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ZEITSCHRIFT DES INTERDISZIPLINÄREN ZENTRUMS FÜR GESCHLECHTERFORSCHUNG IZFG Herbst 2021 #37 genderstudies
INHALTSVERZEICHNIS EDITORIAL Jahr der Jubiläen 1 SCHWERPUNKT: FRAUENSTIMMRECHT Fortschritte, Rückschläge und die wichtige 2 Rolle des öffentlichen Drucks Migration und Gleichberechtigung 5 Jetzt ist alles gut! Oder? 7 Interview mit Dr. Fabienne Amlinger zur 11 Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus!" AUS DEM IZFG Projektbericht: Eine App für die Frauenrechte 14 Jubiläum: 20 Jahre IZFG 16 Projektbericht: Ökonomien der Unterbringung 18 von Kindern in Pflegefamilien Projektbericht: Vom Glück vergessen – Betroffene 19 von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Gewinner Barbara-Lischetti-Preis 2020 20 Fachtagung SGGF, 26./27. November 2021 21 LEHRE AM IZFG Master Minor und Graduate School 22 Gender Studies Ich studiere Gender Studies! 23 Dissertationsprojekt: Drag-Performer*innen 24 als angebliche Huren GENDER AN DER UNI BERN Portrait: Dr. Berna Özdemir, Oberärztin 25 Universitätsklinik Inselspital Gender-Facts an der Uni Bern 26 Abteilung für Gleichstellung: Die erste 27 feministische Sommeruni in Bern! SONSTIGES Q&A: Frag Dr. Gender! 29 Rätsel: Kreuzworträtsel Frauenstimmrecht 30 REZENSION Werner Seitz: "Auf die Wartebank geschoben. 32 Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900" PUBLIKATIONEN Gruss aus der Küche 33 Jeder Frau ihre Stimme 33 IMPRESSUM HERAUSGEBERIN Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern IZFG Mittelstrasse 43, 3012 Bern, www.izfg.unibe.ch REDAKTION Fabienne Amlinger, Monika Hofmann, Janine Lüthi BILDER Christine Moor / TITELBILD Monika Hofmann ILLUSTRATION Franziska Nyffeler LAYOUT Monika Hofmann GESTALTUNG grafikwerkstatt upart, blau, Bern DRUCK Vetter Druck AG, Thun AUFLAGE 1150 Exemplare PAPIER PlanoJet, FSC-zertifiziert ISSN-NR. 1663-7879
EDITORIAL Jahr der Jubiläen I Monika Hofmann Liebe Leser*innen 2021 ist das Jahr der Jubiläen – jedenfalls hinsicht- lich gleichstellungspolitischer Errungenschaften und Geschlechterforschung an der Uni Bern. 50 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht in der Schweiz, 40 Jahre Gleichstellungsartikel in der Bundesver- fassung, vor 30 Jahren streikten Schweizer Frauen gegen mangelhafte Fortschritte in der faktischen Gleichstellung und vor 25 Jahren trat das Schwei- zerische Gleichstellungsgesetz in Kraft. An der Universität Bern wurde vor 31 Jahren die Abtei- lung für Gleichstellung gegründet und das IZFG feiert sein 20-jähriges Bestehen. Wobei "feiern" nicht der passende Ausdruck ist. Nach über einem Jahr Home-Office und Online-Teamsitzungen kommt auf Distanz nicht so richtige Feierlaune auf. Deshalb jubilieren wir etwas stiller, aber nicht minder stolz. Die Seiten 16 und 17 dieser Zeitschrift sind dem Ausstellungen, wie an die Einführung des Frauen- IZFG-Jubiläum gewidmet. Wir bedanken uns an stimmrechts in der Schweiz erinnert wird und ob dieser Stelle sehr herzlich bei unseren beiden Mitar- dieser Jahrestag ein Grund zum Feiern sei (S. 7-10). beiterinnen Julia Egenter und Vanessa Näf für den Im Interview auf den Seiten 11-13 erzählt die Histo- wundervollen Text über das IZFG. Auch der Illustra- rikerin und Kuratorin Fabienne Amlinger von der torin, Franziska Nyffeler, sei ganz herzlich gedankt. Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus!" und davon, Sie hat die Doppelseite für uns gestaltet. weshalb der Kampf um Gleichstellung noch nicht zu Ende ist. Inhaltlich ist das vorliegende Heft dem Thema "50 Jahre Frauenstimmrecht" gewidmet. Der Politologe Ausserdem erfahren Sie in dieser Zeitschrift, wer Werner Seitz berichtet auf den Seiten 2-4 von der den Barbara-Lischetti-Preis 2020 gewonnen und Entwicklung der Frauenrepräsentation in den poli- was an der ersten feministischen Sommeruni Bern tischen Institutionen auf kantonaler und eidgenös- im Juni 2021 stattgefunden hat. Zudem beantwor- sischer Ebene. Weshalb Migration viel dazu beige- ten wir in der Rubrik "Frag Dr. Gender!" unter ande- tragen hat, die Verhältnisse in Arbeitswelt, Bildung rem die Frage, warum sich viele Männer so lange und Politik zugunsten von Frauen zu verändern, gegen das Frauenstimmrecht gewehrt haben. Wir erörtert die Historikerin Francesca Falk auf den wünschen Ihnen, liebe Leser*innen, eine anregende Seiten 5-6. Vier Studierende fragen anhand von vier und erfrischende Lektüre. Bildkonzept Die in der vorliegenden Ausgabe von genderstudies abgedruckten Bilder geben Ihnen einen Einblick in die Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht". Noch bis am 14. November 2021 kann die Ausstellung im Bernischen Historischen Museum besucht werden. Die Fotos wurden uns vom Museum zur Verfügung gestellt, wir bedanken uns ganz herzlich dafür. Fotos: Christine Moor genderstudies #37 Herbst 2021 1
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT Fortschritte, Rückschläge und die wichtige Rolle des öffentlichen Drucks Die Entwicklung der Frauenrepräsentation in den politischen Institutionen auf kantonaler und eidgenössischer Ebene, von 1971 bis 2021. I Werner Seitz* Als wichtigste Faktoren, welche die Wahl von onen nahmen die Frauen später und in geringerer Frauen in die politischen Institutionen beeinflussen, Zahl Einsitz. Zwar schaffte es 1971 die Genfer Frei- gelten die Parteien, der Wahlmodus und die öffent- sinnige Lise Girardin als erste und einzige Frau in lichen Diskussionen. Beim Faktor 'Parteien' spielen den Ständerat. Sie wurde aber 1975 wieder aus der die Werte, welche die Parteien vertreten, eine Rolle, kleinen Kammer abgewählt. 1979 und 1983 wurden namentlich die Haltung zur Gleichstellung. Ein Blick je drei Ständerätinnen gewählt und 1987 fünf. auf die gewählten Frauen zeigt: je konservativer und weiter rechtsstehend sich eine Partei positioniert, Erste Frau in einer Kantonsregierung war die Zürcher desto geringer deren Frauenvertretung. Sozialdemokratin Hedi Lang (1983). 1986 gelang in Bern der Grünen Leni Robert und in Freiburg der Der Proporz gilt als 'frauenfreundlicher' Wahlmodus. CVP-Vertreterin Roselyne Crausaz der Sprung in die Von Anfang an schafften die Frauen die Wahl in Exekutive. 1987 hatten fünf Frauen in Kantonsregie- den Nationalrat und in die kantonalen Parlamente. rungen Einsitz (Frauenanteil 3 Prozent). Bei den Wahlen in den Ständerat und in die kanto- nalen Regierungen, bei denen die Sitze meistens Es gab verschiedene Versuche der Parteien aus dem nach Majorz vergeben werden, waren dagegen die Mitte-links-Spektrum, eine Frau in den Bundes- Hürden grösser. rat zu bringen; sie blieben aber alle erfolglos. Gross war die Empörung, als die Bürgerlichen Ende 1983 Dass breite öffentliche Diskussionen über die Unter- anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchten- vertretung der Frauen in der Politik Wirkung haben, hagen den früheren Solothurner SP-Nationalrat zeigte sich deutlich in den 1990er Jahren, im Zuge Otto Stich wählten. Kritisiert wurde namentlich die des ersten nationalen Frauenstreiks und der gros- ungebührliche Art, wie Lilian Uchtenhagen behan- sen Empörung über die Nichtwahl von Christiane delt wurde. 1984 wurde schliesslich mit der Zürcher Brunner in den Bundesrat. 2019 fand eine weitere Freisinnigen Elisabeth Kopp die erste Frau in den öffentliche Diskussion statt, mit dem zweiten natio- Bundesrat gewählt. Sie stolperte jedoch über die nalen Frauenstreik und den vielfältigen Aktivitäten Geschäfte ihres Ehemanns Hans W. Kopp, dem sie von "Helvetia ruft!". Wie in den 1990er Jahren stieg warnende Hinweise gegeben hatte. Im Februar 1989 die Frauenvertretung in Regierung und Parlament trat sie aus dem Bundesrat zurück und der Bundes- markant an. rat war wieder ein reines Männergremium. Die 1970er und 1980er Jahre: Nur kleine Aufbau von öffentlichem Druck Erfolge Die 1990er Jahre waren hinsichtlich der Vergrösse- Bei den Wahlen in den Nationalrat und in die kanto- rung der Frauenrepräsentation das erfolgreichste nalen Parlamente reüssierten die Frauen auf Anhieb Jahrzehnt. Auftakt dazu war 1991 die eidgenös- mit einem Anteil von rund fünf Prozent. Das waren sische Frauensession, zu der die Bundesparlamenta- Wahlen in eher grosse Gremien, die nach dem rierinnen eingeladen hatten, sowie – und vor allem Proporzsystem bestellt wurden. Bis 1991 steigerten – der erste nationale Frauenstreik. Die neue Stärke die Frauen ihre Vertretung kontinuierlich auf 17,5 der Frauenbewegung zeigte sich bereits im Früh- beziehungsweise 15 Prozent. In den 1980er Jahren ling 1993 bei der Nichtwahl der offiziellen SP-Kandi- setzte eine parteipolitische Akzentuierung der Frau- datin Christiane Brunner in den Bundesrat. Anders enrepräsentation ein. Mit dem Aufkommen der als 1983 konnte nämlich der "wilde" SP-Kandidat Grünen und der Hinwendung der SP zu den neuen die Wahl nicht mehr annehmen. Die SP präsentierte Mittelschichten stieg bei diesen Parteien die Zahl darauf der Bundesversammlung einen Doppelvor- der gewählten Frauen deutlich an. Nur gering stei- schlag mit Christiane Brunner und Ruth Dreifuss. gerte sich dagegen die Frauenvertretung bei den Unter grosser Anteilnahme der Öffentlichkeit wurde bürgerlichen und vor allem bei den rechten Parteien. am 10. März 1993 die Genferin Ruth Dreifuss in den Bei den Wahlen in den Ständerat und in die kanto- Bundesrat gewählt. nalen Regierungen waren die Hürden grösser, nicht zuletzt auch weil deren Sitze meistens nach dem Rückenwind dank Frauenförderungsmass- Majorzsystem vergeben wurden – und auch mit nahmen mehr Prestige verbunden waren. In diese Instituti- In den 1990er Jahren erhielten auch die Frauen- 2 genderstudies #37 Herbst 2021
förderungsmassnahmen Aufwind. Verschiedene parlamentarische Vorstösse und Volksinitiativen verlangten die Einführung von Geschlechterquoten. Sie waren alle chancenlos, auf juristischer oder auf politischer Ebene. Die eidgenössische Volksinitia- tive "für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden" erhielt im März 2000 nur gerade 18 Prozent Zustimmung. Mit den verschiedenen Forderungen nach Geschlechterquoten wurde aber von vier (1991) auf elf (2003), womit ihr Anteil auf 24 zumindest erreicht, dass die Untervertretung der Prozent anstieg. Diese Steigerung war weitgehend Frauen in der Politik über längere Zeit ein öffentli- der FDP/LP zuzuschreiben; in der zweiten Hälfte der ches Thema blieb. 1990er Jahre stellte sie gar die Mehrheit der Stän- derätinnen. Ebenfalls zum Anstieg der Frauenver- Bereits in den 1980er Jahren entstanden mehrere tretung im Ständerat trug die SP bei. feministische Gruppierungen, die sich aktiv ins parteipolitische Feld einbrachten. In St. Gallen, Auch in den Kantonsregierungen erhöhte sich in den Luzern, Basel und in Zürich waren sie bei den städ- 1990er Jahren die Zahl der Frauen stark, von 5 auf 34 tischen und kantonalen Parlamentswahlen erfolg- (bzw. von 3 Prozent auf 21,5 Prozent). Wesentlichen reich. Als einzige holte die Zürcher FraP! ("Frauen Anteil an der Steigerung hatte – wie beim Ständerat macht Politik!") auch ein Mandat im Nationalrat: – die FDP/LP (+14 auf 15). Die SP steigerte ihre Frau- Christine Goll wurde 1991 gewählt und schaffte envertretung ebenfalls markant (+9 auf 11). 2003 1995 die Wiederwahl. 1997 wechselte sie zur SP. Um gehörten mehr als drei Viertel aller Regierungsrä- die Jahrtausendwende lösten sich die meisten Frau- tinnen der FDP/LP oder der SP an. enlisten auf, ausgenommen die "Politische Frauen- gruppe St. Gallen". Grösstes Verdienst der Frauen- Sechs Jahre nach der Wahl von Ruth Dreifuss, listen war, dass sie auf die ihnen nahestehenden nahm 1999 Ruth Metzler-Arnold (CVP, AI) in den Grünen und Linken inhaltlich Druck ausüben konn- Bundesrat Einsitz. Ende 2002 folgte auf Ruth Drei- ten, die feministischen Postulate ernst zu nehmen. fuss die Genfer Staatsrätin Micheline Calmy-Rey. Den Wahlen dieser drei Frauen in den Bundesrat Mitte der 1980er Jahren kamen die getrennten ist gemeinsam, dass die Parteien der Vereinigten Wahllisten für Frauen und Männer auf. Besonde- Bundesversammlung "Tickets" mit ausschliesslich rer Beliebtheit erfreuten sich diese bei der SP, wo Frauenvorschlägen präsentierten. Bei den Gesamter- sie Ergebnisse erzielten, welche teilweise jene der neuerungswahlen des Bundesrates von 2003 griff Einheitsliste übertrafen. Auch bei den bürgerlichen die SVP mit ihrer Leitfigur, dem Zürcher Nationalrat Parteien gab es gelegentlich solche Wahllisten, ihre Christoph Blocher, den Sitz von Ruth Metzler-Arnold Wirkung blieb jedoch bescheiden. an und reüssierte dabei. Die 1990er Jahre: Starker Anstieg Die 2000er und 2010er Jahre: Abflachen In den 1990er Jahren stieg der Frauenanteil in den und Rückgang meisten politischen Institutionen markant an. 2003 In den 2000er und 2010er Jahren flachte das Wachs- waren 26 Prozent der Nationalratsmitglieder Frauen, tum der Frauenvertretung im Nationalrat sowie in das waren 8,5 Prozentpunkte mehr als 1991. Bei den den kantonalen Parlamenten und Regierungen ab. kantonalen Parlamentswahlen betrug der Frauenan- Im Ständerat sank gar die Zahl der Frauen von elf teil 24 Prozent (+9 Prozentpunkte). Bei den rotgrü- (2003) auf sieben (2015). Der Rückgang war weitge- nen Parteien erreichten die Frauen im Nationalrat hend auf die FDP/LP zurückzuführen, welche den annährend Parität. Bei der SVP, die in den 1990er starken Anstieg der Frauenvertretung im Ständerat Jahren zur mit Abstand stärksten Partei aufstieg, in den 1990er Jahren wesentlich geprägt hatte. betrug der Frauenanteil jedoch nur 5,5 Prozent. Ähnlich wie im Ständerat sank bei der FDP/LP Besonders ausgeprägt war der Vormarsch der Frauen auch die Zahl der Regierungsrätinnen (von 15 auf im Ständerat: Die Frauen vergrösserten ihre Präsenz 7). Dass der Frauenanteil in den kantonalen Regie- genderstudies #37 Herbst 2021 3
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT rungen insgesamt nicht kleiner wurde, war auf Stei- an. In drei Kantonen steigerte er sich um mehr als gerungen der Frauenvertretung bei der SP (+4) und zehn Prozentpunkte (BS, VS, NE); in Neuenburg den Grünen (+3) zurückzuführen. war sogar erstmals eine Frauenmehrheit in einem Kantonsparlament zu verzeichnen. Auch in den Bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrates Kantonsregierungen stieg die Frauenvertretung an vom Dezember 2007 wurde der bisherige SVP-Bun- (auf 27 Prozent). Mitte 2021 gab es in vier Kantons- desrat Christoph Blocher durch regierungen eine Frauenmehr- die Bündner SVP-Regierungs- heit (ZH, SO, TG, VD). rätin Eveline Widmer-Schlumpf "Eidgenössische Wahlen ersetzt. Als im September 2010 Die Frauenvertretung vergrös- die Berner Ständerätin Simo- 2019: Der Frauenanteil serte sich jedoch nicht über- netta Sommaruga (SP) für den erreichte im Nationalrat all. In zwei kantonalen Parla- zurückgetretenen Moritz Leuen- menten sank der Frauenanteil berger gewählt wurde, waren 42 Prozent und im Stän- um fünf Prozentpunkte (AG, die Frauen im Bundesrat erst- derat 26 Prozent." SZ); im Schwyzer Kantonsparla- mals in der Mehrheit. Diese ment machen die Frauen gerade endete jedoch bereits im Dezem- noch neun Prozent aus. Nachdem ber 2011, als die Genfer Sozialdemokratin Micheline 2014 noch in jedem Kanton mindestens eine Frau in Calmy-Rey zurücktrat und an ihre Stelle der Frei- der Exekutive vertreten war, gibt es zurzeit sieben burger Ständerat Alain Berset gewählt wurde. 2018 Kantonsregierungen ohne Frauen (LU, UR, AR, GR, schaffte es die FDP – erstmals seit dem Rücktritt AG, TI, VS). von Elisabeth Kopp –, mit der St. Galler Ständerä- tin Karin Keller-Sutter wieder im Bundesrat vertre- Die beträchtlichen Fortschritte der letzten Jahre ten zu sein. dürfen also nicht dazu verleiten, über gewisse Rück- schritte hinweg zu sehen. Letztere sollen vielmehr Die eidgenössischen Wahlen 2019: Phäno- daran erinnern, dass Gleichstellung nicht ein für menale Steigerung alle Mal hergestellt, sondern eine Daueraufgabe ist. Im Zuge des zweiten nationalen Frauenstreiks und der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von "Helvetia ruft!" stieg die Frauenvertretung bei den eidgenös- Literatur sischen Wahlen 2019 um je rund zehn Prozentpunkte Amlinger, Fabienne: Im Vorzimmer der Macht? Die Frauenorganisa- an: Der Frauenanteil erreichte im Nationalrat 42 tionen der SPS, FDP und CVP, 1971-1995, Zürich 2017. Prozent und im Ständerat 26 Prozent. Bei den Natio- Bundesamt für Statistik (Hg.): Der lange Weg ins Parlament. Die nalratswahlen 2019 fand bei fast allen Parteien ein Frauen bei den Nationalratswahlen von 1971 bis 1991, Bern 1994. Vormarsch der Frauen statt. Bei der SP und bei den Grünen überschritt der Frauenanteil die 60-Prozent- Cowell-Meyers, Kimberly B.: "The Women's Movement Knocks on Marke. Bei den Grünliberalen erreichten die Frauen the Door: Theorizing the Strategy, Context and Impact of Frauen Macht Politik (FraP!) on Women's Representation in Swiss Politics", Parität. Eine beträchtliche Steigerung erfuhren die in: Politics & Gender, 2020, H. 1, S. 48-77. Frauenanteile auch bei der FDP (auf 34,5 Prozent) und bei der SVP (auf 24,5 Prozent). Dagegen sank Gysin, Nicole: Angst vor Frauenquoten? Die Geschichte der der Frauenanteil bei der CVP, zum ersten Mal seit Quoteninitiative 1993-2000, Bern/Wettingen 2007. 1999, unter dreissig Prozent. Seitz, Werner: Die Frauen bei den eidgenössischen Wahlen 2019: Ein grosser Schritt nach vorne – im Bundeshaus. Mit einem Exkurs Bei den Ständeratswahlen 2019 erreichte die Frau- zu den Frauen bei den Wahlen in die kantonalen Parlamente und Regierungen 2015/2019. Im Auftrag der Eidg. Frauenkommission envertretung mit zwölf Ständerätinnen ihren bishe- für Frauenfragen EKF, Bern 2020. rigen Höchststand (26 Prozent). Dafür verantwort- lich waren die Frauen der CVP (+2 auf 4) und vor Seitz, Werner: Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die allem der Grünen (+4). politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900, Zürich 2020. Permanente Aufmerksamkeit ist nötig Der Vormarsch der Frauen in den politischen Insti- *Dr. Werner Seitz ist Politologe. Er leitete über zwanzig Jahre lang tutionen setzte sich auch nach den eidgenössischen im Bundesamt für Statistik die Sektion "Politik, Kultur, Medien" und ist heute in der Politikanalyse und Politikvermittlung tätig. 2020 Wahlen in den kantonalen Parlamenten und Regie- erschien sein Buch "Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um rungen fort. Bis im Sommer 2021 wuchs der Frau- die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900". enanteil in den Kantonsparlamenten auf 32 Prozent Eine Rezension dazu finden Sie auf Seite 32 dieser Zeitschrift. 4 genderstudies #37 Herbst 2021
Migration und Gleichberechtigung Migration wird heute oft als Gefahr für die Gleichberechtigung der Geschlechter gesehen. Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt allerdings, dass Migration im Gegenteil viel dazu beigetragen hat, die Verhältnisse in Arbeitswelt, Bildung und Politik zugunsten von Frauen zu verändern. Der vorliegende Artikel wurde erstmals am 4. November 2018 auf geschichtedergegenwart.ch veröffentlicht. I Francesca Falk* Dass sich Migration nachteilig auf die Emanzipa- terkinder, doch mit den "Ausländerkindern" wuchs tion der Frauen auswirke, ist kein neues Argument, der Bedarf signifikant. Noch bevor sich die gesell- aber ein falsches. Es prägt die öffentlichen Debatten schaftlichen Werte wandelten – die Fremdbetreu- seit den 1960er Jahren. In dieser Zeit wurden Italie- ung von Kindern war damals in der Schweiz stark nerinnen und Italiener ähnlich wahrgenommen wie stigmatisiert –, bestand also ein praktischer Zwang die muslimische Bevölkerung heute. Mit Unbehagen für den Ausbau von Krippen, weil die 'ausländischen' blickte man damals auf die vergleichsweise höhere Arbeiterfrauen in der Wirtschaft gebraucht wurden. Kinderzahl italienischer Familien und sprach von der drohenden "Italianisierung" der Schweizer Bevöl- Mit den Auswirkungen der beiden Ölkrisen in den kerung. Auch erregte es Unmut, dass viele Italiener 1970er Jahren änderte sich die Situation. In diesen Bahnhöfe als Treffpunkte nutzten – denn sie standen Rezessionsjahren mussten zahlreiche Migrantinnen im Ruf, Schweizerinnen zu belästigen. 1983 weigerte und Migranten in ihre Heimatländer zurückkeh- sich eine Imbissstube in der Stadt Wil, italienische ren. Die im Zuge der Nachkriegsmigration etablierte Gäste im vorderen Teil der Räumlichkeiten zu bedie- Betreuungsstruktur wurde nun vermehrt von der nen – mit der Begründung, dass unbegleitete Frauen Schweizer Mittelschicht genutzt und im Laufe es sonst nicht wagen würden, einzutreten. der 1980er Jahre langsam breiter akzeptiert. Die Existenz von Kinderkrippen führte also, zusammen Vor diesem historischen Hintergrund ist es wenig mit anderen Einflüssen wie etwa der neuen Frauen- erstaunlich, dass die Nachkriegsmigration in der bewegung, dazu, dass es im Laufe der Zeit zu einer wissenschaftlichen Literatur lange als "einseitige Normalisierung ausserhäuslicher Kinderbetreuung Emanzipationsgeschichte" erzählt wurde: Italie- kam. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nische Frauen hätten demnach erst in der "moder- veränderte Lebensstile, auch unfreiwillig prakti- neren" Schweiz ihre Freiheit entdeckt. Dabei ging zierte, zum Ausbau von Infrastrukturen beitragen und geht vergessen, dass Frauen in Italien in vielen und sich Dynamiken entfalteten können, die langfri- Bereichen bessergestellt waren als in der Schweiz. stig eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Das Frauenstimmrecht galt dort seit Ende des Zwei- Situation bewirken. ten Weltkriegs und auch die Geschlechtergleichheit wurde viel früher in der Verfassung verankert. Die Zugang zur Hochschulbildung und poli- Italienerinnen trafen also in der Schweiz in vielerlei tische Partizipation Hinsichten auf eine rückständige Situation. Die Schweiz hat als eines der ersten Länder Euro- pas Frauen den Zugang zu Universitäten gewährt. Ausbau der Kinderkrippeninfrastruktur Es waren allerdings Studentinnen aus Russland, die In Sachen Gleichstellung war und ist die Schweiz sich in der Schweiz den Zugang zur höheren Bildung in vielerlei Hinsicht eine Nachzüglerin, wobei in erkämpften. An der Universität Zürich waren es der wissenschaftlichen Literatur allgemein ange- zudem vor allem geflüchtete deutsche Professoren, nommen wird, dass die "Gastarbeit" die traditi- die sich für das Frauenstudium stark machten. Auch onellen Geschlechterrollen und ein bürgerliches wenn es zu diesen Vorgängen inzwischen exzellente Familienmodell noch verstärkt habe. Doch auch Studien gibt, ist dieses Wissen nur partiell in die diese Geschichte lässt sich anders erzählen, denn deutungsmächtigen Überblickswerke eingeflossen. der Anteil der Ausländerinnen an der weiblichen Erwerbsarbeit belief sich zwischen 1950 und 1960 Die frühen Akademikerinnen standen oft an der auf drei Viertel. In den so genannten "Boom-Jah- Spitze des feministischen Denkens, einige der ersten ren" stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit Studentinnen wurden später Schlüsselfiguren im von Beruf und Familie also gerade in migrantischen Kampf um politische Partizipation. Dass viele Frau- Familien. enstimmrechtspionierinnen Migrationserfahrung aufweisen, wurde bisher nicht systematisch reflek- Eine direkte Folge des hier virulenten Vereinbar- tiert und ist nicht Teil unseres Geschichtsbildes keitsproblems war, dass ausserhäusliche Betreu- geworden. Die federführende Beteiligung von Frauen ungsstrukturen für Kinder ausgebaut wurden. Zwar mit verschiedenen Arten der Migrationserfahrung öffneten bereits im 19. Jahrhundert Krippen für Arbei- am Kampf für das Frauenstimmrecht kann anhand genderstudies #37 Herbst 2021 5
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT mehrerer Ikonen der Schweizer Frauenstimmrechts- tik betrifft weit mehr Menschen als diejenigen, die bewegung aufgezeigt werden. gemeinhin als "Migrierte" gelten. Stellvertretend für andere soll das Beispiel von Otti- Wie die Vergangenheit erzählt und die lia Paky-Sutter genannt werden, die in Appenzell Zukunft vorgestellt wird Innerrhoden lebte, in jenem Kanton also, der als letz- Geschichte, die aus der Migrationsperspektive ter im Jahr 1990 und erst auf Druck des Bundesge- erzählt wird, kann das Selbstverständnis eines richts das Frauenstimmrecht einführte. 1978 grün- Landes wie der Schweiz verändern. Dabei geht es dete Ottilia Paky-Sutter eine Frauengruppe mit dem nicht einfach um das Hinzufügen einer Migrationsge- Ziel, das Frauenstimmrecht in Appenzell Inner- schichte zur so genannten "allgemeinen Geschichte". rhoden einzuführen. Paky-Sutter gehörte zu einer Migration ist nicht nur in den Blick zu rücken, wenn der bekanntesten Familien in Appenzell, denn sie explizit "Migration" darauf steht. Wir brauchen nicht besass ein Gasthaus, in dem in erster Linie eine Migra- sich die lokale Intelligenzija tionsgeschichte, die sich in traf. An der Landesausstellung Beiträgen findet, die dieses 1939 in Zürich traten die noch "Migrationspolitik betrifft Thema spezifisch adressieren, unverheiratete Ottilia Sutter weit mehr Menschen als vielmehr brauchen wir eine und ihre Schwester mit dem Migrantisierung der gesamten Festspiel "Me sönd halt Appe- diejenigen, die gemeinhin Geschichtsschreibung. zöller" auf. Als auch noch ein als 'Migrierte' gelten." Heimatfilm ("I han en Schatz Den Zusammenhang zwischen gha", 1941) folgte, verkörper- Migration und der Geschichte ten die jodelnden Schwestern der Gleichberechtigung in für ein breites Publikum "lokale Traditionen". Nur der Schweiz zu untersuchen, heisst nicht, Migra- wenige Jahre später änderte sich die Situation für tion zu glorifizieren oder behaupten zu wollen, dass Ottilia Paky-Sutter allerdings drastisch, denn sie Migration nie ein Hindernis für "Emanzipation" sein verlor 1947, nach ihrer Heirat mit einem Österreicher, kann. Migration per se ist weder gut noch schlecht. die Schweizer Staatsbürgerschaft. Laut Aussagen Aber die Bedingungen, unter denen sie stattfin- ihrer Tochter war dies der entscheidende Faktor für det, können eher gut oder eher schlecht sein. Diese das politische Engagement der Mutter – zumal für Bedingungen sind nicht einfach gegeben, sondern Ottilia Paky-Sutter diese Veränderung auch einen sie werden gemacht, gestaltet. Die Art der Gestal- sozialen Abstieg nach sich zog. Ihre ganze Fami- tung wiederum hängt auch davon ab, wie wir die lie musste wiedereingebürgert werden, eine sowohl vergangene und die gegenwärtige Migration wahr- erniedrigende als auch kostspielige Prozedur. Es war nehmen, ob wir zum Beispiel auch sehen, welchen mit anderen Worten diese "indirekte" Migrationser- Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung sie fahrung, die ihr politisches Engagement entfachte. leistete und leistet. Gerade deshalb ist es wichtig, diesen oft vergessenen Zusammenhang von Migra- Das Beispiel Ottilia Paky-Sutter zeigt, dass es tion und Emanzipation zu beleuchten. produktiv sein kann, auch solche indirekten Migrati- onserfahrungen und ihre Auswirkungen in die histo- rische Analyse einzubeziehen. Heute werden in der Schweiz weniger als die Hälfte der Ehen zwischen *Dr. Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern. Ihre Schwerpunkte umfassen u.a. Machtverhält- Schweizer Bürgerinnen und Bürgern geschlossen. nisse und ihre Kritik, Geschlechtergeschichte, Migration, Protest, Auch daher ist es wichtig, die Implikationen der Kolonialismus und seine Nachwirkungen sowie Public, Visual und Migration umfassender zu denken. Migrationspoli- Oral History. 6 genderstudies #37 Herbst 2021
Jetzt ist alles gut! Oder? 2021 jährt sich die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in der Schweiz zum fünfzigsten Mal. Anhand von vier Ausstellungen fragen wir uns, wie daran erinnert wird. Ist das Jubiläum ein Grund zum Feiern? Wie steht es um unsere Demokratie? Und: Ist jetzt alles gut? I Meret Aebi*, Nadin Bissig**, Lena Frey*** und Shabon Jones**** Bis 1971 durfte über die Hälfte der Schweizer Bevöl- Der zeitliche Bogen wird von der Aufklärung bis kerung weder abstimmen noch wählen. Aus heutiger zur Gegenwart gespannt. Unterstrichen durch zahl- Sicht erscheint das unverständlich. Eine Ungerech- reiche Ausstellungsgegenstände wie Original- tigkeit. Doch bis zum schweizweiten Stimm- und texte, Mobiliar oder Modestücke beleuchten die -wahlrecht für Frauen im Jahr 1971 war dies die Kurator*innen die zivilrechtliche, soziale und wirt- Realität für Frauen in der Schweiz. Heute, im Jahr schaftliche Stellung von Frauen. Neben dem Fokus 2021, jährt sich das Frauenstimm- und -wahlrecht auf die Internationalität der Forderung nach poli- zum fünfzigsten Mal. Des Jahrestages erinnern sich tischen Rechten der Frauen zeichnet die Ausstel- verschiedene Veranstalter*innen und Museen. Jubi- lung den Blick von Philosophen, Intellektuellen und läen sind Teil der Erinnerungskultur und -politik. Sie Medizinern verschiedener Epochen auf Frauen nach. bieten einer Gesellschaft und deren Individuen Gele- So galten Frauen als Anomalität im Vergleich zu genheit, zentrale Momente und Ereignisse der eige- Männern. Zahlreiche wissenschaftliche Traktate nen Geschichte zu reflektieren und zu formen.1 Wie wie "Geschlecht und Charakter" oder "Über den und woran wird heuer im Kontext des Frauenstimm- physiologischen Schwachsinn des Weibes" sorgen rechts erinnert? heutzutage für Kopfschütteln. Kurzum: Es gibt viel zu lesen, hören und bestaunen in dieser multimedi- Auf der Webseite des Vereins CH20212 finden sich alen Ausstellung. zahlreiche Anlässe zu diesem Thema: Darunter etwa Ausstellungen wie "Neue PERSPEKTIVEN: Frauen Am Ende des Rundgangs steht die Chaiselongue in Zermatt – gestern und heute" (Zermatt), "Lau- von Pipilotti Rist, die sonst im Lichthof der Universi- sanne à pied – Et enfin les femmes votent" (Lau- tät Zürich zu finden ist. Sie lädt dazu ein, das Gese- sanne), "Frauen. Die bunte Welt der Plakate von 1920- hene und Gehörte setzen zu lassen. Nachzudenken 1971" (Arbon), "Weibchen, Männchen, was soll's" – auch darüber, was nicht gezeigt wurde. Mit dem (Luzern) und etliche andere. Im Rahmen dieses Blick bewusst in die Vergangenheit gerichtet, wird Kulturangebots haben wir vier Veranstaltungen die Frage, ob jetzt denn alles gut sei, nur vage und besucht, welche wir nun vorstellen. zurückhaltend thematisiert. Eben deshalb verpasst die Ausstellung die Chance, Farbe zu bekennen. Brechstange in Blumenform: Destination Was sind die Baustellen der heutigen Gesellschaft? Landesmuseum Zürich Wie steht es um Inklusion? Hierbei wird es den Besu- "Frauen.Rechte" will aufzeigen, in welchen Bereichen cher*innen selbst überlassen, ob sie darüber nach- Frauen aufgrund ihres Geschlechts weniger Rechte denken wollen oder nicht. besassen als Männer. Bereits die vielen Stufen, die vor dem Ausstellungsbesuch im Landesmuseum Im Bundeshaus: Destination Bernisches erklommen werden müssen, stehen sinnbildlich für Historisches Museum den beschwerlichen Weg Richtung Gleichstellung. Frauen gehören ins Bundeshaus. Heute mag dies Ist die letzte Stufe geschafft, gilt es erstmal kurz selbstverständlich sein, bis 1971 war das jedoch zu verschnaufen. Doch lange durchatmen können unvorstellbar. Die Ausstellung des Bernischen Histo- die Besucher*innen nicht. Mit dem krachenden rischen Museums berichtet über die Geschichte Einstieg "Ever is Over All" der Künstlerin Pipilotti der Frauen im Bundeshaus nach 1971. Wie erging Rist und lautstark zerberstenden Autoscheiben, es diesen im Bundeshaus? Der Schwerpunkt die eine junge Frau in wallendem Kleid mit einer liegt auf den Erinnerungen und Erfahrungen von Brechstange in Blumenform zertrümmert, setzt die zwölf interviewten Politikerinnen, darunter auch Ausstellung den Akzent auf den jahrhundertelangen frühe Parlamentarierinnen und die ersten beiden Kampf von Frauen um ihre Rechte. Bundesrätinnen. Die Videostationen zeichnen die unterschiedlichen Eindrücke von Bundespolitike- genderstudies #37 Herbst 2021 7
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT Drei rote Blitze: Destination Strauhof Zürich "Iris von Rotens 'Frauen im Laufgitter' (1958) ist ein ungeheures Werk – witzig und wütend zugleich, unschweizerisch polemisch und dabei äusserst gründlich recherchiert. In vielen Thesen bleibt es hochaktuell."3 So umreisst die Homepage vom rinnen während der vergangenen 50 Jahre genauso Museum Strauhof in Zürich die Ausstellung "Iris von nach wie die Siege und Niederlagen, die in dieser Roten – Frauen im Laufgitter". Sie folgt der Entste- Zeit bezüglich Gleichstellung zu verzeichnen waren. hung des Werks und den Reaktionen darauf in der Zu Beginn hängen zwei Plakate mit demselben Schweizer Presse chronologisch, befasst sich jedoch Inhalt: Frauen können keine Politik betreiben! So ist auch mit der Frage nach dem Ausgangspunkt – also auf dem einen eine ältere, magere Frau mit Gesichts- der Situation der Frauen in den 1950er Jahren – dem behaarung abgebildet mit der Inschrift "Wollt Ihr Inhalt und der Wirkung des Werks. solche Frauen? NEIN zum Frauenstimmrecht". Auf dem zweiten sind eine Frau und ein ängstliches Kind Beim Betreten der Ausstellung fällt der Blick auf eine zu sehen, die von Händen, welche für verschiedene riesige rote Spinne, deren Beine wie Blitze von ihrem Parteien stehen, gepackt werden. Die Botschaft: "Si Mittelpunkt weggehen. Dort – im Mittelpunkt – liegt vous ne voulez pas ça! Votez NON contre le suffrage das Originalmanuskript. Die Blitze erinnern daran, féminin." Die Ausstellung geht nicht weiter auf diese was für eine Wirkung dieses Buch hatte. Im selben Plakate ein, denn zu offensichtlich erscheint heute, Raum machen an Wänden hängende Texte und dass Frauen durch Politik weder zu männerähn- Comics den Besuchenden die Inhalte und die Aktu- lichen Gestalten werden noch schadet ihre poli- alität des Werks zugänglich. Die Ausstellung arbei- tische Teilnahme Familien und der Gesellschaft. tet auch mit Bildern und Videoinstallationen, welche Ein anderes Klischee versteckt sich in Gestalt von ganz allgemein die Frauen und deren Situation in farbigen Blumenbouquets, die einzeln während der den 1950er Jahren inszenieren. Spezifischer wird es Ausstellung auftauchen. Den Frauen wurden nicht beispielsweise durch einen ausgestellten Zeitungs- nur immer Blumen geschenkt, sie wurden auch als ausschnitt, der über den Vorfall von 1955 berichtet, zarte Blumen gesehen und als solche behandelt. als Iris von Roten von der Polizei aufgegriffen wurde – einfach, weil sie als Frau nachts alleine unterwegs "Es bleibt viel zu tun, bis das Versprechen der Demo- war. kratie vollständig eingelöst ist", erklärt eine der Poli- tikerinnen. Den Besucher*innen wird hier in Erin- Die Ausstellung bleibt jedoch nicht beim Werk und nerung gerufen, dass wir nicht nur für Frauenrechte der Person von Rotens stehen, sondern wirft auch kämpfen, sondern überhaupt durch sie – zumindest einen Blick auf Frauen vor und nach ihr, die ihre was Geschlechter betrifft – zu einer eigentlichen Rechte und Freiheit eingefordert haben. Einer der Demokratie werden. Es könnte gesagt werden, die Räume trägt an der Wand grosse, rote Buchstaben, Ausstellung rüste uns mit Mut und Willensstärke die verkünden: "No wonder feminism causes fear; aus, dem Kampf beizutreten und unseren Anteil zu together, we are dangerous". Hier sind insgesamt 13 leisten. Frauen vor und nach Iris von Roten porträtiert, unter 8 genderstudies #37 Herbst 2021
anderem Audre Lorde, Eve-Claudine Lorétan "Coco" oder Sara Ahmed. Iris von Roten wird somit in eine Linie von Vor- und Nachkämpferinnen und Denke- rinnen gesetzt. Der Raum erinnert uns daran, eben- falls immer weiter zu kämpfen. "Mal möchte sie [die*der Leser*in] diese Schreiberin Unter den Frauen befinden sich Hebammen, Kloster- schütteln, die Frauen und Männer immer nur durch frauen, Wirtinnen, Botschafterinnen und Prostitu- eine Linse sehen will, und gleich darauf verzweifelt ierte, die alle eine Geschichte zu erzählen haben. sie an ihrer Heimat, die sich mit solchen Zuständen Diese Vielfalt ist dank der Zusammenarbeit von so lange abfand. Sind manche der Einsichten veral- Historiker*innen, Soziolog*innen, Naturwissen- tet? Ganz bestimmt. Sind andere bestürzend aktu- schaftler*innen sowie Lehrpersonen aus verschie- ell? Allerdings".4 Die Ausstellung zeigt anhand des denen Kantonen zustande gekommen. Die Portraits Werkes "Frauen im Laufgitter", wenn auch indirekt, zeigen jeweils sehr subjektive und persönliche wie gewisse Aspekte überholt, andere jedoch immer Ansichten und verweisen auf die Wichtigkeit der noch hochaktuell sind. Unsere Aufmerksamkeit wird Frau in der Schweizer Gesellschaft. So sagt etwa darauf gerichtet, dass es Frauen wie Iris von Roten eine der portraitierten Frauen, Elisabeth Pletscher: braucht, die am Status quo rütteln und uns noch "Ohne Männer geht viel, ohne Frauen gar nichts".5 heute zum Nachdenken anregen. Einige Portraits zeigen den Kampf um die Gleich- Eine Widmung: Destination Stadt Bern stellung der Frauen und um die Chancengleichheit Anders als traditionelle Ausstellungen in Museen in der Politik, der Bildung oder in der Gesellschaft bietet "Hommage 2021" in der Berner Altstadt allgemein. Dieser Kampf zieht sich durch die ganzen freien Zugang. Mit QR-Codes können Interessierte 100 Jahre und macht ersichtlich, dass der Weg zur 52 Portraits von Frauen betrachten, welche in den Gleichstellung der Geschlechter noch ein weiter ist. verschiedensten Bereichen Besonderes geleistet haben. Die Pionierinnen werden mit einer Panora- Und jetzt? ma-Projektion auf dem Bundesplatz geehrt und sind In diversen öffentlichen Veranstaltungen wurde das zudem auf einer eigens aufgeschalteten Plattform zu 50-jährige Jubiläum zum Frauenstimm- und -wahl- finden. Ziel von "Hommage 2021" ist es, einem brei- recht gefeiert. Endlich Demokratie! Doch ist dieser ten Publikum Frauen zu zeigen, die sich während Anlass wirklich Grund zum Feiern? Provokant stellt 100 Jahren für die Selbständigkeit und Unabhängig- die Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus" die Frage keit des eigenen Geschlechts in den verschiedensten "Ist jetzt alles gut?". Gebieten eingesetzt und Neues erreicht haben. Bei der Auswahl der Portraits wurde versucht, alle Was meinen Sie, liebe*r Leser*in? Der Jahrestag vier Sprachregionen der Schweiz sowie städtische könnte als Anstoss betrachtet werden, unser eige- und ländliche Regionen miteinzubeziehen. Auch in nes Demokratieverständnis zu hinterfragen. Obwohl den Berufen, in welchen sich die Frauen bewegten, nun die rechtliche Gleichstellung von Männern und wurde eine möglichst grosse Vielfalt angestrebt. Frauen in der Bundesverfassung verankert ist, sollte genderstudies #37 Herbst 2021 9
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT überlegt werden, ob diese postulierte Gleichstellung auch tatsächlich umgesetzt ist und für wen. Die offi- zielle Schweiz nennt sich gerne "die älteste Demo- kratie der Welt". Endlich Demokratie für alle? Ist jetzt wirklich alles gut? Sind jetzt alle gleichgestellt? Wir müssen uns bewusst sein, dass die Gleichstellung und die Rechte zum Beispiel für LGBTQ+-Menschen noch lange nicht erreicht sind. Auch heute werden spezifische Bevölkerungsgruppen aus der Demokra- tie ausgeschlossen. Allein die vielschichtige Auseinandersetzung mit Frauenrechten, unter anderem dem Frauenstimm- und -wahlrecht, ist ein Indiz, dass die Schweiz erst am Anfang der Aufarbeitung der Frauen- und Geschlechtergeschichte des eigenen Landes steht. Es sind noch viele Schritte zu machen, Etappen in Richtung Gleichstellung und Gleichberechtigung. Lasst uns dranbleiben. Lasst uns fragen. Lasst uns hinterfragen. Der Jahrestag lädt zur Diskussion ein. 1 Vgl. Müller, Winfried: Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlich- keit einer Zeitkonstruktion, in: Müller, Winfried et al. (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungs- geschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 1-75, hier: S. 2-3. 2 Vgl. www.ch2021.ch, abgerufen am 17.07.2021. 3 Museum Strauhof: http://strauhof.ch/ausstellungen/frauen-im-lauf- gitter, abgerufen am 17.07.2021. 4 Mass & Fieber: https://massundfieber.ch/arbeiten/frauen-im-laufgit- ter, abgerufen am 17.07.2021. 5 Elisabeth Pletscher zit. nach https://hommage2021.ch/portrait/elisa- beth-pletscher, abgerufen am 17.07.2021. *Meret Aebi, B.A., studiert im Master Geschichte, Gender Studies und Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bern. **Nadin Bissig studiert im Bachelor Geschichte an der Universität Bern. ***Lena Frey studiert im Bachelor Geschichte und Politikwissen- schaften an der Universität Bern. ****Shabon Jones studiert im Bachelor Geschichte und Englisch an der Universität Bern. 10 genderstudies #37 Herbst 2021
"Der Kampf für das Frauenstimmrecht war lang und hart. In den letzten 50 Jahren wurde viel erreicht. Aber der Kampf ist nicht zu Ende." Vor 50 Jahren wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz eingeführt. Dr. Fabienne Amlinger hat sich in ihrer Forschung intensiv mit der politischen Partizipation von Frauen nach 1971 beschäftigt. Anlässlich des 50. Jahrestags hat sie die Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus!" im Bernischen Historischen Museum kuratiert, welche die Geschichte des langen Kampfs um die demokratische Mitbestimmung von Frauen einer breiten Öffentlichkeit erzählt. I Pascal Kohler* und Vera Zürcher** Fabienne, du hast dich in deiner Dissertation auch auf, dass viele Auseinandersetzungen kritisch mit den Frauenorganisationen der SPS, FDP und waren. Zwar schreiben viele von einem Jubiläum CVP zwischen 1971 und 1995 auseinanderge- und einer Feier, was ich in diesem Zusammen- setzt. Wie kamst du zu diesem Thema? hang als eine falsche Terminologie erachte. Nichts- destotrotz stellen sich viele die Frage, weshalb es Die plumpe Antwort: Aus purer Neugier. Ich weiss so lange gedauert habe. Die späte Einführung wird noch, wie ich eines Abends daran dachte, dass das nun als dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte Frauenstimmrecht in der Schweiz erst 1971 einge- verhandelt und als Unrecht benannt. Das war lange führt wurde. Ich fragte mich, wie die Parteien auf Zeit nicht der Fall. Viele junge Menschen hören die Einführung reagierten. Am nächsten Tag wollte diese Geschichte zum ersten Mal, das ist höchste ich in der Bibliothek ein Buch zum Thema ausleihen. Zeit. Doch es gab überhaupt keine Forschung dazu. Da wusste ich: Ich muss dieses Buch selber schreiben. Wie erklärst du dir, dass die Resonanz so viel grösser ist als beim 40. Jahrestag? Mit der Einführung des Frauenstimmrechts wurde die stimmberechtigte Bevölkerung über Dafür gibt es verschiedene Gründe. Mit runden Nacht verdoppelt. Welche Themen brachten die Jahrestagen wie 100 oder 50 zieht man mehr neugewählten Politikerinnen in die institutio- Menschen an als mit 40. Aber in diesen zehn nelle Politik? Jahren ist auch viel passiert. Vom #aufschrei zu den Women's Marches als Reaktion auf Trumps Wahl. Nicht nur, aber vor allem sogenannte Frauenthe- Von #metoo zur Kampagne "Helvetia ruft" von Alli- men. Selbstverständlich sind das gesamtgesell- ance F. Der Feminismus ist viel sichtbarer gewor- schaftliche Themen, aber die Parteien schoben den. Gekoppelt an den runden Jahrestag hat dies Themen wie Gleichstellung, Familie oder Soziales die Resonanz ausgemacht. den Frauen zu. So erkämpften die Frauen beispiels- weise die Mutterschaftsversicherung und die Fris- Du sprichst die Sichtbarkeit des Feminismus tenregelung beim Schwangerschaftsabbruch. Ihnen an. Ausgegangen von einem intersektionalen ist zu verdanken, dass die Betreuung für Kinder Feminismus wird ersichtlich, dass die Debat- bei der AHV-Rente angerechnet wird. Viele ökolo- ten um das Frauenstimm- und -wahlrecht oft gische Themen oder solche, die bislang als private von einem binären Geschlechterverständnis Anliegen galten, gingen ebenfalls von Frauen aus. geprägt sind. Wie sieht es aus mit nicht-binären Zuvor postulierte bereits die Neue Frauenbewegung Menschen in der institutionellen Politik? solche Themen als politisch. Ab 1971 wurden diese auch tatsächlich in die institutionelle Politik aufge- Einen minimen, öffentlichen Diskurs über nicht-bi- nommen. näre Menschen gibt es in der Schweiz erst seit wenigen Jahren. Das war überhaupt kein Thema Das lang erkämpfte Frauenstimmrecht wurde in den Jahrzehnten, die ich in meiner Forschung in diesem Jahr intensiv und prominent bespro- untersucht habe. Strukturell betrachtet, ist unsere chen. Was ist dir an diesen Debatten aufgefal- Gesellschaft binär. Da muss man sich nichts vorma- len? chen. Dies widerspiegelt sich folglich auch in der Politik. Dazu kommt, dass sich in den Parlamen- Genau dass es so intensiv und prominent bespro- ten und Regierungen die wenigsten Menschen als chen wurde. Ich bin positiv überrascht von der gros- nicht-binär bezeichnen. Hingegen wurde beispiels- sen Resonanz. Das ist nicht selbstverständlich. Zum weise gerade eben eine nicht-binäre Person in die 40. Jahrestag gab es diese Resonanz nicht. Mir fällt Frauen*session im Bundeshaus gewählt, was ein genderstudies #37 Herbst 2021 11
SCHWERPUNKT FRAUENSTIMMRECHT Wer ist heute noch von der institutionellen Poli- tik ausgeschlossen? Ausgesch lossen sind auf Bundesebene a l le Personen ohne Schweizer Pass, alle Personen, die unter einer umfassenden Beistandschaft stehen und alle Minderjährigen. Viele Auseinanderset- zungen zum Stimmrecht verfolgen die Kontinuitäts- these. Demnach hätten bei der Konstituierung des wichtiges Zeichen setzt. Ausserdem laufen zum Bundesstaates 1848 einige Männer das Stimmrecht Beispiel auch in der SP entsprechende Auseinan- erhalten, anschliessend habe sich dieses auf alle dersetzungen. Die SP Frauen haben sich vor einigen Männer ausgeweitet, bevor 1971 die Frauen inklu- Jahren zu SP Frauen* umbenannt. diert wurden und irgendwann würden auch jene Menschen in diesem Land ohne Schweizer Pass die 2019 wurde bei den eidgenössischen Wahlen politischen Rechte erhalten. Diese These ist proble- der höchste Frauenanteil im Bundesparlament matisch, weil sie die unterschiedlichen Partizipati- erreicht. Wie erklärst du dir dies? onsbestrebungen dekontextualisiert, entpolitisiert und enthistorisiert. Zudem muss die Frage aufge- Ich kann es nur erklären, analysiert habe ich es griffen werden, was eine Inklusion ins politische nicht. Die Erklärung liegt aber auf der Hand. Das Feld bedeutet, wenn dessen Regeln, die teilweise Bewusstsein für geschlechtsspezifische Diskrimi- bis heute gelten, ursprünglich von Männern gesetzt nierung und für die Untervertretung von Frauen in wurden. verschiedenen Bereichen hat zugenommen, was zu einer erhöhten Mobilisierung führte. Der Frau- Du hast mit Claudia Amsler und Nora Tren- en*streik als riesiges feministisches Massenmo- kel die Ausstellung "Frauen ins Bundeshaus!" bilisierungsereignis hatte einen grossen Einfluss. im Bernischen Historischen Museum kuratiert. Dieser fand nur wenige Monate vor den Wahlen Was war eure Vision? statt und hat viele Menschen sensibilisiert und politisiert. Die Kampagne "Helvetia ruft" ermögli- Unsere Hauptmessage war: Der Kampf für das chte zudem eine niederschwellige Auseinanderset- Frauenstimmrecht war lang und hart. In den letz- zung mit den Wahlen und motivierte Frauen zu einer ten 50 Jahren wurde viel erreicht. Aber der Kampf Kandidatur. ist nicht zu Ende. Unser Ziel war es, dass das für die Besuchenden spürbar wird und bei ihnen eine Wenn wir uns die Zusammensetzung des emotionale Reaktion auslöst. Gerade für junge Bundesrats historisch anschauen, fällt auf, Menschen liegt 1971 weit weg. Wir interviewten dass 2010 mehr Frauen als Männer in diesem zwölf Politikerinnen. Aus den Gesprächen entstan- Gremium einsassen. Im Stände- und National- den kurze Videoclips, die deren Erfahrungen und rat sind wir aber weit entfernt von einer Gleich- Erinnerungen in O-Ton wiedergeben. Die Ausstel- oder Mehrheit. Woran liegt das? lung widmet sich diesen Politikerinnen und erzählt darüber hinaus ein Kapitel Schweizer Geschichte. Die Frauenmehrheit im Bundesrat war nur von kurzer Dauer. Im Bundesrat ist eine Frauenmehrheit In der Ausstellung ist uns das Thema Blumen zudem auch einfacher zu erreichen, da es viel weni- aufgefallen. Seit Beginn an werden Frauen von ger Sitze gibt als im National- und Ständerat. Weiter Blumen begleitet oder gar mit ihnen verglichen. ist der Ständerat die konservativere Kammer. Jede Wie interpretierst du, dass selbst heute noch Studie zeigt, dass die Frauen bei Ständeratswahlen Frauen einen Blumenstrauss erhalten, wenn schlecht abschneiden, was unter anderem mit dem sie ins Parlament gewählt werden, wohingegen Wahlverfahren zu tun hat. Männer in dieser Hinsicht leer ausgehen? 12 genderstudies #37 Herbst 2021
Ja, das ist wirklich auffällig. Auf das Thema Blumen kam ich, weil ich ihnen immer wieder in den Quel- len begegnete. Sei es, dass Frauen mit Blumen ver- glichen wurden oder aber dass sie oft von Blumen umgeben waren. In Bezug auf die Frauen haben Blumen eine ambivalente Symbolik. Einerseits wird mit ihnen Frisches, Schönes, Farbenfrohes und Lebendiges assoziiert. Andererseits sind Blumen niedlich und sie dienen der Dekoration. Gerade in Bezug auf Frauen ist das problematisch, stellt es einen grösseren Spielraum. Politikerinnen bestä- doch etwas Verniedlichendes dar, reduzierend auf tigten mir, dass diese mit ungewaschenen, zer- Schönheit und als etwas Beschmückendes. Das zausten Haaren und fleckigen Kleider auftreten hängt stark mit den bürgerlichen Vorstellungen können, ohne dass jemand etwas sagt. von Geschlechtscharakteren zusammen, wonach Frauen Attribute wie lieblich, hübsch, sanft zuge- Im Gäst:innenbuch am Ausgang hat ein:e Besu- sprochen werden. Blumen unterstreichen dieses cher:in folgende Frage hinterlassen: "Woher Bild. Mittlerweile erhalten übrigens auch Politiker kommt all das? Wieso muss überhaupt ein Teil Blumensträusse. (so gross) der Gesellschaft für ein so banales Recht kämpfen?" Was ist deine Antwort als Hanna Sahlfeld – eine der ersten Nationalrä- Historikerin auf diese Frage? tinnen – erzählt in der Ausstellung von den Regeln, die sie sich als Politikerin auferlegte. Wenn ich die Antwort auf diese Frage endlich hätte... Sie trank keinen Alkohol, liess sich nicht alleine Sie zielt letztlich auf jene nach dem Patriarchat und mit einem Mann blicken und schwieg im ersten wo dessen Ursprung liegt, und das weiss ich bis Jahr ihrer Amtsdauer mehrheitlich. Welche heute nicht abschliessend. Es gibt zwar verschie- ungeschriebenen Regeln gelten heute für Parla- dene Erklärungsansätze, etwa aus der Psychoana- mentarierinnen? lyse, der Sozialanthropologie oder aus dem Marxis- mus. Aber meines Erachtens liefert keiner davon Das Erscheinungsbild ist immer noch ein grosses eine abschliessende und überzeugende Antwort. Thema. Wenn ich mit Politikerinnen spreche, taucht Die Frage, weshalb es mit dem Frauenstimmrecht meistens rasch das Thema des Aussehens auf. Das in der Schweiz so lange dauerte, hat mit dem poli- darum, weil Politikerinnen von den Medien und tischen System, der Regierung, der weltpolitischen auch von Ratskolleg:innen danach beurteilt werden. Stellung der Schweiz, der Frauenbewegung und den Ein anderes Thema ist der Zugang zur Macht. So Geschlechterkonzepten zu tun. Es gibt also auch erwähnt Tamara Funiciello in der Ausstellung, dass hier keine monokausale Erklärung. Zentral scheint Frauen bis heute nicht an den Tischen sitzen, an mir aber Folgendes: Beim Frauenstimmrecht ging es denen wichtige Entscheidungen getroffen werden. um Macht. Es ging um die politische Macht, Gesell- Andere Frauen widersprechen dem. Das zeigt, dass schaft zu gestalten und Ideen umzusetzen. Offen- die Erfahrungen von Politikerinnen unterschiedlich bar waren viele Männer lange nicht bereit gewesen, sind. Klar ist aber, dass es bis heute ungeschrie- diese Macht zu teilen respektive abzugeben. bene Regeln gibt. Die Fragen, wer kann wo, was, wie sagen, wer hat welchen Zugang zur Macht sind verknüpft mit ungeschriebenen Regeln. Gelten diese äusserlichen Codes für Männer *Pascal Kohler, B.A., ist Hilfsassistent am IZFG. Er studiert im Master wie für Frauen? Sozialanthropologie und Soziologie an der Universität Bern. **Vera Zürcher, B.A., studiert im Master Gender Studies und Sozial- Männliche Amtsträger geniessen diesbezüglich anthropologie an der Universität Bern. genderstudies #37 Herbst 2021 13
AUS DEM IZFG Women's Human Rights – Eine App für die Frauenrechte Mit Touchscreen zu mehr Geschlechtergleichstellung? Seit 2013 bewährt sich dieser Ansatz des Eidgenös- sischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Zusammenarbeit mit dem IZFG und dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR). Die Geschichte einer App mit Ambitionen. I Marie Thomet* Im Jahr 2020 feierte die internationale Gemeinschaft Frau von vielen Staaten verletzt oder gar nicht aner- das 25-jährige Bestehen der Pekinger Erklärung und kannt werden. Oftmals stehen kulturelle oder religi- Aktionsplattform. Anlässlich der vierten Weltfrauen- öse Ansichten und Traditionen im direkten Konflikt konferenz 1995 einigten sich die damals 189 UN-Mit- mit den Menschenrechten der Frau, wobei erstere gliedstaaten auf die Verabschiedung des bis heute von Staaten regelmässig höher gewichtet werden. umfangreichsten Instruments zur Förderung der Gerade aufgrund dieser Spannungsfelder und der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung Vielzahl divergierender Standpunkte ist es umso der Rechte von Frauen und Mädchen.1 Trotz signi- wichtiger, dass sich die Verhandlungsparteien auf fikanter Fortschritte und der Stärkung bestehen- eine bestehende Basis anerkannter Normen und der und Gründung neuer Institutionen im Bereich Schlussfolgerungen berufen können. Dieses Wissen der Frauenmenschenrechte hat kein Land die Ziele und diese Grundlagen dienen als Ausgangspunkt der Aktionsplattform heute vollumfänglich erfüllt. neuer Verhandlungen und erlauben die Weiterent- Gerade die vorherrschende Pandemie bringt beste- wicklung des Status Quo. hende Missstände zusätzlich zum Vorschein und macht systemische sowie institutionelle Schwächen Anlässlich einer solchen CSW-Sitzung kam in den deutlich. Aber nicht nur gesundheitliche oder huma- Reihen der Schweizer Delegation erstmals die Idee nitäre Krisen, sondern auch die an Macht gewin- auf, eine Datenbank mit bereits verabschiedeten nenden populistischen Strömungen sowie die stetig internationalen Rechtstexten zu schaffen. Durch wachsende Kritik am multilateralen Weg bedrohen dieses Hilfsmittel sollten die herausfordernden die Stellung und Achtung der Menschen- und insbe- Verhandlungen erleichtert werden. Das EDA beauf- sondere der Frauenrechte.2 tragte den Themenbereich Geschlechterpolitik (geleitet durch das IZFG) des SKMR mit der Ausarbei- Auch 78 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der tung und Entwicklung einer App für die Menschen- UNO stellen Menschenrechte alles andere als eine rechte der Frau.5 Die App stellte ein Herzensprojekt Selbstverständlichkeit dar. Sie bleiben ein zentrales der damaligen Leiterin und Mitgründerin des IZFG Thema der UNO-Agenda und beschäftigen interna- Prof. Dr. Brigitte Schnegg († 2014) dar. Sie sah die tionale und regionale Organisationen. Gerade die Applikation als "ein wertvolles Nachschlagewerk für Gleichstellung der Geschlechter sowie die Stärkung die diplomatische und menschenrechtliche Praxis". der Rechte und der Kapazitäten der Frau – als inte- Schnegg war stets von der Form begeistert, wie graler Teil dieser Menschrechte – bedürfen spezieller juristisches Wissen von der Universität erfolgreich in Beachtung. Deren Verwirklichung bleibt eine globale die Praxis transportiert werden kann.6 Herausforderung.3 2013 wurde die "Women's Human Rights App" Geburtsstunde der Women's Human Rights (W'sHR) lanciert. Die englischsprachige App App 2013 umfasst eine Datenbank der zentralsten Rechts- Die UNO-Kommission für die Stellung der Frau (CSW) texte aus dem Bereich der Menschenrechte der Frau. als global stärkstes und führendes Organ im Kontext Mithilfe von Schlagwörtern können die Texte von der Geschlechtergleichstellung und Stärkung der regionalen und internationalen Organisationen nach Rechte und Freiheiten der Frau wurde 1946 im spezifischen Themen und Begriffen durchforscht Rahmen der UNO gegründet und tagt seither einmal werden. Zugleich ermöglicht die App den Zugriff auf jährlich zu spezifischen Schwerpunktthemen. Als die jeweiligen Dokumente. Damit Menschen unter- Resultat dieser Konferenzen verfassen die Nationen schiedlicher Nationen und fachlicher Hintergründe jedes Jahr konkrete Empfehlungen und Schlussfolge- auf die App zurückgreifen können, ist diese kosten- rungen zuhanden von Regierungen, zwischenstaat- los und in der Anwendung einfach gefasst. lichen Gremien und der Zivilgesellschaft. Auch die Schweiz wurde für vier Jahre (2020-2024) als stimm- Weiterentwicklung und Neulancierung 2021 berechtigtes Mitglied in die CSW gewählt und Zwischen 2013 und 2017 wurde die App 13'527 Mal entsendet jeweils im März eine Delegation nach New und aus rund 70 Ländern heruntergeladen, während York.4 Die Verhandlungen von Empfehlungen und die Webseite Besuche aus über 150 Ländern Schlussfolgerungen gestalten sich jedoch immer verzeichnete. Rückmeldungen zeigten auf, dass wieder schwierig, da insbesondere die Rechte der das neue Hilfsmittel nicht nur von Diplomat*innen, 14 genderstudies #37 Herbst 2021
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