedenheit der Eltern am gerissen und über die ganze Welt verstreut. Die Kapitel 2 stärksten – ihr Wohlbefinden leidet erheblich, wenn familiäre Einheit über verschiedene Orte und Zeiten eines (oder gar alle) ihrer Kinder im Ausland lebt hinweg aufrechtzuerhalten und weiterzuführen (BMBFSJ, 2019). erfordert transnationale Formen der familiären Kommunikation und Interaktion. In diesem Zusammen- Laut Westphal et al. findet geflüchtetes Familienleben hang bedeutet „doing family“ die Wiederherstellung in restriktiven Strukturen und im transnationalen und Stärkung der familiären Bindungen durch häufige Rahmen statt (Westphal & Aden, i.E.; Westphal, (Video-)Telefonate, Whatsapp-Nachrichten oder Motzek-Öz & Aden, 2019). Im Gegensatz zu einem Geldüberweisungen (Westphal et al., i.E.). modernen und wissenschaftlichen Verständnis, wonach Familie als Begriff für unterschiedliche Formen 2.2 Eingeschränkte Möglichkeiten: Teilhabe des intergenerationalen Zusammenlebens steht, wird geflüchteter Familien an der Aufnahme- sie im Kontext der Fluchtmigration auf konservative gesellschaft und traditionelle Weise als aus Vater, Mutter und ihren Kindern bestehend definiert. Abgesehen von der Geflüchtete Familien kommen mehrheitlich als Asylsu- Tatsache, dass diese Definition die Lebensrealität vieler chende nach Deutschland. Restriktive Asylpolitik kann geflüchteter Familien gar nicht widerspiegelt, sind zu unsicheren und schwierigen Lebensverhältnissen sogar „Kern- oder Normfamilien“ von rechtlichen führen und Teilhabeprozesse in der Aufnahmegesell- Beschränkungen betroffen, beispielsweise durch schaft behindern. Nach dem Asylbewerberleistungsge- 2.000.000 1.800.000 1.600.000 1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 2 015 2 016 2 017 2 018 Registrierte Asylbewerber*innen 890.000 2 80.000 186.644 164.693 Anzahl der Asylanträge 441.899 722.370 198.317 161.931 Schutzsuchende 1.036.240 1.597.565 1.680.705 1.781.750 Schutzsuchende Kinder unter 6 70.464 135.793 156.306 167.484 Jahren Abbildung 1: Geflüchtete in Deutschland (eigene Darstellung; Quellen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2019b; Statistisches Bundesamt, 2019)
setz (AsylBLG) bekommen Asylsuchende eine Unter- me am gesellschaftlichen Leben, sondern fördert auch kunft zur Verfügung gestellt (meist in Gemeinschafts- ihre Selbstbestimmung (Babeyeva et al., 2018, S. 58). unterkünften) und erhalten medizinische Grundversor- Allerdings belegen diverse Studien, dass für geflüchtete gung und Grundsicherung zum Teil in Form von Frauen und insbesondere für Mütter hohe Zugangsbar- Sachleistungen. Wie lange geflüchtete Familien unter rieren bestehen (BMFSFJ, 2018; Brücker et al., 2019a; diesen Bedingungen leben müssen, hängt von der Gambaro et al., 2019; Liebig & Tronstad, 2018; Worbs & 08 / 09 Dauer ihres Asylverfahrens ab. Eine anhaltende Baraulina, 2017). Eine kürzlich im Auftrag des Deut- Unsicherheit des Rechtsstatus kann schwerwiegende schen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW) durch- Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das geführte Studie zeigt die zunehmende Teilnahme Wohlbefinden Geflüchteter haben (Lewek & Naber, Geflüchteter an Sprachkursen und am Arbeitsmarkt 2017, S. 9). Nach dem Wechsel in eine dauerhaftere (Brücker et al., 2019a). Dennoch ist der Zugang zu Unterkunft werden sie zumeist in kommunal betriebe- Sprachkursen und insofern auch zu sprachlichen nen Einrichtungen untergebracht, die von kleineren Kompetenzen stark mit dem Geschlecht und der Einheiten für nur wenige Familien bis zu Massenunter- familiären Situation verknüpft. Während 48 % der künften mit Hunderten von Wohneinheiten reichen kinderlosen Männer über gute bis sehr gute deutsche können. Der Koalitionsvertrag der seit 2018 amtieren- Sprachkenntnisse verfügen, trifft dies nur für 19 % der den Bundesregierung sieht die Einführung einer neuen geflüchteten Mütter zu. Im zweiten Halbjahr 2017 Art von Aufnahmeeinrichtung vor: Ankunfts-, Entschei- waren 27 % der geflüchteten Männer erwerbstätig, dungs-, kommunale Verteilungs- und Rückführungszen- aber nur 6 % der geflüchteten Frauen. Mit nur 3 % liegt tren (AnkER-Zentren). Allerdings wurde dieses Modell die Erwerbsquote geflüchteter Mütter mit kleinen bislang noch nicht in allen Bundesländern umgesetzt. Kindern besonders niedrig (Brücker et al., 2019a). Ungeachtet ihres Herkunftslandes und ihrer Bleibeaus- sichten in Deutschland sollen Asylsuchende bis zur Beschäftigungshindernisse zeigen sich in den folgenden Entscheidung über ihren Asylantrag in diesen Zentren Bereichen: verbleiben (maximal für 18 Monate, Familien mit - Qualifikation: fehlende Nachweise und Berufs- Kindern maximal für 9 Monate) (BAMF, 2019a). erfahrung - Psychische Verfassung: traumatische Erfahrungen Das Gesetz erlaubt anerkannten Geflüchteten, von der vor, während und nach der Flucht Gemeinschaftsunterkunft in eine eigene Wohnung - Familie: Fokus auf Familien- und Care-Arbeit umzuziehen. Sie können Sozialleistungen in Anspruch - Kulturelles Milieu: traditionelle Geschlechterrollen nehmen, staatlich finanzierte Sprach- und Integrations- - Strukturelle Beschränkungen: begrenzter Zugang zu kurse besuchen und an Qualifizierungsprogrammen Sprachkursen, fehlende Kinderbetreuung während des Jobcenters bzw. der Arbeitsagentur teilnehmen. der Kurse und die eingeschränkte Verfügbarkeit und Dennoch stehen sie vor grundlegenden Herausforde- Zugänglichkeit von frühkindlicher Bildung für rungen und Hindernissen wie etwa der Wohnungs- jüngere Kinder (BMFSFJ, 2018; Brücker et al., 2019a; knappheit in den großen urbanen Zentren (Korntheuer Gambaro et al., 2019; Liebig & Tronstad, 2018; & Hergenröther, 2020). Worbs & Baraulina, 2017). Teilhabe an und Zugang zu wichtigen Bereichen der Der Schlüssel für gelungene Teilhabe der Mütter Aufnahmegesellschaft, wie beispielsweise Gesund- scheint auch darin zu liegen, Kindern den schnellstmög- heitsversorgung, Wohnraum, Arbeitsmarkt und lichen Zugang zum Bildungssystem zu eröffnen. Bildungswesen, sind multifaktorielle Prozesse, die von Allerdings ist dies ebenfalls mit deutlichen Schwierig- individuellen wie strukturellen Faktoren beeinflusst keiten verbunden, denn der gleichberechtigten werden. Die folgenden Abschnitte untersuchen zwei Bildungsteilhabe geflüchteter Kinder und Jugendlicher miteinander verknüpfte Aspekte des gegenwärtigen stehen signifikante Hindernisse entgegen (El-Mafaalani Forschungsstandes: i) den begrenzten Zugang geflüch- & Massumi, 2019; Korntheuer, 2016; Korntheuer & teter Mütter zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt Damm, 2019; Pavia Lareiro, 2019, S. 3). Der Zugang und ii) die eingeschränkte Bildungsteilhabe geflüchte- hängt zum einen davon ab, in welchem Bundesland das ter Kinder. Kind lebt, und zum anderen vom Herkunftsland und den damit verbundenen individuellen Bleibeaussichten Der Zugang zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt (Abdallah-Steinkopf, 2018, S. 20; El-Mafaalani & ermöglicht geflüchteten Mütter nicht nur die Teilnah- Massumi, 2019, S. 10). Die Zugangsmöglichkeiten zu
frühkindlicher Bildung verbessern sich mit wachsender Bedeutung von Familienbildung in den Integrations- Aufenthaltsdauer, vor allem nach dem Auszug aus der wegen geflüchteter Familien. Die wenigen Publikatio- Gemeinschaftsunterkunft. Wenn Kinder aus geflüchte- nen zum Thema Familienbildung für Geflüchtete Kapitel 2 ten Familien endlich eine frühkindliche Bildungseinrich- beziehen sich bislang zumeist auf Befunde aus Studien tung besuchen, profitieren nicht nur sie, sondern auch zu Familien mit allgemeiner Migrationserfahrung ihre Eltern von der besseren sozialen Integration und (Fischer, 2019) oder auf praktische Erfahrungen im Feld dem gestiegenen Wohlbefinden (Gambaro et al., 2019). (Abdallah-Steinkopf, 2018). Rund 60 % der geflüchteten Kinder im Alter von drei Jahren besuchen eine Kindertagesstätte, bei den Lüken-Klaßen und Neumann (2019) analysieren 50 Vier- und Fünfjährigen sind es 72 %. Allerdings liegen Interviews mit Praktiker*innen aus dem Bereich der diese Teilnahmequoten geflüchteter Kinder immer Familienbildung und identifizieren fünf wesentliche noch signifikant unter dem Bundesdurchschnitt, Barrieren für geflüchtete Familien: i) Sprach- und wonach 90-95 % der Kinder dieser Altersgruppe Kommunikationsbarrieren, ii) spezifische fluchtbezoge- frühkindliche Bildung erhalten (Gambaro et al., 2019, S. ne Stressoren, iii) begrenzte Erfahrung mit sozialer 809). Arbeit, iv) unterschiedliche Wertesysteme und v) unpassende Angebotskonzeption. Zur besseren Förderung der Integration geflüchteter Familien 2.3 Stand der Forschung zu Familien mit schlagen sie vor, durch entsprechende Schulungen die Flucht- und Migrationserfahrung in interkulturellen Kompetenzen der Mitarbeiter*innen zu Familienbildungsprogrammen erweitern und ihr Bewusstsein für Machtgefälle zu schärfen. Ebenso müsse die Sozialraumorientierung Nach dem „Sommer der Migration“ von 2015 ist das der Angebote gestärkt werden. Lüken-Klaßen und Bewusstsein dafür gewachsen, dass Familien mit Neumann definieren geflüchtete Familien als Zielgrup- Fluchterfahrung Unterstützungsbedarfe in den pe mit besonderen Bedarfen. Da geflüchtete Familien unterschiedlichen Bereichen des Bildungssystems jedoch heterogen seien, müssten die Vorteile zielgrup- haben. In ihrem aktuellen Band zu Familienbildung und penspezifischer Unterstützungsprogramme und die Migration in Deutschland stellen Geisen et al. (2019, S. Nachteile einer Homogenisierung von Teilnehmenden 9) fest, dass „Migration daher für Anbietende von sorgfältig abgewogen werden (Lüken-Klaßen & Eltern- und Familienbildung zu einer augenfälligen und Neumann, 2019, S. 201). Ähnlich plädiert auch Fischer signalhaften Thematik geworden“ ist. Dennoch besteht (2019) für einen intersektionalen Ansatz anstelle ein deutlicher Mangel an empirischen Belegen für die getrennter Schwerpunktsetzungen auf Geschlecht, Alter, Bildungsstand oder Fluchterfahrung. Zielgrup- penspezifische Angebote bergen ihrer Ansicht nach die Gefahr, die Familien zu essenzialisieren und Prozesse des „Othering“ auszulösen, sie also als „die Anderen“ oder „die Fremden“ zu stigmatisieren. Auf der normati- ven Grundlage der Menschenrechte fordert sie, dass Anerkennung, Antidiskriminierung/Antirassismus, Teilhabe und Empowerment in der Bildungsarbeit mit Familien in all ihrer Vielfalt handlungsleitend sein sollten (Fischer, 2019, S. 33). Geflüchtete Familien sind von sozialer Exklusion betroffen. Ihr Zugang zu wichtigen Ressourcen und Funktionsbereichen der Aufnahmegesellschaft, wie Bildung, Wohnraum, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Zeichnung des Sohnes von Amime, 3,5 Jahre alt. politischer Teilhabe, ist durch rechtliche Strukturen und Institutionen eingeschränkt (siehe 2.2). Beim Versuch, Zugang zu Familienbildungsprogrammen zu bekom- men, stoßen Familien mit Migrations- oder Fluchter- fahrung auf organisatorische Hindernisse und Informa- tionsbarrieren. Peer-to-Peer-Ansätze und aufsuchende
Arbeit werden als Mittel vorgeschlagen, um marginali- zu Deutschen. Bei den Kindern ließ sich beobachten, sierten Bevölkerungsgruppen – wie beispielsweise dass sie offener im Umgang und kreativer wurden und Familien mit Fluchterfahrung – einen besseren Zugang auch ihre Deutschkenntnisse verbesserten sich zu und mehr Teilhabe an (Familien-)Bildung zu eröffnen (Bierschock et al., 2008). (BMFSFJ, 2018; Fischer, 2018; Fischer, 2019). Communi- ty- und sozialraumorientierte Ansätze haben sich in der Die Evaluation des Opstapje-Programms durch das 10 / 11 Arbeit mit gesellschaftlich benachteiligten und margi- Deutsche Jugendinstitut im Jahr 2004 zeigte, dass sich nalisierten Familien als erfolgreich erwiesen (Fischer, die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder 2018). Das HIPPY-Programm mit seinen Hausbesuchen unmittelbar nach Ende des Programms signifikant wird in diesem Zusammenhang als vielversprechende verbessert hatten (Izyumska, 2013, S. 34f.). Allerdings Praxis diskutiert (Fischer, 2019). Andererseits kritisiert ergab eine Folgeevaluation von 2005, dass die erreich- Autor*innen HIPPY für genau diesen aufsuchenden ten Kompetenzsteigerungen neun Monate nach Ende Ansatz und das damit verbundene Eindringen in die des Programms wieder auf das Ausgangsniveau familiäre Privatsphäre. Zwar könnten Hausbesuche die zurückgegangen waren (Izyumska, 2013, S. 42). Eine Grundlage für eine vertrauensvolle Partnerschaft langfristig angelegte Unterstützung der Familien und zwischen Familie und Institution schaffen, aber ihrer Kinder wird daher dringend empfohlen. Ein gleichzeitig ermöglichten sie einen direkteren öffentli- Kritikpunkt an Opstapje war zudem, dass keine chen Zugriff auf die Familien. Besonders gefährlich Materialien in den Familiensprachen der Zielgruppe zur seien diese Situationen dann, wenn an heterogene und Verfügung stehen (Izyumska, 2013, S. 42). vielfältige Familienrealitäten normative Vorstellungen der „traditionellen Familie“ angelegt werden (Amirpur, Das „Rucksack-Programm“ basiert auf einem Familien- 2019). bildungskonzept aus den Niederlanden. Im Rahmen eines Multiplikator*innen-Peer-Ansatzes arbeitet das In Deutschland liegen bislang nur einige wenige Programm mit Eltern als bilinguale Assistent*innen. Evaluations- und Forschungsberichte zu HIPPY, Opstap- Familien mit Migrationserfahrung werden durch je und dem Familienbildungsprogramm „Rucksack“ vor. Bildungsmaterialien in ihrer jeweiligen Herkunftsspra- Sowohl HIPPY (Home Instruction for Parents of che, regelmäßige Gruppentreffen und Hausaufgaben- Preschool Youngsters) als auch Opstapje sind internati- übungen unterstützt. Der Multiplikator*innen-Peer-An- onal etablierte und lizensierte Programme. Beide satz und die starke Betonung der Familiensprache haben das Ziel, Erziehungskompetenzen zu fördern, fördern gleichermaßen Literacyaktivitäten in der familiäre Bindungen zu stärken und Kinder beim Familie und stärken die Mütter bzw. ehemaligen Übergang in Vorschule oder Schule zu unterstützen, Teilnehmer*innen, die als bilinguale Assistent*innen beispielsweise durch Verbesserung ihrer Sprach- und fungieren (Roth et al., 2015). Dieses Empowerment gilt Literacykompetenzen. HIPPY wurde 1969 in Israel als zentrales Element des Programms, das stark auf den entwickelt, um zugewanderte Familien mit hohem Aufbau von Beziehungen zwischen den bilingualen Förderbedarf zu unterstützen. Die 2008 in Bayern Assistent*innen und den Müttern setzt (Roth, 2015). durchgeführte Evaluation des HIPPY-Programms zeigte, dass die teilnehmenden Familien in signifikantem Maße von dem Programm profitierten. Der Hauptgrund (73 %) der Teilnahme war die Förderung des deutschen Spracherwerbs der Kinder (Bierschock et al.; 2009, S. 27). Beobachtet wurden verbesserte Eltern-Kind-Inter- aktionen und eine verstärkte Integration der Mütter und ihrer Kinder. Zudem zeigte sich eine Zunahme der Literacyaktivitäten in den Familien, wie häufigeres Lesen und miteinander Sprechen. Je länger die Familien teilnahmen, umso mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Eltern Zeit für die Übungen nahmen und diese zum integralen Bestandteil ihres Alltagslebens wurden (Bierschock et al., 2008, S. 42). Die Sprachkom- petenzen der Mütter verbesserten sich, sie wurden selbstbewusster und knüpften mehr soziale Kontakte
3. DURCHFÜHRUNG DER MIXED-METHODS-EVALUATIONS STUDIE Kapitel 3 3.1 Forschungsdesign kerte Evaluationspraxis können die Befunde gleichzeitig auch in wissenschaftliche und öffentliche Diskurse Die Exploration des Feldes erfolgte im Rahmen eines eingebracht werden. Mixed-Methods-Ansatzes und eines systemischen Evaluationsmodells (Kuckartz et al., 2008; Kuckartz, Die systemische Evaluationspraxis berücksichtigt 2004; Lamprecht, 2012; Döring & Bortz, 2016). Dies Programminput, -abläufe und -ergebnisse und aus- umfasste Fallstudien auf der Grundlage qualitativer drücklich auch den Kontext, in dem das Programm Interviews und teilnehmender Beobachtung, eine durchgeführt wird. Indem wir mehr über die Lebenssi- Onlinebefragung sowie die Analyse quantitativer tuationen geflüchteter Familien erfahren, können wir Teilnehmendendaten aus dem Zeitraum von 2015 bis besser verstehen, welche Ressourcen sie mitbringen 2018. Die Kombination qualitativer und quantitativer und welche Bedarfe die Programme sowohl konzeptio- Forschungsmethoden ermöglicht eine mehrperspekti- nell als auch in ihren Abläufen adressieren sollten vische Analyse, wobei die Zusammenführung und (Döring & Bortz, 2016). Verknüpfung der Datenquellen die Validität der Befunde erhöht (Kuckartz, 2014). Abbildung 2 vermittelt einen Überblick über den Forschungsprozess. Ein erstes Treffen der kanadischen Unsere Evaluation war, wie von Lamprecht (2012) und deutschen Forschungspartner*innen (Mothers empfohlen, nicht strikt organisational bzw. institutio- Matter Canada, IMPULS Deutschland e.V.) und eine nell ausgerichtet. Evaluation soll Erkenntnisse auf Vorstudie bestehend aus Besuchen im Feld, ersten individueller, institutioneller und soziopolitischer Interviews und Gesprächen mit Koordinatorinnen, Ebene generieren (Lamprecht, 2012 S. 280f.). Inner- Hausbesucherinnen und Eltern im November 2018 halb des Evaluationsprozesses konnten wir Eltern, bildeten die Grundlage für die Entwicklung des For- Hausbesucherinnen und Koordinatorinnen dazu schungsdesigns und der Erhebungsinstrumente. Die anregen, ihr eigenes Handeln zu reflektieren. IMPULS Datenerhebung selbst begann im Februar 2019 und als Institution kann die Ergebnisse der Evaluation für beruhte auf drei Datenquellen: i) der Analyse von die weitere Organisationsentwicklung nutzen und Teilnehmendendaten aus IMPULS-Programmen durch eine breiter angelegte und im Kontext veran- zwischen 2015 und 2018, ii) einer Onlinebefragung Abbildung 2: Forschungsprozess und Datenquellen (eigene Darstellung)
unter Beteiligung von 68 Programmstandorten von 3.2 Theoretischer Rahmen und WmI, Opstapje und HIPPY und iii) qualitativen Fallstudi- Evaluationskriterien en zu 22 Familien und 7 Programmstandorten durch 55 Interviews und Feldbeobachtung. Datenerhebung und Für die Analyse der Integrationswege von Familien mit -analyse erfolgten in einem eng miteinander verknüpf- Fluchterfahrung sind herkömmliche Integrationsmodel- ten, iterativen Prozess (Corbin & Strauss, 2008), in le (z. B. Esser, 2008) möglicherweise nicht geeignet, da 12 12//13 13 dessen Verlauf die aus den verschiedenen Datenquel- sie den Integrationserfolg zumeist lediglich anhand len generierten Ergebnisse zusammengeführt wurden. funktioneller Indikatoren wie beispielsweise der Nach dem Einreichen des vorläufigen Berichts im April Arbeitsmarktintegration und dem Spracherwerb 2020 und des Abschlussberichts im Juli 2020 sind bis festmachen. Das von Ager und Strang (2008) entwickel- April 2021 diverse Aktivitäten zur Wissensmobilisie- te Modell hingegen weist eine ganzheitliche Ausrich- rung und -verbreitung geplant, wie etwa wissenschaft- tung auf, mit der sich individuelle und sozialstrukturelle liche Publikationen, Konferenzbeiträge und das Faktoren erfassen lassen. Integrationsprozesse gestal- Erstellen mehrsprachiger Kurzzusammenfassungen der ten sich durch soziale Kontakte (social connections), Ergebnisse und Handlungsempfehlungen sowie eines wie beispielsweise soziale Brücken (social bridges) zur an die teilnehmenden Eltern und Hausbesucherinnen Aufnahmegesellschaft, soziale Bindungen (social bonds) gerichteten, ebenfalls mehrsprachigen Kurzvideos. an ethnische und religiöse Communities und Zugänge (social links) zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft. Integration wird durch „Kontakte zwischen Individuen Tabelle 1: Evaluationskriterien (eigene Darstellung basierend auf Ager & Strang, 2008; IMPULS Deutschland Stiftung e.V., 2018) Evaluationskriterien für erfolgreiche Konzeptionelle und strategische Evaluations- Integration durch soziale Kontakte kriterien der IMPULS-Programme 1. Soziale Brücken: Soziale Kontakte und 1. Ganzheitliche Förderung der kindlichen Ent- Beziehungen zu Mitgliedern der Aufnahme wicklung (motorische, soziale, emotionale und gesellschaft werden ermöglicht / gestärkt kognitive Entwicklung, Selbstvertrauen und Neugier, deutscher SpracherwerbLiteracy) 2. Soziale Bindungen: Soziale Kontakte und Beziehungen zu Mitgliedern der eigenen 2. Stärkung der Eltern- Kind Bindung ethno-kulturellen, sprachlichen oder religiö sen Community werden ermöglicht / gestärkt 3. Stärkung der Beziehungs- und Erziehungs- kompetenzen der Eltern 3. Institutionelle Zugänge: zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft (Kitas und Vorschulen, 4. Eltern und Kinder erleben Selbstwirksamkeit Schulen, Sprachkurse, Gesundheitsdienst- und werden befähigt, entsprechend der leister, soziale Dienste) werden ermöglicht / eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu gestärkt handeln und sich für die eigenen Rechte einzusetzen (Empowerment) 5. Kinder erleben ihre Eltern als aktive Akteur*in nen für Erziehung und Bildung 6. Gesundheitsförderung und Prävention werden unterstützt 7. Integration und Vernetzung der Familien in den Sozialraum 8. Die Bildungschancen der Kinder werden ver- bessert und Bildungsgerechtigkeit gefördert 9. Durch Qualifikation werden die Arbeitsmarkt- chancen der Hausbesucherinnen verbessert
und staatlichen Strukturen wie Behörden“ gerahmt iii) Welches sind die erfolgversprechenden, übertrag- (Ager & Strang, 2008, S. 181). baren Praxisansätze zur Unterstützung der Integrati- Zusätzlich orientierten sich unsere Evaluationskriterien onswege geflüchteter Familien? Kapitel 3 an der konzeptionellen und strategischen Ausrichtung → Wie werden die Familienbildungsprogramme der IMPULS-Programme. Ungeachtet der Unterschiede umgesetzt und welche Auswirkung hat dies darauf, zwischen den in dieser Studie untersuchten Program- ob die angebotene Unterstützung für die verschie men (HIPPY, Opstapje, Willkommen mit IMPULS) lassen denen Zielgruppen hilfreich ist? sich neun gemeinsame Programmziele identifizieren → Welches sind die Erfolgsfaktoren für eine wirksa (IMPULS, 2018, S. 14ff.). Die nachfolgende Tabelle 1 me Umsetzung der Programme? gibt einen Überblick über die beiden Bereiche der → Wie lassen sich diese Erfolgsfaktoren auf andere Evaluationskriterien. Zusammenhänge übertragen? 3.3 Forschungsfragen 3.4 Datenerhebung und Sample Die Studie untersucht die Lebensumstände geflüchte- Methodologisch basiert die unsere Mixed-Me- ter Familien in Deutschland sowie die Umsetzung und thods-Evaluationsstudie auf drei Säulen: Wirkung von Familienbildungsprogrammen mit Blick auf diese Zielgruppe, um Promising Practice, notwendi- I. Analyse der Teilnehmendendaten der IMPULS-Pro- ge Rahmenbedingungen und Handlungsempfehlungen gramme HIPPY und Opstapje von 2015 bis 2018: herauszuarbeiten. Unsere Forschungsfragen nehmen Darüber lassen sich Muster erkennen, wie sich die auf die Evaluationskriterien Bezug und sind drei Anzahl der teilnehmenden Familien aus bestimmten Fragebereichen zugeordnet: Herkunftsländern über die letzten Jahre verändert hat, in welchen geografischen Regionen diese Familien an i) Wie werden Eltern-Kind-Interaktionen / familiären den Programmen teilnehmen und wie hoch die Beziehungen durch Fluchtmigration beeinflusst? Abbruchquoten sind. → Wie sieht der Alltag geflüchteter Familien aus? → Vor welchen Herausforderungen stehen geflüch- II. Analyse der Onlinebefragung von 2019: Achtund- tete Familien und auf welche Ressourcen können sechzig Programmstandorte von HIPPY, Opstapje und sie zurückgreifen? Willkommen mit IMPULS gaben detaillierte Rückmel- → Wie wirkt sich die Fluchtmigration auf die fami- dungen über die Teilnahme geflüchteter Familien. liären Beziehungen und die Eltern-Kind-Inter- Diese Daten umfassen Informationen zu den Lebens- aktionen aus? umständen und Sprachkompetenzen der teilnehmen- → Welche Rolle spielen die sozialen Bindungen den Familien mit Fluchterfahrung und erlauben (social bonds) zu ethnischen bzw. religiösen oder Rückschlüsse hinsichtlich der Zugänglichkeit der sprachlichen Communities? Programme und der notwendigen Rahmenbedingun- gen. ii) Welche Rolle spielen Familienbildungsprogramme für den Integrationsprozess? III. Qualitative Fallstudien zu 22 Familien und 7 → Welche Kontakte haben die Familien zur Aufnah Programmstandorten zum besseren Verständnis der megesellschaft und deren Bildungseinrichtungen Lebenssituationen geflüchteter Familien in Deutsch- (soziale Brücken/institutionelle Zugänge)? land und zur Evaluation der Wirkung von Familienbil- → Wie nehmen die Familien ihre Teilnahme am dungsprogrammen auf die Integrationswege der Familienbildungsprogramm wahr (was empfinden Familien. Zu diesem Zweck wurden 55 Interviews und sie als wirksame Unterstützung, was als problema teilnehmende Beobachtungen mit Eltern, Hausbesu- tisch, was sollte anders sein)? cherinnen und Koordinatorinnen durchgeführt. Die → Welche Effekte hat die Programmteilnahme für die Kinder stellten ihre Sicht auf die Hausbesuche durch geflüchteten Familien? Wie verhalten sich diese Bilder dar. Effekte zu den strategischen und konzeptionellen Programmzielen (siehe Tab. 1)? → Wie wirkt sich die Programmteilnahme auf die familiären Beziehungen aus?
Für jede der 22 Familien gab es zwei Erhebungszeit- der Daten sowie die Einholung eines informierten punkte: i) qualitative Interviews mit Eltern und Hausbe- Einverständnisses wo möglich formell und immer auch sucherinnen zu Beginn der Teilnahme und ii) teilneh- in einem kommunikativen Prozess durch muttersprach- mende Beobachtung und qualitative Interviews mit liche Interviewerinnen. Schon bei der Konzipierung der den Eltern nach mindestens 4 Wochen Programmteil- leitenden Forschungsfragen achteten wir darauf, den nahme. Die zweite Interviewrunde wies eine ausge- Fokus auf die gegenwärtige Lebenssituation zu richten 14 / 15 sprochen hohe Beteiligung auf, nur vier Familien waren und nicht auf traumatische Erlebnisse vor und während nicht in der Lage, auch bei der zweiten Erhebungsphase der Flucht. Dennoch wollten einige der Untersu- mitzuwirken5. chungsteilnehmer*innen auch über diesen Aspekt ihrer Geschichte sprechen. In diesen oftmals sehr emotiona- Ziel der qualitativen Samplingstrategie war es, reichhal- len Situationen wurde den Interviewten Raum gege- tige Daten von einem breiten Spektrum an Intervie- ben, Erlebtes zu erzählen, und die Interviewerinnen wpartner*innen zu gewinnen, um die Dimensionen, brachten verbal und nonverbal Anerkennung, Wert- Variationen und Merkmale der im Zuge der Analyse schätzung und Respekt zum Ausdruck. entwickelten Konzepte zu maximieren (Corbin & Strauss, 2008). Daher umfasste das Sample Familien mit unterschiedlichem ethnokulturellen Hintergrund 3.5 Datenanalyse und Bildungshintergrund aus städtischem wie aus eher ländlichem Umfeld, die an unterschiedlichen und von Mixed-Methods-Ansätze kombinieren verschiedene verschiedenen Standortpartnern durchgeführten Datenquellen sowie qualitative und quantitative Familienbildungsprogrammen teilnahmen. So konnte Analysen, um die Perspektiven auf den Forschungsge- eine breite Datenbasis für Maximal- und Minimalver- genstand zu erweitern (Kuckartz, 2014). Durch die gleiche ermöglicht werden. Kombination qualitativer Fallstudien mit quantitativen Daten aus den Onlinebefragungen und Teilnehmenden- Die Interviews mit den geflüchteten Eltern sowie den daten war es uns möglich, Prozesse auf der Einzelfalle- Koordinatorinnen und Hausbesucherinnen wurden bene zu verstehen und anschließend die Validität anhand teilstrukturierter Interviewleitfäden in der von dieser Erkenntnisse zu erhöhen, indem wir sie mit den den jeweiligen Interviewpartner*innen bevorzugten Ergebnissen aus den größeren Datensätzen verknüpf- Sprache durchgeführt (Deutsch oder Herkunftsspra- ten. Für die Fallstudien wurden die Daten mithilfe der che). Alle Interviews wurden aufgezeichnet, zusam- Grounded-Theory-Methodologie (GTM) (Corbin & mengefasst und transkribiert6. Zur Dokumentation der Strauss, 2008; Charmaz, 2011) analysiert. Die induktive teilnehmenden Beobachtung wurden Feldnotizen Kategorienbildung erfolgte Satz für Satz und Sequenz angefertigt. für Sequenz, indem die Interview- und Beobachtungs- daten verglichen und einander gegenübergestellt Während des gesamten Forschungsprozesses wurde wurden. Wir beschlossen, die Zeichnungen der Kinder der Tatsache Rechnung getragen, dass geflüchtete als Illustrationsquellen und nicht zur Datenanalyse zu Familien oftmals in schwierigen Lebenssituationen und verwenden. Da eine Videoaufzeichnung nicht möglich unter der Bedingung rechtlicher Unsicherheit leben. war, weil sie für Teilnehmer*innen mit unsicherem Der Schutz der Untersuchungsteilnehmer*innen war Rechtsstatus zu riskant erschien, blieben die Interaktio- unsere oberste Priorität (Clark-Kazak, 2017; Unger, nen zwischen Interviewerinnen und den Kindern 2018) 7. Dies beinhaltete eine strikte Anonymisierung während der Datenerhebung zu vage und die Analyse dieser Daten zu spekulativ. 5 Für einen Überblick über das Sample, siehe Anhang. 6 Die Mehrzahl der Transkriptionen wurde direkt aus dem Arabischen/Farsi/Dari ins Englische übersetzt und von den mehrsprachigen Forschungsassistenten des Projekts in englischer Sprache verfasst. Da die Forscherinnen selbst die Interviews in der Herkunftsspra- che der Interviewpartner*innen führten, war es ihnen möglich, die Interviews im Kontext der Interviewsituation zu verstehen. Es muss jedoch klargestellt werden, dass die Übersetzungen der Interviews aus der Herkunftssprache ins Englische zunächst nicht von professionellen Übersetzern vorgenommen wurden. Um mögliche Übersetzungsfehler zu überprüfen, wurden einige der Interviews ins Arabische transkribiert und von einem professionellen Übersetzer in deutsche Sprache übersetzt. Auszüge aus den Interviews wurden sprachlich leicht angepasst. 7 Forschungsethische und methodologische Aspekte bei der Durchführung von Forschungs- und Evaluierungsprojekten mit Flücht- lingsfamilien in Kanada und Deutschland werden im Detail erörtert in: Korntheuer & Ohta (forthcoming): Ethics in practice and beyond: a comparative study of ethical considerations for evaluation research with refugee families in Canada and Germany. In: Ali, M.: Ethical Issues in Working with Refugee Children and Youth.
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