Das Wirtschaftsmagazin Nr. 4/2018 - Die Ostschweiz ist softurban Die abgekühlte Liebe der SP zur EU Konjunkturforum: Wird der Höhenflug gebremst? ...
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WWW.IHK.CH SC HWERPUNK T ZUKUNF TSAG ENDA Die Ostschweiz ist softurban W I R T SC HA F T & P OL I T I K Das Wirtschaftsmagazin Nr. 4/2018 Die abgekühlte Liebe der SP zur EU IHK Konjunkturforum: Wird der Höhenflug gebremst?
Natürlich. Richtig. Gut. Weil es natürlich ist, der Weil es richtig ist, respektvoll und Weil es gut ist, sich selbst etwas Umwelt und ihren Ressourcen achtsam mit der Natur Gutes zu tun und das Beste Sorge zu tragen. Hier und ihren Produkten umzugehen der Natur mit gutem Gewissen und überall auf der Welt. und nachhaltig zu handeln. zu geniessen. Effizienz macht nicht nur beim Stromverbrauch Sinn. Sondern auch bei Ihrer Software. Gemeinsam mit Ihnen entwickeln wir eine massgeschneiderte Softwarelösung, die Ihre Prozesse vereinfacht, strukturiert und optimiert. Sie werden nicht nur effizienter, sondern profitieren von einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Interessiert? Kontaktieren Sie uns: Inventing +41 71 221 12 00, info@egeli-informatik.com Individuallösungen success together EGELI informatik www.egeli-informatik.ch www.sfs.ch
EDITORIAL Im Jahr 1464 werden in St. Gallen vier Kaufleute verurteilt, weil sie Leinwand trotz Verbot in Bischofszell bleichen lassen. Die Fernhändler schliessen sich zusammen und gründen zwei Jahre später die Gesell- schaft zum Notenstein – der Grundstein der IHK St. Gallen-Appenzell ist gelegt. Diese Fernhändler kämpfen gemeinsam für Zoll- und Han- delsfreiheit oder für optimale Rahmenbedingungen – grundlegende Voraussetzungen für eine prosperierende Wirtschaft. Während 25 Jahren habe ich im In- und Ausland unternehmerische Aufgaben für zwei traditionsreiche, renommierte Ostschweizer Unter- nehmen in zwei äusserst unterschiedlichen, höchst faszinierenden und fordernden Industrien wahrgenommen: Finanzdienstleistung und Tex- til. Wo sind die Gemeinsamkeiten der beiden Industrien? So gross die Unterschiede bei Produkten, Geschäftsmodellen und Märkten auch sind, so erstaunlich stark sind bei näherer Betrachtung die Parallelen. Erstens: die Kundenerwartungen haben sich in beiden Industrien stets Markus Bänziger Direktor IHK St. Gallen-Appenzell verändert, ja die Veränderung hat sich stark beschleunigt; zweitens: die jeweiligen Beschaffungs-, Produktions- und Absatzmärkte unter- liegen einem sich verschärfenden internationalen Produktions- und Absatzmarkt; und drittens: die Unternehmen haben sich erfolgreich behauptet und expandiert – dank gut ausgebildeten, mit Leidenschaft tätigen Unternehmern, Führungs- und Fachkräften auf allen Stufen. Zusammen mit Vorstand und Geschäftsstelle werde ich mich am Schnittpunkt der Ostschweizer Wirtschaft zu Gesellschaft und Politik für unsere Kernaufgabe einsetzen, wie dies ab 1466 die St. Galler Fern- händler taten: für optimale Rahmenbedingungen, Wettbewerb und Freihandel. Damit sich die Ostschweizer Unternehmen im nationalen, aber vor allem auch im umkämpften internationalen, ja globalen Wett- bewerb morgen und auch in 20 Jahren dank optimalen Rahmenbe- dingungen bewähren können – und so Arbeitsplätze in einer vielfälti- gen, lebenswerten Ostschweiz sichern. Dafür steht die Zukunfts- agenda der Ostschweiz – lesen Sie mehr dazu in diesem IHKfacts.
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INHALT BLITZLICHT 06 «Eine positive Story für die Kernregion Ostschweiz» SCHWERPUNKT IHK-Präsident Roland Ledergerber im Interview ZUKUNFTSAGENDA 08 IHK-Zukunftsagenda als Orientierungsrahmen Megatrends als Chance nutzen Offenheit ist Teil der Ostschweizer Identität Megatrend Globalisierung «Die IT-Ausbildung muss viel höher gewichtet werden» Megatrend Digitalisierung: Daniel Senn, Abacus, im Gespräch Herausforderung Kinderbetreuung Megatrend gesellschaftlicher Wandel Dynamik ausserhalb der Zentren Megatrend Urbanisierung IHK-Cockpit − Wirtschaftskennzahlen aus der Ostschweiz WIRTSCHAFT UND POLITIK 22 Zunehmende Bewölkung am Konjunkturhimmel Die abgekühlte Liebe der Sozialdemokraten Das schwierige Ringen um ein Rahmenabkommen mit der EU Kryptogeld: grosses Potenzial, aber nicht als Zahlungsmittel Was bedeuten Bitcoin und Co. für die Zukunft des Geldsystems? IT-Bildungsoffensive vor dem Durchbruch? IHK-Vorschlag mit weitreichenden Folgen Zertifizierter Experte im Bereich Export werden KNOW-HOW 32 Diplomlehrgang Exportsachbearbeiter/-in mit SIHK-Diplom 2019 «Einer der internationalsten Standorte der Schweiz» IHK 33 Klaus Brammertz, Präsident und CEO der Bauwerk Boen Gruppe Konjunkturforum Zukunft Ostschweiz Konjunktur trotzt politischen Unsicherheiten Neues Symposium, neue Termine IHK-Veranstaltungen 2019 mit vielversprechenden Anpassungen IHK-Neumitglieder Kursana AG, St. Gallen AKTUELLE FIRMENNEWS 40 AGV-NETZWERK 41 AGENDA 42
BLITZLICHT Ausschreibung Startfeld Diamant Preischancen für Exporteure Startfeld Diamant ist die Auszeichnung der St. Galler Kantonalbank für innovative Unterneh- Auch 2019 verleiht Switzerland Global men in der Ostschweiz und verleiht den Ideen den richtigen Schliff. In Zusammenarbeit mit Enterprise (SGE) den Export Award. Teilnah- Startfeld, dem regionalen Netzwerk für Start-ups und Innovationen, wird der Jungunterneh- meberechtigt sind alle Schweizer und Liech- merpreis 2019 bereits zum achten Mal verliehen. tensteiner Unternehmen, die ihre Produkte 2018 gewann die OnlineDoctor AG den renommierten Ostschweizer Jungunternehmerpreis. oder Dienstleistungen international ver- Dank der Plattform von OnlineDoctor können Dermatologen effizienter arbeiten, und markten und dabei internationale Wert- Patienten erhalten schnell und schöpfungsketten einbinden. unkompliziert eine fachärztliche «Wir suchen Schweizer Unternehmen, die Einschätzung. durch eine überzeugende Anbindung an Das Bewerbungsdossier kann bis die internationale Wertschöpfungskette am 14. Januar 2019 eingereicht nachhaltig Wert schaffen. Wir bewerten die werden. Weitere Informationen Qualität, Originalität und Überzeugungs- unter www.sgkb.ch/startfelddia- kraft der Internationalisierungsstrategie», mant. erklärt Jury-Präsident Ralph Siegl. Aus allen Bewerbern wählt die Jury drei Finalisten aus. Die drei Finalisten sowie der Gewinner werden von einer unabhängigen Jury aus- gewählt. Die Jury setzt sich aus Persönlich- keiten der Schweizer Wirtschaft, Wissen- schaft und Medienwelt zusammen, die seit 2018 von Ralph Siegl, Managing Partner Stabwechsel vollzogen von Experts for Leaders AG, präsidiert wird. Eine neue Ära beginnt: Kurt Weigelt übergab Der Export Award 2019 wird am 26. März die IHK-Direktion nach knapp zwölf Jahren in von Ruth Metzler-Arnold, VR-Präsidentin neue Hände. Der 51-jährige Teufner Markus von Switzerland Global Enterprise, anläss- Bänziger ist seit dem 1. November 2018 für die lich des Aussenwirtschaftsforums in Zürich operativen Geschicke des Ostschweizer Wirt- verliehen. schaftsverbandes verantwortlich. Vorstand und Geschäftsleitung der IHK danken Kurt Weigelt für sein grosses Engagement zuguns- ten der Ostschweizer Wirtschaft. Er hat die IHK als innovativen, aktiven und unternehmerisch geführten Verband positioniert und den Anlie- gen der Unternehmen Gehör verschafft. Stiftung Textilmuseum St. Gallen gegründet Am 20. Juni 2018 beschloss die IHK-General- versammlung, die Liegenschaft Vadian- strasse 2 (Textilmuseum) an eine neu zu grün- dende Stiftung zu übertragen. Die IHK-Stif- Mitglieder der IHK St. Gallen-Appenzell wa- tung wiederum brachte 8 Mio. Franken ren immer wieder erfolgreich – so ging der Vermögen, die Textilsammlung und dieTextilbi- Export Award 2017 an die Regloplas aus bliothek in die neue Stiftung ein. Mittlerweile St. Gallen. sind diese Übertragungen abgewickelt. IHK Einsendeschluss für die Teilnahme 2019 ist und IHK-Stiftung haben damit rund 20 Mio. der 15. Januar 2019, Informationen dazu Franken an Vermögenswerten abgegeben, um sind unter www.s-ge.com/de/teilnahme zu eine eigenständige und nachhaltige Entwick- finden. lung des Textilmuseums zu ermöglichen. 6 Nr. 4/2018
BLITZLICHT Kantonsräte beim HPV Rorschach Der diesjährige Gesamtanlass der Wirtschafts- gruppe des Kantonsrates führte nach Ror- schach zum HPV Rorschach. Als regional ver- ankerte Institution unterstützt der HPV Men- schen mit einer Beeinträchtigung und bietet ihnen eine Beschäftigung und Ausbildung. Geschäftsführer Erwin Ganz führte die Kan- tonsratsmitglieder stolz durch seinen beein- druckenden Betrieb, der eine breite Palette an Dienstleistungen und Produkten anbietet: vom Lettershop über Waschservice, von der Schreinerei zum Textilatelier. WTT Young Leaders bei der IHK Am 17. September 2018 wurde der WTT Young Leader Award in der Tonhalle vor illustrem Publikum verliehen. Den Sieg in der Kategorie Marktforschung holte sich das Team, das für den Kunden Rhomberg Schmuck AG mit einer mehrstufigen Befragung erforschte, wie die Kunden eines der grössten Schweizer Schmuckherstellers heute einkaufen. Zu diesem Team gehören Thomas Schöb (Projektleiter), Bernhard Oberholzer, Mauritius Berchtel, Manuel Bau- mann, Stefan Roderer und Tenzintseten Deckeykhangsar. In der Kategorie Managementkonzeption untersuchten im Siegerprojekt Studenten der FHS mit Kolleginnen und Kollegen von der Shanghai University den Medikamenteneinfluss in chinesi- schen Spitälern für Swisslog Shanghai. Die Firma hat sich auf die Automatisierung der Medika- mentenbereitstellung spezialisiert. Zu diesem Team zählen Ferdinand Gross, Projektleiter, Tobias Goldener, Joël Geisser, Jiaqian Li Cherry, Projektleiterin, Shuai Dun Joseph und Jie Zheng Jessie. Am 19. September fand der traditionelle Empfang der Gewinner in der IHK im Haus zum Engelskopf durch Kurt Weigelt statt. «Früh Verantwortung übertragen» Die Anerkennungspreise der Hans Huber Stiftung werden jährlich an Personen verliehen, die sich besondere Verdienste im Zusammenhang mit dem dualen Berufsbildungssystem erworben haben. 2018 gingen die Auszeichnungen an Volker Buth, CEO von Hirschmann Automotive in Rankweil (VBG, AT; links im Bild), und an Remo Sieber, Verwaltungs- ratspräsident des Bauingenieur- und Informatikunternehmens CDS, in Heerbrugg (SG, CH; Bildmitte). «Verantwortung zu übertragen, ist eine Stärke von Remo Sieber», sagte Christian Fiechter, Präsident der Hans Huber Stiftung, in der Laudatio. Die Lernenden seien motiviert, weil sie schon früh in den produktiven Alltag integriert würden. Ein ehemaliger Lernender sei heute sogar Sie- bers Nachfolger in der Geschäftsführung. Mit der Lancierung des Ost- schweizer Ausbildungspreises für die besten Lehrabschlüsse von Zeich- nerinnen und Zeichnern in den Fachrichtungen Ingenieurbau und Architektur habe er zudem der Branche wesentliche Impulse verliehen. Nr. 4/2018 7
SCHWERPUNKT «Softurbane Ostschweiz»: IHK-Präsident Roland Ledergerber im Interview «Eine positive Story für die Kernregion Ostschweiz» Im Rahmen des Konjunkturforums Zukunft Ostschweiz präsentierte die IHK eine Zukunftsagenda. Diese zeigt auf, wie unsere Region Me- gatrends wie Digitalisierung oder Globalisierung begegnen soll. Der dabei eingeführte Begriff «softurban» verbindet eine durch Offenheit und Veränderungsbereitschaft geprägte Haltung mit einem attrakti- Robert Stadler Stv. Direktor / Leiter ven und vielfältigen Lebensraum. Roland Ledergerber erklärt, was die Kommunikation IHK IHK mit der Zukunftsagenda im Sinn hat. Zum Einstieg etwas Persönliches: Ver- cen packen. Dazu brauchen wir eine Strate- Ganz im Gegenteil, sie ergänzen sich! Die gangenen Juni wurden Sie zum IHK- gie, klar definierte Schwerpunkte und erfolg- Metropolitanräume sind Teil des Raumkon- Präsidenten gewählt, die bekannten versprechende Schlüsselprojekte. zeptes Schweiz und werden vom Bund defi- ersten «100 Tage» sind somit schon Genau das ist unsere Zukunftsagenda: Ein niert. Mit dem Raumkonzept gibt der Bund länger vorüber. Wie fühlt es sich an? Plan, ein Orientierungsrahmen für die nächs- die zukünftige Entwicklung der Schweiz vor. Roland Ledergerber: Es fühlt sich sehr gut ten Jahre. Wir wollen letztlich Wirkung im Dabei nehmen die Metropolitanräume die an, danke. Es ist eine relativ intensive Phase, Ziel. Rolle der Zugpferde ein; bei der Priorisierung aber ich spüre, dass wir auf einem guten Weg von Projekten – beispielsweise im Bereich Ver- sind. Intensiv deshalb, weil die IHK einerseits Welche Vision propagiert denn die kehrsinfrastruktur oder im Fernverkehr – ste- im Umbruch ist: Markus Bänziger löst Kurt Zukunftsagenda? hen sie zuvorderst in der Reihe und profitie- Weigelt als Direktor ab, das Ausscheiden von Wir denken, dass die Kernregion Ostschweiz ren so in künftigen Verteilkämpfen um öf- Diana Rausch und ein Vorstand in neuer Zu- sehr gute Voraussetzungen hat. Auf der einen fentliche Gelder. So gesehen sind die sammensetzung. Andererseits erarbeiten wir Seite haben wir eine wirtschaftliche Basis in Metropolitanräume die relevante «Währung» mit der Zukunftsagenda zugleich den strategi- der Industrie und im Handel, welche sich für die nationale Politik. Es ist also wichtig – schen Orientierungsrahmen für die nächsten durch Offenheit, Zukunftsglauben und Verän- und aufgrund der Bedeutung der Ostschweiz fünf Jahre. Ich habe Freude an dieser Aufgabe. derungsbereitschaft auszeichnet. Die Unter- auch richtig –, dass die Ostschweiz vom Bund nehmer und Unternehmen haben ihre Leis- als Metropolitanraum anerkannt wird. Beim Konjunkturforum Zukunft Ost- tungsfähigkeit in der Vergangenheit immer Umgekehrt geht es bei der Zukunftsagenda schweiz hat die IHK eine Zukunfts- wieder bewiesen. Andererseits bietet die Ost- der IHK darum, dass wir das «Produkt» Ost- agenda für die Ostschweiz vorgestellt. schweiz einen idealen und vielfältigen Le- schweiz langfristig und nachhaltig verbessern, Wie entstand die Idee? bensraum für Menschen und Familien. wettbewerbsfähiger und wachstumsstärker Die IHK setzt sich für eine starke Ostschweiz In unserer Vision gelingt es uns, diese beiden machen. Die Bühne der Zukunftsagenda ist – ein. Stark ist die Ostschweiz dann, wenn sie Vorzüge – also Haltung und Lebensraum – zu bildlich gesprochen – die Ostschweiz, wäh- sowohl als Wirtschaftsstandort für Unterneh- verbinden. Damit werden wir zum bevorzug- rend die Metropolitanregion auf der Bühne in men als auch als Lebensraum für Menschen ten Wohnort, zum bevorzugten Arbeitsort Bundesbern spielt. Die volle Wirkung erzielen attraktiv ist. Wir sind überzeugt, dass wir und zum bevorzugten Unternehmensstand- wir dann, wenn beide zusammenspielen. langfristig nur dann erfolgreich sein können, ort. Das ist unsere Vision. wenn wir die langfristig wirkenden Mega- Mit der «softurbanen Ostschweiz» trends – Stichworte sind Digitalisierung, Glo- Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, die wurde ein Begriff eingeführt, den es balisierung, Urbanisierung und gesellschaftli- gesamte Bodensee-Region als Metro- bisher nicht gab. Was kann man sich cher Wandel – auch mit einer langfristigen, politanraum zu definieren. Steht die unter einem softurbanen Ostschweizer nachhaltigen Optik angehen. Wir wollen die IHK-Vision im Widerspruch zu einer oder einer softurbanen Ostschweizerin Herausforderungen meistern und die Chan- solchen Metropolitanregion? vorstellen? 8 Nr. 4/2018
SCHWERPUNKT die künftige Arbeit der IHK geben. Dann ist die Zukunftsagenda fast als Art Regierungserklärung für Ihre IHK- Präsidentschaft zu verstehen? Ja, absolut. Die Zukunftsagenda bestimmt den Rahmen, definiert die Ziele unserer Arbeit in den kommenden Jahren und nennt die er- folgskritischen Schlüsselprojekte. Natürlich sind wir uns – wie bei jedem Strate- gieplan – bewusst, dass im Laufe der Zeit neue Erkenntnisse auftauchen können, die al- lenfalls eine punktuelle Anpassung oder Er- gänzung unserer Zukunftsagenda nötig ma- chen. Dazu sind wir offen und bereit. Die Stossrichtung und die Prioritäten aber stehen. Welches sind die wichtigsten Ziele, die Sie erreichen möchten? Wir haben sechs Ziele identifiziert, die wir an- gehen möchten: Weiterentwicklung des Bil- dungsraums Ostschweiz, Förderung digitaler Kompetenzen, Stärkung eines innovations- freundlichen Umfeldes, Unterstützung des gesellschaftlichen Wandels mit den Stichwor- ten Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf sowie Gesundheitswesen, Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur sowohl innerhalb der Wie gesagt, es ist die Verbindung einer Geis- vom Bodensee bis zum Genfersee. Es werden Ostschweiz als auch in Bezug auf die natio- teshaltung – Offenheit, Zukunftsglauben, vier Landessprachen gesprochen. Aber wir nale und internationale Anbindung und Veränderungsbereitschaft – mit einem vielfäl- sind eine Nation, eine Willensgemeinsschaft, schliesslich die Verbesserung der Wettbe- tigen, vorteilhaften Lebensraum. Diese Kom- die den gleichen Grundwerten verpflichtet ist. werbsfähigkeit im Standortwettbewerb. bination ist unser USP. Der Begriff «softur- Für all diese Ziele haben wir Schlüsselprojekte ban» bringt diesen USP kurz und schnörkellos Die Zukunftsagenda geht von verschie- definiert, die in den kommenden Jahren vor- auf den Punkt. denen Megatrends wie die Digitalisie- angetrieben werden sollen. rung oder die Globalisierung aus, die Aber sind denn alle Ostschweizer uns alle herausfordern. Weshalb sind Und wie geht es mit der Zukunfts- «softurban»? Auch der Bergbauer im Sie überzeugt, dass gerade die Ost- agenda konkret weiter? Weisstannental? Für ihn gilt doch eine schweiz diese Entwicklungen beson- Einerseits werden wir die Zukunftsagenda ge- ganz andere Realität als für den ders gut angehen kann? meinsam mit Vertretern aus den verschiede- Dienstleister in der Stadt St. Gallen Als Grenzregion sind wir seit jeher im Export nen Teilregionen konkretisieren und so regio- oder den Exporteur im Rheintal! und im internationalen Handel tätig. Wir sind nenspezifisch weiterentwickeln. Andererseits Wir sind uns natürlich bewusst, dass die Kern- deshalb nach aussen orientiert und sind fä- werden wir für die Umsetzung der Schlüssel- region Ostschweiz keine «einheitliche hig, uns im internationalen Wettbewerb zu projekte Denkanstösse geben und Entwick- Masse», kein «Einheitsbrei» ist. Wir sehen behaupten. Unsere Unternehmer und Unter- lungsmöglichkeiten aufzeigen. Wir wollen durchaus gewisse regionale Unterschiede. Die nehmen sind sich gewohnt, globale Verände- Gutes besser machen und so helfen, für die verbindenden Merkmale sind die gleiche Hal- rungen zu antizipieren. Kernregion Ostschweiz eine positive Story zu tung und der gemeinsame Lebensraum. Ent- Im Bereich der Digitalisierung sehe ich dank der schreiben. Wenn wir gemeinsam – Wirtschaft scheidend ist also nicht das Trennende, son- Digitalisierungsoffensive, die die IHK angestos- und Politik – unsere Kräfte bündeln und alle dern das Verbindende. Das Ganze ist eben sen hat, zudem zusätzlich gute Chancen. gut zusammenarbeiten, dann können wir die mehr als die Summe der Einzelteile. anstehenden grossen Herausforderungen er- Ein Vergleich mit der Schweiz: Die Schweiz be- Wie am Anlass erklärt wurde, soll die folgreich meistern. Für eine zukunftsstarke steht aus enorm unterschiedlichen Regionen Zukunftsagenda eine Richtschnur für Ostschweiz. Nr. 4/2018 9
SCHWERPUNKT Megatrends als Chance nutzen IHK-Zukunftsagenda als Orientierungsrahmen Mehrere Megatrends fordern uns heraus. Diese grossen gesellschaftlichen und techno- logischen Veränderungen müssen als Chance genutzt werden, um die Kernregion Ost- schweiz als Lebensraum und Wirtschaftsstandort zu stärken. Mit der Zukunftsagenda Ostschweiz schlägt die IHK St. Gallen-Appenzell einen Masterplan für die weitere Ent- wicklung der Ostschweiz vor mit Schlüsselprojekten in sechs Bereichen. Die Welt verändert sich stetig, vor allem aber immer entsteht eine gemeinsame Zukunftsvorstellung für die schneller: Technologisierung, Digitalisierung und Globali- Ostschweiz – die Vision – mit drei Stossrichtungen: Erstens Markus Bänziger sierung sind nur einige der global wirkenden Treiber. Diese ist die Kernregion Ostschweiz als softurbaner Raum der IHK-Direktor von uns allen in verschiedenen Ausprägungen wahrge- bevorzugte Wohnraum für Menschen und insbesondere nommenen, tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderun- für Familien, die eine individuellere Lebensgestaltung mit gen – die sogenannten Megatrends – können wir nicht urbanen Qualitäten in einem vielfältigen Lebensraum ignorieren. Noch viel weniger dürfen wir diese als Risiken ohne die Dichte einer Grossstadt suchen. Zweitens ist die bekämpfen. Im Gegenteil, diese grossen gesellschaftli- Ostschweiz der bevorzugte Arbeitsort für Menschen, die chen und technologischen Veränderungen müssen als an einer Zukunft mit intelligenten und digital vernetzten Chancen genutzt werden. Die Attraktivität der Kernregion Produkten und Dienstleistungen arbeiten. Drittens ist die Ostschweiz mit den beiden Appenzell, St. Gallen und Ostschweiz der bevorzugte Wirkungsort für Unterneh- Thurgau muss gestärkt werden, sowohl als Lebensraum men, die auf ein ausgezeichnetes Mitarbeiterpotenzial wie auch als Wirtschaftsstandort. Dazu braucht die Ost- und auf funktionierende und wirtschaftsfreundliche Rah- schweiz einen Masterplan als Orientierungsrahmen und menbedingungen setzen. Die regionale Vielfalt gilt es zu Zielbild: die Zukunftsagenda Ostschweiz. Ausgangspunkt pflegen, aber gleichzeitig mit unserer traditionellen Inter- der Überlegungen ist ein gestärktes Selbstverständnis der nationalität und Weltoffenheit zu verbinden und so un- Ostschweiz, auf dessen Basis gemeinsame Visionen um- sere Attraktivität für Unternehmen, Unternehmer und gesetzt werden können und sollen. Mitarbeitende zu stärken. Die Ostschweiz als softurbaner Raum Fünf Leitsätze Was sind die zentralen Eigenschaften der Ostschweiz? Ein Fünf Leitsätze begleiten den Weg der Kernregion Ost- erstes definierendes Element ist die starke industrielle Ba- schweiz von heute hin zur Vision: sis, nach wie vor ein Kernelement der ostschweizerischen Identität. Zweitens lässt sich der Lebensraum Ostschweiz Leitsatz 1: Vielfalt weder als urban noch als ländlich bezeichnen (siehe Arti- Die Ostschweiz zeichnet sich durch ihre Vielfalt aus. Dank kel «Urbanisierung heisst nicht grössere Städte»). Wachstum, Mobilität und Vernetzung rückt die Kernre- Die softurbane Ostschweiz verbindet eine durch Weltof- gion Ostschweiz näher zusammen. Dennoch ist sie geo- fenheit, Zukunftsglauben und Veränderungsbereitschaft grafisch, kulturell und wirtschaftlich vielfältig. Gemeinde- charakterisierte urbane Haltung mit einem Lebensraum, grenzen oder Kantonsgrenzen haben für die wirtschaftli- der eine grössere Vielfalt zulässt als die Dichte städtischer chen sowie gesellschaftlichen Aktivitäten eine geringe Zentren. Aus Verbindung von Haltung und Lebensraum Bedeutung. Die gelebte Wirklichkeit, insbesondere aber 10 Nr. 4/2018
SCHWERPUNKT Leitsatz 4: Offenheit als Haltung Der Weg in eine gemeinsame verstandene und gelebte Region führt über unsere Hal- tung. Zentral zur Bewältigung der Megatrends Die Kernregion Ostschweiz besteht ist die Bereitschaft zur Veränderung. Es muss uns aus den fünf soft- gelingen, an die Weltoffenheit und Internationa- urbanen Teilregionen Linth, Gonzen, Rhein, lität des Handels und der Industrie der Ost- Säntis und Thur. schweiz anzuknüpfen. Leitsatz 5: Gemeinsame Schlüsselprojekte auch die wirtschaftliche Zusam- Für die Kernregion Ostschweiz als Ganzes sind menarbeit und Interaktion spie- die Schlüsselprojekte der Zukunft zu definie- len sich in folgenden fünf Teilregionen ren. Diese müssen von allen Beteiligten auf ab: Linth, Gonzen, Rhein, Säntis und regionaler und kantonaler Ebene sowie in Bun- Thur (siehe Abbildung). Die Grenzen zwi- desbern überzeugend und mit Überzeugung ver- schen den Teilregionen können sich dabei folgt werden. Sie haben zum Ziel, die Kernregion je nach Handlungsfeld unterscheiden. Ostschweiz als eigenständigen Wohn- und Arbeits- raum zu stärken. Auf die Schlüsselprojekte werden die Leitsatz 2: Zusammenarbeit Investitionen der Zukunft gelenkt. Grosse Herausforde- Die einzelnen Teilregionen haben unterschiedliche Stär- rungen in Infrastruktur, Bildung und Innovation muss die ken. Mit Blick auf Effizienz und Effektivität der staatli- Kernostschweiz gemeinsam verfolgen, mit Überzeugung chen Leistungserbringung führt kein Weg an einer ech- und vereint. Es darf nicht sein, dass wir uns bei der Si- ten regionalen, kantonalen und grenzüberschreitenden cherung der Zukunft von Partikularinteressen einzelner Zusammenarbeit vorbei. Im Vordergrund darf nicht das Branchen, Gebiete und Regionen auseinanderdividieren Trennende, sondern muss das Verbindende stehen. Die lassen. aus den Megatrends erwachsenden Chancen können nur gemeinsam genutzt werden: Gemeinsam sind wir Schlüsselprojekte in sechs Bereichen stärker. Die Zukunftsagenda definiert Schlüsselprojekte aus den Teilregionen. Die Schlüsselprojekte konkretisieren den Leitsatz 3: Mobilität Weg in die Zukunft der gesamten Kernregion und werden Aufgrund der unterschiedlichen Stärken sind die Vernet- von allen Teilregionen gemeinsam unterstützt. zung der einzelnen Teilregionen untereinander und die Anbindung an unsere Nachbarregionen entscheidend. Die 1. Weiterentwicklung der Bildungslandschaft: Mit der Verkehrsinfrastruktur – die öffentliche sowie diejenige für Entwicklung der Berufsschulen hin zu kompetenzorien- den Individualverkehr – der Zukunft muss leistungsfähig tierten Berufsfachschulen, der Reorganisation der sein. Digitalisierung und Elektrifizierung ermöglichen in- Fachhochschule Ostschweiz und der Erweiterung der dividuelle Mobilitätskonzepte und stärken dezentrale Universität St. Gallen werden die Kompetenzen und Standorte. Fähigkeiten der Zukunft bereitgestellt. Nr. 4/2018 11
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Arbeitszeiten und Spesen mobil erfassen Abacus Forum – AbaProject 29.11.2018 im Swissôtel Oerlikon Anmeldung abacus.ch/forum 2. Förderung digitaler Kompetenzen: Die digitalen Kompetenzen sind auf der Sekundärstufe der Berufslehre sowie der Tertiärstufe von Fachhochschule und Universität zu intensivieren und zu stär- ken. Die Informatikausbildung an den Berufsfachschulen, der Di- gital Campus der Fachhochschule Ostschweiz sowie der neue Studienschwerpunkt für angewandte Informatik an der Universi- tät St. Gallen sind erste Schritte, weitere Massnahmen müssen folgen. 3. Stärkung des innovationsfreundlichen Umfeldes: Die Kernregion Ostschweiz verfügt über starke Innovationszentren und -zellen: Standort St. Gallen der EMPA, Startnetzwerk (Thurgau) sowie Startfeld. Diese sind weiterzuentwickeln und zu stärken. Weitere Zellen gehören in die Ostschweiz, Ideen sind dabei die Science City Wil West oder ein Netzwerkstandort von Switzerland Inno- vation. 4. Unterstützung des gesellschaftlichen Wandels: Damit Familie und Beruf vereinbar sind, braucht es familienergänzende Angebote im Vorschulalter, Tagesschulen und flexible und individuelle Ar- beitsmodelle. Das Gesundheitswesen soll hochwertig bleiben bei vertretbaren Kosten. Das bedingt eine Reduktion der Spitalstand- orte und eine weitere Konzentration der Leistungsangebote. 5. Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit im Standortwettbewerb: Die öffentliche Hand erbringt die ihr übertragenen Leistungen mit hohen Qualitätsansprüchen, wobei das Kosten-Nutzen-Verhältnis optimiert werden muss. Die Steuerlast für mittlere und höhere Beschleunigen Sie Ihre Arbeitsprozesse mit der Einkommen sowie für Unternehmen muss gesenkt werden. Business-App AbaCliK und vermeiden Sie 6. Einbindung in die nationale und internationale Verkehrsinfra- Mehrfacherfassungen dank der Synchronisation struktur: Eine zeitgemässe, leistungsfähige Vernetzung von mit der Abacus Business Software: öffentlichem Verkehr und Individualverkehr der Teilregionen un- • Präsenz- oder Arbeitszeiten tereinander sowie die Anbindung an die Nachbarregionen sind • Leistungen, Spesen, Quittungen Voraussetzung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wei- • Persönliche Daten, Ferientage oder Absenzen (ESS) terentwicklung. Dazu gehören ein Ausbau der Eisenbahn- Infrastruktur wie der Brüttener Tunnel und der Kapazitätsausbau www.abaclik.ch des Bahnhofs Winterthur ebenso wie die Engpassbeseitigung auf der Strasse in St. Gallen und Rapperswil oder die Autobahnver- Jetzt kostenlos bei App Store oder Google Play bindung Rheintal-Vorarlberg. herunterladen Die IHK St. Gallen-Appenzell wird gemeinsam mit den 15 Arbeitgeber- organisationen der Ostschweiz die Schlüsselprojekte der einzelnen Teil- regionen identifizieren und konkretisieren. Die Schlüsselprojekte zie- hen die lokalen Interessen mit ein, behalten aber immer auch den Blick auf die Gesamtinteressen der Kernregion Ostschweiz: der Masterplan Ecknauer+Schoch ASW für unsere Kernregion Ostschweiz. Nr. 4/2018 13
SCHWERPUNKT Megatrend Globalisierung Offenheit ist Teil der Ostschweizer Identität Traditionelle Ostschweizer Branchen wie die Maschinenindustrie haben an Boden ver- loren, während sich Metalle oder Fahrzeuge gut halten konnten. Allerdings werden auch auf den internationalen Märkten Dienstleistungen immer wichtiger. Lizenzeinnahmen, Geschäftsdienste und Dienstleistungen im Bereich Informatik und Kommunikation überflügeln inzwischen die Maschinenindustrie deutlich. Die Ostschweiz darf in diesen boomenden Branchen den Anschluss nicht verlieren. Aussenhandel und wirtschaftliche Offenheit stellen seit Schweiz produziert und exportiert. Wichtiger als die Fer- Dr. Frank Bodmer über 500 Jahren eine zentrale Basis für den wirtschaftli- tigung sind aber Forschung und Entwicklung – beides Leiter IHK-Research chen Erfolg der Ostschweiz dar. Anbau, Verarbeitung und Wissensaktivitäten. Auch bei der Fertigungsindustrie spie- Vertrieb von Leinenprodukten standen am Anfang. Nach- len Forschung und Entwicklung beim schweizerischen Teil dem die englische Baumwolle das Leinwandgewerbe ver- der Aktivitäten eine immer wichtigere Rolle, während die drängt hat, erlebte die Ostschweizer Textilindustrie im Produktion vermehrt im Ausland stattfindet. 19. Jahrhundert dank der Stickerei eine zweite Blüte- phase. Diese ging mit dem Ersten Weltkrieg, endgültig aber Dienstleistungen werden immer wichtiger mit den amerikanischen Schutzzöllen der 1930er-Jahre zu Die Warenexporte konnten ihre Bedeutung dank Pharma Ende. Andere Produkte sprangen in die Lücke. Bereits im und Uhren erhöhen. Noch stärker wuchsen allerdings die 19. Jahrhundert und dann vor allem nach dem Zweiten Dienstleistungsexporte – der nicht-materielle Teil der Ex- Weltkrieg waren es Maschinen, Elektronik und Metalle, wel- porte. Diese weisen inzwischen einen Anteil am BIP von che für Dynamik sorgten. Dieser Boom hielt letztlich bis 2007 18% aus, im Vergleich zu einem Anteil der Warenexporte an; seither mussten Maschinen und Elektronik einen deutli- von 35%. Auch innerhalb der Dienstleistungsexporte sind chen Rückgang bei den Exporten verzeichnen. Dagegen Verschiebungen festzustellen. Die Nachfrage von Auslän- konnten sich die Ostschweizer Metallexporte gut halten. dern nach Schweizer Tourismusdienstleistungen stag- nierte bei leicht über 2% am BIP, diejenige von Transport- Anhaltender Strukturwandel leistungen bei leicht unter 2%. Die Finanzdienstleistun- Der Bedeutungsverlust der MEM-Branchen zeigt sich auch gen, das heisst vor allem Dienstleistungen von Banken bei den gesamtschweizerischen Zahlen (siehe Abbildung). und Versicherungen für ausländische Kunden, verdoppel- Deren Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg zwischen ten sich bis 2008 zwar von 3,6 auf 7,2%, mussten mit der 1990 und 2008 zwar noch leicht auf 10% an, fiel bis 2017 Finanzkrise aber einen jähen Rückgang verzeichnen, von aber auf knapp 7%. Im Gegenzug erlebten die Exporte dem sie sich nicht erholten. Vor allem die Bankbranche von Pharma und Chemie einen eigentlichen Boom und musste Federn lassen, während sich die Versicherungs- stiegen, mit einem Wachstum von 5%, auf knapp 15%. branche halten konnte. Sehr stark haben sich dagegen die Zwar erlebte mit der Uhrenindustrie ebenfalls eine tradi- übrigen Dienstleistungsexporte entwickelt, welche inzwi- tionelle Fertigungsbranche einen Aufschwung. Insgesamt schen auf einen Anteil am BIP von über 9% kommen und muss aber ein relativer Bedeutungsverlust der traditionel- damit zum Beispiel die MEM-Exporte deutlich überflügelt len Industriefertigung verzeichnet werden. Bei der Phar- haben. Der Charakter der Globalisierung hat sich in den maindustrie wird zwar das physische Produkt in der letzten Jahren damit deutlich verändert. Während traditio- 14 Nr. 4/2018
SCHWERPUNKT Anteile von Waren- und Dienstleistungsexporten am BIP 16% 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0% 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 MEM Pharma, Chemie Andere Waren Schweizweit hat die MEM-Industrie relativ an Bedeu- tung verloren. Immer wichtiger werden dafür die Transport Tourismus Finanzdienstleistungen Andere Dienste Dienstleistungsexporte, die insgesamt bereits 18% Quelle: eigene Berechnungen auf Basis von Daten von SNB und SECO. der Exporte ausmachen. nell vor allem Güter gehandelt wurden, sind es mehr und mit klar untervertreten sein. Ein ausschliesslicher Blick auf mehr Dienstleistungen, welche über die Landesgrenzen die Güterexporte übersieht damit diese anderen nicht-ma- hinaus angeboten werden. teriellen Geschäftsmöglichkeiten, welche in Zukunft im- mer wichtiger werden dürften. Bemühungen im Bereich Lizenzen, Geschäftsdienste und KTI Informatikausbildung könnten helfen, die Einnahmen im Die Lizenzeinnahmen aus dem Ausland machen inzwi- Bereich KTI zu verbessern. Bei Beratungsdienstleistungen schen etwa 3,5% des BIP aus. Es handelt sich um Einnah- war St. Gallen bis vor einigen Jahren noch ein wichtiges men aus geistigem Eigentum von in der Schweiz ansässi- Zentrum, hat aber deutlich an Boden verloren. Und die gen Unternehmen. Inländische und ausländische Lizenz- Ostschweizer Finanzinstitute sind stark binnenorientiert einnahmen sollen im Zuge der Unternehmenssteuerreform und dürften bei der Dienstleistungsbilanz nur eine kleine über die Patentbox steuerlich begünstigt werden. Bei den Rolle spielen. Es verbleiben Tourismus und Transporte, Geschäftsdiensten, mit einem Anteil am BIP von 2,4%, welche allerdings wenig Potenzial aufweisen. handelt es sich um eine heterogene Gruppe, welche ne- ben Consultingeinnahmen auch die Erträge der Rohstoff- Offene Märkte und eine offene Haltung broker und damit einen erheblichen Teil der Dienstleis- Trotz einer langen Tradition der Offenheit ist die Ost- tungserträge aus dem Rohstoffhandel umfasst. Ein weite- schweiz durch die neuen globalen Entwicklungen stark rer schnell wachsender Bereich sind die Erträge aus herausgefordert. Traditionelle Güterexporte haben an Ge- Kommunikation, Technologie und Informatik (KTI). Dar- wicht verloren und werden durch den zunehmenden Pro- unter fallen Dienste wie Cloud Services, Supportdienste tektionismus zusätzlich bedroht. Es gilt damit, neue Ge- oder Medienarbeit. Die KTI-Dienste aus dem Ausland ha- schäftsfelder zu erschliessen. Der Erfolg von amerikani- ben inzwischen ebenfalls 2% des BIP erreicht und erzeu- schen und chinesischen Technologiefirmen zeigt, welches gen damit gleich hohe Einnahmen wie der Tourismus. Ertragspotenzial die Informatik hat. Die fortschreitende Digitalisierung in Industrie und Dienstleistungen wird die- Rückstand der Ostschweiz bei Diensten ses Potenzial noch weiter steigern. Auf der Basis eines be- Über die regionale Verteilung der Dienstleistungsexporte reits jetzt starken Informatikclusters sollte es der Ost- ist wenig bekannt. Allerdings liegen Schätzungen für den schweiz gelingen, auch in diesen Geschäftsfeldern zu Kanton Zürich vor, welche den Anteil von Zürich bei den wachsen. Dazu braucht es vor allem hochqualifizierte Ar- Finanzdienstleistungen bei etwa 40% sehen, bei KTI bei beitskräfte. Nicht alle von diesen werden lokal ausgebildet 35%, bei Beratungsdiensten bei knapp 30% und bei den und rekrutiert werden können. Die Offenheit für qualifi- Lizenzgebühren bei etwa 20%.¹ Es ist zu erwarten, dass zierte Zuzüger aus dem Ausland wird für die wirtschaftli- die Kantone Basel, Genf, Waadt und Zug den überwie- che Entwicklung der Ostschweiz deshalb zentral bleiben. genden Teil der restlichen Einnahmen unter sich aufteilen, mit Ausnahme von Tourismus und Transportdiensten, wel- 1 Bedeutung der Handelspartner des Kantons Zürich, Grundlagen der che regional gleichmässiger verteilt sein sollten. Die Ost- Berechnung, Fachstelle Volkswirtschaft, Amt für Wirtschaft und Ar- schweiz dürfte bei den boomenden Dienstleistungen da- beit des Kantons Zürich, Juni 2017. Nr. 4/2018 15
SCHWERPUNKT Megatrend Digitalisierung: Daniel Senn, Abacus, im Gespräch «Die IT-Ausbildung muss viel höher gewichtet werden» Die Ostschweiz hat gute Chancen, den Megatrend der Digitalisierung für sich zu nutzen. Allerdings muss sie die Informatikausbildung auf allen Schulstufen verstärken, findet Daniel Senn. Der Applika- tionsentwicklungsleiter und das Mitglied der Geschäftsleitung von Abacus nimmt im Interview Stellung zur Zukunftsagenda der IHK, Robert Stadler Stv. Direktor / Leiter zu den Herausforderungen in der Ostschweiz und wie Abacus und Kommunikation IHK andere IT-Unternehmen die «softurbane Ostschweiz» bereits leben. Bei «Zukunft Ostschweiz» wurde die Region schätzen und lieben gelernt. Wir sind Abacus ist ein führender Anbieter von IHK-Zukunftsagenda präsentiert. Zum inzwischen hier voll integriert, ja sogar hei- Business-Software in der Schweiz und Thema Arbeitsort lautet die Vision: misch geworden, und könnten uns nicht ein- operiert aus Wittenbach. Wieso ist «Die Kernregion Ostschweiz ist der be- mal mehr vorstellen, in unsere Herkunftskan- Abacus in der Ostschweiz beheimatet? vorzugte Arbeitsort für Menschen, die tone zurückzukehren. In der Ostschweiz ist es Unmittelbar nach Abschluss unseres HSG- an einer Zukunft mit intelligenten und uns gelungen, unsere Vorstellung einer um- Studiums haben wir unsere Softwarefirma ge- digital vernetzten Produkten und fassenden Business-Software zu verwirklichen gründet. Angesichts unserer knappen finan- Dienstleistungen arbeiten.» Was kön- und diese als einen gesamtschweizerischen ziellen Ressourcen war der Studienort St. Gal- nen Sie dieser Vision abgewinnen? De-facto-Standard zu etablieren. Unsere Soft- len die logische Wahl für den Firmensitz des Daniel Senn: Dieser Vision leben wir persön- ware ist umfassend vernetz- und erweiterbar Start-ups. Dass die Ostschweiz noch immer lich bereits seit mehr als 30 Jahren nach! Wir und wird zunehmend «intelligenter», wie es unser bevorzugter Standort ist, ist den Mitar- sind wegen des Studiums aus anderen Kan- die jüngsten Entwicklungsschritte in Richtung beitenden geschuldet, die am Aufbau der tonen in die Ostschweiz gekommen und selbstlernender Systeme für die Belegver- Firma mitgearbeitet haben und denen ein we- haben im Lauf der Zeit die Vorzüge dieser arbeitung zeigen. sentlicher Anteil am nachhaltigen Erfolg des Unternehmens zu verdanken ist. In Zeiten der Digitalisierung und der Globalisierung verliert die geogra- fische Nähe an Bedeutung. Software lässt sich relativ einfach überall auf der Welt verkaufen. Ist es völlig egal, wo eine Softwarefirma ihren Sitz hat? Wie sieht das bei Abacus aus? Es ist zweifellos eine der Stärken von Abacus, dass die Software nicht irgendwo im nahen oder fernen Ausland entwickelt wird, sondern in der Ostschweiz und somit in unmittelbarer Nachbarschaft zu unseren Programmanwendern. Denn gesetzliche Ent- wicklungen und Änderungen bei schweiz- spezifischen Rahmenbedingungen und Eigenheiten wie etwa beim «Einheitlichen Lohnmeldeverfahren» und beim Zahlungs- 16 Nr. 4/2018
SCHWERPUNKT verkehr stehen bei unseren Entwicklern im- Wie gut gut gewappnet ist die Ost- In der Industrie kommt der Verände- mer auf dem Radar. Damit ist garantiert, dass schweiz für diese Entwicklung? rungsschub vom Internet der Dinge. sich bei Bedarf unsere Nutzer stets auf zeit- Die Ostschweiz läuft Gefahr, zu spät auf die- Produzierende Betriebe entwickeln gerechte Anpassungen und Erweiterungen sen Paradigmenwechsel zu reagieren, indem sich immer stärker zu Softwareunter- der Software verlassen können. Denn Sicher- sie derzeit zu wenig Informatiker selber aus- nehmen. Ist das eine Herausforderung heit und Vertrauen sind zentrale Anliegen, bildet. Weil kaum ausreichend Fachleute in für traditionelle IT-Firmen? die ein ERP-Softwarehersteller gegenüber unsere Region kommen dürften, wächst die Im Gegenteil. Wir erhoffen uns viel von die- seiner Kundschaft erfüllen muss, um länger- Gefahr, dass das regionale Wirtschaftswachs- sem Trend. Denn produktionsspezifisches fristig als partnerschaftlicher Lieferant glaub- tum abgebremst wird. Eine Chance zur Bes- Know-how im Zusammenspiel mit Bestrebun- würdig zu bleiben. serung bietet sich nur dann, wenn ab sofort gen zur Automatisierung von Prozessschritten mit Hochdruck daran gearbeitet wird, das ist auch für IT-Unternehmen eine lohnende Sa- Die nahezu unbeschränkten Möglich- Informatikwissen auf allen Stufen bis zur aka- che, wenn die Verbindung zu ERP-Program- keiten der Digitalisierung werden demischen zu optimieren und zu verbreitern, men wie Abacus erfolgreich gelingt. So ent- für die wirtschaftliche Dynamik immer damit wenigstens in einigen Jahren bedeu- steht eine Win-win-Situation für beide Seiten. wichtiger. Wie erleben Sie dies? tend mehr regional ausgebildete Fachperso- Die Digitalisierung durchdringt heute mehr nen als heute zur Verfügung stehen. Dabei Bei «Zukunft Ostschweiz» wurde der denn je Lebensbereiche im persönlichen und sind auch die Unternehmen selbst gefordert. Begriff der «softurbanen Ostschweiz» geschäftlichen Umfeld. KMU wollen mit Soft- Abacus etwa hat deshalb Anfang Jahr eine eingeführt. Dieser verbindet eine warelösungen ihre Kernprozesse so weit wie hauseigene Academy mit Lehrgängen für den urbane Haltung mit einem Lebensraum, möglich automatisieren. Ein Mittel dazu sind Bereich Programmierung ins Leben gerufen, der mehr Vielfalt und Nähe zulässt als digitale Werkzeuge, die wir im Rahmen unse- in der Spezialisten in zwei Vollzeitpensen die Dichte städtischer Zentren. Das Sili- rer ERP-Software zur Verfügung stellen. Bei- Lehrlinge und Praktikanten intern betreuen con Valley ausserhalb San Franciscos spiele dafür sind die integrierte Original- und Umschulungen begleiten. startete auch einmal ähnlich. Kann das belegscanning-Lösung oder die elektronische ein Vorbild für die Ostschweiz sein? Archivierung von Originaldokumenten wie Wo muss sich die Ostschweiz bezüglich Absolut. In St. Gallen haben wir ja bereits das etwa Lieferantenrechnungen. Informatikausbildung verbessern? «Steinach Valley», in dem sich mehrere Soft- Die IT-Ausbildung muss bereits in der Primar- warefirmen angesiedelt haben und bereits seit Wo sehen Sie Chancen und Risiken schule, Unterstufe und Oberstufe viel höher vielen Jahren mit ihren Produkten und Dienst- für die Ostschweiz? gewichtet werden. Es kann nicht sein, dass in leistungen schweizweit erfolgreich sind. Beste Die Digitalisierung hat die Ostschweiz wie den meisten Oberstufen Informatik ein Wahl- Beispiele sind Unternehmen wie Abraxas, Na- jede andere Region der Welt erfasst. Als Pro- fach ist oder nur 1–2 fixe Lektionen pro Wo- mics, Nest/InnoSolv, Sorba, Haufe-umantis duktionsstandort hat die Ostschweiz nur che IT-Unterricht gehalten werden. Informatik und Adcubum. Laut «IT St. Gallen rockt» wer- dann eine Chance, wenn hier eine hohe – als Begriff weit gefasst einschliesslich Robo- den in der Wirtschaftsregion St. Gallen-Bo- Automatisierung zusammen mit hohen tik – wird unser ganzes Leben durchdringen densee bereits knapp 2 000 ICT-Unternehmen Qualitätsanforderungen garantiert werden und wird mindestens so wichtig werden wie mit rund 20 000 Beschäftigten gezählt. Das kann. Mathematik. Wir müssen den Kindern in der macht die Region zu einem der attraktivsten Dazu braucht es in Zukunft überdurchschnitt- Primarschule und Unterstufe bereits Grund- Schweizer Standorte für die IT-Branche, zumal lich viel Informatik-Know-how. Dasselbe gilt kenntnisse beibringen und Freude an der In- hier auch der wichtige Aspekt der hohen auch für die Dienstleistungsbranche. Viele formatik vermitteln. Wir müssen uns hier am Lebensqualität nicht zu kurz kommt. Stellen aus dem KV-Umfeld werden automa- Ausland orientieren, beispielsweise an Eng- tisiert. So ist etwa Abacus daran, Rechnun- land. Vor drei Jahren forderte die IHK eine gen, Lieferscheine, und Spesenbelege auto- In der Oberstufe muss Informatik ein ge- IT-Bildungsoffensive. Anfangs 2019 matisch erkennbar, verarbeitbar und verbuch- wichtiges Fach werden. Und auch in den wird darüber abgestimmt. Weshalb ist bar zu machen. Das macht sehr viele Lehrplänen verschiedener Ausbildungen, al- es wichtig, dass die Stimmbürger der klassische administrative Aufgaben überflüs- len voran beim KV, muss die Informatik ei- IT-Bildungsoffensive zustimmen? sig und tangiert insbesondere auch den nen höheren Stellenwert erhalten. Solche Abgesehen von den Steinen und Felsen des eigentlichen Kernbereich der Treuhand- Berufe sind in Zukunft ohne IT nicht denk- schönen Alpsteingebiets bleibt der Ost- branche. Im Gegenzug braucht es mehr Infor- bar. Das Angebot an höheren Ausbildungen schweiz an grauer Materie als natürlicher Res- matiker, die diese Systeme entwickeln und nach der Lehre – HSR, NTB Buchs, ZbW, source allein die Gehirnmasse der hiesigen betreuen. Gleichzeitig wird mehr Informatik- FHSG, bald Universität St. Gallen – ist hinge- Leute. Diese optimal zu nutzen und zu för- Know-how auf allen Stufen anderer Berufs- gen gut. dern, sollte für die Ostschweiz essenziell und zweige benötigt. unser aller Anliegen sein. Nr. 4/2018 17
SCHWERPUNKT Megatrend gesellschaftlicher Wandel Herausforderung Kinderbetreuung Eine fundamentale Herausforderung der nächsten Jahrzehnte ist die Alterung der Gesellschaft. Diese wird dem Arbeitsmarkt Fachkräfte entziehen, welche irgendwie ersetzt werden müssen. Eine Möglich- keit wäre die verstärkte Erwerbsbeteiligung von Frauen. Dabei stellt sich die Frage, ob der Staat diese gezielt fördern soll. Damit greift er Michael Götte Leiter kantonale Politik natürlich auch in grundlegende Entscheidungen ein, welche in einem IHK liberalen Staat eigentlich Private treffen sollten. Die gesellschaftliche Entwicklung geht klar weniger Verantwortung und damit einen tie- dern vorzuziehen. Die Mütter könnten so in die Richtung vermehrter Erwerbstätigkeit feren Lohn und schlechtere Karrieremöglich- weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, und zu- von Frauen. Heute gehen knapp 80 Prozent keiten auf. Die Betreuung von Kindern zu sätzlich entstünde aus der externen Kinder- der Frauen im Alter von 15 bis 64 einer Er- Hause wird sich deshalb auf den gesamten betreuung Einkommen, welches ebenfalls im werbstätigkeit nach. Viele arbeiten aller- Karriere- und Lohnverlauf dieser Frauen aus- Bruttoinlandprodukt Eingang findet. Ange- dings in einem Teilzeitpensum, was die ef- wirken. sichts der Alterung der Gesellschaft wäre dies fektive Arbeitszeit senkt. Wird die Arbeits- sicherlich zu begrüssen. Es würde auch er- zeit berücksichtigt, so sinkt die Erwerbsquote Handlungsbedarf für möglichen, dass diese in der Regel sehr gut (in Vollzeitäquivalenten) auf etwa 60 Prozent die Politik? ausgebildeten Frauen eine Aufgabe wahrneh- (Abbildung 1). Dies sind aber etwa 10 Pro- Es stellt sich die Frage, ob und wie die Politik men, welche ihr Potenzial ausschöpft. Diese zentpunkte mehr als noch zu Beginn der in dieser Frage eingreifen soll. Allein aus Sicht rein wirtschaftliche Sicht greift aber zu kurz. 1990er-Jahre. Die erhöhte Erwerbstätigkeit des gesamtwirtschaftlichen Wachstums wäre Die Betreuung von Kindern in der Familie hat betraf dabei alle Altersgruppen ausser die- eine weitgehende Fremdbetreuung von Kin- gegenüber der Fremdbetreuung viele Vor- jenige der ganz jungen Frauen. Bei diesen reduzierte die längere Ausbildungsdauer die effektive Erwerbsbeteiligung. Die Reduktion Erwerbsquote Frauen (Vollzeitäquivalente) der effektiven Arbeitszeit ist vor allem bei Frauen mit kleinen Kindern sehr ausge- 80% prägt.¹ 70% 60% Teilzeitarbeit mit Nachteilen 50% verbunden Die Teilzeitarbeit oder die zeitweise Absenz 40% vom Arbeitsmarkt hat eine Reihe von negati- 30% ven Auswirkungen. Neben den direkten Ef- 20% fekten auf das Einkommen der Familien, in denen Frauen die Betreuung der Kinder über- 10% nehmen, stellen vor allem die indirekten Ef- 0% 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 fekte auf die Karrieremöglichkeiten dieser 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Frauen ein Problem dar. Typische Karrieren in 15–24 Jahre 25–39 Jahre 40–54 Jahre Unternehmen oder beim Staat basieren nach 55–64 Jahre 65 Jahre und älter 15–64 Jahre wie vor auf einer hohen zeitlichen Präsenz. Quelle: IHK-Research Zoom vom 12.11.2018. Teilzeitstellen weisen dagegen in der Regel 18 Nr. 4/2018
SCHWERPUNKT teile. Zudem wünschen viele Eltern eine Be- treuung der Kinder zu Hause. Es gilt deshalb, Finanzierungsanteile bei privaten Kitas und Horten zwischen diesen beiden Perspektiven eine Ba- im Kanton St.Gallen lance zu finden. Betreuungsangebote im Kanton St. Gallen Das externe Betreuungsangebot ist im Kan- ton St. Gallen relativ beschränkt. Eine Analyse des Forschungsbüros INFRAS im Auftrag des Amtes für Soziales vom März 2017 dokumen- tiert diesen Rückstand. Im Jahr 2016 standen für 65 000 Kinder im Alter bis zwölf Jahre ins- gesamt 3 800 Betreuungsplätze zur Verfü- gung. Es handelt sich dabei sowohl um den gesamten familienergänzenden Bereich mit Kindertagesstätten und Tagesfamilien als auch um den schulergänzenden Bereich, mit Hort, schulischer Tagesbetreuung und Mit- Eltern Gemeinde Firmen Bund Weitere Akteure tagstisch. Die übrigen privaten Betreuungen wie Nannys oder Grosseltern können nicht quantifiziert werden und sind bei diesen Zah- pro Kind beschlossen. Dies entspricht dem tes. Und es droht eine zusätzliche Erhöhung len nicht berücksichtigt. Der Kanton St. Gal- durch den Bund vorgesehenen Maximum und der Steuer- und Abgabelast. len weist damit einen Versorgungsgrad von bedeutet faktisch, dass die Drittbetreuungs- sechs Prozent aus: Pro hundert Kinder im kosten vollständig von den Steuern abgezo- Die Debatte im Kanton St. Gallen Kanton St. Gallen gibt es gerade mal sechs gen werden können. Der Kantonsrat des Kantons St. Gallen erteilte Vollzeitplätze. Dies liegt deutlich unter dem der Regierung im Jahr 2016 den Auftrag, schweizerischen Durchschnitt von zehn Pro- Finanzierung der Kinderbetreu- Massnahmen zur Entschärfung des Fachkräf- zent. Während das Angebot vor allem in den ung temangels und zur Förderung der Erwerbs- städtischen Zentren gut bis sehr gut ausge- Auch bei der direkten Finanzierung der Kin- tätigkeit von Frauen vorzuschlagen. Dabei baut ist, liegt der Versorgungsgrad in einem derbetreuung fördert der Staat die externen wurde auch gefordert, konkrete Massnah- Drittel der Gemeinden – meist sind dies Angebote. In der INFRAS-Studie aus dem Jahr men zur Verbesserung der Vereinbarkeit von kleine, ländliche Gemeinden – bei unter ei- 2017 wurden die privaten Kitas und Horte zur Familie und Beruf aufzuzeigen. Dieser Bericht nem Prozent. ihrer Finanzierungsstruktur befragt. Es zeigt ist nun in der parlamentarischen Debatte. Der sich, dass die Eltern mit etwa 60% zwar den Kantonsrat wird über acht Handlungsemp- Steuerliche Abzüge überwiegenden Teil der Finanzierung über- fehlungen diskutieren, welche von der Regie- Ein entscheidender Punkt ist die Finanzierung nehmen (Abbildung 2). Die Gemeinden leis- rung vorgeschlagen werden. Dabei wird vor der externen Betreuungsangebote. Soll die ten aber ebenfalls einen namhaften Beitrag. allem die vorgeschlagene Erhöhung der Sub- Entscheidung zwischen familieninterner und Die Beiträge von Bund, Kanton und anderen ventionierung des Angebots zu reden geben. externer Kinderbetreuung nicht vom Staat Akteuren sind dagegen sehr klein. Es fragt Der Kanton will bei der Gutheissung des beeinflusst werden, so wäre eine Gleichbe- sich, ob und wie dieser Finanzierungsschlüs- Handlungsfelds die Einführung einer Ver- handlung nötig. Die Konsequenz wären aller- sel geändert werden soll. Gefordert wird un- pflichtung für die Arbeitgeber prüfen, einen dings dieselben steuerlichen Abzüge für ter anderem eine stärkere Beteiligung von Fir- direkten Beitrag an die Finanzierung des Be- beide Möglichkeiten und keine staatlichen men über obligatorische, durch Lohnprozente treuungsangebotes zu leisten. Bereits jetzt Zuschüsse für die externe Betreuung. In der finanzierte Beiträge. Westschweizer Kantone finanzieren die Unternehmen die Familien- Praxis hat sich die Politik für eine Förderung kennen bereits heute solche Beiträge. Zwar zulagen. Diese kommen aber allen Familien der externen Angebote entschieden, dies ist es sicherlich so, dass auch Unternehmen zugute und tragen damit nicht zur besseren nicht zuletzt mit Blick auf die gesamtwirt- von zusätzlichen Betreuungsangeboten pro- Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. schaftlichen Effekte. So wurde mit der letzten fitieren. Allerdings leisten die Unternehmen Steuergesetzrevision eine Erhöhung des steu- über die Schaffung von Arbeitsplätzen und 1 Dr. Frank Bodmer, Erwerbstätigkeit von Frauen: noch erlichen Abzugs für die Kinderdrittbetreu- die Abführung von Steuern bereits jetzt einen viel Potenzial, IHK-Research Zoom vom 12.11.2018. ungskosten von CHF 7 500 auf CHF 25 000 wichtigen Beitrag zur Finanzierung des Staa- Nr. 4/2018 19
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