Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert - B.I.T. online
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sport | fussball sport | fussball Über Traumberufe, Diktaturen, Sportlandschaften und Mediennationen Gegenwart und Geschichte des Fußballs und des Sports im 20. und 21. Jahrhundert Prof. Dr. Dittmar Dahlmann Prof. Dr. Uwe Baumann Vor und nach sportlichen Großereignissen wie der 20. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien in diesem oder der 50. Saison der Bundesliga im vergangenen Jahr boomt auch immer wieder der Buchmarkt. So sind die hier vorzustellenden Bücher nur eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl aus dem fast schon unübersehbaren Angebot des Marktes. Wer sich vor rund 20 Jahren als professioneller Historiker oder Soziologe mit dem Thema Sport und insbesondere mit Fußball wissenschaftlich beschäftigte, wurde spöttisch belächelt und nicht so ganz ernst genommen. Heute bringt auch das Magazin „Forschung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der ersten Nummer dieses Jahres den Artikel des Dortmunder Physikprofessors Metin Tolan, der in seinem jetzt schon in 3. Auflage vorliegenden Buch „Manchmal gewinnt der Bessere. Die Physik des Fußballspiels“ mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung und von Computersimulationen herausgefunden hat, dass Deutschland in Brasilien mit 20,33% vor den Niederlanden und England die besten Chancen hat, Weltmeister zu werden. Die Chancen des Titelverteidigers Spanien liegen demnach nur bei 0,65%, das Land des Gastgebers hat immerhin eine Chance von 9,04%. Im Aufhänger dieses Artikels ist allerdings ein Fehler festzustellen, der einem Fußballkenner in Deutschland nicht unterlaufen sollte. Otto Rehhagel, der ehemalige Spieler und Trainer, der 2004 so überraschend als Trainer mit Griechenland Europameister wurde, und danach überall nur noch „Rehakles“ hieß, schreibt sich mit zwei „h“ und nicht nur mit einem. Wahrscheinlich war’s aber nur der Druckfehlerteufel und außerdem begann Rehhagels Karriere beim Reviernachbarn Rot-Weiß Essen. Dieser Verein ist zwar aus Dortmunder Sicht längst nicht so schlimm wie Schalke 04, aber Freunde wohnen dort auch nicht. Nun aber zu den zu besprechenden Büchern. 62 3 I 2014 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 62 27.05.14 | KW 22 15:35
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sport | fussball Jörg Runde/Thomas Tamberg, Traumberuf Fußballprofi. Dieter Mussler, Sport als Entertainment. Zwischen, Marken, Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga, Maschen und Moneten, Frankfurt/M.: Frankfurter Allge- Weinheim: Wiley-VCH Verlag 2014, 302 S. meine Buch 2014, 178 S. Im Band der beiden Sportjournalisten Jörg Runde und Seitdem der erste Sportler den Sündenfall beging, für sei- Thomas Tamberg wird der „Traumberuf Fussballprofi“ ne Aktivitäten Geld oder Sachwerte einzufordern, läuft die unter die Lupe genommen. Wie also kommt ein jun- Diskussion über die Kommerzialisierung des Sports, grob ger Spieler zu seinem Traumberuf, welche Hindernisse geschätzt nunmehr rund 130 bis 140 Jahre. Inzwischen sind zu überwinden, welche Gefahren lauern am Wege ist der Spitzensport zum Event geworden und gehört zur ganz nach oben? Wie wird er Nationalspieler? Runde Unterhaltungsbranche (neudeutsch: Entertainment). Ein und Tamberg haben aufmerksam die vorliegende Lite- großes Problem besteht bei solchen Büchern, wie dem des ratur zum Thema studiert – es gibt sie reichlich – und promovierten Volkswirts Dieter Mussler, Dozent an der mit Spielern, Trainern, Beratern und Eltern gesprochen. Hochschule Fresenius im Fachbereich Media & Commu- Ein wesentliches Problem des Buches ist es allerdings, nication, darin, dass unter dem im Titel angesprochenen dass immer wieder Einzelfälle ausführlich, teils minu- „Sport“ nur der Spitzensport verstanden wird. Das sind, tiös beschrieben werden, die nicht immer verallgemei- wenn wir Deutschlands populärste Sportart Fußball neh- nert werden können. Zuweilen werden die Autoren auch men, maximal die 36 Vereine der ersten und zweiten Li- von den Entwicklungen überrollt. Als der 2013 gerade ga, deren Spiele live im Bezahlfernsehen verfolgt werden von Schalke 04 zu den Tottenham Hotspurs gewechsel- können. Allerdings finden an jedem Wochenende rund te 23-jährige Deutsch-Engländer Lewis Holtby das Ge- 170.000 Fußballspiele deutschlandweit statt, wenn wir leitwort zu dem Buch schrieb, schien seinem Aufstieg den Jugendbereich einbeziehen. Der kommt als Entertain- kaum noch etwas im Wege stehen zu können. Rund ein ment oder Event gar nicht vor, weil er weder das eine noch Jahr später hat die Karriere einen erheblichen Knick be- das andere ist, aber auch er ist inzwischen kommerziali- kommen, denn Holtby konnte sich bei den Spurs nicht siert. „Gesponsert“ werden die Jugendmannschaften der durchsetzen und wurde zur Winterpause an den Lokalri- Amateurvereine beispielsweise von einem Friseurladen, der valen FC Fulham ausgeliehen, mit dem er am Ende die- für die neue Saison einen Satz Trikots für die E-Jugend ser Saison aus der englischen Premier League abgestie- des nahegelegenen Vereins mit entsprechendem Aufdruck gen ist. Das kann man durchaus als Ironie des Schicksals stiftet: Da ist man im Dorf oder im Vorort in aller Munde. bezeichnen und darauf hinweisen, wie schnelllebig doch Zum Spiel in der Kreisliga B kommen etwa 20 bis 50 Per- der Fußball ist. sonen, man kann eine Bockwurst kaufen und ein Bier trin- Runde und Tomberg möchten offensichtlich gerne alle ken. Dann ist das Event vorüber. Auch darüber informiert Probleme und Gefahren ansprechen, die im Fußballge- uns der Autor, aber nur in sieben Zeilen. schäft möglich sind. Dies führt dazu, dass manches wich- Alle Sporttreibenden aber brauchen die passende Ausstat- tige Thema eben nur angetippt und an Einzelbeispielen tung, ohne die geht es heute unter keinen Umständen. verdeutlicht wird. Die Problematik der psychischen Erkran- Sportbedarf, um es mit diesem Begriff zusammenzufassen, kung aus welchen Gründen auch immer, wird unter der ist ein Teil des Geschäfts, dabei kommt es zumeist auf die Überschrift „Auch Gladiatoren haben ein Seelenleben“ auf Marke an. In jedem Falle ist nicht nur der große Sport, acht Seiten behandelt. Das ist sicherlich gut gemeint, aber sondern auch der „kleine“ Sport, der Sport als Freizeit- doch oberflächlich. oder Fitnessvergnügen, ein großes und gutes Geschäft. Der im Titel erwähnte „Bolzplatz“, der symbolisch wohl für Mussler behandelt in seinem Buch durchaus zuverlässig den damals wie heute immer wieder als „Talenteschmiede“ und informiert den großen Sport als Entertainment, be- geltenden „Straßenfußball“ stehen soll, kommt im Buch schränkt sich allerdings weitgehend auf Deutschland. Wer an keiner Stelle vor. Stattdessen werden die Trainingszen- sich in diesem Bereich nicht so auskennt, der wird in die- tren und Jugendakademien der führenden deutschen und sem Buch gut über Sport als Geschäft in vielerlei Facetten einiger europäischer Spitzenvereine vorgestellt. informiert. Der Autor behandelt auch die Schattenseiten Am Ende des Buches finden sich auch ein paar Anmerkun- des großen Sports, die Probleme des Dopings, der Korrup- gen für direkte Zitate und weitere Belege. Allerdings ist tion, der Manipulation und des Wettbetrugs. Zum Schluss dort immer nur das Buch angegeben, auf das sich die Au- allerdings wird der Autor dann doch noch moralisch und toren beziehen, die Seitenzahlen aber fehlen. Wahrschein- kommt – wie eingangs auch – auf die Werte, die der Sport lich sollen die Leser, vor allem die zukünftigen Jungprofis, vorgeblich oder tatsächlich normativ vermittelt, zu spre- diese Bücher auch noch lesen, um weitere Informationen chen. Er nennt Fair Play, Teamarbeit, Leistungsstreben, zu erhalten. soziale Kompetenz, Gesundheit und Fitness. Schon dar- Wer auch nur ein wenig mehr über die Welt des Profifuß- über ließe sich trefflich streiten, warum uns ausgerechnet balls weiß, als das, was im „Kicker“ oder bei „Sport-Bild“ das Milliardengeschäft Sport diese Werte vermitteln sollte. steht, für den gibt es in diesem flott geschriebenen Buch Als guter Mensch und Marketingexperte schlägt Mussler wenig Neues zu erfahren. Bessere Informationen über abschließend vor, die Werte des Sports auf den Prüfstand den harten und steinigen Weg zum Jungprofi finden sich zu stellen und mehr Bescheidenheit zu zeigen. In seinen in einer Serie im Sportteil der „Frankfurter Allgemeinen letzten Sätzen plädiert er für eine Symbiose der beiden Sonntagszeitung“, die in unregelmäßigen Abständen über Sportwelten, derjenigen, die sich strikt an den markt- die Entwicklung von Berliner Juniorenspieler berichtet, die wirtschaftlichen Prinzipien, und der anderen, die sich an Fußballprofi werden wollen. (dd) gesellschaftlichen Werten orientiert. Sie sollten sich best- 64 3 I 2014 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 64 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball möglich ergänzen und einander fördern. Da kann man nur be, denn er sei „allzu ernst geworden, die Spielstimmung hoffen, dass die Mächtigen des kommerzialisierten Sports, mehr oder weniger aus ihm gewichen“. (Huizinga, 18. Aufl., an der Spitze die Präsidenten des IOC und der FIFA, über 2001, S. 214). Was denn „Sport“ ist, wie er begrifflich zu die Werte des Sports öffentlich nachdenken, vor allem definieren ist, lassen die Herausgeber unbeantwortet. Alle darüber, ob es angesichts der Werte des Sports empfeh- körperliche Leibesertüchtigung und Athletik gilt als Sport. lenswert ist, die Mega-Events des Sports in nicht-demo- Der Fußball sei eine „Ausnahme vom Alltag, die Regeln kratischen Staaten oder in sogenannten Schwellenländern sind andere als die sonst im menschlichen Zusammenle- auszutragen. Immerhin hat FIFA-Präsident Josef Blatter ben gültigen, und dennoch werden die gleichen Werte, Mitte Mai dieses Jahres zugegeben, dass die Vergabe der Normen, Konflikte und Machtdifferenzen verhandelt wie Fußballweltmeisterschaft 2022 nach Katar ein Fehler war. überall in der Gesellschaft“. (S. 11) Ein paar Seiten weiter Von Bestechung und Korruption könne aber selbstver- behaupten die Herausgeber, es gelte als fußballhistorisches ständlich keine Rede sein, nur von „politischem Druck“ Allgemeingut, dass Fußball ursprünglich ein Sport unterer von deutscher und französischer Seite, weil in Katar so Gesellschaftsschichten war. (S. 14). Wer von der Geschich- viele deutsche und französische Firmen arbeiteten. Die von te des Fußballs auch nur einen blassen Schimmer hat, der Dieter Mussler gewünschte Versöhnung des hoch kommer- weiß, dass der moderne Fußball seinen Ursprung in den zialisierten Sports mit der Sportwelt der Ehrenamtlichen elitären englischen Public Schools (Eton und andere) seit findet schließlich, vielleicht ein wenig zynisch gesprochen, dem Anfang des 19. Jahrhunderts hat. Die ersten geschrie- im Fernsehen statt, denn bei der bevorstehenden Fußball- benen Regeln legten Studenten der Cambridge University WM steht im Vereinsheim ein möglichst großer Fernseher, fest. Darauf geht auch Philipp Dezort in seinem Beitrag um die Spiele im Kreis der Sportkameraden und -kame- über „Fankulturen des Männer- und des Frauenfußballs“ radinnen anzuschauen. Denn alleine macht es doch noch ein. Der Siegeszug des Fußballs um die Welt war der Sie- nicht einmal halb so viel Spaß. geszug einer bürgerlichen Sportart, denn dem Proletariat Leider fehlt bei Mussler auch der Blick über den eigenen fehlte zunächst einmal vor allem die freie Zeit (leisure), um Zaun. Zwar spricht er des Öfteren von Randsportarten und diese oder eine andere Sportart der „Gentlemen“ ausüben zeigt sich begeistert vom Triathlon, aber ein Blick über zu können. den Atlantik wäre gewiss interessant geworden. Gerade Der moderne Sport ist ein Produkt der Industriegesellschaft. in den USA, wo der Fußball kein Massensport ist, teilen Der Begriff ist eine Sammelbezeichnung für die durch Tra- sich verschiedene Sportarten das Millionengeschäft. Ne- dition und personale Sinngebung als Bewegungs-, Spiel- ben American Football sind auch Basketball (sowieso eine oder Wettkampfformen geprägten, vorwiegend körper- amerikanische Erfindung), Eishockey und Baseball völlig lichen Aktivitäten des Menschen, die zielgerichtet nach kommerzialisierte Event-Sportarten, in denen alle Klubs körperlicher Leistung streben. Die dafür erforderlichen private Eigentümer haben, sich aber auf spezifische Re- Fertigkeiten sind erlern- und einübbar; die körperlichen geln, etwa Höchstgrenzen bei Gehältern, verständigt ha- Aktivitäten laufen nach spezifischen, sozial definierten ben, um Wettbewerbsverzerrungen weitgehend zu vermei- Mustern und Regelprozessen ab. Der moderne Sport ba- den. Dagegen ist der europäische Fußballverband (UEFA) siert zudem auf spezifischen Charakteristika der modernen mit seinem Konzept des Financial Fair Play noch weit im Gesellschaft. Hier sind zu nennen: Verweltlichung, Rati- Rückstand. (dd) onalisierung, bürokratische Organisation, Quantifikation sowie die Rollenspezialisierung der Funktionen. Charakte- Jonas Bens/Susanne Kleinfeld/Karoline Noack (Hg.), ristisch sind für den modernen Sport zudem die Chancen- Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf gleichheit im Wettkampf und der Wettkampfbedingungen, Fußball und Gesellschaft, Bielefeld: transcript Verlag 2014, die Hervorbringung messbarer Leistung mit dem Ziel der 188 S., Abbildungen Leistungsverbesserung, eine Rekordorientierung und ein behaupteter Selbstzweckcharakter sowie schließlich der Die Beiträge des Bandes, der aus einer Tagung in Bonn Zusammenschluss der Sportler/Sportlerinnen in öffentli- im Oktober 2012 hervorgegangen ist, behandeln aus der chen und freien Vereinigungen. All dies unterscheidet den Sicht unterschiedlicher Disziplinen, also interdisziplinär, modernen Sport von anderen Formen der Leibesertüch- das Fußballspiel als Teil des Sports. Sport, so heißt es in tigung, der Leibeserziehung oder der Leibesübungen wie der kurzen Einführung der Herausgeber Jonas Bens und etwa dem Turnen. Es unterscheidet ihn auch von rituell Susanne Kleinfeld, sei aus Sicht der Soziologie ein gesell- und religiös orientieren athletischen Wettkämpfen in der schaftliches Subsystem, „eine Art sozialer Mikrokosmos“ Antike und in außereuropäischen Kulturen. Das sehen die (S. 9). Aus anthropologischer Sicht sei der Sport eher „eine meisten Autoren/innen dieses Bandes anders. Dies weist Welt in der Welt“, die Ausnahme vom Üblichen. Es gehe auch auf die unterschiedlichen Fächerkulturen hin, auf die dabei eher um die Etablierung von Gegenwelten, die vom unterschiedlichen Blicke und Herangehensweisen von His- restlichen Leben abgegrenzt seien. Die Menschen seien torikern, Soziologen, Anthropologen und Ethnologen. Das mitten im Leben, fühlen sich jedoch dem Alltag enthoben. ist durchaus positiv, ja sogar faszinierend, weil man daraus Dies entspricht in etwa der Ansicht des niederländischen etwas lernen oder umgekehrt sich der eigene Blick sogar Kulturhistorikers Johan Huizinga, wie er sie in seiner klas- verfestigen kann. sischen Studie „Homo ludens“ (1938 niederländisch, 1939 Von den insgesamt acht Beiträgen – ohne Einleitung – deutsch erschienen) für das Spiel reklamierte. Dem Sport befassen sich sechs mit Fußball unter unterschiedlichen sprach Huizinga dabei ausdrücklich den Charakter des Blickwinkeln, zwei – Kerstin Nowack und Nikolai Grube Spiels ab, weil er das Beste des Spielgehaltes verloren ha- (beide Altamerikanisten an der Universität Bonn) – mit 3 I 2014 65 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 65 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball „Spielen“ in den vormodernen Kulturen der Inka bzw. Ma- in Deutschland sowie über sowjetischen, italienischen und ya. In diesen beiden Beiträgen öffnet sich eine gänzlich spanischen Fußball in Zeiten der Diktatur. Ein Aufsatz han- andere Welt der Symbole, Riten und Praktiken, die sie von delt vom Wiener Fußball in der NS-Zeit, ein weiterer vom der Welt des Sports im 21. Jahrhundert fundamental un- sogenannten Todesspiel in Kiev 1942 und dem Regenspiel terscheidet. in Frankfurt am Main 1974 und schließlich folgt noch ei- Die Relevanz der Beiträge von Andreas Rüttenauer, Sport- ne Betrachtung über die Länderspiele zwischen den „Ösis“ redakteur, jetzt einer der zwei Chefredakteure/innen der und den „Ossis“, also zwischen der DDR und Österreich. taz, 2012 erfolgloser Kandidat für den Posten des DFB- Die beiden folgenden Blöcke enthalten Regionalstudien Präsidenten, über die „Fußballmafia DFB“ und von Kerstin zum österreichischen Fußball in der NS-Zeit und Berich- Lopatta, Professorin für Accounting und Corporate Gover- te zu zwei laufenden Forschungsprojekten zur regionalen nance in Oldenburg, über „11 Freunde: Treiber oder Ge- Fußballgeschichte der Zeit zwischen 1938 und 1945. triebene des Kapitalmarktes?“ will sich mir nicht erschlie- Von den fast durchweg lesenswerten Beiträgen dieses ßen. Rüttenauers Artikel mit dem Untertitel „Wie Staat und Sammelbandes, der auch durch seine Konzeption besticht, Fußball in Deutschland gemeinsame Sache machen – Eine möchte ich drei Beispiele herausgreifen. Zunächst den Ar- recherchierte Polemik“ nennt keine einzige Quelle für seine tikel von Markwart Herzog über die Geschichte des Fuß- polemischen Ausführungen gegen das Fußballmuseum in balls in der NS-Zeit. Der Autor ist bereits mit zahlreichen Dortmund oder für seine Behauptung, „über den Fußball lesenswerten Beiträgen zu diesem Thema hervorgetreten. würden rechtsstaatliche Standards“ ausgehebelt. Nun auch Hier unterzieht er die bisherige Forschung einer kritischen polemisch: Vermutlich möchte Herr Rüttenauer eher italie- Betrachtung, die sich auf dem neuesten Stand bewegt, nische Verhältnisse in deutschen Stadien. Der Aufsatz von nicht nur Literatur, sondern auch die Quellen kennt und Frau Lopatta enthält eine Reihe von Statistiken, für deren sich eindeutig gegen Geschichtspolitik, welcher Couleur Lektüre man eine Lupe braucht, vor allem aber wüsste der auch immer, wendet. Bisweilen gibt es einige leicht po- Nichtspezialist gerne, was all die Abkürzungen über den lemische Untertöne, aber insgesamt ist es eine sachliche Tabellenspalten bedeuten sollen. Bleiben vier Artikel, die Bestandsaufnahme, die zudem gut lesbar geschrieben ist. durchaus lesenswert sind, auch wenn Oliver Fürtjes offe- Herzog verweist darauf, wie widersprüchlich die politischen ne Türen einrennt. Kein ernstzunehmender Sporthistori- Funktionen des Fußballsports in der NS-Diktatur waren. ker würde heute noch behaupten wollen, dass Fußball ein Zum einen gab es den auch heute noch gut bekannten Proletariersport war oder ist. Er verweist zwar in seiner Vereinsfanatismus, für den die Vereinsgemeinschaft Vor- Bibliographie auf den von Jürgen Mittag und Jörg-Uwe rang vor der Volksgemeinschaft hatte, zum anderen trug Neuland herausgegebenen Band „Das Spiel mit dem Fuß- der Fußball aber auch zum Funktionieren des Systems bei, ball“, hat aber offensichtlich den Beitrag von Stefan Goch denn er bot Ablenkung, eskapistische Zerstreuung sowie „Fußball im Ruhrgebiet. Der Mythos vom Arbeitersport“ narkotisches Abschalten und ließ sich für die Selbstdar- übersehen. Aufregend Neues zum Fußballsport enthält der stellung des Systems durchaus vereinnahmen. Die Verei- Band nicht. (dd) ne waren den Nationalsozialisten als Orte des Rückzugs durchweg verdächtig, weshalb die Parteiführung die Zer- Johannes Gießauf/Walter M. Iber/Harald Kroll (Hg.), Fuß- schlagung des Vereinssports, was in der Sowjetunion früh ball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der durchgeführt worden war, plante, aber aufgrund des Krie- historischen Forschung, Innsbruck/Wien/Bozen: Studien- ges auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschieben musste. Verlag 2014, 403 S., Abbildungen Auch Matthias Marschik, in der Sport-, insbesondere der Fußballgeschichtsschreibung seit langen Jahren bestens Auch dieser Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, bekannt und – wie Herzog einer ihrer Pioniere der Ver- die im Juni 2012 in der Universität Graz stattfand. Leider wissenschaftlichung –, befasst sich in seinem Aufsatz wenden die Herausgeber und einige Autoren – Autorinnen „Erzählungen aus dem Wiener Fußball“ mit der Zeit des gibt es nicht – auch dieses Bandes den Begriff „Sport“ Nationalsozialismus, allerdings in Wien, mit dessen Ge- gänzlich undifferenziert an und übertragen ihn auf die schichte – nicht nur im Fußball – er bestens vertraut ist. Antike. Jedoch haben sich Herausgeber und Beiträger Marschik stellt gleichfalls den Facettenreichtum der Hal- einen klaren Blick auf die Komplexität des Verhältnisses tung der aktiven wie passiven Fußballer gegenüber dem oder der Beziehungen des Fußballs zu politischer Macht Nationalsozialismus dar, die jedoch nur selten in tatsäch- und Diktatur bewahrt und warnen vor jeder Form von Ein- liche Widerstandshandlungen mündeten. Was lange Jahre dimensionalität. Auch den Nationalsozialisten sei, so heißt stets nur im Gegensatz von Schwarz und Weiß beschrieben es in der Einleitung, die totale Gleichschaltung des Sports, und analysiert wurde, zeigt in beiden Fällen sehr viele un- gerade auch des Fußballsports nicht gelungen. Insgesamt terschiedliche Grautöne, in die sich bisweilen sogar Farb- enthält der Band 17 Beiträge, darunter zwei einführen- tupfer mischen. de Artikel, die sich mit „Sport“ in der Antike und dem Als dritter Beitrag ist der Artikel des russischen Historikers mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fußball in Italien Michail Prozumenščikov zu erwähnen. Er ist stellvertre- (calcio) und England befassen. Ein weiterer einleitender tender Direktor des Staatlichen Archivs für Zeitgeschichte Aufsatz behandelt die Differenzierung des Vereins- und und vor einigen Jahren als einer der ersten russischen „Be- Verbandssports in Österreich vor 1914 nach ideologisch- rufshistoriker“ mit einer fundierten Monographie zur Ge- politischen und konfessionellen Kriterien. Ein zweiter schichte des Sports in der Sowjetunion (Großer Sport und Block befasst sich mit der internationalen Entwicklung große Politik) hervorgetreten, die leider nur in russischer und bietet Beiträge über den Fußballsport in der NS-Zeit Sprache vorliegt. Sein Aufsatz „Bemerkungen zum sowje- 66 3 I 2014 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 66 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball tischen Fußball unter Stalin und Chruščev“ bietet daher all dem Vorbild seines Schwiegervaters João Havelange, des denen, die des Russischen nicht mächtig sind, die Möglich- langjährigen FIFA-Präsidenten und Mitglieds des IOC, der keit, einen Teilaspekt seiner Forschungen kennenzulernen. 2011 wegen der Annahme von Schmiergeld in Millionenhö- Im Unterschied zum nationalsozialistischen Deutschland, he aus diesem Gremium zurücktrat und 2013 auch sein Amt in dem die Eingriffe in laufende Meisterschaften recht ge- als Ehrenpräsident der FIFA aufgab. Zudem gilt die Füh- ring waren, zeigt uns Prozumenščikov, in welchem Maße rungsspitze des nationalen Verbandes als reaktionär und die Parteiführer immer wieder in die Meisterschaften ein- wehrt sich beharrlich gegen jeden Wandel des hoffnungslos griffen und „ihre“ Klubs vor einem Abstieg „retteten“ oder antiquierten Spielbetriebs. Gegen diese Zustände gründeten ihn mitten in der laufenden Saison „aufsteigen“ ließen. brasilianische Spieler im Herbst 2013 den „FC Bom Senso“ Der Autor prägt dafür den passenden Ausdruck von der (FC Gesunder Menschenverstand), um endlich die Rechte „Fußballamnestie“. Fußball war auch in der Sowjetunion der Spieler einzufordern. noch vor Eishockey und Schach der Volkssport Nummer Für die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft werden eins und diente auch in der UdSSR als Medium der Ab- Milliarden ausgegeben, die allerdings nicht in die Problem- lenkung und der „Politikflucht“. Es ist sicherlich bezeich- bereiche fließen. Luiz Ruffato, der brasilianische Schriftstel- nend, dass in den ersten Jahren nach der Wiederaufnahme ler und Fußballenthusiast, hat darauf in seiner Eröffnungs- des Spielbetriebs 1944 auch zweitklassige Spiele häufiger rede bei der Frankfurter Buchmesse 2013 hingewiesen. Er mehr Zuschauer anzogen, als in den Stadien Plätze zur wies nachdrücklich darauf hin, dass in seinem Land „Woh- Verfügung standen. nen, Bildung, Gesundheit und Erholung nicht das Recht Die Eingriffe in den Spielbetrieb waren zahlreich und aller“ seien, sondern Privilegien weniger. Das Recht, sich setzten sich auch nach Stalins Tod fort. Bisweilen ver- frei zu bewegen, könne man nicht ausüben, weil es keine schwanden missliebige Spieler auch in den sowjetischen Sicherheit gebe. Viele Arbeitswillige könnten die Jobs mit Lagern wie die vier Brüder Starostin, die dort allerdings dem Mindestlohn von 300 Dollar im Monat nicht anneh- von sportbegeisterten Lagerkommandanten vor Schlim- men, weil es keinen vernünftigen öffentlichen Personen- merem bewahrt wurden. Prozumenš čikov räumt auch mit nahverkehr gebe. Kaum jemand achte die Umwelt und man der Legende von den „Amateuren“ in den oberen Ligen habe sich angewöhnt, die Gesetze zu missachten. auf und nennt die Dinge beim Namen. Es handelte sich Es gab also viele Gründe für die Massenproteste im Juni um Profisportler, um Stars, die eine große Zahl von Pri- 2013. Unklar bleibt, und da sind auch die Autoren/innen vilegien besaßen. sich nicht einig, wer denn nun die Träger und Organisatoren Ein gelungener Band mit hilfreichen Registern, dem leider des Protestes sind. Einiges spricht dafür, dass hier mehrere ein Literaturverzeichnis fehlt, das sich der Leser aus den Bewegungen zusammenkommen. Einerseits Gymnasiasten Anmerkungen selbst zusammenstellen darf. (dd) und Studenten, die bei aller Liebe zum Fußball die hor- renden Ausgaben des Staates lieber ins marode Bildungs- Gerhard Dilger/Thomas Fatheuer/Christian Russau/Stefan wesen als in Stadionneubauten investiert sehen wollen. Thimmel (Hg.), Fußball in Brasilien: Widerstand und Uto- Andererseits speisen sich die Demonstranten auch aus den pie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Pro- ärmeren Bevölkerungsschichten, deren Lebenswelt in den test, Hamburg: VSA-Verlag 2014, 220 S., zahlreiche, teils Armenvierteln (den Favelas) durch gewaltsame Verdrängung farbige Fotographien bedroht ist. Hinzu kamen Preiserhöhungen im ÖPNV, an de- nen sich übrigens die Proteste in Porto Allegre entzündeten. Während Russland noch vier Jahre auf die Ausrichtung der In jedem Falle ist die Protestbewegung inzwischen recht gut Fußballweltmeisterschaft warten muss, ist Brasilien in die- organisiert und fast alle erwarten für den Tag der Eröffnung sem Jahr wieder an der Reihe. Das Land richtete bereits die der WM am 12. Juni dieses Jahres weitere Massenproteste. WM 1950 aus, und die Mannschaft erreichte damals „nur“ Wenn es nicht in einigen Beiträgen den mahnend erhobe- den zweiten Platz hinter dem Nachbarn Uruguay. Grund nen linken Zeigefinger gäbe, könnte ich den Band ohne genug also, sich mit dem Land und seinem Fußball zu be- Einschränkung empfehlen, denn er informiert gleicherma- schäftigen. Immerhin ist Brasilien mit fünf Titelgewinnen ßen über Fußball und über Politik, über brasilianische Kul- der Rekordhalter, der letzte Titel wurde 2002 errungen. tur und bietet auch noch interessante Bilder zur Illustration. Ein weiterer Grund der intensiven Beschäftigung mit Bra- Aber darüber kann man ja auch einfach hinweglesen. (dd) silien sind zudem die anhaltenden Unruhen im Land, die im vergangenen Jahr bei der Austragung des sog. Con- Ronald Reng, Spieltage. Die andere Geschichte der Bundes- federations-Cups erstmals ins Bewusstsein einer breiteren liga, München/Zürich: Piper 2013, 477 S., 30 Abbildungen Öffentlichkeit gelangten. Die Einwohner des Landes, in dem der Fußball als „jogo bo- Der Schriftsteller und Sportjournalist Ronald Reng lebt in nito“ (schönes Spiel) bezeichnet wird, sind fußballverrückt. Barcelona. In den letzten rund zehn Jahren veröffentlich- Was also, so die Überschrift der Einleitung zu diesem Band, te er mit „Der Traumhüter“ und „Robert Enke: Ein allzu „ist los“ im „Land des Fußballs“? Warum wird protestiert kurzes Leben“ zwei herausragende Bücher über die Welt und wer protestiert hier wogegen? des Fußballs. 2013 wandte sich der ehemalige Bundesliga- Schon vor der Vergabe der WM nach Brasilien konnte wis- spieler und -trainer Heinz Höher, der im vergangenen Jahr sen, wer es wissen wollte, dass nicht nur die Führungsspitze 75 Jahre alt wurde, an ihn, um ihm seine Geschichte von des brasilianischen Fußballverbandes in Gestalt von Ricardo fünfzig Jahren Bundesliga zu erzählen und zu dokumen- Teixeira, der 2012 zurücktrat, korrupt war, Steuern hinter- tieren, denn er brachte einen Rucksack mit, in dem er sein zog und an Geldwäsche beteiligt war. Teixeira folgte darin privates Archiv verstaut hatte. Dem ersten Gespräch zwi- 3 I 2014 67 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 67 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball schen Reng und Höher folgten weitere, nicht nur mit Hö- Noyan Dinçkal befasst sich in seiner Darmstädter Habilita- her, sondern mit mehr als 30 Zeitzeugen und zusätzliche tionsschrift in Neuerer Geschichte mit dem Vordringen des Recherchen in Presse- und Internetarchiven. Entstanden ist Sports in den städtischen Raum und der damit verbundenen so ein spannendes und kluges Buch zur Bundesliga- und Entfaltung einer Massenkultur des Sports. Erst unmittelbar Fußballgeschichte, das in jeder Hinsicht lesenswert ist. Reng vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 entwickelte erzählt die 50-jährige Geschichte der Bundesliga aus Höhers sich der Sport in Deutschland und in vielen anderen Län- Perspektive, wahrt aber dennoch die Distanz, ohne die ein dern Europas allmählich zu einer Aktivität nicht nur der Biograph zwangsläufig zum Hagiographen wird. Ober- und Mittel-, sondern auch der Unterschichten. Woran Höher hat fast alle Höhen, vor allem aber alle Tiefen des es generell fehlte, waren jene Orte und Räume, um Sport Spieler- und Trainerlebens am eigenen Leib erfahren. Er treiben zu können. So mussten viele Sportbegeisterte sich war 1963, in der ersten Saison der Bundesliga, als Spie- damit begnügen, auf Feldern und Wiesen, Exerzierplätzen ler des Meidericher SV (heute MSV Duisburg) dabei, hatte oder andernorts ihrem Vergnügen zu frönen. Denn Stadien Stationen als damals jüngster Trainer der Liga in Bochum, und sonstige Sportstätten waren bis zum Beginn der 1920er Düsseldorf und Nürnberg, wo er auch kurze Zeit als Mana- Jahre eher eine Seltenheit. ger tätig war. Dazwischen lagen Stationen in Saudi-Arabien Dinçkal weist in seiner Arbeit zunächst einmal darauf hin, und Griechenland. Als Spieler erreichte er mit dem VfL Bo- dass die „Mutter“ aller Stadien in Deutschland das 1913 chum ein Pokalfinale, das verloren wurde, als Trainer führte eingeweihte „Deutsche Stadion“ in Berlin war, das für die er Nürnberg zurück in die Bundesliga. Höher kannte eini- Olympischen Spiele 1916 in der Stadt erbaut wurde. Seit den ge der Spieler, die 1970/71 in den Bestechungsskandal der frühen 1920er Jahren folgten dann in Deutschland zahlrei- Bundesliga verwickelt waren; als Trainer berühmt wurde er che weitere Stadionneubauten, als die Weimarer Republik 1984, als der damalige Präsident des 1. FC Nürnberg, Gerd den Durchbruch zur Massenkultur nicht nur im Bereich des Schmelzer, mit dem er bis heute befreundet ist, nicht ihn Sports erlebte. Diese Räume wurden nun öffentlich und in als glücklosen Trainer entließ, sondern die rebellierenden ihnen fanden auch öffentliche Inszenierungen statt, denn Spieler, ein bis heute einmaliger Fall. in der Weimarer Republik wurden die Stadien häufig als Es war, wie Reng immer wieder zeigt, Höhers grundlegen- Orte nationaler Feiern genutzt. Sie erhielten damit gleich- des Problem, dass er zumeist in sich gekehrt und verschlos- sam eine doppelte Funktion. Eine zusätzliche Erweiterung sen war, mit anderen Menschen nur schwer kommunizieren erfuhren die Stadien, als sie seit der Mitte der 1920er Jah- konnte, seine Gedanken lieber für sich behielt und zur La- re bei den großen Sportwettkämpfen auch als Laboratorien bilität neigte. Dabei war er häufiger ein Neuerer, der tak- der Forschung genutzt wurden. tische Varianten erprobte, die heute als völlig neu gelten. Die Arbeit überzeugt durch eine klare analytische Sprache So spielte er schon in den späten 1970er Jahren mit einem und eine meistens geschickte Auswahl der Quellen und der „falschen Neuner“, also ohne richtigen Mittelstürmer, eine herangezogenen Beispiele. Sie hätte durch einige Blicke Spielform, die erstmals die ungarische Wunderelf der frühen über den Gartenzaun, also in andere Länder, ausführlich 1950er Jahre erfolgreich mit Nándor Hidegkuti als „hän- wird nur das „Leitbild USA“ behandelt, sicherlich noch ge- gendem“ Mittelstürmer ausprobiert hatte. wonnen. Immerhin lag Großbritannien in der Entwicklung Die Misserfolge und der Unfalltod seines ältesten Sohnes des Sports ein paar Jahrzehnte voraus und in London wurde 1990 ließen Höher alkoholabhängig werden und er verlor viel 1923 das zu jenem Zeitpunkt größte Stadion der Welt, das Geld bei Investitionen in den neuen Bundesländern. Reng Wembley-Stadion mit rund 130.000 Plätzen, erbaut. Das bezieht in seine Schilderungen immer wieder auch die Fa- gilt auch für die im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden milie mit ein, Höhers Ehefrau Doris, mit der er über 50 Jahre „Sportlandschaften“, deren Bau in Großbritannien erheblich verheiratet ist, er zeigt uns die Umkleidekabinen, die Trai- früher eingesetzt hatte als im übrigen Europa. Insgesamt ningsplätze, das Leben der Spieler abseits des Platzes, durch- aber liegt eine ausgezeichnete Arbeit vor, die zu weiteren brochen von Reflexionen über die Entwicklung des Fußballs, Forschungen anregt. über die Rolle des Fernsehens und der Moderatoren – darun- Der Grazer Soziologe Dieter Reicher versteht seine Studie ter ein wunderbares Porträt von Carmen Thomas, der ersten „Nationensport und Mediennation“ als einen Beitrag zur Moderatorin einer Sportsendung, des „Aktuellen Sportstu- Nationalismusforschung. Im Mittelpunkt stehen die inter- dios“ des ZDF. Ein in jeder Hinsicht gelungenes Buch nicht nationalen Wettkämpfe im Bereich des Spitzensports und nur zur deutschen Fußballgeschichte. (dd) die damit verbundenen Nationalgefühle und nationalen Wir-Bilder. Im Hintergrund steht dabei auch die Debatte, Noyan Dinçkal, Sportlandschaften. Sport, Raum und (Mas- ob denn im Zuge der Globalisierung Nationen Auslaufmo- sen-)Kultur in Deutschland 1880-1930, Göttingen: Van- delle seien. Reicher wendet sich gegen Konzepte, in denen denhoeck & Ruprecht 2013, 346 S., 28 Abbildungen „Nation“ und „Nationalismus“ nur als Idee oder als „vorge- stellte Gemeinschaften“ (imagined communities) aufgefasst Dieter Reicher, Nationensport und Mediennation. Zur werden. Stattdessen sieht er sie als „gefühlte“ Realitäten, Transformation von Nation und Nationalismus im Zeitalter die mit Wir-Gefühlen verbunden seien. Zutreffend weist er elektronischer Massenmedien, Göttingen: V&R unipress darauf hin, dass auch die EU nur einige Kompetenzen auf 2013, 378 S., 15 Abbildungen eine multilaterale Ebene verlagert, ansonsten aber am Prin- zip des Nationalstaates festhält. Schließlich sind zwei Bände anzuzeigen, die unser Wissen zur Der moderne Spitzensport und seine Medialisierung, so Geschichte und Gegenwart des Sports in vielerlei Hinsicht er- Reicher, bauen auf einer ganzen Reihe von Konventionen weitern und zugleich neue Forschungsperspektiven eröffnen. auf, die weltweit verstanden und auch befolgt werden. 68 3 I 2014 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 68 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball Dazu zählen auch Konventionen des Zuschauerverhaltens Peter Bizer, Uli Hoeneß. Mensch, Macher, Mythos. und des Sportjournalismus (S. 30). Auch wenn im Prozess Nachspiel, Mit Beiträgen von Jörg Albrecht und der Globalisierung Sport mehr und mehr durch Marketing Christian Kraus, (Hamburg: Ellert & Richter Verlag, und einen Warencharakter gekennzeichnet ist, so führt dies 2014), 191 S. eben nicht zu einem Verschwinden nationaler Konnotatio- nen, sondern zu einer Vermengung mit den Etiketten der Der ehemalige Stern-Reporter Peter Bizer, der Uli Hoeneß modernen Warenwelt im Zusammenhang mit Sportstars. kennt, seit dieser in frühen Tagen in Ulm ein „auffallend Im Wesentlichen sieht Reicher einen Wandel von einem, talentierter und ehrgeiziger Jugendspieler“ (S. 7) war und wie er es nennt, „romantischen Nationalismus“ des 19. bereits nach der WM 1974 ein Buch über ihn veröffentlicht und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zu einem hat (Uli Hoeneß. Der programmierte Weltmeister, München „leeren“ Nationalismus, der folgende Merkmale aufweist: 1975) legt – noch vor Strafprozess und Verurteilung wegen ethnische Substanzlosigkeit, Orientierung an internationa- Steuerhinterziehung – eine weitere biographische Studie len Wettkämpfen im Rahmen einer akzeptierten Weltkul- über Uli Hoeneß vor. Die vier Begriffe im Titel des Büch- tur und die leichte Austauschbarkeit seiner symbolischen leins – Mensch, Macher, Mythos, Nachspiel – versprechen Repräsentanten. Er schränkt jedoch sogleich ein, dass viel, zumal in der Hitze der journalistisch (und persönlich- dort, wo staatliche Grenzen umstritten seien, der „leere“ keitsrechtlich) höchst fragwürdigen öffentlichen Aufmerk- Nationalismus eine geringere Rolle spiele. Reichers Opti- samkeit nach der allzu späten, dann allzu schnellen und mismus bezüglich der Konzessionen, die Veranstaltungs- unvollständigen Selbstanzeige. Gegen Ende seines Vorworts länder internationaler Wettbewerbe etwa hinsichtlich von („Einwurf“) expliziert der Verfasser (S. 10): „Die Geschichte Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen das des Ulrich ‚Uli‘ Hoeneß, Sohn einer Ulmer Metzgerfamilie, Völkerrecht machen müssen, um ihr Ansehen innerhalb ei- Fußballstar, Manager, Präsident, Wurstfabrikant, Familien- ner „allgemein akzeptierten Weltkultur“ nicht zu verlieren, vater, Mitglied in der ‚Hall of Fame‘ des deutschen Sports, werden von den momentanen Entwicklungen in der Ukrai- muss in seinem 62. Lebensjahr nicht neu geschrieben wer- ne jedoch widerlegt. Wichtiger scheint mir die Feststellung den. Nur anders.“ zu sein (S. 324), dass gerade die Welt des Sports zeigt, Diese „andere“ Geschichte des Uli Hoeneß bietet freilich dass Nationalismus und Nation „trotz gegenteiliger Vor- kaum Neues, keine grundlegend neuen Argumente oder hersagen“ eben keine Phänomene der Vergangenheit sind, Indizien, die die merkwürdigen Brüche und Inkonsistenzen sondern ein integraler Bestandteil der modernen Welt. Der der öffentlichen Selbstinszenierung des nicht nur schein- „leere“ Nationalismus bringe den staatlich organisierten bar allmächtigen Fußballmanagers überzeugend erklären Nationalismus nicht zum Verschwinden, sondern sei ei- könnten. Es ist dennoch durchaus interessant, daran erin- ner der Varianten des Nationalismus, um flexibel auf die nert zu werden, dass der Ehrgeiz des Spielers Uli Hoeneß Globalisierung und auf eine stärker werdende Weltkultur so ausgeprägt war, dass er selbst hohes Fieber vor dem zu reagieren. Dabei sei diese Form des Nationalismus in WM-Finale 1974 verschwieg, um nicht aus dem Team starkem Maße an die Welt der Massenmedien gebunden, gestrichen zu werden, oder auch an die Lieblingsfeinde an jene Bereiche des Lebens, die von Zeitung und Fernse- (insbesondere Christoph Daum, Willi Lemke und Joseph hen – hier ist wohl auch das Internet, vor allem die soge- Blatter) und ihre Auseinandersetzung mit Uli Hoeneß, wo- nannten sozialen Medien zu nennen – besonders häufig bei die rhetorische Waffe eher der Dreschflegel denn das aufgegriffen werden. Dies sind interessante Überlegungen, Florett war. Andererseits wird auch die im besten Sinne die nun konkreter erforscht werden sollten. in persönlicher, verantwortungsbewusster Solidarität grün- Der globale Charakter des Sports, aber dies ist nun inzwi- dende Hilfsbereitschaft gegenüber Ligakonkurrenten wie schen ein Gemeinplatz, resultiert aus der massiven Verbin- den FC St. Pauli genauso gewürdigt wie das umsichtige, dung mit dem Fernsehen und den elektronischen Medien konsequent freundschaftliche Engagement für ehemalige als Quelle des Kommerzialisierungsprozesses. Medialisierung Weggefährten, wie Gerd Müller, der den wichtigsten Sieg und Kommerzialisierung des Sports, insbesondere von Mas- seines Lebens, den über seine Alkoholsucht, ganz wesent- sensportarten wie Fußball, bedingen sich also wechselsei- lich Uli Hoeneß zu verdanken hat. Neben den selbst von tig. Wir werden dies in der Zeit vom 12. Juni bis zum 13. seinen größten Kritikern nie bestrittenen Verdiensten um Juli dieses Jahres wieder erleben, wenn in Brasilien die 20. den FC Bayern München, den Hoeneß zu einer der besten Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Milliarden werden im Adressen des Weltfußballs machte, neben seinen legen- Fernsehen oder im Internet die Spiele mit angespannter Lei- dären Fernsehauftritten, deren inszenierter und zugleich denschaft verfolgen. Kaum aber sind die flüchtigen Bilder authentischer Ton moralischer Autorität (im Rückblick) so der Spiele erloschen, erscheinen die ersten Bücher, um sie gar nicht mit dem privaten „Zocker“ und Steuerhinter- uns wieder ins Gedächtnis zu rufen und das Geschehen aus zieher harmonisierbar ist, werden auch ganz persönliche der Distanz zu analysieren. (dd) Krisenszenen detailliert referiert, z.B. der Flugzeugabsturz vom 17. Februar 1982, den Uli Hoeneß auf wundersame Weise als einziger der Passagiere überlebte. Eine andere im Gedächtnis bleibende Szene sei exemplarisch zitiert, Prof. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), seit 1996 Professor für Osteu- die Uli Hoeneß‘ zwiespältige Gefühle nach dem gewon- ropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- nenen Champions League Finale 2013 im Wembley-Sta- Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkt: Russische dion zeigt (S. 155-157): „Es gibt Momente im Leben, die Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und uns fassungslos machen, stumm vor Glück. Und welche, Sportgeschichte. d.dahlmann@uni-bonn.de die uns schweigsam werden lassen vor Demut. Während 3 I 2014 69 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 69 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball der wenigen Augenblicke, in denen die Fernsehkamera Gerhard Richter (Hg.), Ein Leben ohne Fußball ist mög- Uli Hoeneß in Großeinstellung zeigt, glaubt man in sei- lich, aber sinnlos. Die besten Fußball-Satiren (Hamburg: nem Gesicht beide Gemütsregungen zu erkennen. […] Erst Ellert & Richter Verlag, 2014), 160 S. als ihm Bastian Schweinsteiger den Pokal in die Hände drücken will, wird sein Inneres sichtbar: Fast schüchtern Wie bereits der Buchtitel mit seinem intertextuellen Ver- berührt Uli Hoeneß die Trophäe, hebt sie halb hoch und weis auf Loriots Bonmot „Ein Leben ohne Mops ist mög- gibt sie – wie vor sich selbst erschreckend – gleich wieder lich, aber sinnlos“ verdeutlicht, liegt mit Gerhard Richters zurück. Tränen schießen ihm in die Augen. Aufgewühlt Anthologie der „besten Fußball-Satiren“ nicht nur ein umarmt er jeden seiner Spieler, die, die Siegermedaillen höchst lesenswertes und amüsantes Buch vor, sondern bereits um den Hals, an ihm vorbeiziehen. Dann blickt er zugleich auch ein Werk, das seine implizite Orientierung zwischen den vor ihm tanzenden Bayern hindurch noch an Konzepten modernster Literatur- und Kulturtheori- ein paar Mal auf den Rasen hinunter. 1972, also vor einem en an keiner Stelle verleugnet. Könnte man mit tradi- halben Menschenleben, schoss er als blond gelockter jun- tionell literaturwissenschaftlicher Pedanterie einwenden, ger Mann im alten Wembley-Stadion das 1:0 gegen Eng- einige der für die Anthologie ausgewählten Texte und land. Was für ein Bogen, den die Erinnerung an diesem Textausschnitte seien generisch gar keine Satiren – so Abend schlägt!“ – Diese Szene, eindringlich geschildert, etwa Albert Camus’ „Was ich dem Fußball verdanke“ (S. dokumentiert zum einen in präzisen Beschreibungen das 27-30), Friedrich Christian Delius’ „Turek, du bist ein Geschehen dieser Minuten, verweist jedoch zugleich auf Fußballgott“ (S. 40-51), oder Giovanni Trapattonis „Ich die prinzipielle Problematik der Beurteilung, der Einord- habe fertig!“ (S. 70) –, so möchte man sie in der Samm- nung des Beobachteten, die eben größtenteils persönliche lung keinesfalls missen. Auch lädt etwa der Abdruck des Deutung, Interpretation ist, deren argumentative Überzeu- Auszugs aus Giovanni Trapattonis legendärer Pressekon- gungskraft und Reichweite a priori begrenzt ist. Analoges ferenz die Leser zu tiefschürfenden, definitorisch fokus- gilt für nahezu alle öffentlichen Auftritte von Uli Hoeneß, sierten theoretischen Distinktionen ein: Welche Rolle die ebenso gleichsam nur von außen, prinzipiell ohne In- spielt die konkrete Redeabsicht und die Autorintention nenperspektive beurteilt werden können; dies gilt auch insgesamt für eine Klassifizierung als „Satire“ – und dies für die öffentlichen Selbstinszenierungen, deren Deutung auf einem (Spiel-)Feld, wo vielleicht wirklich zumeist Hoeneß als Interpret seiner selbst z.B. in nachträglichen unfreiwillige sprachliche „Fehlleistungen“ einzelner Fuß- Interviews festlegen wollte. baller ganze Bände füllen. Mag man sich als Leser viel- Die letzten Abschnitte des Buches, Jörg Albrechts „Die leicht wünschen, dass weitere Fußball-Satiren Aufnahme dunkle Seite der Macht“ (S. 173-179) und Christian Kraus‘ in den vorliegenden Band gefunden hätten (so etwa ei- „Die Gier nach Größe“ (S. 180-185) versuchen diese ‚In- ne weitere der Kurzgeschichten Ephraim Kishons, „Das nenperspektive‘ nachzuholen. Entwirft Jörg Albrecht ein Einstein-Jossele-System“, „Ich kam, sah und durfte nicht allgemeines, gut recherchiertes, abschreckend-faszinieren- siegen“ oder „Toto-Experten“), die von Gerhard Richter des Profil einer psychopatischen Persönlichkeit, so ergänzt verantwortete Auswahl ist in jedem Falle ein großartiges Christian Kraus dies um ebenso eindrucksvolle Überlegun- Zeugnis der populärkulturellen Akzeptanz postmoderner gen zu narzisstisch strukturierten Persönlichkeiten. Beide Theoriebildung („anything goes“). Essays laden, ohne konkreten Bezug auf Hoeneß, die Le- Satiren als Prognosen, als Zukunftsszenarien bergen je- ser dazu ein, die zuvor detailliert geschilderten Beobach- weils ihre ureigenen gattungs-immanenten Probleme, tungen und Wertungen mit diesen Profilen abzugleichen. weil sie in besonderer Weise die aktive Mitwirkung des Genau dieses aber geht m.E. weit über die Möglichkeiten Lesers einfordern. Sie illustrieren Felder von (noch?) einer methodisch-theoretisch und zugleich ethisch verant- nicht geschehener Geschichte, hier des Fußballs und sei- wortbaren, die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen respek- ner ökonomischen, sozialen und integrativen Funktion, tierenden, redlichen Biographie hinaus, zumindest dann, die über Gradskalen der Bewertung von un- bis dezidiert wenn solche Interpretationen sich ausschließlich auf Beob- markierten Anknüpfungen an die Fußballkultur der Ge- achtungen aus der Außenperspektive stützen. Allerdings: genwart fröhliches Lachen, Staunen, Lachen der Erkennt- Käme in Einzelfällen eine Innenperspektive hinzu, gehörte nis, Irritation und / oder auch allgemeine, zukunftsge- sie ausschließlich in den vertraulichen, geschützten Raum wisse Überzeugungen generieren. Musterbeispiele für zwischen Patient und Therapeut. diese sehr spezifische Ausprägung der Fußball-Satire sind Eine Selbstaussage von Uli Hoeneß mag noch immer den in dieser Sammlung Manni Breuckmanns „Finale in der besten Einblick in seine so ungemein facettenreiche, wi- ‚Pink-Dream-Liga‘„ (S. 146-150) und Michael Horenis derspruchsvolle und zugleich populistisch charismatische „Alles noch viel toller“ (S. 151-155) als Festrede des Bun- Persönlichkeit geben, eine Selbstaussage, die auch Peter deskanzlers zum 100. Geburtstag der Bundesliga am 24. Bizer referiert (S. 171): „Vielleicht sind ihm, dem Rast- August 2063. losen, diese Zustände immer bedrohlicher, auch unwirk- Das absolute Highlight (oder: mein absolutes Highlight) licher vorgekommen. Der Zeit gegenüber hat er solche der Anthologie sind die Briefe der Bundeskanzlerin an Gedanken angedeutet, als er sagte, es gäbe mehrere Uli Bastian Schweinsteiger während der Fußballweltmeister- Hoeneß: den seriösen Geschäftsmann bei Bayern und in schaft in Südafrika (S. 75-94). Stil, Wortwahl und die seiner Wurstfabrik. Dann den privat sehr konservativen pointierten, entlarvenden Vergleiche mit den unmittel- Hoeneß, der sein Geld klassisch und langfristig anlegt. baren politischen (und privaten) Kontexten, all diese In- Und zum Dritten den Hoeneß, der dem Kick nachjage dizien wie auch der Titel „Die Liebe ist rund“ der Brief- und ins Risiko gehe.“ (ub) sammlung sprechen eine deutliche Sprache: Die Briefe 70 3 I 2014 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 70 27.05.14 | KW 22 15:35
sport | fussball bieten ‚fast voyeuristische‘, authentische Einblicke in die David Beckham, David Beckham, München: riva Verlag, für den Fußball und Bastian Schweinsteiger so offene 2014, 288 S. ISBN 978-3-86883-386-7. EUR 24,99 und – diskret zurückhaltend formuliert – eingenommene Bundeskanzlerin. Auf den ersten Blick irritierend wirkt Vor gut einem Jahrzehnt veröffentlichte David Beckham da nur die kleine, fast unschuldige Klassifizierung „fikti- seine – gemeinsam mit dem bekannten Sportjournalisten ve Liebesbriefe“ (S. 75). Die geradezu entgegengesetzte Tom Watts geschriebene – Autobiographie My Side (2003), Strategie, für offenkundig sensationelle Informationen, die im März 2004 mit dem British Book Award, einem über- für das Erzählen seltsamer Abenteuer, für die Wahl un- aus respektablen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde und gewöhnlicher Erzählperspektiven als Authentizitätsbestä- mittlerweile auch kommerziell das erfolgreichste Fußball- tigung fiktiver mündliche Berichte (z.B. Thomas Morus’ buch Englands ist.1 Die Auszeichnung mit dem British Book Utopia) oder fiktive Manuskripte (z.B. Thomas Elyots The Award ist eine Reaktion auf David Beckhams Autobiogra- Image of Governance, Umberto Ecos Der Name der Rose, phie, verhaltene oder teils sogar vernichtende Kritik eine oder Margaret Georges The Autobiography of Henry VIII andere, wie die Besprechung von Sean O’Brien (The Inde- with Notes by his Fool, Will Somers) zu erfinden, ist seit pendent, 03.10.2003) exemplarisch verdeutlichen mag: „[…] dem 16. Jahrhundert fester Bestandteil der Weltlitera- Beckham has nothing to say. Why should he have? He’s a tur. Sollte im vorliegenden Fall der Liebesbriefe Angela footballer, not a writer. […] Tom Docherty, when managing Merkels eine Inversion dieser klassischen Authentizitäts- Chelsea, was once asked about one of his players’ interests sicherungsstrategien vorliegen, indem offenkundig au- outside football. ‚Wanking and comics,’ he replied. Beckham thentische Briefe in postmoderner literaturtheoretischer has more to offer, but no particular interest in the language Parodierung traditioneller Erzähl- und Strukturmuster als with which to do it“. Dennoch wird man festhalten dürfen, fiktiv ausgegeben werden? Eine solche Inversion traditio- dass My Side eine durchaus überzeugende Selbststilisierung neller Muster würde vorzüglich zum Design der Antholo- Beckhams als „hard-working, devoted family man“ bietet, gie passen; zugleich könnte die fiktive Etikettierung „fik- dessen fußballerische Begabung ihn, verknüpft mit seinem tive Liebesbriefe“ eine ganze Reihe konkret praktischer Aussehen und dem Geschäftssinn seiner Frau zu der Pop- juristischer Probleme (Briefgeheimnis, Besitz der Briefe, Ikone des Weltfußballs hat werden lassen. Und dennoch vielleicht sogar ein Bundestagsuntersuchungsausschuss wirken die knapp 500 Seiten Erzählung gleichsam „weich- als Folge einzelner „Enthüllungen“?) entschärfen. Letzte gespült“, verweigern sich dem voyeuristischen Blick auf pi- Gewissheit, ebenfalls Symptom postmoderner Mentalität, kante Einzelheiten aus dem Privatleben, lassen die schlech- lässt sich natürlich nicht gewinnen, was bleibt sind (zeit- ter und schlechter werdende Beziehung zu Alex Ferguson los?) bedeutsame Erkenntnisse einer klugen, ihre Ana- weitgehend unkommentiert2 und analysieren das hoch sen- lysen prägnant, wenngleich nicht immer diplomatisch sible Innenleben der jeweiligen Mannschaften kaum3. formulierenden Bundeskanzlerin, die auch über den un- Diese ‚reduzierte‘ Selbstinszenierung David Beckhams steht mittelbaren zeitgeschichtlichen Kontext hinaus eine be- – angereichert mit einer Vielzahl von großformatigen Fotos achtliche argumentative Reichweite entfalten: „Natürlich (teils nach- und detailkoloriert) – ebenfalls im Mittelpunkt geht es in der Regierung eines temperamentvollen Landes der 2013 (bei Headline) veröffentlichten Bilanz seiner Fuß- auch mal drunter und drüber, das ist doch ganz normal! ballerkarriere (David Beckham), bei dessen Manuskriptge- Wenn wir die Deutschen von früher wären, dann wäre staltung ihm die Unterstützung des Journalisten Matthew alles langweilig mit Dienst nach Vorschrift, aber seitdem Syed zuteil wurde (S. 4), und die explizit keine weitere Au- ich eben die Zügel mal bewusst etwas lockerer gelassen tobiographie sein soll: „Stattdessen wollte ich einige der habe in der Regierungsarbeit, spielen wir plötzlich auch intensivsten Momente meiner Karriere in Bildern wiederauf- viel lockerer und temperamentvoller Fußball! Ist Dir der leben lassen und erzählen, was ich in diesen Momenten Zusammenhang schon aufgefallen? Ich stehe einem süd- gefühlt habe“ (S. 9). amerikanischen, asiatischen, man kann auch sagen mus- Genau dieses, die Höhepunkte der beeindruckenden Karriere limischen Regierungsstil viel näher, als das Seehofer und David Beckhams und seine Gefühle primär in vielen Bildern Westerwelle begreifen können! Das kannst Du mal im bilanzierende ‚Erzählung‘, ist das zu besprechende Buch, Interview nach dem Spiel bei Netzer und Delling sagen, die deutsche Übersetzung des 2013 bei Headline erschie- dass ihr im Prinzip alle spielt wie Angela Merkel, dann nenen englischen Originals. Der durchweg knappe Text, die checkt es vielleicht auch endlich mal meine idiotische 1 Vgl. David Beckham & Tom Watt, My Side, 2. Aufl. (London, 2004), Koalition!“ (S. 92). mit den sympathischen Schlusssätzen der ‚Acknowledgements’ (IX-X): Insgesamt kann man dem Buch nur viele Leser wünschen, „Thanks, as well, to all the players I’ve been privileged to play alongside die abschließend auch – nach wiederholten autobiogra- for Manchester United, Real Madrid and England. Whatever I‘ve done has only been possible because of the talent, commitment and inspira- phischen Erfahrungen zu früher Morgenstunde, in bester tion of the other ten”. Tradition des new historicism ausgewertet – „gewarnt“ 2 Vgl. die – freudianisch gefärbte – Analyse von O’Brien (2003): „And then werden müssen: Die Lektüre dieses Buches z.B. in öffent- he [Beckham] got away from Ferguson into a place beyond football: lichen Verkehrsmitteln, seien es Bus oder Bahn, machen the realm of fashion, music and marketing, which Ferguson despised. In My Side Ferguson accuses Beckham of babysitting while Victoria was den Leser in doppelter Weise zu einem leibhaftigen Reprä- out ‘gallivanting’ – and a chasm of age and belief opens, across which sentanten kultureller Alterität, kulturellen Andersseins: Er Beckham politely rebukes the boss for insulting his wife. For both men liest keine Emails oder ein E-Book, sondern ein wirkliches success has come at a painful price – the loss of the son, the exposure of the father’s weakness”. gebundenes Buch und er hebt sich mit seinem unvermeid- 3 Vgl. die schöne Formel von O’Brien (2003): „Many football clubs present lichen Schmunzeln, Lächeln und Lachen von vielen seiner themselves as families, but they often bear more resemblance to the Mitfahrer ab. (ub) Borgias than the Waltons“. 3 I 2014 71 FBJ_3_2014_Inhalt_RZ.indd 71 27.05.14 | KW 22 15:35
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