Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert - B.I.T. online

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          Über Traumberufe, Diktaturen,
          Sportlandschaften und Mediennationen

          Gegenwart und Geschichte
          des Fußballs und des Sports
          im 20. und 21. Jahrhundert
          Prof. Dr. Dittmar Dahlmann Prof. Dr. Uwe Baumann

          Vor und nach sportlichen Großereignissen wie der 20. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien in diesem oder
          der 50. Saison der Bundesliga im vergangenen Jahr boomt auch immer wieder der Buchmarkt. So sind
          die hier vorzustellenden Bücher nur eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl aus dem fast schon
          unübersehbaren Angebot des Marktes. Wer sich vor rund 20 Jahren als professioneller Historiker oder
          Soziologe mit dem Thema Sport und insbesondere mit Fußball wissenschaftlich beschäftigte, wurde spöttisch
          belächelt und nicht so ganz ernst genommen. Heute bringt auch das Magazin „Forschung“ der Deutschen
          Forschungsgemeinschaft in der ersten Nummer dieses Jahres den Artikel des Dortmunder Physikprofessors
          Metin Tolan, der in seinem jetzt schon in 3. Auflage vorliegenden Buch „Manchmal gewinnt der Bessere.
          Die Physik des Fußballspiels“ mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung und von Computersimulationen
          herausgefunden hat, dass Deutschland in Brasilien mit 20,33% vor den Niederlanden und England die
          besten Chancen hat, Weltmeister zu werden. Die Chancen des Titelverteidigers Spanien liegen demnach nur
          bei 0,65%, das Land des Gastgebers hat immerhin eine Chance von 9,04%. Im Aufhänger dieses Artikels
          ist allerdings ein Fehler festzustellen, der einem Fußballkenner in Deutschland nicht unterlaufen sollte.
          Otto Rehhagel, der ehemalige Spieler und Trainer, der 2004 so überraschend als Trainer mit Griechenland
          Europameister wurde, und danach überall nur noch „Rehakles“ hieß, schreibt sich mit zwei „h“ und nicht nur
          mit einem. Wahrscheinlich war’s aber nur der Druckfehlerteufel und außerdem begann Rehhagels Karriere
          beim Reviernachbarn Rot-Weiß Essen. Dieser Verein ist zwar aus Dortmunder Sicht längst nicht so schlimm
          wie Schalke 04, aber Freunde wohnen dort auch nicht. Nun aber zu den zu besprechenden Büchern.

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              Jörg Runde/Thomas Tamberg, Traumberuf Fußballprofi.           Dieter Mussler, Sport als Entertainment. Zwischen, Marken,
              Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga,                Maschen und Moneten, Frankfurt/M.: Frankfurter Allge-
              Weinheim: Wiley-VCH Verlag 2014, 302 S.                       meine Buch 2014, 178 S.

          Im Band der beiden Sportjournalisten Jörg Runde und            Seitdem der erste Sportler den Sündenfall beging, für sei-
          Thomas Tamberg wird der „Traumberuf Fussballprofi“             ne Aktivitäten Geld oder Sachwerte einzufordern, läuft die
          unter die Lupe genommen. Wie also kommt ein jun-               Diskussion über die Kommerzialisierung des Sports, grob
          ger Spieler zu seinem Traumberuf, welche Hindernisse           geschätzt nunmehr rund 130 bis 140 Jahre. Inzwischen
          sind zu überwinden, welche Gefahren lauern am Wege             ist der Spitzensport zum Event geworden und gehört zur
          ganz nach oben? Wie wird er Nationalspieler? Runde             Unterhaltungsbranche (neudeutsch: Entertainment). Ein
          und Tamberg haben aufmerksam die vorliegende Lite-             großes Problem besteht bei solchen Büchern, wie dem des
          ratur zum Thema studiert – es gibt sie reichlich – und         promovierten Volkswirts Dieter Mussler, Dozent an der
          mit Spielern, Trainern, Beratern und Eltern gesprochen.        Hochschule Fresenius im Fachbereich Media & Commu-
          Ein wesentliches Problem des Buches ist es allerdings,         nication, darin, dass unter dem im Titel angesprochenen
          dass immer wieder Einzelfälle ausführlich, teils minu-         „Sport“ nur der Spitzensport verstanden wird. Das sind,
          tiös beschrieben werden, die nicht immer verallgemei-          wenn wir Deutschlands populärste Sportart Fußball neh-
          nert werden können. Zuweilen werden die Autoren auch           men, maximal die 36 Vereine der ersten und zweiten Li-
          von den Entwicklungen überrollt. Als der 2013 gerade           ga, deren Spiele live im Bezahlfernsehen verfolgt werden
          von Schalke 04 zu den Tottenham Hotspurs gewechsel-            können. Allerdings finden an jedem Wochenende rund
          te 23-jährige Deutsch-Engländer Lewis Holtby das Ge-           170.000 Fußballspiele deutschlandweit statt, wenn wir
          leitwort zu dem Buch schrieb, schien seinem Aufstieg           den Jugendbereich einbeziehen. Der kommt als Entertain-
          kaum noch etwas im Wege stehen zu können. Rund ein             ment oder Event gar nicht vor, weil er weder das eine noch
          Jahr später hat die Karriere einen erheblichen Knick be-       das andere ist, aber auch er ist inzwischen kommerziali-
          kommen, denn Holtby konnte sich bei den Spurs nicht            siert. „Gesponsert“ werden die Jugendmannschaften der
          durchsetzen und wurde zur Winterpause an den Lokalri-          Amateurvereine beispielsweise von einem Friseurladen, der
          valen FC Fulham ausgeliehen, mit dem er am Ende die-           für die neue Saison einen Satz Trikots für die E-Jugend
          ser Saison aus der englischen Premier League abgestie-         des nahegelegenen Vereins mit entsprechendem Aufdruck
          gen ist. Das kann man durchaus als Ironie des Schicksals       stiftet: Da ist man im Dorf oder im Vorort in aller Munde.
          bezeichnen und darauf hinweisen, wie schnelllebig doch         Zum Spiel in der Kreisliga B kommen etwa 20 bis 50 Per-
          der Fußball ist.                                               sonen, man kann eine Bockwurst kaufen und ein Bier trin-
          Runde und Tomberg möchten offensichtlich gerne alle            ken. Dann ist das Event vorüber. Auch darüber informiert
          Probleme und Gefahren ansprechen, die im Fußballge-            uns der Autor, aber nur in sieben Zeilen.
          schäft möglich sind. Dies führt dazu, dass manches wich-       Alle Sporttreibenden aber brauchen die passende Ausstat-
          tige Thema eben nur angetippt und an Einzelbeispielen          tung, ohne die geht es heute unter keinen Umständen.
          verdeutlicht wird. Die Problematik der psychischen Erkran-     Sportbedarf, um es mit diesem Begriff zusammenzufassen,
          kung aus welchen Gründen auch immer, wird unter der            ist ein Teil des Geschäfts, dabei kommt es zumeist auf die
          Überschrift „Auch Gladiatoren haben ein Seelenleben“ auf       Marke an. In jedem Falle ist nicht nur der große Sport,
          acht Seiten behandelt. Das ist sicherlich gut gemeint, aber    sondern auch der „kleine“ Sport, der Sport als Freizeit-
          doch oberflächlich.                                            oder Fitnessvergnügen, ein großes und gutes Geschäft.
          Der im Titel erwähnte „Bolzplatz“, der symbolisch wohl für     Mussler behandelt in seinem Buch durchaus zuverlässig
          den damals wie heute immer wieder als „Talenteschmiede“        und informiert den großen Sport als Entertainment, be-
          geltenden „Straßenfußball“ stehen soll, kommt im Buch          schränkt sich allerdings weitgehend auf Deutschland. Wer
          an keiner Stelle vor. Stattdessen werden die Trainingszen-     sich in diesem Bereich nicht so auskennt, der wird in die-
          tren und Jugendakademien der führenden deutschen und           sem Buch gut über Sport als Geschäft in vielerlei Facetten
          einiger europäischer Spitzenvereine vorgestellt.               informiert. Der Autor behandelt auch die Schattenseiten
          Am Ende des Buches finden sich auch ein paar Anmerkun-         des großen Sports, die Probleme des Dopings, der Korrup-
          gen für direkte Zitate und weitere Belege. Allerdings ist      tion, der Manipulation und des Wettbetrugs. Zum Schluss
          dort immer nur das Buch angegeben, auf das sich die Au-        allerdings wird der Autor dann doch noch moralisch und
          toren beziehen, die Seitenzahlen aber fehlen. Wahrschein-      kommt – wie eingangs auch – auf die Werte, die der Sport
          lich sollen die Leser, vor allem die zukünftigen Jungprofis,   vorgeblich oder tatsächlich normativ vermittelt, zu spre-
          diese Bücher auch noch lesen, um weitere Informationen         chen. Er nennt Fair Play, Teamarbeit, Leistungsstreben,
          zu erhalten.                                                   soziale Kompetenz, Gesundheit und Fitness. Schon dar-
          Wer auch nur ein wenig mehr über die Welt des Profifuß-        über ließe sich trefflich streiten, warum uns ausgerechnet
          balls weiß, als das, was im „Kicker“ oder bei „Sport-Bild“     das Milliardengeschäft Sport diese Werte vermitteln sollte.
          steht, für den gibt es in diesem flott geschriebenen Buch      Als guter Mensch und Marketingexperte schlägt Mussler
          wenig Neues zu erfahren. Bessere Informationen über            abschließend vor, die Werte des Sports auf den Prüfstand
          den harten und steinigen Weg zum Jungprofi finden sich         zu stellen und mehr Bescheidenheit zu zeigen. In seinen
          in einer Serie im Sportteil der „Frankfurter Allgemeinen       letzten Sätzen plädiert er für eine Symbiose der beiden
          Sonntagszeitung“, die in unregelmäßigen Abständen über         Sportwelten, derjenigen, die sich strikt an den markt-
          die Entwicklung von Berliner Juniorenspieler berichtet, die    wirtschaftlichen Prinzipien, und der anderen, die sich an
          Fußballprofi werden wollen. (dd)                               gesellschaftlichen Werten orientiert. Sie sollten sich best-

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          möglich ergänzen und einander fördern. Da kann man nur             be, denn er sei „allzu ernst geworden, die Spielstimmung
          hoffen, dass die Mächtigen des kommerzialisierten Sports,          mehr oder weniger aus ihm gewichen“. (Huizinga, 18. Aufl.,
          an der Spitze die Präsidenten des IOC und der FIFA, über           2001, S. 214). Was denn „Sport“ ist, wie er begrifflich zu
          die Werte des Sports öffentlich nachdenken, vor allem              definieren ist, lassen die Herausgeber unbeantwortet. Alle
          darüber, ob es angesichts der Werte des Sports empfeh-             körperliche Leibesertüchtigung und Athletik gilt als Sport.
          lenswert ist, die Mega-Events des Sports in nicht-demo-            Der Fußball sei eine „Ausnahme vom Alltag, die Regeln
          kratischen Staaten oder in sogenannten Schwellenländern            sind andere als die sonst im menschlichen Zusammenle-
          auszutragen. Immerhin hat FIFA-Präsident Josef Blatter             ben gültigen, und dennoch werden die gleichen Werte,
          Mitte Mai dieses Jahres zugegeben, dass die Vergabe der            Normen, Konflikte und Machtdifferenzen verhandelt wie
          Fußballweltmeisterschaft 2022 nach Katar ein Fehler war.           überall in der Gesellschaft“. (S. 11) Ein paar Seiten weiter
          Von Bestechung und Korruption könne aber selbstver-                behaupten die Herausgeber, es gelte als fußballhistorisches
          ständlich keine Rede sein, nur von „politischem Druck“             Allgemeingut, dass Fußball ursprünglich ein Sport unterer
          von deutscher und französischer Seite, weil in Katar so            Gesellschaftsschichten war. (S. 14). Wer von der Geschich-
          viele deutsche und französische Firmen arbeiteten. Die von         te des Fußballs auch nur einen blassen Schimmer hat, der
          Dieter Mussler gewünschte Versöhnung des hoch kommer-              weiß, dass der moderne Fußball seinen Ursprung in den
          zialisierten Sports mit der Sportwelt der Ehrenamtlichen           elitären englischen Public Schools (Eton und andere) seit
          findet schließlich, vielleicht ein wenig zynisch gesprochen,       dem Anfang des 19. Jahrhunderts hat. Die ersten geschrie-
          im Fernsehen statt, denn bei der bevorstehenden Fußball-           benen Regeln legten Studenten der Cambridge University
          WM steht im Vereinsheim ein möglichst großer Fernseher,            fest. Darauf geht auch Philipp Dezort in seinem Beitrag
          um die Spiele im Kreis der Sportkameraden und -kame-               über „Fankulturen des Männer- und des Frauenfußballs“
          radinnen anzuschauen. Denn alleine macht es doch noch              ein. Der Siegeszug des Fußballs um die Welt war der Sie-
          nicht einmal halb so viel Spaß.                                    geszug einer bürgerlichen Sportart, denn dem Proletariat
          Leider fehlt bei Mussler auch der Blick über den eigenen           fehlte zunächst einmal vor allem die freie Zeit (leisure), um
          Zaun. Zwar spricht er des Öfteren von Randsportarten und           diese oder eine andere Sportart der „Gentlemen“ ausüben
          zeigt sich begeistert vom Triathlon, aber ein Blick über           zu können.
          den Atlantik wäre gewiss interessant geworden. Gerade              Der moderne Sport ist ein Produkt der Industriegesellschaft.
          in den USA, wo der Fußball kein Massensport ist, teilen            Der Begriff ist eine Sammelbezeichnung für die durch Tra-
          sich verschiedene Sportarten das Millionengeschäft. Ne-            dition und personale Sinngebung als Bewegungs-, Spiel-
          ben American Football sind auch Basketball (sowieso eine           oder Wettkampfformen geprägten, vorwiegend körper-
          amerikanische Erfindung), Eishockey und Baseball völlig            lichen Aktivitäten des Menschen, die zielgerichtet nach
          kommerzialisierte Event-Sportarten, in denen alle Klubs            körperlicher Leistung streben. Die dafür erforderlichen
          private Eigentümer haben, sich aber auf spezifische Re-            Fertigkeiten sind erlern- und einübbar; die körperlichen
          geln, etwa Höchstgrenzen bei Gehältern, verständigt ha-            Aktivitäten laufen nach spezifischen, sozial definierten
          ben, um Wettbewerbsverzerrungen weitgehend zu vermei-              Mustern und Regelprozessen ab. Der moderne Sport ba-
          den. Dagegen ist der europäische Fußballverband (UEFA)             siert zudem auf spezifischen Charakteristika der modernen
          mit seinem Konzept des Financial Fair Play noch weit im            Gesellschaft. Hier sind zu nennen: Verweltlichung, Rati-
          Rückstand. (dd)                                                    onalisierung, bürokratische Organisation, Quantifikation
                                                                             sowie die Rollenspezialisierung der Funktionen. Charakte-
              Jonas Bens/Susanne Kleinfeld/Karoline Noack (Hg.),             ristisch sind für den modernen Sport zudem die Chancen-
              Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf    gleichheit im Wettkampf und der Wettkampfbedingungen,
              Fußball und Gesellschaft, Bielefeld: transcript Verlag 2014,   die Hervorbringung messbarer Leistung mit dem Ziel der
              188 S., Abbildungen                                            Leistungsverbesserung, eine Rekordorientierung und ein
                                                                             behaupteter Selbstzweckcharakter sowie schließlich der
          Die Beiträge des Bandes, der aus einer Tagung in Bonn              Zusammenschluss der Sportler/Sportlerinnen in öffentli-
          im Oktober 2012 hervorgegangen ist, behandeln aus der              chen und freien Vereinigungen. All dies unterscheidet den
          Sicht unterschiedlicher Disziplinen, also interdisziplinär,        modernen Sport von anderen Formen der Leibesertüch-
          das Fußballspiel als Teil des Sports. Sport, so heißt es in        tigung, der Leibeserziehung oder der Leibesübungen wie
          der kurzen Einführung der Herausgeber Jonas Bens und               etwa dem Turnen. Es unterscheidet ihn auch von rituell
          Susanne Kleinfeld, sei aus Sicht der Soziologie ein gesell-        und religiös orientieren athletischen Wettkämpfen in der
          schaftliches Subsystem, „eine Art sozialer Mikrokosmos“            Antike und in außereuropäischen Kulturen. Das sehen die
          (S. 9). Aus anthropologischer Sicht sei der Sport eher „eine       meisten Autoren/innen dieses Bandes anders. Dies weist
          Welt in der Welt“, die Ausnahme vom Üblichen. Es gehe              auch auf die unterschiedlichen Fächerkulturen hin, auf die
          dabei eher um die Etablierung von Gegenwelten, die vom             unterschiedlichen Blicke und Herangehensweisen von His-
          restlichen Leben abgegrenzt seien. Die Menschen seien              torikern, Soziologen, Anthropologen und Ethnologen. Das
          mitten im Leben, fühlen sich jedoch dem Alltag enthoben.           ist durchaus positiv, ja sogar faszinierend, weil man daraus
          Dies entspricht in etwa der Ansicht des niederländischen           etwas lernen oder umgekehrt sich der eigene Blick sogar
          Kulturhistorikers Johan Huizinga, wie er sie in seiner klas-       verfestigen kann.
          sischen Studie „Homo ludens“ (1938 niederländisch, 1939            Von den insgesamt acht Beiträgen – ohne Einleitung –
          deutsch erschienen) für das Spiel reklamierte. Dem Sport           befassen sich sechs mit Fußball unter unterschiedlichen
          sprach Huizinga dabei ausdrücklich den Charakter des               Blickwinkeln, zwei – Kerstin Nowack und Nikolai Grube
          Spiels ab, weil er das Beste des Spielgehaltes verloren ha-        (beide Altamerikanisten an der Universität Bonn) – mit

                                                                                                               3 I 2014               65

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          „Spielen“ in den vormodernen Kulturen der Inka bzw. Ma-         in Deutschland sowie über sowjetischen, italienischen und
          ya. In diesen beiden Beiträgen öffnet sich eine gänzlich        spanischen Fußball in Zeiten der Diktatur. Ein Aufsatz han-
          andere Welt der Symbole, Riten und Praktiken, die sie von       delt vom Wiener Fußball in der NS-Zeit, ein weiterer vom
          der Welt des Sports im 21. Jahrhundert fundamental un-          sogenannten Todesspiel in Kiev 1942 und dem Regenspiel
          terscheidet.                                                    in Frankfurt am Main 1974 und schließlich folgt noch ei-
          Die Relevanz der Beiträge von Andreas Rüttenauer, Sport-        ne Betrachtung über die Länderspiele zwischen den „Ösis“
          redakteur, jetzt einer der zwei Chefredakteure/innen der        und den „Ossis“, also zwischen der DDR und Österreich.
          taz, 2012 erfolgloser Kandidat für den Posten des DFB-          Die beiden folgenden Blöcke enthalten Regionalstudien
          Präsidenten, über die „Fußballmafia DFB“ und von Kerstin        zum österreichischen Fußball in der NS-Zeit und Berich-
          Lopatta, Professorin für Accounting und Corporate Gover-        te zu zwei laufenden Forschungsprojekten zur regionalen
          nance in Oldenburg, über „11 Freunde: Treiber oder Ge-          Fußballgeschichte der Zeit zwischen 1938 und 1945.
          triebene des Kapitalmarktes?“ will sich mir nicht erschlie-     Von den fast durchweg lesenswerten Beiträgen dieses
          ßen. Rüttenauers Artikel mit dem Untertitel „Wie Staat und      Sammelbandes, der auch durch seine Konzeption besticht,
          Fußball in Deutschland gemeinsame Sache machen – Eine           möchte ich drei Beispiele herausgreifen. Zunächst den Ar-
          recherchierte Polemik“ nennt keine einzige Quelle für seine     tikel von Markwart Herzog über die Geschichte des Fuß-
          polemischen Ausführungen gegen das Fußballmuseum in             balls in der NS-Zeit. Der Autor ist bereits mit zahlreichen
          Dortmund oder für seine Behauptung, „über den Fußball           lesenswerten Beiträgen zu diesem Thema hervorgetreten.
          würden rechtsstaatliche Standards“ ausgehebelt. Nun auch        Hier unterzieht er die bisherige Forschung einer kritischen
          polemisch: Vermutlich möchte Herr Rüttenauer eher italie-       Betrachtung, die sich auf dem neuesten Stand bewegt,
          nische Verhältnisse in deutschen Stadien. Der Aufsatz von       nicht nur Literatur, sondern auch die Quellen kennt und
          Frau Lopatta enthält eine Reihe von Statistiken, für deren      sich eindeutig gegen Geschichtspolitik, welcher Couleur
          Lektüre man eine Lupe braucht, vor allem aber wüsste der        auch immer, wendet. Bisweilen gibt es einige leicht po-
          Nichtspezialist gerne, was all die Abkürzungen über den         lemische Untertöne, aber insgesamt ist es eine sachliche
          Tabellenspalten bedeuten sollen. Bleiben vier Artikel, die      Bestandsaufnahme, die zudem gut lesbar geschrieben ist.
          durchaus lesenswert sind, auch wenn Oliver Fürtjes offe-        Herzog verweist darauf, wie widersprüchlich die politischen
          ne Türen einrennt. Kein ernstzunehmender Sporthistori-          Funktionen des Fußballsports in der NS-Diktatur waren.
          ker würde heute noch behaupten wollen, dass Fußball ein         Zum einen gab es den auch heute noch gut bekannten
          Proletariersport war oder ist. Er verweist zwar in seiner       Vereinsfanatismus, für den die Vereinsgemeinschaft Vor-
          Bibliographie auf den von Jürgen Mittag und Jörg-Uwe            rang vor der Volksgemeinschaft hatte, zum anderen trug
          Neuland herausgegebenen Band „Das Spiel mit dem Fuß-            der Fußball aber auch zum Funktionieren des Systems bei,
          ball“, hat aber offensichtlich den Beitrag von Stefan Goch      denn er bot Ablenkung, eskapistische Zerstreuung sowie
          „Fußball im Ruhrgebiet. Der Mythos vom Arbeitersport“           narkotisches Abschalten und ließ sich für die Selbstdar-
          übersehen. Aufregend Neues zum Fußballsport enthält der         stellung des Systems durchaus vereinnahmen. Die Verei-
          Band nicht. (dd)                                                ne waren den Nationalsozialisten als Orte des Rückzugs
                                                                          durchweg verdächtig, weshalb die Parteiführung die Zer-
              Johannes Gießauf/Walter M. Iber/Harald Kroll (Hg.), Fuß-    schlagung des Vereinssports, was in der Sowjetunion früh
              ball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der   durchgeführt worden war, plante, aber aufgrund des Krie-
              historischen Forschung, Innsbruck/Wien/Bozen: Studien-      ges auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschieben musste.
              Verlag 2014, 403 S., Abbildungen                            Auch Matthias Marschik, in der Sport-, insbesondere der
                                                                          Fußballgeschichtsschreibung seit langen Jahren bestens
          Auch dieser Band ist aus einer Tagung hervorgegangen,           bekannt und – wie Herzog einer ihrer Pioniere der Ver-
          die im Juni 2012 in der Universität Graz stattfand. Leider      wissenschaftlichung –, befasst sich in seinem Aufsatz
          wenden die Herausgeber und einige Autoren – Autorinnen          „Erzählungen aus dem Wiener Fußball“ mit der Zeit des
          gibt es nicht – auch dieses Bandes den Begriff „Sport“          Nationalsozialismus, allerdings in Wien, mit dessen Ge-
          gänzlich undifferenziert an und übertragen ihn auf die          schichte – nicht nur im Fußball – er bestens vertraut ist.
          Antike. Jedoch haben sich Herausgeber und Beiträger             Marschik stellt gleichfalls den Facettenreichtum der Hal-
          einen klaren Blick auf die Komplexität des Verhältnisses        tung der aktiven wie passiven Fußballer gegenüber dem
          oder der Beziehungen des Fußballs zu politischer Macht          Nationalsozialismus dar, die jedoch nur selten in tatsäch-
          und Diktatur bewahrt und warnen vor jeder Form von Ein-         liche Widerstandshandlungen mündeten. Was lange Jahre
          dimensionalität. Auch den Nationalsozialisten sei, so heißt     stets nur im Gegensatz von Schwarz und Weiß beschrieben
          es in der Einleitung, die totale Gleichschaltung des Sports,    und analysiert wurde, zeigt in beiden Fällen sehr viele un-
          gerade auch des Fußballsports nicht gelungen. Insgesamt         terschiedliche Grautöne, in die sich bisweilen sogar Farb-
          enthält der Band 17 Beiträge, darunter zwei einführen-          tupfer mischen.
          de Artikel, die sich mit „Sport“ in der Antike und dem          Als dritter Beitrag ist der Artikel des russischen Historikers
          mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fußball in Italien      Michail Prozumenščikov zu erwähnen. Er ist stellvertre-
          (calcio) und England befassen. Ein weiterer einleitender        tender Direktor des Staatlichen Archivs für Zeitgeschichte
          Aufsatz behandelt die Differenzierung des Vereins- und          und vor einigen Jahren als einer der ersten russischen „Be-
          Verbandssports in Österreich vor 1914 nach ideologisch-         rufshistoriker“ mit einer fundierten Monographie zur Ge-
          politischen und konfessionellen Kriterien. Ein zweiter          schichte des Sports in der Sowjetunion (Großer Sport und
          Block befasst sich mit der internationalen Entwicklung          große Politik) hervorgetreten, die leider nur in russischer
          und bietet Beiträge über den Fußballsport in der NS-Zeit        Sprache vorliegt. Sein Aufsatz „Bemerkungen zum sowje-

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          tischen Fußball unter Stalin und Chruščev“ bietet daher all     dem Vorbild seines Schwiegervaters João Havelange, des
          denen, die des Russischen nicht mächtig sind, die Möglich-      langjährigen FIFA-Präsidenten und Mitglieds des IOC, der
          keit, einen Teilaspekt seiner Forschungen kennenzulernen.       2011 wegen der Annahme von Schmiergeld in Millionenhö-
          Im Unterschied zum nationalsozialistischen Deutschland,         he aus diesem Gremium zurücktrat und 2013 auch sein Amt
          in dem die Eingriffe in laufende Meisterschaften recht ge-      als Ehrenpräsident der FIFA aufgab. Zudem gilt die Füh-
          ring waren, zeigt uns Prozumenščikov, in welchem Maße           rungsspitze des nationalen Verbandes als reaktionär und
          die Parteiführer immer wieder in die Meisterschaften ein-       wehrt sich beharrlich gegen jeden Wandel des hoffnungslos
          griffen und „ihre“ Klubs vor einem Abstieg „retteten“ oder      antiquierten Spielbetriebs. Gegen diese Zustände gründeten
          ihn mitten in der laufenden Saison „aufsteigen“ ließen.         brasilianische Spieler im Herbst 2013 den „FC Bom Senso“
          Der Autor prägt dafür den passenden Ausdruck von der            (FC Gesunder Menschenverstand), um endlich die Rechte
          „Fußballamnestie“. Fußball war auch in der Sowjetunion          der Spieler einzufordern.
          noch vor Eishockey und Schach der Volkssport Nummer             Für die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft werden
          eins und diente auch in der UdSSR als Medium der Ab-            Milliarden ausgegeben, die allerdings nicht in die Problem-
          lenkung und der „Politikflucht“. Es ist sicherlich bezeich-     bereiche fließen. Luiz Ruffato, der brasilianische Schriftstel-
          nend, dass in den ersten Jahren nach der Wiederaufnahme         ler und Fußballenthusiast, hat darauf in seiner Eröffnungs-
          des Spielbetriebs 1944 auch zweitklassige Spiele häufiger       rede bei der Frankfurter Buchmesse 2013 hingewiesen. Er
          mehr Zuschauer anzogen, als in den Stadien Plätze zur           wies nachdrücklich darauf hin, dass in seinem Land „Woh-
          Verfügung standen.                                              nen, Bildung, Gesundheit und Erholung nicht das Recht
          Die Eingriffe in den Spielbetrieb waren zahlreich und           aller“ seien, sondern Privilegien weniger. Das Recht, sich
          setzten sich auch nach Stalins Tod fort. Bisweilen ver-         frei zu bewegen, könne man nicht ausüben, weil es keine
          schwanden missliebige Spieler auch in den sowjetischen          Sicherheit gebe. Viele Arbeitswillige könnten die Jobs mit
          Lagern wie die vier Brüder Starostin, die dort allerdings       dem Mindestlohn von 300 Dollar im Monat nicht anneh-
          von sportbegeisterten Lagerkommandanten vor Schlim-             men, weil es keinen vernünftigen öffentlichen Personen-
          merem bewahrt wurden. Prozumenš čikov räumt auch mit            nahverkehr gebe. Kaum jemand achte die Umwelt und man
          der Legende von den „Amateuren“ in den oberen Ligen             habe sich angewöhnt, die Gesetze zu missachten.
          auf und nennt die Dinge beim Namen. Es handelte sich            Es gab also viele Gründe für die Massenproteste im Juni
          um Profisportler, um Stars, die eine große Zahl von Pri-        2013. Unklar bleibt, und da sind auch die Autoren/innen
          vilegien besaßen.                                               sich nicht einig, wer denn nun die Träger und Organisatoren
          Ein gelungener Band mit hilfreichen Registern, dem leider       des Protestes sind. Einiges spricht dafür, dass hier mehrere
          ein Literaturverzeichnis fehlt, das sich der Leser aus den      Bewegungen zusammenkommen. Einerseits Gymnasiasten
          Anmerkungen selbst zusammenstellen darf. (dd)                   und Studenten, die bei aller Liebe zum Fußball die hor-
                                                                          renden Ausgaben des Staates lieber ins marode Bildungs-
              Gerhard Dilger/Thomas Fatheuer/Christian Russau/Stefan      wesen als in Stadionneubauten investiert sehen wollen.
              Thimmel (Hg.), Fußball in Brasilien: Widerstand und Uto-    Andererseits speisen sich die Demonstranten auch aus den
              pie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Pro-       ärmeren Bevölkerungsschichten, deren Lebenswelt in den
              test, Hamburg: VSA-Verlag 2014, 220 S., zahlreiche, teils   Armenvierteln (den Favelas) durch gewaltsame Verdrängung
              farbige Fotographien                                        bedroht ist. Hinzu kamen Preiserhöhungen im ÖPNV, an de-
                                                                          nen sich übrigens die Proteste in Porto Allegre entzündeten.
          Während Russland noch vier Jahre auf die Ausrichtung der        In jedem Falle ist die Protestbewegung inzwischen recht gut
          Fußballweltmeisterschaft warten muss, ist Brasilien in die-     organisiert und fast alle erwarten für den Tag der Eröffnung
          sem Jahr wieder an der Reihe. Das Land richtete bereits die     der WM am 12. Juni dieses Jahres weitere Massenproteste.
          WM 1950 aus, und die Mannschaft erreichte damals „nur“          Wenn es nicht in einigen Beiträgen den mahnend erhobe-
          den zweiten Platz hinter dem Nachbarn Uruguay. Grund            nen linken Zeigefinger gäbe, könnte ich den Band ohne
          genug also, sich mit dem Land und seinem Fußball zu be-         Einschränkung empfehlen, denn er informiert gleicherma-
          schäftigen. Immerhin ist Brasilien mit fünf Titelgewinnen       ßen über Fußball und über Politik, über brasilianische Kul-
          der Rekordhalter, der letzte Titel wurde 2002 errungen.         tur und bietet auch noch interessante Bilder zur Illustration.
          Ein weiterer Grund der intensiven Beschäftigung mit Bra-        Aber darüber kann man ja auch einfach hinweglesen. (dd)
          silien sind zudem die anhaltenden Unruhen im Land, die
          im vergangenen Jahr bei der Austragung des sog. Con-               Ronald Reng, Spieltage. Die andere Geschichte der Bundes-
          federations-Cups erstmals ins Bewusstsein einer breiteren          liga, München/Zürich: Piper 2013, 477 S., 30 Abbildungen
          Öffentlichkeit gelangten.
          Die Einwohner des Landes, in dem der Fußball als „jogo bo-      Der Schriftsteller und Sportjournalist Ronald Reng lebt in
          nito“ (schönes Spiel) bezeichnet wird, sind fußballverrückt.    Barcelona. In den letzten rund zehn Jahren veröffentlich-
          Was also, so die Überschrift der Einleitung zu diesem Band,     te er mit „Der Traumhüter“ und „Robert Enke: Ein allzu
          „ist los“ im „Land des Fußballs“? Warum wird protestiert        kurzes Leben“ zwei herausragende Bücher über die Welt
          und wer protestiert hier wogegen?                               des Fußballs. 2013 wandte sich der ehemalige Bundesliga-
          Schon vor der Vergabe der WM nach Brasilien konnte wis-         spieler und -trainer Heinz Höher, der im vergangenen Jahr
          sen, wer es wissen wollte, dass nicht nur die Führungsspitze    75 Jahre alt wurde, an ihn, um ihm seine Geschichte von
          des brasilianischen Fußballverbandes in Gestalt von Ricardo     fünfzig Jahren Bundesliga zu erzählen und zu dokumen-
          Teixeira, der 2012 zurücktrat, korrupt war, Steuern hinter-     tieren, denn er brachte einen Rucksack mit, in dem er sein
          zog und an Geldwäsche beteiligt war. Teixeira folgte darin      privates Archiv verstaut hatte. Dem ersten Gespräch zwi-

                                                                                                             3 I 2014                67

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          schen Reng und Höher folgten weitere, nicht nur mit Hö-          Noyan Dinçkal befasst sich in seiner Darmstädter Habilita-
          her, sondern mit mehr als 30 Zeitzeugen und zusätzliche          tionsschrift in Neuerer Geschichte mit dem Vordringen des
          Recherchen in Presse- und Internetarchiven. Entstanden ist       Sports in den städtischen Raum und der damit verbundenen
          so ein spannendes und kluges Buch zur Bundesliga- und            Entfaltung einer Massenkultur des Sports. Erst unmittelbar
          Fußballgeschichte, das in jeder Hinsicht lesenswert ist. Reng    vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 entwickelte
          erzählt die 50-jährige Geschichte der Bundesliga aus Höhers      sich der Sport in Deutschland und in vielen anderen Län-
          Perspektive, wahrt aber dennoch die Distanz, ohne die ein        dern Europas allmählich zu einer Aktivität nicht nur der
          Biograph zwangsläufig zum Hagiographen wird.                     Ober- und Mittel-, sondern auch der Unterschichten. Woran
          Höher hat fast alle Höhen, vor allem aber alle Tiefen des        es generell fehlte, waren jene Orte und Räume, um Sport
          Spieler- und Trainerlebens am eigenen Leib erfahren. Er          treiben zu können. So mussten viele Sportbegeisterte sich
          war 1963, in der ersten Saison der Bundesliga, als Spie-         damit begnügen, auf Feldern und Wiesen, Exerzierplätzen
          ler des Meidericher SV (heute MSV Duisburg) dabei, hatte         oder andernorts ihrem Vergnügen zu frönen. Denn Stadien
          Stationen als damals jüngster Trainer der Liga in Bochum,        und sonstige Sportstätten waren bis zum Beginn der 1920er
          Düsseldorf und Nürnberg, wo er auch kurze Zeit als Mana-         Jahre eher eine Seltenheit.
          ger tätig war. Dazwischen lagen Stationen in Saudi-Arabien       Dinçkal weist in seiner Arbeit zunächst einmal darauf hin,
          und Griechenland. Als Spieler erreichte er mit dem VfL Bo-       dass die „Mutter“ aller Stadien in Deutschland das 1913
          chum ein Pokalfinale, das verloren wurde, als Trainer führte     eingeweihte „Deutsche Stadion“ in Berlin war, das für die
          er Nürnberg zurück in die Bundesliga. Höher kannte eini-         Olympischen Spiele 1916 in der Stadt erbaut wurde. Seit den
          ge der Spieler, die 1970/71 in den Bestechungsskandal der        frühen 1920er Jahren folgten dann in Deutschland zahlrei-
          Bundesliga verwickelt waren; als Trainer berühmt wurde er        che weitere Stadionneubauten, als die Weimarer Republik
          1984, als der damalige Präsident des 1. FC Nürnberg, Gerd        den Durchbruch zur Massenkultur nicht nur im Bereich des
          Schmelzer, mit dem er bis heute befreundet ist, nicht ihn        Sports erlebte. Diese Räume wurden nun öffentlich und in
          als glücklosen Trainer entließ, sondern die rebellierenden       ihnen fanden auch öffentliche Inszenierungen statt, denn
          Spieler, ein bis heute einmaliger Fall.                          in der Weimarer Republik wurden die Stadien häufig als
          Es war, wie Reng immer wieder zeigt, Höhers grundlegen-          Orte nationaler Feiern genutzt. Sie erhielten damit gleich-
          des Problem, dass er zumeist in sich gekehrt und verschlos-      sam eine doppelte Funktion. Eine zusätzliche Erweiterung
          sen war, mit anderen Menschen nur schwer kommunizieren           erfuhren die Stadien, als sie seit der Mitte der 1920er Jah-
          konnte, seine Gedanken lieber für sich behielt und zur La-       re bei den großen Sportwettkämpfen auch als Laboratorien
          bilität neigte. Dabei war er häufiger ein Neuerer, der tak-      der Forschung genutzt wurden.
          tische Varianten erprobte, die heute als völlig neu gelten.      Die Arbeit überzeugt durch eine klare analytische Sprache
          So spielte er schon in den späten 1970er Jahren mit einem        und eine meistens geschickte Auswahl der Quellen und der
          „falschen Neuner“, also ohne richtigen Mittelstürmer, eine       herangezogenen Beispiele. Sie hätte durch einige Blicke
          Spielform, die erstmals die ungarische Wunderelf der frühen      über den Gartenzaun, also in andere Länder, ausführlich
          1950er Jahre erfolgreich mit Nándor Hidegkuti als „hän-          wird nur das „Leitbild USA“ behandelt, sicherlich noch ge-
          gendem“ Mittelstürmer ausprobiert hatte.                         wonnen. Immerhin lag Großbritannien in der Entwicklung
          Die Misserfolge und der Unfalltod seines ältesten Sohnes         des Sports ein paar Jahrzehnte voraus und in London wurde
          1990 ließen Höher alkoholabhängig werden und er verlor viel      1923 das zu jenem Zeitpunkt größte Stadion der Welt, das
          Geld bei Investitionen in den neuen Bundesländern. Reng          Wembley-Stadion mit rund 130.000 Plätzen, erbaut. Das
          bezieht in seine Schilderungen immer wieder auch die Fa-         gilt auch für die im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden
          milie mit ein, Höhers Ehefrau Doris, mit der er über 50 Jahre    „Sportlandschaften“, deren Bau in Großbritannien erheblich
          verheiratet ist, er zeigt uns die Umkleidekabinen, die Trai-     früher eingesetzt hatte als im übrigen Europa. Insgesamt
          ningsplätze, das Leben der Spieler abseits des Platzes, durch-   aber liegt eine ausgezeichnete Arbeit vor, die zu weiteren
          brochen von Reflexionen über die Entwicklung des Fußballs,       Forschungen anregt.
          über die Rolle des Fernsehens und der Moderatoren – darun-       Der Grazer Soziologe Dieter Reicher versteht seine Studie
          ter ein wunderbares Porträt von Carmen Thomas, der ersten        „Nationensport und Mediennation“ als einen Beitrag zur
          Moderatorin einer Sportsendung, des „Aktuellen Sportstu-         Nationalismusforschung. Im Mittelpunkt stehen die inter-
          dios“ des ZDF. Ein in jeder Hinsicht gelungenes Buch nicht       nationalen Wettkämpfe im Bereich des Spitzensports und
          nur zur deutschen Fußballgeschichte. (dd)                        die damit verbundenen Nationalgefühle und nationalen
                                                                           Wir-Bilder. Im Hintergrund steht dabei auch die Debatte,
              Noyan Dinçkal, Sportlandschaften. Sport, Raum und (Mas-      ob denn im Zuge der Globalisierung Nationen Auslaufmo-
              sen-)Kultur in Deutschland 1880-1930, Göttingen: Van-        delle seien. Reicher wendet sich gegen Konzepte, in denen
              denhoeck & Ruprecht 2013, 346 S., 28 Abbildungen             „Nation“ und „Nationalismus“ nur als Idee oder als „vorge-
                                                                           stellte Gemeinschaften“ (imagined communities) aufgefasst
              Dieter Reicher, Nationensport und Mediennation. Zur          werden. Stattdessen sieht er sie als „gefühlte“ Realitäten,
              Transformation von Nation und Nationalismus im Zeitalter     die mit Wir-Gefühlen verbunden seien. Zutreffend weist er
              elektronischer Massenmedien, Göttingen: V&R unipress         darauf hin, dass auch die EU nur einige Kompetenzen auf
              2013, 378 S., 15 Abbildungen                                 eine multilaterale Ebene verlagert, ansonsten aber am Prin-
                                                                           zip des Nationalstaates festhält.
          Schließlich sind zwei Bände anzuzeigen, die unser Wissen zur     Der moderne Spitzensport und seine Medialisierung, so
          Geschichte und Gegenwart des Sports in vielerlei Hinsicht er-    Reicher, bauen auf einer ganzen Reihe von Konventionen
          weitern und zugleich neue Forschungsperspektiven eröffnen.       auf, die weltweit verstanden und auch befolgt werden.

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Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert - B.I.T. online
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          Dazu zählen auch Konventionen des Zuschauerverhaltens                  Peter Bizer, Uli Hoeneß. Mensch, Macher, Mythos.
          und des Sportjournalismus (S. 30). Auch wenn im Prozess                Nachspiel, Mit Beiträgen von Jörg Albrecht und
          der Globalisierung Sport mehr und mehr durch Marketing                 Christian Kraus, (Hamburg: Ellert & Richter Verlag,
          und einen Warencharakter gekennzeichnet ist, so führt dies             2014), 191 S.
          eben nicht zu einem Verschwinden nationaler Konnotatio-
          nen, sondern zu einer Vermengung mit den Etiketten der              Der ehemalige Stern-Reporter Peter Bizer, der Uli Hoeneß
          modernen Warenwelt im Zusammenhang mit Sportstars.                  kennt, seit dieser in frühen Tagen in Ulm ein „auffallend
          Im Wesentlichen sieht Reicher einen Wandel von einem,               talentierter und ehrgeiziger Jugendspieler“ (S. 7) war und
          wie er es nennt, „romantischen Nationalismus“ des 19.               bereits nach der WM 1974 ein Buch über ihn veröffentlicht
          und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zu einem             hat (Uli Hoeneß. Der programmierte Weltmeister, München
          „leeren“ Nationalismus, der folgende Merkmale aufweist:             1975) legt – noch vor Strafprozess und Verurteilung wegen
          ethnische Substanzlosigkeit, Orientierung an internationa-          Steuerhinterziehung – eine weitere biographische Studie
          len Wettkämpfen im Rahmen einer akzeptierten Weltkul-               über Uli Hoeneß vor. Die vier Begriffe im Titel des Büch-
          tur und die leichte Austauschbarkeit seiner symbolischen            leins – Mensch, Macher, Mythos, Nachspiel – versprechen
          Repräsentanten. Er schränkt jedoch sogleich ein, dass               viel, zumal in der Hitze der journalistisch (und persönlich-
          dort, wo staatliche Grenzen umstritten seien, der „leere“           keitsrechtlich) höchst fragwürdigen öffentlichen Aufmerk-
          Nationalismus eine geringere Rolle spiele. Reichers Opti-           samkeit nach der allzu späten, dann allzu schnellen und
          mismus bezüglich der Konzessionen, die Veranstaltungs-              unvollständigen Selbstanzeige. Gegen Ende seines Vorworts
          länder internationaler Wettbewerbe etwa hinsichtlich von            („Einwurf“) expliziert der Verfasser (S. 10): „Die Geschichte
          Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen das                 des Ulrich ‚Uli‘ Hoeneß, Sohn einer Ulmer Metzgerfamilie,
          Völkerrecht machen müssen, um ihr Ansehen innerhalb ei-             Fußballstar, Manager, Präsident, Wurstfabrikant, Familien-
          ner „allgemein akzeptierten Weltkultur“ nicht zu verlieren,         vater, Mitglied in der ‚Hall of Fame‘ des deutschen Sports,
          werden von den momentanen Entwicklungen in der Ukrai-               muss in seinem 62. Lebensjahr nicht neu geschrieben wer-
          ne jedoch widerlegt. Wichtiger scheint mir die Feststellung         den. Nur anders.“
          zu sein (S. 324), dass gerade die Welt des Sports zeigt,            Diese „andere“ Geschichte des Uli Hoeneß bietet freilich
          dass Nationalismus und Nation „trotz gegenteiliger Vor-             kaum Neues, keine grundlegend neuen Argumente oder
          hersagen“ eben keine Phänomene der Vergangenheit sind,              Indizien, die die merkwürdigen Brüche und Inkonsistenzen
          sondern ein integraler Bestandteil der modernen Welt. Der           der öffentlichen Selbstinszenierung des nicht nur schein-
          „leere“ Nationalismus bringe den staatlich organisierten            bar allmächtigen Fußballmanagers überzeugend erklären
          Nationalismus nicht zum Verschwinden, sondern sei ei-               könnten. Es ist dennoch durchaus interessant, daran erin-
          ner der Varianten des Nationalismus, um flexibel auf die            nert zu werden, dass der Ehrgeiz des Spielers Uli Hoeneß
          Globalisierung und auf eine stärker werdende Weltkultur             so ausgeprägt war, dass er selbst hohes Fieber vor dem
          zu reagieren. Dabei sei diese Form des Nationalismus in             WM-Finale 1974 verschwieg, um nicht aus dem Team
          starkem Maße an die Welt der Massenmedien gebunden,                 gestrichen zu werden, oder auch an die Lieblingsfeinde
          an jene Bereiche des Lebens, die von Zeitung und Fernse-            (insbesondere Christoph Daum, Willi Lemke und Joseph
          hen – hier ist wohl auch das Internet, vor allem die soge-          Blatter) und ihre Auseinandersetzung mit Uli Hoeneß, wo-
          nannten sozialen Medien zu nennen – besonders häufig                bei die rhetorische Waffe eher der Dreschflegel denn das
          aufgegriffen werden. Dies sind interessante Überlegungen,           Florett war. Andererseits wird auch die im besten Sinne
          die nun konkreter erforscht werden sollten.                         in persönlicher, verantwortungsbewusster Solidarität grün-
          Der globale Charakter des Sports, aber dies ist nun inzwi-          dende Hilfsbereitschaft gegenüber Ligakonkurrenten wie
          schen ein Gemeinplatz, resultiert aus der massiven Verbin-          den FC St. Pauli genauso gewürdigt wie das umsichtige,
          dung mit dem Fernsehen und den elektronischen Medien                konsequent freundschaftliche Engagement für ehemalige
          als Quelle des Kommerzialisierungsprozesses. Medialisierung         Weggefährten, wie Gerd Müller, der den wichtigsten Sieg
          und Kommerzialisierung des Sports, insbesondere von Mas-            seines Lebens, den über seine Alkoholsucht, ganz wesent-
          sensportarten wie Fußball, bedingen sich also wechselsei-           lich Uli Hoeneß zu verdanken hat. Neben den selbst von
          tig. Wir werden dies in der Zeit vom 12. Juni bis zum 13.           seinen größten Kritikern nie bestrittenen Verdiensten um
          Juli dieses Jahres wieder erleben, wenn in Brasilien die 20.        den FC Bayern München, den Hoeneß zu einer der besten
          Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Milliarden werden im          Adressen des Weltfußballs machte, neben seinen legen-
          Fernsehen oder im Internet die Spiele mit angespannter Lei-         dären Fernsehauftritten, deren inszenierter und zugleich
          denschaft verfolgen. Kaum aber sind die flüchtigen Bilder           authentischer Ton moralischer Autorität (im Rückblick) so
          der Spiele erloschen, erscheinen die ersten Bücher, um sie          gar nicht mit dem privaten „Zocker“ und Steuerhinter-
          uns wieder ins Gedächtnis zu rufen und das Geschehen aus            zieher harmonisierbar ist, werden auch ganz persönliche
          der Distanz zu analysieren. (dd)                                  Krisenszenen detailliert referiert, z.B. der Flugzeugabsturz
                                                                              vom 17. Februar 1982, den Uli Hoeneß auf wundersame
                                                                              Weise als einziger der Passagiere überlebte. Eine andere
                                                                              im Gedächtnis bleibende Szene sei exemplarisch zitiert,
            Prof. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), seit 1996 Professor für Osteu-   die Uli Hoeneß‘ zwiespältige Gefühle nach dem gewon-
            ropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-       nenen Champions League Finale 2013 im Wembley-Sta-
            Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkt: Russische   dion zeigt (S. 155-157): „Es gibt Momente im Leben, die
            Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und    uns fassungslos machen, stumm vor Glück. Und welche,
            Sportgeschichte.                      d.dahlmann@uni-bonn.de     die uns schweigsam werden lassen vor Demut. Während

                                                                                                                3 I 2014               69

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Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert - B.I.T. online
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          der wenigen Augenblicke, in denen die Fernsehkamera              Gerhard Richter (Hg.), Ein Leben ohne Fußball ist mög-
          Uli Hoeneß in Großeinstellung zeigt, glaubt man in sei-          lich, aber sinnlos. Die besten Fußball-Satiren (Hamburg:
          nem Gesicht beide Gemütsregungen zu erkennen. […] Erst           Ellert & Richter Verlag, 2014), 160 S.
          als ihm Bastian Schweinsteiger den Pokal in die Hände
          drücken will, wird sein Inneres sichtbar: Fast schüchtern     Wie bereits der Buchtitel mit seinem intertextuellen Ver-
          berührt Uli Hoeneß die Trophäe, hebt sie halb hoch und        weis auf Loriots Bonmot „Ein Leben ohne Mops ist mög-
          gibt sie – wie vor sich selbst erschreckend – gleich wieder   lich, aber sinnlos“ verdeutlicht, liegt mit Gerhard Richters
          zurück. Tränen schießen ihm in die Augen. Aufgewühlt          Anthologie der „besten Fußball-Satiren“ nicht nur ein
          umarmt er jeden seiner Spieler, die, die Siegermedaillen      höchst lesenswertes und amüsantes Buch vor, sondern
          bereits um den Hals, an ihm vorbeiziehen. Dann blickt er      zugleich auch ein Werk, das seine implizite Orientierung
          zwischen den vor ihm tanzenden Bayern hindurch noch           an Konzepten modernster Literatur- und Kulturtheori-
          ein paar Mal auf den Rasen hinunter. 1972, also vor einem     en an keiner Stelle verleugnet. Könnte man mit tradi-
          halben Menschenleben, schoss er als blond gelockter jun-      tionell literaturwissenschaftlicher Pedanterie einwenden,
          ger Mann im alten Wembley-Stadion das 1:0 gegen Eng-          einige der für die Anthologie ausgewählten Texte und
          land. Was für ein Bogen, den die Erinnerung an diesem         Textausschnitte seien generisch gar keine Satiren – so
          Abend schlägt!“ – Diese Szene, eindringlich geschildert,      etwa Albert Camus’ „Was ich dem Fußball verdanke“ (S.
          dokumentiert zum einen in präzisen Beschreibungen das         27-30), Friedrich Christian Delius’ „Turek, du bist ein
          Geschehen dieser Minuten, verweist jedoch zugleich auf        Fußballgott“ (S. 40-51), oder Giovanni Trapattonis „Ich
          die prinzipielle Problematik der Beurteilung, der Einord-     habe fertig!“ (S. 70) –, so möchte man sie in der Samm-
          nung des Beobachteten, die eben größtenteils persönliche      lung keinesfalls missen. Auch lädt etwa der Abdruck des
          Deutung, Interpretation ist, deren argumentative Überzeu-     Auszugs aus Giovanni Trapattonis legendärer Pressekon-
          gungskraft und Reichweite a priori begrenzt ist. Analoges     ferenz die Leser zu tiefschürfenden, definitorisch fokus-
          gilt für nahezu alle öffentlichen Auftritte von Uli Hoeneß,   sierten theoretischen Distinktionen ein: Welche Rolle
          die ebenso gleichsam nur von außen, prinzipiell ohne In-      spielt die konkrete Redeabsicht und die Autorintention
          nenperspektive beurteilt werden können; dies gilt auch        insgesamt für eine Klassifizierung als „Satire“ – und dies
          für die öffentlichen Selbstinszenierungen, deren Deutung      auf einem (Spiel-)Feld, wo vielleicht wirklich zumeist
          Hoeneß als Interpret seiner selbst z.B. in nachträglichen     unfreiwillige sprachliche „Fehlleistungen“ einzelner Fuß-
          Interviews festlegen wollte.                                  baller ganze Bände füllen. Mag man sich als Leser viel-
          Die letzten Abschnitte des Buches, Jörg Albrechts „Die        leicht wünschen, dass weitere Fußball-Satiren Aufnahme
          dunkle Seite der Macht“ (S. 173-179) und Christian Kraus‘     in den vorliegenden Band gefunden hätten (so etwa ei-
          „Die Gier nach Größe“ (S. 180-185) versuchen diese ‚In-       ne weitere der Kurzgeschichten Ephraim Kishons, „Das
          nenperspektive‘ nachzuholen. Entwirft Jörg Albrecht ein       Einstein-Jossele-System“, „Ich kam, sah und durfte nicht
          allgemeines, gut recherchiertes, abschreckend-faszinieren-    siegen“ oder „Toto-Experten“), die von Gerhard Richter
          des Profil einer psychopatischen Persönlichkeit, so ergänzt   verantwortete Auswahl ist in jedem Falle ein großartiges
          Christian Kraus dies um ebenso eindrucksvolle Überlegun-      Zeugnis der populärkulturellen Akzeptanz postmoderner
          gen zu narzisstisch strukturierten Persönlichkeiten. Beide    Theoriebildung („anything goes“).
          Essays laden, ohne konkreten Bezug auf Hoeneß, die Le-        Satiren als Prognosen, als Zukunftsszenarien bergen je-
          ser dazu ein, die zuvor detailliert geschilderten Beobach-    weils ihre ureigenen gattungs-immanenten Probleme,
          tungen und Wertungen mit diesen Profilen abzugleichen.        weil sie in besonderer Weise die aktive Mitwirkung des
          Genau dieses aber geht m.E. weit über die Möglichkeiten       Lesers einfordern. Sie illustrieren Felder von (noch?)
          einer methodisch-theoretisch und zugleich ethisch verant-     nicht geschehener Geschichte, hier des Fußballs und sei-
          wortbaren, die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen respek-    ner ökonomischen, sozialen und integrativen Funktion,
          tierenden, redlichen Biographie hinaus, zumindest dann,       die über Gradskalen der Bewertung von un- bis dezidiert
          wenn solche Interpretationen sich ausschließlich auf Beob-    markierten Anknüpfungen an die Fußballkultur der Ge-
          achtungen aus der Außenperspektive stützen. Allerdings:       genwart fröhliches Lachen, Staunen, Lachen der Erkennt-
          Käme in Einzelfällen eine Innenperspektive hinzu, gehörte     nis, Irritation und / oder auch allgemeine, zukunftsge-
          sie ausschließlich in den vertraulichen, geschützten Raum     wisse Überzeugungen generieren. Musterbeispiele für
          zwischen Patient und Therapeut.                               diese sehr spezifische Ausprägung der Fußball-Satire sind
          Eine Selbstaussage von Uli Hoeneß mag noch immer den          in dieser Sammlung Manni Breuckmanns „Finale in der
          besten Einblick in seine so ungemein facettenreiche, wi-      ‚Pink-Dream-Liga‘„ (S. 146-150) und Michael Horenis
          derspruchsvolle und zugleich populistisch charismatische      „Alles noch viel toller“ (S. 151-155) als Festrede des Bun-
          Persönlichkeit geben, eine Selbstaussage, die auch Peter      deskanzlers zum 100. Geburtstag der Bundesliga am 24.
          Bizer referiert (S. 171): „Vielleicht sind ihm, dem Rast-     August 2063.
          losen, diese Zustände immer bedrohlicher, auch unwirk-        Das absolute Highlight (oder: mein absolutes Highlight)
          licher vorgekommen. Der Zeit gegenüber hat er solche          der Anthologie sind die Briefe der Bundeskanzlerin an
          Gedanken angedeutet, als er sagte, es gäbe mehrere Uli        Bastian Schweinsteiger während der Fußballweltmeister-
          Hoeneß: den seriösen Geschäftsmann bei Bayern und in          schaft in Südafrika (S. 75-94). Stil, Wortwahl und die
          seiner Wurstfabrik. Dann den privat sehr konservativen        pointierten, entlarvenden Vergleiche mit den unmittel-
          Hoeneß, der sein Geld klassisch und langfristig anlegt.       baren politischen (und privaten) Kontexten, all diese In-
          Und zum Dritten den Hoeneß, der dem Kick nachjage             dizien wie auch der Titel „Die Liebe ist rund“ der Brief-
          und ins Risiko gehe.“ (ub)                                    sammlung sprechen eine deutliche Sprache: Die Briefe

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Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert - B.I.T. online
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          bieten ‚fast voyeuristische‘, authentische Einblicke in die        David Beckham, David Beckham, München: riva Verlag,
          für den Fußball und Bastian Schweinsteiger so offene               2014, 288 S. ISBN 978-3-86883-386-7. EUR 24,99
          und – diskret zurückhaltend formuliert – eingenommene
          Bundeskanzlerin. Auf den ersten Blick irritierend wirkt        Vor gut einem Jahrzehnt veröffentlichte David Beckham
          da nur die kleine, fast unschuldige Klassifizierung „fikti-    seine – gemeinsam mit dem bekannten Sportjournalisten
          ve Liebesbriefe“ (S. 75). Die geradezu entgegengesetzte        Tom Watts geschriebene – Autobiographie My Side (2003),
          Strategie, für offenkundig sensationelle Informationen,        die im März 2004 mit dem British Book Award, einem über-
          für das Erzählen seltsamer Abenteuer, für die Wahl un-         aus respektablen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde und
          gewöhnlicher Erzählperspektiven als Authentizitätsbestä-       mittlerweile auch kommerziell das erfolgreichste Fußball-
          tigung fiktiver mündliche Berichte (z.B. Thomas Morus’         buch Englands ist.1 Die Auszeichnung mit dem British Book
          Utopia) oder fiktive Manuskripte (z.B. Thomas Elyots The       Award ist eine Reaktion auf David Beckhams Autobiogra-
          Image of Governance, Umberto Ecos Der Name der Rose,           phie, verhaltene oder teils sogar vernichtende Kritik eine
          oder Margaret Georges The Autobiography of Henry VIII          andere, wie die Besprechung von Sean O’Brien (The Inde-
          with Notes by his Fool, Will Somers) zu erfinden, ist seit     pendent, 03.10.2003) exemplarisch verdeutlichen mag: „[…]
          dem 16. Jahrhundert fester Bestandteil der Weltlitera-         Beckham has nothing to say. Why should he have? He’s a
          tur. Sollte im vorliegenden Fall der Liebesbriefe Angela       footballer, not a writer. […] Tom Docherty, when managing
          Merkels eine Inversion dieser klassischen Authentizitäts-      Chelsea, was once asked about one of his players’ interests
          sicherungsstrategien vorliegen, indem offenkundig au-          outside football. ‚Wanking and comics,’ he replied. Beckham
          thentische Briefe in postmoderner literaturtheoretischer       has more to offer, but no particular interest in the language
          Parodierung traditioneller Erzähl- und Strukturmuster als      with which to do it“. Dennoch wird man festhalten dürfen,
          fiktiv ausgegeben werden? Eine solche Inversion traditio-      dass My Side eine durchaus überzeugende Selbststilisierung
          neller Muster würde vorzüglich zum Design der Antholo-         Beckhams als „hard-working, devoted family man“ bietet,
          gie passen; zugleich könnte die fiktive Etikettierung „fik-    dessen fußballerische Begabung ihn, verknüpft mit seinem
          tive Liebesbriefe“ eine ganze Reihe konkret praktischer        Aussehen und dem Geschäftssinn seiner Frau zu der Pop-
          juristischer Probleme (Briefgeheimnis, Besitz der Briefe,      Ikone des Weltfußballs hat werden lassen. Und dennoch
          vielleicht sogar ein Bundestagsuntersuchungsausschuss          wirken die knapp 500 Seiten Erzählung gleichsam „weich-
          als Folge einzelner „Enthüllungen“?) entschärfen. Letzte       gespült“, verweigern sich dem voyeuristischen Blick auf pi-
          Gewissheit, ebenfalls Symptom postmoderner Mentalität,         kante Einzelheiten aus dem Privatleben, lassen die schlech-
          lässt sich natürlich nicht gewinnen, was bleibt sind (zeit-    ter und schlechter werdende Beziehung zu Alex Ferguson
          los?) bedeutsame Erkenntnisse einer klugen, ihre Ana-          weitgehend unkommentiert2 und analysieren das hoch sen-
          lysen prägnant, wenngleich nicht immer diplomatisch            sible Innenleben der jeweiligen Mannschaften kaum3.
          formulierenden Bundeskanzlerin, die auch über den un-          Diese ‚reduzierte‘ Selbstinszenierung David Beckhams steht
          mittelbaren zeitgeschichtlichen Kontext hinaus eine be-        – angereichert mit einer Vielzahl von großformatigen Fotos
          achtliche argumentative Reichweite entfalten: „Natürlich       (teils nach- und detailkoloriert) – ebenfalls im Mittelpunkt
          geht es in der Regierung eines temperamentvollen Landes        der 2013 (bei Headline) veröffentlichten Bilanz seiner Fuß-
          auch mal drunter und drüber, das ist doch ganz normal!         ballerkarriere (David Beckham), bei dessen Manuskriptge-
          Wenn wir die Deutschen von früher wären, dann wäre             staltung ihm die Unterstützung des Journalisten Matthew
          alles langweilig mit Dienst nach Vorschrift, aber seitdem      Syed zuteil wurde (S. 4), und die explizit keine weitere Au-
          ich eben die Zügel mal bewusst etwas lockerer gelassen         tobiographie sein soll: „Stattdessen wollte ich einige der
          habe in der Regierungsarbeit, spielen wir plötzlich auch       intensivsten Momente meiner Karriere in Bildern wiederauf-
          viel lockerer und temperamentvoller Fußball! Ist Dir der       leben lassen und erzählen, was ich in diesen Momenten
          Zusammenhang schon aufgefallen? Ich stehe einem süd-           gefühlt habe“ (S. 9).
          amerikanischen, asiatischen, man kann auch sagen mus-          Genau dieses, die Höhepunkte der beeindruckenden Karriere
          limischen Regierungsstil viel näher, als das Seehofer und      David Beckhams und seine Gefühle primär in vielen Bildern
          Westerwelle begreifen können! Das kannst Du mal im             bilanzierende ‚Erzählung‘, ist das zu besprechende Buch,
          Interview nach dem Spiel bei Netzer und Delling sagen,         die deutsche Übersetzung des 2013 bei Headline erschie-
          dass ihr im Prinzip alle spielt wie Angela Merkel, dann        nenen englischen Originals. Der durchweg knappe Text, die
          checkt es vielleicht auch endlich mal meine idiotische
                                                                         1   Vgl. David Beckham & Tom Watt, My Side, 2. Aufl. (London, 2004),
          Koalition!“ (S. 92).                                               mit den sympathischen Schlusssätzen der ‚Acknowledgements’ (IX-X):
          Insgesamt kann man dem Buch nur viele Leser wünschen,              „Thanks, as well, to all the players I’ve been privileged to play alongside
          die abschließend auch – nach wiederholten autobiogra-              for Manchester United, Real Madrid and England. Whatever I‘ve done
                                                                             has only been possible because of the talent, commitment and inspira-
          phischen Erfahrungen zu früher Morgenstunde, in bester             tion of the other ten”.
          Tradition des new historicism ausgewertet – „gewarnt“          2   Vgl. die – freudianisch gefärbte – Analyse von O’Brien (2003): „And then
          werden müssen: Die Lektüre dieses Buches z.B. in öffent-           he [Beckham] got away from Ferguson into a place beyond football:
          lichen Verkehrsmitteln, seien es Bus oder Bahn, machen             the realm of fashion, music and marketing, which Ferguson despised.
                                                                             In My Side Ferguson accuses Beckham of babysitting while Victoria was
          den Leser in doppelter Weise zu einem leibhaftigen Reprä-          out ‘gallivanting’ – and a chasm of age and belief opens, across which
          sentanten kultureller Alterität, kulturellen Andersseins: Er       Beckham politely rebukes the boss for insulting his wife. For both men
          liest keine Emails oder ein E-Book, sondern ein wirkliches         success has come at a painful price – the loss of the son, the exposure
                                                                             of the father’s weakness”.
          gebundenes Buch und er hebt sich mit seinem unvermeid-
                                                                         3   Vgl. die schöne Formel von O’Brien (2003): „Many football clubs present
          lichen Schmunzeln, Lächeln und Lachen von vielen seiner            themselves as families, but they often bear more resemblance to the
          Mitfahrer ab. (ub)                                                 Borgias than the Waltons“.

                                                                                                                     3 I 2014                      71

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