Gentrifizierung in Zürich West - Susana De Pinho Tavares Kantonsschule Zürcher Oberland Maturitätsarbeit 2019, N6b Betreut durch Daniel ...

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Gentrifizierung in Zürich West - Susana De Pinho Tavares Kantonsschule Zürcher Oberland Maturitätsarbeit 2019, N6b Betreut durch Daniel ...
Gentrifizierung in
       Zürich West
Susana De Pinho Tavares

      Kantonsschule Zürcher Oberland
           Maturitätsarbeit 2019, N6b
                       Betreut durch
                 Daniel Wiedenkeller
Gentrifizierung in Zürich West - Susana De Pinho Tavares Kantonsschule Zürcher Oberland Maturitätsarbeit 2019, N6b Betreut durch Daniel ...
Abstract

Das ehemalige Industrieviertel Zürich West boomt heute als urbanes Zentrum der
Stadt Zürich. Das behaupten zumindest Reiseführer und Immobilienbörsen. Tat-
sächlich beeindruckt das Quartier mit extravaganten Bauten wie dem Prime Tower,
den Escher-Terrassen, dem Freitag Turm und dem Toni-Areal. Doch welche Folgen birgt
diese Aufwertung? Welches sind ihre Schattenseiten? Diese Frage wirft den heiss dis-
kutierten Begriff der Gentrifizierung auf, womit die Verdrängung von tieferen sozia-
len Schichten durch Aufwertungsprozesse beschrieben wird. Für meine Arbeit habe
ich fünf Akteure in der Entwicklung Zürich Wests aus verschiedenen Interessens-
gruppen nach ihrer Meinung zum Quartier befragt. Aufgezeigt wird die Bedeutsam-
keit von Freiräumen, Genossenschaftswohnungen und Partizipation von Seiten der
Bewohner, wobei sich der Prozess der Gentrifizierung in Zürich West erkennen lässt.
Gentrifizierung in Zürich West - Susana De Pinho Tavares Kantonsschule Zürcher Oberland Maturitätsarbeit 2019, N6b Betreut durch Daniel ...
Gentrifizierung in Zürich West - Susana De Pinho Tavares Kantonsschule Zürcher Oberland Maturitätsarbeit 2019, N6b Betreut durch Daniel ...
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Inhaltsverzeichnis

Einleitung							3
Zürich West							7
        Lage								9
        Geschichte							                              9
		Mittelalter und Vorindustrialisierung		9
		Industrialisierung					10
		Modell Escher-Wyss					10
        Entwicklung seit den 90ern				15
		         Zwischennutzung und kooperative Planung     15
		Escher-Wyss-Areal					18
		Neue Hard 						21
		Maag-Areal Plus					22
		Hinteres Zürich West				24
        Statistik							26
Gentrifizierung                                        29
        Begriffserklärung						                        30
        Modellhafter Ablauf					                       31
        Problematik						                              33
Gespräche 							37
        Altbewohner						                              38
        Investoren							40
        Kulturschaffende						                         42
        Stadtregierung						44
        Experten							46
Fazit                                                  49
Bibliografie                                           54

                                                                              1
Einleitung
Gentrifizierung Zürich West

Einleitung1
        Seit rund 20 Jahren verändert sich das ehemalige Industriequartier Zürich West wie
kaum ein anderes. Die Bevölkerung hat sich seit 1996 fast vervierfacht und mit ihr auch die
Zahl der Wohnungen. Was einst einmal als eher schäbiger Industriestandort galt, ist heute
im Trend und wie seine Popularität stiegen auch die Mietpreise im Viertel. Diese liegen
heute stark über dem städtischen Durchschnitt. In Folge dessen veränderte sich auch die
Bevölkerungsstruktur: Der Ausländeranteil sank drastisch und es leben dort nun überpro-
portional viele 30- bis 39-Jährige mit vergleichsweise hohem Einkommen. Gebaut werden
riesige Büroflächen und überdurchschnittlich grosse Wohnungen, die vor allem in Eigen-
tum von Gesellschaften oder in Stockwerkeigentum stehen. Zürich West ist darum zu einem
umstrittenen Thema geworden.
        Gentrifizierung beschreibt den Prozess, bei dem in Folge einer Aufwertung die ur-
sprüngliche Bevölkerung verdrängt wird. Es steht zurzeit wegen der zunehmenden Ver-
städterung stark im Diskurs. Verdrängung ist jedoch schwierig zu messen und obwohl die
Statistik auf erhöhte Lebenskosten hinweist, behaupten einige Stimmen, die Veränderungen
in Zürich West seien auf den Wandel von Industrie- zu Dienstleistungsgesellschaft zurück-
zuführen. Von Verdrängung könne bei leerstehenden Industriegebäuden kaum die Rede
sein.
        Für meine Maturitätsarbeit setze ich keinen Anspruch darauf, den Grad der Ver-
drängung zu messen oder empirisch Daten zusammenzutragen, um endgültig zu beweisen,
ob es sich nun um Gentrifizierung handelt oder ob dies auf andere Faktoren zurückzufüh-
ren ist. Ausserdem hat man für das Berechnen der Aufwertung und der damit verbundenen
Verdrängung bis heute noch keine Formel definiert. Mich interessiert vor allem, wieso
gewisse Gebiete aufgewertet werden, welche Kräfte diese Veränderung leiten und wie sie
verläuft. Welche Akteure treffen die relevanten Entscheidungen und wie verändern diese
die Identität eines Viertels? Wie kann man sich die Veränderung der Popularität eines
Gebietes erklären und wie geht man damit um? Muss Aufwertung zwingendermassen Ver-
drängung bedeuten oder gibt es Massnahmen, um eine ausgeglichene Bevölkerungsstruktur
zu bewahren? Was sind die Ziele der jeweiligen Interessensgruppen und wie schätzen diese
die Situation in Zürich West ein? Ich möchte die Meinung jener Leute verstehen, die das
Quartier gestalten und besuchen, die dort arbeiten und wohnen, um somit auch die daraus
entstehenden Konfliktpotenziale auszuleuchten.

1 Kapitel basiert auf:
Schmid, Tina / Büchi, Andrea: Escher Wyss: von der Industriebrache zum Trendquartier.
Feller, Alessandro: Die Gentrifizierung Zürichs in Zahlen und Fakten.

4
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Nach einer Reihe von grundlegenden Recherchen wurden mehrere Gespräche geführt, um
diese teilweise sehr divergenten Interessen besser zu verstehen. Dazu habe ich Interessens-
gruppen gebildet, deren Meinung ich als wichtig und spannend empfinde:

o         Opfer der Gentrifizierung
		               Altbesitzer / Altbewohner
o         Profiteure der Gentrifizierung
		               Investoren: Immobilienentwickler / Bauunternehmer / Banken /
		               Finanzmarktakteure / Versicherungen
o         Kulturschaffende
		               Gewerbe / Restaurants / Clubs
o         Exekutive
		               Stadtregierung / Stadtplaner
o         Betrachter / Entwickler
		               Experten: Architekten / Soziologen

          Im Mittelpunkt stand immer die Frage, was sie an der Entwicklung des Viertels für
gelungen oder misslungen halten, wie es ihnen angesichts der Veränderungen geht, welche
Wünsche und Ziele sie haben und wie sie sich die Zukunft des Quartiers vorstellen.
          Meine Maturitätsarbeit soll bewusst Platz für subjektive Ansichten lassen, denn es
ist mir wichtig zu verstehen, was den Einzelnen bewegt und besorgt. Auch sollen die Ge-
spräche durch eine Reflexion meinerseits ergänzt werden. Schliesslich handelt es sich um
Themen, die das Leben eines jeden beeinflussen, darum sehe ich in den persönlichen Emp-
findungen und Meinungen anderer einen grossen Gewinn für die Tiefgründigkeit meiner
Arbeit.

                                                                                          5
Zürich West
Gentrifizierung Zürich West

        „Hier konzentrierten sich rauchende Industrie,
     Zentralfriedhof, Kehrichtverbrennung, Mietskaser-
                nen, Arme, Ausländer, Kleinkriminelle“
                                     (Hans Peter Bärtschi, 2007)

Abb. 1: Zürich 1905
 8
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Zürich West
Lage2
       Zürich West, auch als Quartier Escher-Wyss bekannt, bildet zusammen mit dem
Quartier Gewerbeschule den Zürcher Kreis 5. Die Grenze zwischen den beiden Quartieren
bilden Eisenbahnviadukt und –damm. Gegen Nordosten teilt die Limmat Zürich West von
Höngg und Wipkingen, vom Kreis 4 ist es durch die Gleise des Bahnhofs Hardbrücke ge-
trennt und im Nordwesten grenzt das Gebiet an Altstetten.

Geschichte
Mittelalter und Vorindustrialisierung3
       Im Mittelalter wurde die abgelegene Gegend des heutigen Zürich West primär land-
wirtschaftlich genutzt. In der Nähe verlief die Letzimauer, die mit dem Letzigraben als
äussere Grenzbefestigung diente. Aus dieser Zeit wurde der Hardturm erhalten, der im
14. Jahrhundert einen Brückenübergang an der Limmat sicherte. 1637 zählte das Gebiet
Aussersihl (heute Kreis 4 und 5) gerade 34 EinwohnerInnen und gehörte noch der Gemein-
de Wiedikon (heute Kreis 3) an.
       Die landwirtschaftliche Nutzung des Gebiets setzte sich bis in das 18. Jahrhundert
fort, aber in Form von Schrebergärten für die StadtbürgerInnen. Einerseits bot das den
ZürcherInnen die Möglichkeit zurück in die Natur zu finden, andererseits förderte es die
landwirtschaftliche Produktion im Kanton. Bis zum Bau des „Gleisbogens Zürich West“ im
Jahr 2012 blieb ein Teil dieses Gebietes für Gärten erhalten.
       1787 lebten in Aussersihl 558 Menschen. Das Gebiet löste sich von Wiedikon und
wurde als Gemeinde Aussersihl selbstständig. Erst im Jahr 1912 trennte sich der Kreis 5 von
der Gemeinde und gilt seither offiziell als Industriequartier.
       Diese Gegend galt für die Stadt als „Abfallgebiet“. Schon im Mittelalter wurden
ansteckende Heimkehrer der Kreuzzüge in dieses Gebiet verbannt.4 Mit dem Zuzug der
lärmenden und rauchenden Industrie setzte sich dieser Trend fort.

2      Statistik Stadt Zürich: Quartierspiegel 2015: Escher Wyss, S. 4.
3      Kapitel basiert auf:
       Statistik Stadt Zürich: Quartierspiegel 2015: Escher Wyss, S. 4.
       Bärtschi, Hans Peter: Zürich West: Vom Industrie- zum Trendquartier.
4      Bärtschi, Hans Peter: Zürich West Vom Industrie-zum Trendquartier.

                                                                                                 9
Gentrifizierung Zürich West

Industrialisierung5
        Die Errichtung des Zürcher Hauptbahnhofs 1846 beschleunigt die Industrialisie-
rung in Zürich. Grosse Gebiete werden westlich des Hauptbahnhofs gekauft und Fabrikan-
ten errichten riesige Produktionshallen in Zürich West (vgl. Chronologie S. 12). Mit der In-
dustrialisierung kommt auch das Elend. Tausende Menschen ziehen in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts nach Zürich. 1893 leben bereits 30’000 Einwohner im Arbeiterviertel
Aussersihl. Grundeigentümer nutzen infolge dieser Verstädterung den Mangel an Wohnun-
gen aus und erhöhen den Quadratmeterpreis um bis zu 500%. Selbst kleine Wohnungen
können nicht mehr bezahlt werden, Geld für Heizung und Licht fehlt und hygienische
Vorrichtungen gibt es oft nur ausserhalb der Wohnstätten. Frauen müssen in ihren Schlaf-
zimmern mit Heimarbeit zusätzlich Geld verdienen und es leben oft zwei Familien in einer
3-Zimmer-Wohnung. Verständlicherweise fordern Seuchen wie Cholera im Armenviertel
ihre Opfer und in Aussersihl gibt es gerade einmal einen Lehrer pro 100 Schüler.

Modell Escher-Wyss
        Bedeutend für dieses Gebiet ist der Zuzug der Escher, Wyss & Cie ab dem Jahr 1891.
Gegründet 1805 von Architekt und Ingenieur Hans Caspar Escher und Bankier/Jurist Salo-
mon von Wyss ist die Firma zunächst Baumwollspinnerei. Bald sieht sich das Unternehmen
gezwungen selber Ersatzteile für seine Webmaschinen zu produzieren, da Napoleon zu die-
ser Zeit den Import Englands sperrt. Der Maschinenbau zeigt sich als äusserst lukrativ und
die Firma beginnt Wasserräder, Dampflokomotiven und seit 1835 auch Dampfschiffe her-
zustellen. Der ursprüngliche Standort im Stadtzentrum (Neumühlequai) wird bald zu klein
und die Firma verlegt ihren Standort in den heutigen Kreis 5, der noch ländlich aussieht
und viel Platz bietet, da er schon immer spärlich bewohnt worden ist. Die Weltwirtschafts-
krise 1929 trifft das Unternehmen schwer, denn 80% der Produktion geht dazumals in den
Export. Zunächst versuchen Banken das Unternehmen zu retten, denn schliesslich beschäf-
tigt es damals 1’900 Mitarbeitende und ist einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt. In
den 30er Jahren schreitet schliesslich die Regierung ein, um das Fortbestehen zu sichern.
Nach dem Ende des Krieges erlebt Escher-Wyss einen grossen Aufschwung im zerstörten
Europa. Im Jahr 1963, dem Höhepunkt der Blütezeit, beschäftigt die Firma 2’300 Personen.
1966 übernimmt der Winterthurer Industriekonzern Sulzer den Betrieb.
        Das Escher-Wyss-Areal allein macht mit seinen 17 Hektaren einen Zehntel der be-

5 Kapitel basiert auf:
Bärtschi, Hans Peter: Zürich West Vom Industrie-zum Trendquartier.

10
Maturitätsarbeit Susana Tavares

baubaren Fläche des Kreises 5 aus. Es erstreckt sich zwischen Hardbrücke, Hardturm-,
Förrlibuck- und Pfingstweidstrasse. Ab den 90er Jahren ist das Areal stückweise verkauft,
umgenutzt und neu bebaut worden.6
       Escher-Wyss dient als gutes Modell für die Blütezeit und den Abschwung der Indus-
trie in der Schweiz. Andere bedeutende Firmen, die in Zürich West einen ähnlichen Prozess
durchlebt haben, sind die Brauerei Löwenbräu, die Zahnradfabrik Max Maag, die Textil-
färberei Schoeller und die Seifensiederei Steinfels. Vereinfacht gilt (vgl. Chronologie): Die
Firmen ziehen in den 1880er, als die Bodenpreise noch tief liegen, in das Gebiet und kaufen
grosse Grundstücke auf. Während der Weltwirtschaftskrise 1929 erlebt die Industrie einen
massiven Einbruch und in den 1960ern ihre Blütezeit. 1966 ist jeder zweite Arbeitsplatz in
der Schweiz in der Industrie oder im Baugewerbe.7 Ab den 70ern beginnt die Schweizer
Industrie zu zerfallen. Die Firmen werden liquidiert, von der Konkurrenz übernommen,
verschieben ihren Produktionsstandort oder steigen in andere Sektoren wie die Immobilien-
branche um. Das hat zur Folge, dass ab den 90ern riesige ehemalige Fabrikhallen leer ste-
hen: Schweizweit sind es 400 km2 Brachen.8 Grosse Teile davon liegen im Industriequartier
Zürich West und in Zürich-Nord.

6      Dieser Abschnitt basiert auf:
       Unbekannt: Escher-Wyss – Die Geschichte.
7      Bärtschi, Hans Peter: Zürich West: Vom Industrie- zum Trendquartier.
8      Bärtschi, Hans Peter: Zürich West: Vom Industrie- zum Trendquartier.

                                                                                            11
Gentrifizierung Zürich West

Chronologie Zürich West
      Mitte 1780er
     Gründung der Kattundruckerei Esslinger als erste grosse Fabrik im Industriequartier
     mit 500 Arbeitsplätzen9
      1865
     Albers & Co verlegt den Sitz der Tochterfirma Schoeller AG (Kammgarnspinnerei und
     Textilfärberei) auf das Hardturm-Areal.10
      1874
     Stadt Zürich erwirbt Getreidemühle und vermietet sie an den Streuwürzfabrikanten
     Eugen Maggi. Heute ist diese Mühle unter dem Namen Swissmill eines der letzten in-
     dustriellen Produktionsbetriebe im Quartier.11
      1876
     Gründung Daverio AG (Bau von Mühlen, Förderanlagen, Posttechnik, Drucknachbe-
     arbeitung, Logistik-Systemen)12
      1891
     Escher-Wyss beginnt den Bau der neuen Fabrik in der Hard. Es entsteht ein 17 Hekt-
     ar grosses Areal.13
      1895
     Friedrich Steinfels (Seifensiederei) AG erbaut auf 30‘000 m2 neue Fabrikationsanla-
     gen.14
      1898
     Löwenbräu Zürich AG errichtet Brauerei an der Limmatstrasse, damals galt er als
     modernster Betrieb der Schweiz.15
      1904
     1. Inbetriebnahme des Kehrichtheizkraftwerks Josefstrasse14
      1913
     Max Maag kauft Gebäude der liquidierten Automobilfabrik „Safir“ und gründet die
     Max Maag Zahnradfabrik.15
     • 1963
     Escher-Wyss beschäftigt 2‘300 Personen16
      1968
     Maag Areal wird zuletzt erweitert und modernisiert. Maag ist zeitweise weltweit füh-
     rend in der Herstellung von Getrieben für Gasturbinen und Kompressoren, für Schif-
     fe sowie für Zementfabriken.12
      1977
     Toni-Molkerei wird eröffnet, damals grösster europäischer Milchverarbeitungsbetrieb
     (täglich bis zu 1 Mio. Liter)17
      1980er
     Maag beschäftigt über 1200 Mitarbeiter12

9       Bächli, Daniela / Meyer, Thomas: Unterwegs entlang der Limmat und in Zürich-West.
10      Surber, Kaspar: Reich bleiben und schweigen.
11      Unbekannt: Swissmill - Die Schweizer Getreidemühle: Lange Tradition.
12      Unbekannt: Zürich-West.
13      Loderer, Benedikt / Huber, Werner: Escher-Wyss-Areal - Die Industrie bleibt!.
14      Schulamt Stadt Zürich (Hg.): “Gang dur Züri”: Zürich West.
15      Ramezani, Kian / Gilliand Mathieu: 12 Vorher-nacher-Bilder aus der Büezer-Stadt Zürich, als im
        Schiffbau noch Schiffe gebaut wurden.
16      Unbekannt: Escher-Wyss – Die Geschichte.
17      Allreal-Gruppe (Hg.): Toni Areal 8005 Zürich, S. 9.

12
Maturitätsarbeit Susana Tavares

      1982
     Eröffnung des Bahnhofs Hardbrücke14
      1987
     Löwenbräu wird von Konkurrenten Hürlimann übernommen und stillgelegt.18
     Giessereihalle der Sulzer Escher-Wyss wird eingestellt.18
      1988
     Daverio AG wird von Müller Martini übernommen12
     Albers & Co stellt den Betrieb der Textilfärberei Schoeller AG ein. Ihre Tochtergesell-
     schaft Hardturm AG ist im Immobilienbereich tätig.12
      1990
     Steinfels verlagert Produktion nach Wetzikon. Heute existiert die Firma noch als Lie-
     genschaftsverwaltung.14
     Maag-Zahnräder AG wird aufgeteilt. Der industrielle Teil geht an ausländische Unter-
     nehmen, Rumpfgesellschaft ist im Immobilienbereich tätig.12
      1993
     Technopark wird eröffnet und bietet heute 300 Unternehmen auf 47‘000m2 Platz.14
     Nach Phase der Zwischennutzungen (Glacé-Garten und Club Rohstofflager) wird das Kino
     Cinemax auf dem Steinfels-Areal eröffnet. Es kommen der Wohn- und Bürokomplex
     West-Side und die ZKB dazu.15
      1997
     Beginn der Überbauung Limmatwest nach Phase der Zwischennutzung auf Schoel-
     ler-Areal (Gewerberäume und über 300 Wohnungen)19
      1999
     Toni-Molkerei wird stillgelegt: neuer Grundstückbesitzer ist die ZKB, die das Areal
     für kulturelle Zwischennutzungen freigibt. Clubs wie Rohstofflager, Tonimolkerei,
     Dachkantine, aber auch Events, Kunstausstellungen und Sportturniere finden hier
     ihren Platz.20
      2000/01
     Müller Martini Logistik-Systeme AG (Daverio AG) wird stillgelegt.12
     Schauspielhaus zieht in den Schiffsbau.13
      2004
     Umbau des Viadukts14 & Eröffnung des Puls 5 in der ehemaligen Giesserei auf dem
     Escher-Wyss-Areal14
      2011
     Fertigstellung des Prime Towers21
      2014
     Eröffnung des Hochschulcampus auf dem Toni-Areal22

18      Statistik Stadt Zürich: Quartierspiegel 2015: Escher Wyss, S. 6.
19      Unbekannt: Limmatwest.
20      Allreal-Gruppe (Hg.): Toni Areal 8005 Zürich, S. 10.
21      Unbekannt: Prime Tower
22      Allreal-Gruppe (Hg.): Toni Areal 8005 Zürich.

                                                                                                 13
Gentrifizierung Zürich West

„Sobald irgendwo etwas leer steht (...) fangen natür-
lich verschiedene Gruppierungen an, mit diesen frei-
        werdenden Flächen irgendetwas zu machen“
                                          (Matthias Meier)

14
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Entwicklung seit den 90ern
Zwischennutzung und kooperative Planung
       Anfangs der 90er Jahre steht man in Zürich West vor dem Problem, dass durch den
Rückzug der Industrie zunehmend Flächen frei werden. Hinzu kommt der Attraktivitäts-
verlust der Stadt, unter anderem durch die Drogenszene und mangelnde Infrastruktur, was
viele Leute dazu bewegt in ländlichere Gebiete zu ziehen. Die Stadt befindet sich in einer
Abwertungsspirale (siehe Abb. 2). Das führt zu tiefen Mietpreisen auf den freigewordenen
Arealen, von denen vor allem junge Leute, die sogenannte ‚Kreativszene’, profitiert. Ande-
rerseits verfolgt Zürich eine restriktive Politik, besonders wenn es um Bewilligungen für
Anlässe oder den Nachtbetrieb geht. Die Jugendunruhen in den 80ern prägen immer noch
das städtische Ambiente und es entstehen halblegale Clubs und Bars in den stillgelegten
Fabriken. Das ist die Phase der Zwischennutzungen. Dieser Nachtbetrieb verhilft Zürich
West zu neuer Popularität und man stellt sich zunehmend die Frage, in welche Richtung
sich das Quartier entwickeln soll.23
       Um die mögliche Umnutzung frei gewordenen Flächen zu klären und einzelne In-
teressensgruppen an einem Tisch zu bringen, beginnt die Stadtregierung 1995 mit der Or-
ganisation des Stadtforums. Man realisiert, dass sich sowohl die Wirtschaft wie auch die
Gesellschaft in einem Umbruch befinden und dass es sicher von Vorteil ist, die betroffenen
Parteien in die Planungen einzubeziehen, denn dies schafft Transparenz und gegenseitiges
Verständnis. Je vier Repräsentanten aus den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft, Verwal-
tung, aber auch Grundeigentümer, Bewohner und Experten treffen sich zehn Mal in dem
genannten Stadtforum, um Themen wie Strukturwandel der Wirtschaft, Wohnen und Frei-
raum, Verkehr und Aufwertung zu diskutieren. Dieses Stadtforum erarbeitet die Grundlage
für die danach ansetzende kooperative Planung. Man ist sich einig, dass bei der Aufwertung
der Forumsgebiete (Limmatraum, Escher-Wyss Quartier, Wohnmischgebiet Kreis 4/5 und
Altstetten-Grünau) „Wirtschaft, öffentliche Hand und Öffentlichkeit gleichberechtigt mit-
wirken“ sollen.24
       Um die Jahrtausendwende setzt die konkrete kooperative Planung ein. Behörden,
Grundeigentümer, Experten und Planungsteams arbeiten zusammen und vereinbaren in
einer ersten Phase Grundsätze für die Entwicklung. Zu dieser Zeit sind bereits wichtige
Bauten wie der Technopark errichtet worden, einige Dienstleistungsfirmen haben sich an-

23     Dieser Absatz basiert auf:
       Gespräch Matthias Meier.
24     Dieser Absatz basiert auf:
       Arras, Hartmut / Keller, Donald: Stadtforum Zürich: Schlussbericht.

                                                                                             15
Gentrifizierung Zürich West

gesiedelt, erste Restaurants und Hotels kommen dazu und erste Wohnungen sind in Bau
(siehe Chronologie und unten). Zusammen mit den sportlichen Events im Hardturm-Sta-
dion wird das Quartier schon vielfältig genutzt.25 Diesen „Nutzungsmix“ will man beibe-
halten und sieht das Vorhandene als Basis für die weitere Aufwertung, um die Identität des
Quartiers zu bewahren. Auch werden Richtwerte für Freiraumflächen von 5m2 pro Arbeits-
platz und 8m2 pro Einwohner festgelegt sowie eine Ausnützung von 2,0 - 3,0. Diese Aus-
nützungsziffern berechnet man, indem man die Geschossfläche durch die Landfläche teilt.
(Bsp.: Auf einem 100m2 grossen Grundstück errichtet man ein Gebäude mit einer Erd- und
Obergeschossfläche von je 100m2: 200m2 / 100m2 = 2,0).26 Der vorgeschriebene Wohnanteil
von 20-30% gilt als sehr ambitiös, doch um ein gemischtgenutztes Quartier zu erreichen, ist
ein festgesetzter Wohnanteil ein wichtiger Aspekt.27
       In einer zweiten Phase entwickelt man Konzepte, um den Rahmen für den Prozess
der Aufwertung zu schaffen. Es werden zwölf „städtebauliche Prinzipien“ definiert, die „die
zukünftige Identität des Stadtteils Zürich West steuern“ sollen.28 Man will sowohl die recht-
winklige Rasterstruktur, wie auch die Grossmasstäblichkeit der ehemaligen Industrieareale
beibehalten. Diese Prinzipien schreiben auch markante Freiräume vor und weisen auf die
Bedeutung von Nischen und Gassen sowie auf die Lenkung des Verkehrs hin.29
       Die Analyse der Entwicklung in den 90er Jahren beweist, dass das Quartier nicht
einfach seinem Schicksal überlassen worden ist und die Entwicklung nicht rein zufällig so
geschehen ist. Die Stadt und Investoren erkennen Zürich Wests Potenzial und durch den
frühzeitigen Einbezug der tangierten Gruppierungen in den Planungsprozess wird eine ge-
meinsame Vorstellung davon entwickelt, wie Zürich West in Zukunft aussehen soll.

       Im Folgendem sollen wichtige Areale und Projekte kurz vorgestellt werden, um
einen Überblick vom Stadtquartier zu erhalten und konkrete Beispiele aufzuzeigen. Einige
Projekte sind noch nicht abgeschlossen oder noch in Planung, also noch sehr aktuell und
in ständiger Veränderung. Zur Orientierung dient die rechts abgebildete Karte.

25     Hochbaudepartement der Stadt Zürich Amt für Städtebau (Hg.): Kooperative Entwicklungspla-
       nung Zürich West: Synthesebericht der Stadt Zürich und der mitwirkenden Eigentümer.
26     Gespräch Matthias Meier.
27     Gespräch Simon Keller.
28     Hochbaudepartement der Stadt Zürich Amt für Städtebau (Hg.): Entwicklungskonzept Zürich
       West: Kooperative Entwicklungsplanung.
29     Hochbaudepartement der Stadt Zürich Amt für Städtebau (Hg.): Entwicklungskonzept Zürich
       West: Kooperative Entwicklungsplanung.

16
Maturitätsarbeit Susana Tavares

                                                 Abb. 2: Stadtentwicklung mit Auf- und Abwärtstendenzen

  Abb. 3: Die Stimulation von Zürich-West (bearbeitet). Umrahmte Gebiete werden in der Arbeit besprochen.

In der Arbeit erwähnt: 1 Josefwiese, 2 Viaduktbogen, 3 Gerold-Areal, 4 Schiffbau, 5 Maag-Areal, 6
Welti-Furrer, 7 Les Halles, 9 Turbinenplatz, 10 Puls 5, 11 Escher-Wyss-Platz, 12 Tramdepot, 13 MAN
Industrieareal, 17 Toni-Areal, 19 Hardturm-Stadion

                                                                                                     17
Gentrifizierung Zürich West

Der Turbinenplatz: Schön gestaltet, an einem sonnigen Samstagnachmittag trotzdem gespenstig leer
Escher-Wyss-Areal30
        Das Escher-Wyss-Areal stellt das grösste Gebiet in Zürich West dar. Mit seinen 17
Hektaren Fläche bietet es nach dem Wegzug von Escher-Sulzer AG viel Platz für neue Pro-
jekte. So entsteht 1993 als erstes der Technopark, der die gesamte Entwicklung auf dem Areal
initiiert. Der Technopark bietet Platz für Start-up-Firmen, Organisationen und Forschungs-
gruppen. Vor dem Technopark findet man den grössten Platz Zürichs: den Turbinenplatz. Er
bildet das Zentrum des Areals. Rund um ihn stehen einige Neubauten wie zwei Ibis Hotels
und der Kulturpark, aber auch noch erhalten gebliebene Reste aus der Industriezeit. So ist
die Giessereihalle in eine Markthalle mit Lebensmittelläden, Fitnesscenter, Coiffeur und
Restaurants umgewandelt worden. Die Substanz der Halle ist bei der Renovation erhalten
worden, was den Besucher zurück in die Zeit der Industrie versetzt. Sie hat eine Fläche von
1’540m2 und eine Raumhöhe von 8 bis 10 Metern. Um die Halle sind Wohnungen, Läden
und Restaurants entstanden. Dieses Areal wird daher gemischt genutzt. Ebenfalls ist der
Schiffbau erhalten worden, wo - wie es der Name sagt - früher Schiffe gebaut worden sind.

30     Dieses Kapitel basiert auf:
Loderer, Benedikt / Huber, Werner: Escher-Wyss-Areal - Die Industrie bleibt!

18
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Seit 2000 nutzt das Schauspielhaus Zürich die Halle als Produktions- und Spielstätte. Ähn-
lich wie mit der Giessereihalle errichtet man um das Industriegebäude einige Neubauten
für Wohnungen (19 Eigentumswohnungen) und Restaurants. Das steht in Einklang mit den
Entwicklungszielen der Stadt, die ja einen Nutzungsmix vorschreiben. Interessant ist hier-
bei das Generalunternehmen Allreal, das die letzten 5.2 Hektare des Areals aufgekauft hat.
Allreal ging beim Aufwerten seines Areals anders vor, was unter dem Punkt Gespräche weiter
erläutert wird.
       Das Ambiente auf diesem Areal ist auffällig: Wenn man an einem Wochenende oder
Abend beispielsweise durch die Halle des Puls 5 geht, ist sie meistens ziemlich leer. Da die
Grossmassstäblichkeit der Industrie strikt beibehalten worden ist, fühlt man sich dort sehr
klein und Schritte hallen von den Wänden zurück. Besonders wenn man von belebteren
Teilen der Stadt den Weg hierhin findet, wirkt das Gebäude im Innern kahl, nahezu steril.
Durch den Haupteingang kommt man mit diesem Gefühl zum Turbinenplatz. Auch hier
herrscht diese Atmosphäre von einem leerstehenden, verlassenen Ort. Dabei werden solche
Freiräume in der Regel von den Bewohnern sehr geschätzt. Es ist ein kleines Phänomen,
dass man keine Besucher in dieses Gebiet bringen kann. Dies sorgt immer wieder für Dis-
kussionen und wird auch in den folgenden Gesprächen speziell angesprochen. Ganz anders
ist es beim Schiffbauplatz, der gegen die Hardstrasse zeigt. Hier bringt der Pendlerstrom der
Hauptstrasse Leben in das Areal.

                                                                                         19
Ursprünglich für den Gütertransport der Industrie errichtet, bietet
das Viadukt in seinen Bögen heute zahlreichen Läden Platz
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Neue Hard
       Die Neue Hard ist das Gebiet zwischen Eisenbahnviadukt und Hardstrasse. Dieser
Teil des Viertels erscheint sehr lebendig: Einerseits liegt das an der Nähe zum Bahnhof
Hardbrücke, andererseits herrscht hier ein grosses Ausgeh- und Einkaufsangebot, das Be-
sucher anzieht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Eisenbahnviadukt, das 2004 umgebaut
worden ist und seitdem in seinen Bögen kleinen Läden und Restaurants Platz bietet. Dank
mehrfachen Protesten der Anwohner und der Zwischennutzer in den 90ern ist das Viadukt
zu einer vielfältigen Flaniermeile umgestaltet worden. Hinter dem Viadukt befindet sich
die Josefwiese, die als eine der wenigen Grünoasen von vielen Menschen und besonders
Familien sehr geschätzt wird. Auch ist das Gerold-Areal neben dem Bahnhof mit seinen
Ausgehlokalen, die noch an die improvisierten Bars und Clubs der 80er erinnern, nach
wie vor beliebt. Hier steht der aus 19 aufeinandergestapelten Frachtcontainern bestehende
Freitag Tower31, sowie Frau Gerolds Garten, ein Stadtgarten, der je nach Jahreszeit verschiedene
gastronomische und kulturelle Angebote bietet32. Zusätzlich befinden sich hier der Nacht-
club Hive und zahlreiche Restaurants. Weiter in Richtung Wipkingen erreicht man den Ge-
bäudekomplex Steinfels. Die ehemalige Seifenfabrik ist zu Loftwohnungen umgebaut worden
und auch hier wird das Areal gemischt genutzt. So befinden sich hier sowohl Büros, wie
auch Restaurants, das Kino Abaton und sogar ein TV-Studio (Schweizer Sportfernsehen).33
Allgemein kann man sagen, dass entlang der Hardstrasse viel Bewegung herrscht, was den
Eindruck erweckt, Zürich West sei in der Tat ein Ausgehquartier. Das könnte man auf die
Tatsache zurückführen, dass dieses Gebiet sein ursprüngliches Flair behalten konnte. Im
Jahr 2020 wird die Kehrichtverbrennungsanlage, die sich noch in dieser Gegend befindet,
eingestellt, was wieder eine Chance für neue Projekte darstellt.

31     Unbekannt: Freitag Tower.
32     Unbekannt: Frau Gerold.
33     Unbekannt: Steinfels Areal.

                                                                                            21
Gentrifizierung Zürich West

Erinnerungen an die Industrie und moderne Glasfassaden stehen auf dem Maag-Areal Seite an Seite.

Maag-Areal Plus
        Das Maag-Areal Plus umfasst das Gebiet zwischen Hardstrasse, Pfingstweidstrasse
und Gleisbogen. Im Jahr 2000 schliessen sich die Eigentümer der einzelnen Teilparzellen
(Maag, Coop, Welti-Furrer und die Stadt Zürich) zu einer Planungsgemeinschaft zusammen
und entwickeln ein Planungskonzept für dieses Gebiet. Vorgesehen ist eine Nutzung von
260 Prozent, ein zentraler Park, Verkehrserschliessung mit Rad- und Fussweg sowie einen
Wohnanteil von 25 Prozent.34
        Das Quartier wird in der Tat vielfältig genutzt. Unübersehbar ist der Prime Tower,
der 126m in die Höhe ragt. Hier arbeiten rund 2000 Menschen im gehobenen Dienstleis-
tungssektor. Daneben sind weitere Bürogebäude mit ebenso edlen Namen entstanden: der
Annexbau Cubus für Kleinbüros und Archive, das Geschäftsgebäude Plattform und das aus
der Industriezeit erhalten gebliebene und renovierte Diagonal.35 Mit gläsernen Fassaden und
exzentrischen Formen wirkt dieses Areal futuristisch und elegant. Hier ist besonders am
Morgen zu Arbeitsbeginn und am Feierabend viel los. Da strömen die fein angezogenen Ge-

34      Unbekannt: Maag-Areal Plus.
35      Unbekannt: Prime Tower.

22
Maturitätsarbeit Susana Tavares

schäftsleute zu ihren Arbeitsplatz oder aus ihren Büros Richtung Bahnhof Hardbrücke.
       Hinter dem Prime Tower ist im Sommer 2017 das Provisorium der Tonhalle errichtet
worden.36 Für viele Besucher war es damals ungewohnt, im Kreis 5 statt im Kreis 2 klas-
sische Konzerte zu besuchen, da dem Gebiet Aussersihl immer noch sein schlechter Ruf
anhaftete. Hier sieht man, wie stark sich das Viertel verändert hat. Mittlerweile ist die Be-
geisterung für diese Konzerthalle so gross, dass die Tonhalle diskutiert, das Provisorium
permanent weiter zu führen.
       An der Pfingstweidstrasse in Richtung Gleisbogen befindet sich die Siedlung City
West. Dieses Areal gehört Coop und es sind 600 Wohnungen sowie Büro- und Gewerberäu-
me mit 1400 Arbeitsplätze entstanden. Eines der Gebäude erkennt man bereits aus der Fer-
ne: den Mobimo Tower mit der Aufschrift Renaissance. Die Aufschrift ist der Name des Hotels,
das hier 300 Zimmer anbietet. In den oberen Etagen befinden sich Luxuswohnungen mit
Hotel Service, die laut ihrer Homepage „Modernes Wohnen auf hohem Niveau“ verspre-
chen.37 Ob in diesem Teil des Quartiers tatsächlich eine „Wiedergeburt“ stattgefunden hat,
ist fraglich. Viele empfinden diese Bauten als leblose Steinwüsten, was berechtigt scheint,
wenn man nachmittags dort spazieren geht. Auch hier bemerkt man dasselbe Phänomen
wie am Escher-Wyss-Areal: Zur Hardstrasse hin, also beim Prime Tower und der Maag Hal-
le, herrscht rund um die Uhr reger Betrieb, gegen Pfingstweidstrasse und weiter Richtung
Altstetten, wird es immer verlassener.
       Auf dem Gebiet der Welti-Furrer AG, das sie noch für kurze Zeit als Standort braucht,
ist für die Zukunft auch schon der nächste grosse Bau geplant. Hier sollen unter dem Na-
men Prime2 „hochwertige Büroflächen per 2020“ (siehe Titelblatt “Gentrifizierung”) ent-
stehen. Über die Folgen dieses Neubaus erzählt beispielsweise der Musiker Dodo, der hier
schon lange sein Studio hat. Viele Texte seines im August 2017 erschienen Album Pfingstweid
beschreiben die Situation in Zürich West auf eindrückliche Art und Weise. Dodo selbst
musste sein Studio vor kurzem verlassen, um Platz für eben diesen Neubau zu machen.

36     Unbekannt: Provisorium Maag Halle Zürich.
22     Unbekannt: Mobimo Tower.

                                                                                         23
Gentrifizierung Zürich West

Hotspot im hinteren Teil Zürich Wests oder isolierte Insel? Das Toni-Areal spaltet Meinungen
Hinteres Zürich West
        Geht man entlang der Pfingstweidstrasse in Richtung Altstetten, dann fällt einem
ein markanter, grauer Hochbau auf: das Toni-Areal. Einst die grösste Molkerei Europas, be-
herbergt das Gebäude heute in rund 2000 Räumen die Zürcher Hochschule der Künste und
das Departement für Soziale Arbeit der ZHAW. Das sind rund 5000 Studierende, Dozieren-
de und Mitarbeiter, die auf 8 Geschossen im Haupttrakt bzw. 22 Stockwerken im Hochbau
studieren und arbeiten. Hinzu kommen noch 100 Mietwohnungen. Nach der Liquidation
der Toni Molkerei erweist sich die Umnutzung des Areals als anspruchsvolle Aufgabe, denn
es gilt ein privater Gestaltungsplan, der festlegt, dass die bestehende Tragstruktur sowie die
räumliche Wirkung des Gebäudes erkennbar bleiben müssen. Lange waren hier verschie-
dene Clubs zwischenzeitlich untergebracht, bis die Stadtregierung 2005 den Entscheid der
Umnutzung zur Hochschule fällte. Neun Jahre später und nach der Investition von mehr
als 500 Millionen Franken wird der Studienbetrieb aufgenommen.38 Die Hochschule zieht
viele junge Menschen in den abgelegenen Teil des Quartiers. Kritiker behaupten jedoch,
das Gebäude sei trotz öffentlich zugänglicher Dachterrasse und Durchgang introvertiert und

38      Allreal-Gruppe (Hg.): Toni Areal 8005 Zürich.

24
Maturitätsarbeit Susana Tavares

fördere die Lebendigkeit im hinteren Teil des Quartiers nicht. So behauptet der ETH-Pro-
fessor und Stadtforscher Christian Schmid in einem kürzlich erschienenen NZZ-Artikel,
das Gebäude sei nach aussen “fast hermetisch abgeriegelt” und sei ein gutes Beispiel für
die in Zürich “typische, durchdesignte Biederkeit”. Man habe so krampfhaft das Quartier
beleben wollen, sodass man durch übersteigerte Planung die Urbanität und die Offenheit
erstickt habe.39 Die Hochschule sei eine geschlossene Insel, die Innen zwar belebt sei, doch
nichts von dieser Energie nach aussen ausstrahlen könne.
         Sehr aktuell ist die Diskussion um das Hardturm-Stadion, das 2008 abgerissen wor-
den ist. Seit zehn Jahren hat Zürich kein richtiges Fussballstadion, weil man sich bisher
nicht auf eine Lösung einigen konnte. Im November 2018 kommt ein erneuter Versuch vors
Volk: das Projekt Ensemble. Es sieht für das Areal ein dreiteiliges Projekt, bestehend aus Sta-
dion, Genossenschaftssiedlung und zwei Wohnhochhäusern, vor.40 Jedoch stösst auch dieser
Plan auf Widerstand, besonders wegen den zwei 137 Meter hohen Türmen, die die höchsten
im Kanton wären. Einerseits stellen sich die Bewohner des Hönggerbergs dagegen, weil die
Türme ihre Sicht auf den Zürichsee stören würden, andererseits die SP, wegen der privati-
sierten Nutzung der Türme. Sie fordern ein Projekt, das vom Staat finanziert wird und nur
genossenschaftliches Wohnen bietet.41 Dazu kommt ein neues Komitee namens “Bürgerli-
ches Nein zum Projekt Ensemble”, welches das Projekt aus städtebaulichen Gründen ablehnt.
Auch weisen sie auf die zunehmende Fangewalt und der Intransparenz der Finanzierung
hin.42

39       Schoop, Florian / Baumgartner, Fabian: Zürich-West und der urbane Albtraum.
40       Unbekannt: Fussball, Wohnen und Quartierleben.
41       Siegrist, Patrice: Jetzt sammelt die SP für eine vierte Hardturm-Abstimmung.
42       Siegrist, Patrice: Jetzt bekämpft Nationalrätin Kathy Riklin das Zürcher Stadion.

                                                                                                  25
Gentrifizierung Zürich West

Statistik
       Besonders interessant und wichtig für die weitere Diskussion des Themas ist die
Analyse der Statistiken. Die Stadt veröffentlicht regelmässig Berichte zu den Veränderun-
gen im Quartier, wie zum Beispiel im Quartierspiegel oder in Präsentationen. Der Fokus
wird dabei vor allem auf die Bevölkerungsentwicklung, auf die Bautätigkeit, die Anzahl
Beschäftigten, aber auch auf die Zufriedenheit der Bewohner gesetzt.
       Im Rahmen von Statistik um 12 präsentieren Tina Schmid und Andrea Büchi, Soziolo-
ginnen beim Amt für Statistik der Stadt Zürich, im November 2017 Zahlen und Fakten rund
um die Entwicklung in Zürich West. Besonders wird mit den Zahlen aus dem Jahr 1996
– einem Jahr, bevor die Stadtregierung das Stadtforum einberief, als die Industrie definitiv
auszog und Zürich mit der offenen Drogenszene zu kämpfen hatte - und aus dem Jahr 2016
gearbeitet.
       1996 gibt es in Zürich West um die 700 Wohnungen und die Einwohnerzahl erreicht
nicht einmal die 2000er Marke. Im Laufe der letzten 20 Jahren hat sich der Wohnungs-
anteil vervierfacht und es leben um die 6000 Menschen im Viertel. Auch die Arbeitsplätze
haben sich von ca. 13’000 auf 30’000 mehr als verdoppelt.
       Speziell ist aber, wie im Stadtgebiet gebaut worden ist. Verglichen mit der Stadt
sind hier überdurchschnittlich grosse Wohnungen entstanden, das heisst die Wohnfläche
pro Person ist grösser als üblich. Die Wohnungen sind mehrheitlich im Besitz privater Ge-
sellschaften (mehr als 50%) oder als Stockwerkeigentum verkauft worden. Dabei muss man
bedenken, dass es sich um Neubauten handelt. Wenn man all diese Faktoren miteinbezieht,
verwundert es nicht, dass der mittlere Mietpreis für eine 3-Zimmer-Wohnung in Zürich
West 2370 Franken beträgt. Oft wird in dieser Diskussion eingeworfen, dass Wohnen all-
gemein – und besonders in der Stadt - immer teurer wird, doch auch verglichen mit dem
städtischen Schnitt (1590 Franken) zeigt sich ein klarer Trend für das Bauen von Wohnun-
gen in höheren Preissegmenten.
       Besonders kritisch wird diese Tatsache, wenn man vergleicht, wie viele Wohnungen
leer stehen. In einem 2014 in der NZZ erschienenen Artikel, berichtet Irène Troxler über
die Fehleinschätzung vieler Investoren im Quartier. Die Zahlen sind schockierend: Im Mo-
bimo Tower waren anderthalb Jahre nach Bezug 15 der 53 Wohnungen nicht verkauft worden,
auf dem Löwenbrau-Areal ein Jahr nach Bezug 13 von 58, in der Überbauung Am Pfingstweidpark
standen ein Drittel der 100 Wohnungen nach Beginn des Bezugs leer und kurz vor der Fer-
tigstellung der Wohnungen im Toni-Areal waren 40 von 100 Wohnungen noch zu vermieten.43

43     Troxler, Irène: Auch Mietwohnungen stehen leer im „Trendquartier“.

26
Maturitätsarbeit Susana Tavares

In Anbetracht des akuten Wohnungsmangels in der Stadt, sind diese Zahlen schockierend.
Als Gründe für das Desinteresse werden der fehlende Grünraum, die hohe Verkehrsbelas-
tung sowie der fehlende Nachbarschaftscharakter des Viertels genannt. Schliesslich sei der
Wohnanteil nach wie vor gering und das Quartier vorwiegend ein Arbeitsplatz.
       Diese Tendenz zeigt sich auch in der Bevölkerungsstruktur. Das mittlere steuerbare
Einkommen liegt in Zürich West bei 60’000 Franken, was so hoch ist wie im Seefeld und
sogar höher als am Zürichberg.44 Laut Statistik um Zwölf leben in Zürich West mehrheitlich
Paare zwischen 30 und 50 Jahre ohne Kinder, praktisch keine Personen über 80 und etwas
mehr Männer als Frauen. Nennenswert ist auch der Ausländeranteil im Kreis 5, der 1993
49% betrug und seitdem stetig abgenommen hat (2016: 33%).45 Dies beruht darauf, dass
früher vorwiegend Industriearbeiter hier gelebt haben. Man könnte hier auch ein Indiz für
Verdrängung von tieferen sozialen Klassen sehen.
       Ein anderer Schwerpunkt der Statistik um 12 ist die Zufriedenheit in der Bewohner-
schaft. Diese wird durch Bevölkerungsbefragungen seit 1999 alle zwei Jahre ermittelt. Es
zeigt sich, dass die Zufriedenheit in Zürich West in den letzten 15 Jahren stark gestiegen ist.
Besonders geschätzt wird die Nähe zum öffentlichen Verkehr, die Nachbarschaft und die Si-
cherheit im Quartier. Interessant sind auch die Beurteilungsfragen zur baulichen Tätigkeit.
Hier äussern fast drei Viertel der Befragten, dass viele Neubauten für ihren Geschmack zu
luxuriös seien. Auch sei der Verkehr ein grosses Problem und vielen fehle der öffentlicher
Grünraum und die Ruhe im Quartier. Es stellt sich die Frage, wie relevant und aussagekräf-
tig diese Auswertung ist. Die Limmattaler Zeitung hat über die Statistik berichtet und dazu
eine pointierte Aussage zur Zufriedenheitsbefragung in den Raum gestellt: Nicht erfasst in
der Statistik seien jene, „die aus dem Boomquartier weggezogen sind zum Beispiel, weil sie
es sich nicht mehr leisten können.“46
       Dies führt uns direkt zur Frage, was mit Bevölkerungsstrukturen passiert, wenn
sich ein Stadtquartier derart schnell entwickelt und im Laufe von wenigen Jahren einen
gesamten Imagewechsel erlebt. Oft kann dieses Phänomen mit dem Begriff Gentrifizierung
erklärt werden.

44     Scharrer, Matthias: Weniger Ausländer, kaum Alte und Kinder: Wie die rasante Entwicklung Zü-
       rich-West verändert hat.
45     Kolly, Marie-José / Lemcke, Anja / Rittmeyer, Balz: Hipster machen sich in den Arbeiterquartie-
       ren breit.
46     Scharrer, Matthias: Weniger Ausländer, kaum Alte und Kinder: Wie die rasante Entwicklung Zü-
       rich-West verändert hat.
                                                                                                   27
Gentrifizierung
Gentrifizierung Zürich West

Gentrifizierung
Begriffserklärung
       Gentrifizierung oder Gentrification beschreibt laut Maureen Kennedy und Paul
Leonard Sunday den „Austausch von statusniedern durch statushöhrere BewohnerInnen,
die bauliche Aufwertung und ökonomische Inwertsetzung des Stadtteils sowie die umfas-
sende Veränderung des Nachbarschaftscharakters“.47 Es geht also um die Veränderung eines
Gebietes, in der Regel ein Stadtquartier, das ursprünglich unbeliebt war und wo somit
„statusniedere“ Menschen wohnten, in ein aufgewertetes Viertel. Wie aus der Definition
zu entnehmen ist, geht es darum, diesen Prozess aus einem soziologischen Standpunkt zu
betrachten, also zu schauen, wer in einem Gebiet verkehrt und wie es sich verändert. Im
Mittelpunkt steht der kritische Blick auf Aufwertungsprozesse. Synonyme sind Yuppisierung
oder in Zürich Seefeldisierung. Den Begriff Gentrification verwendet die Soziologin Ruth
Glass 1964 erstmals im Bezug auf die Veränderungen in den Sozialstrukturen im Londoner
Stadtviertel Islington. Sie sieht den Zusammenhang zwischen den Londoner Bohemians, die
vermehrt in dieses Viertel ziehen und verantwortlich werden für die Aufwertung, und der
darauffolgenden Verdrängung der dort residierenden Arbeiterklasse. Als Marxistin stellt
sie Gentrifizierung als Erweiterung des Klassenkampfes dar.48 Sie leitet den Begriff vom
Englischen „gentry”, was niederer Adel bedeutet, ab, weil dieser, analog zu den Bohemians,
im 18. Jahrhundert von den Stadträndern in die Zentren zog.49 Statt neutral von Austausch
der Bevölkerung zu reden, kann man diesen Prozess also auch als Verdrängung beschrei-
ben. Durch die Aufwertung in ärmeren Vierteln kann die ursprüngliche Bevölkerung die
Lebenskosten nicht mehr zahlen und sieht sich gezwungen wegzuziehen. Die Verdrängung
geschieht indirekt durch erhöhte Mietpreise infolge von Sanierungen oder direkt durch den
Abriss von preiswertem Wohnraum, bei dem der Mieter aufgefordert wird, die Wohnung zu
räumen. Es ist ein umstrittener Begriff, da diese Verdrängung einerseits schwer zu messen
ist und andererseits weil er, wie aus der Definition hervorgeht, viele Teilprozesse in sich
vereint. Es wird oft kritisiert, dass er als Schlagwort missbraucht wird und auch im falschen
Kontext verwendet wird.

47     Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 7.
48     Bevan, Robert: From Ruth Glass to Spike Lee: 50 years of gentrification.
49     Unbekannt: Gentrifizierung.

30
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Modellhafter Ablauf
       Gentrifizierung beschreibt einen Prozess und muss somit anhand von mehreren
Schritten erklärt werden. Da es sich um Stadtentwicklung handelt und Städte sich in Ab-
hängigkeit verschiedenster Akteure ständig im Wandel befinden, ist es schwer, diesen Pro-
zess zu vereinheitlichen. Nichtsdestotrotz gibt es bestimmte Merkmale, die Gentrifizierung
auszeichnen und man kann sogar von Modellen reden, in Rahmen derer solche Prozesse
ablaufen. Es ist wichtig zu beachten, dass kein Untersuchungsgebiet gleich ist und es darum
zu Abweichungen kommen kann, was die Definition des Begriffes erschwert.
       Den Aufwertungsprozess kann man in vier Schritte aufteilen. Diese beschreibt An-
drej Holm in Wir bleiben alle!, indem er sich auch auf andere Theorien, wie die von der
amerikanischen Sozialwissenschaftlerin Sharon Zukin bezieht. Die Gentrifizierung beginnt
in einem Gebiet, wo vorwiegend die sogenannte A-Gruppe (Arme, Alleinerziehende, Aus-
länder, Alte) wohnt, weil die Mietpreise tief sind. Das Viertel ist dementsprechend auch
unbeliebt und eher heruntergekommen.
       In einer ersten Phase werden typischerweise junge, gebildete Menschen auf das
Viertel aufmerksam, meist Studenten, Künstler oder Alternative. Hier gibt es bezahlbaren
Wohnraum und „Selbstenfaltungsmöglichkeit“, also leerstehende Gebäude, Brachen, güns-
tige Gewerberäume.50 Man spricht von der Pionierphase, weil diese Gruppe (Pioniere) den
Weg für die Aufwertung ebnet (analog: Pionierzeit in Amerika). Diese Phase ist durch einen
„Anstieg an subkultureller Aktivität“ gekennzeichnet.51 Es entstehen improvisierte Bars
und Galerien, private Clubs oder sonstige, von der Kreativszene geprägte Projekte. Zukin
redet hier von kulturellem Kapital, das die Pioniere mit sich bringen.
       In einem zweiten Schritt wendet sich das Image des Viertels, indem diese Aktivi-
täten von aussen wahrgenommen und anerkannt werden. Man beginnt von einem Alter-
nativquartier zu sprechen und erlebt eine erhöhte Medienpräsenz. Das baulich eigentlich
vernachlässigte Viertel wird durch diese Umnutzungen „hip“ oder „urban“. Um der Theorie
Zukins zu folgen, wandelt sich das ursprünglich personengebundene kulturelle Kapital zu
ortsgebundenem Kapital. Dieser Ort hat also durch seine neuen Bewohner einen neuen
Charakter zugeschrieben bekommen und eine symbolische Aufwertung erlebt.
       Nun wird das Gebiet für die Immobilienwirtschaft interessant, denn es hat einen
guten Ruf und noch tiefe Bodenpreise. Man kann also günstig kaufen, Renovationen durch-
führen und für einen teureren Preis verkaufen. Besonders interessant ist, dass trotz tieferer

50     Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 31.
51     Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 31.

                                                                                         31
Gentrifizierung Zürich West

baulicher Qualität, die Leute willig sind, für die „exklusive Lage“52 zu bezahlen. Das zeigt,
dass bei der Wohnungssuche viel Wert auf den Status der Nachbarschaft gelegt wird und
dass man bereit ist, für eine gute Adresse auch mehr zu bezahlen. Hier spricht Zukin von
der Ökonomisierung der zuerst symbolischen Aufwertung. In dieser Phase wird die eigent-
liche Gentrifizierung erst sichtbar, denn für die Modernisierung von Gebäuden werden
die Bewohner entweder aufgefordert die Wohnung zu räumen oder können die Moderni-
sierungskosten nicht tragen und sehen sich somit gezwungen zu gehen. Diese Phase ist oft
mit Protesten verbunden. Diese gehen jedoch nicht von den Altbewohnern aus, da sie meist
die Mittel dazu nicht haben. Sie kommen von den Pionieren, die die Aufwertung eigentlich
losgetreten haben. Die nun erhöhten Mietpreise oder die Aufhebung ihrer Zwischennutzun-
gen, zwingt auch sie zu gehen. Paradoxerweise werden solche Proteste von den Immobilien-
firmen sogar geschätzt, weil man das Gebiet als „lebendig“ oder „abenteuerlich“ vermarkten
kann. Es geschieht also eine zweite Verdrängungswelle, nämlich der Pioniere durch die
Gentrifier.
         Die vierte Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Wohlverdienende in die Gegend
ziehen. Hier spricht man in einigen Texten von den Gentrifiern.53 Diese neue Bewohnerschaft
ist bereit, einen Teil ihres „personengebundenes, ökonomischen Kapitals“54 (ihr Geld) für
die besondere Lage zu bezahlen. Aufgrund des Status ziehen nun Gutverdienende in das
ehemalige Arbeiter oder Armenquartier. Wenn man diese Schritte nun zurückverfolgt, ist
aus der Kreativität (nach Zukin „kulturelles Kapital“) der Pioniere durch symbolische Auf-
wertung Geld geworden. Die Bewohnerschaft ist ausgewechselt, das Viertel baulich aufge-
wertet und der Nachbarschaftscharakter verändert worden.

36       Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 32.
53       Kucharzyk, Caroline: Wir alle sind Berlin – doch wer darf bleiben?, S. 31.
54       Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 33.

32
Maturitätsarbeit Susana Tavares

Problematik
       Gentrifizierung geschieht momentan überall auf der Welt. Das ist mit der steigen-
den Popularität von Städten zu erklären. Die Stadt Zürich bildet hier keine Ausnahme und
muss sich ebenfalls mit Problemen der Urbanisierung auseinandersetzen. Dazu gehört die
Frage, was mit einkommensschwächeren Menschen passiert, wenn im Immobilienmarkt
eine grössere Nachfrage herrscht. Wie überall muss die Stadt das Spannungsfeld zwischen
liberaler Marktwirtschaft und sozialverträglicher Entwicklung erforschen und sich darin
positionieren. Wo so viele Menschen aufeinandertreffen wie in einer Stadt, geschieht viel.
Diese ständige Veränderung ist sowohl das grosse Potenzial, wie auch eine grosse Heraus-
forderung für eine Stadt. Kritiker des Begriffes behaupten oft, Gentrifizierung sei die natür-
liche Folge dieser Veränderungen. Oftmals legitimieren sie die Verdrängung von niederen
sozialen Schichten mit Argumente des liberalen Marktes („Wo viel Nachfrage herrscht,
steigen die Preise natürlicherweise.“), des unhaltbaren städtischen Wandels („Städte verän-
dern sich nun mal.“) oder sie verharmlosen das Problem („Anderswo gibt es ja bezahlbaren
Wohnraum.“).
       Wenn Gentrifizierung an sich schon ein umstrittener Begriff ist, teilt er im Bezug
auf Zürich West noch stärker die Meinungen. Charakteristisch in Zürich West ist die tiefe
Bevölkerungszahl vor dieser Entwicklung. Wenn das Gebiet unbewohnt ist, kann es ja keine
Verdrängung geben. Andrej Holm redet in diesem Kontext von „Neubau-Gentrification“,
also von Verdrängung durch Büronutzungen und Luxuswohnprojekte.55 Einerseits reduzie-
re der Bau von solchen Projekten den Anteil an preiswerten Wohnungen im Gebiet. Das
bedeutet, dass Wohnen in der Stadt für ärmere Schichten schwieriger wird. Andererseits
macht er darauf aufmerksam, dass „spektakuläre Neubauten auch die umliegenden Wohn-
viertel“ aufwerten würden.56 In Zürich West gibt es einige solche Bauten, der Prime Tower
ist das Beispiel per se. Hier macht es also Sinn, Zürich West nicht als geschlossenen Raum
zu betrachten. Wenn ein Gebiet aufgewertet wird, verändert es den Nachbarschaftscharakter
und wertet somit seine ganze Umgebung auch auf. Im angrenzenden Gewerbeschulviertel,
das lange Zeit Wohnviertel der Industriearbeiter gewesen ist, gibt es heute noch viele Ge-
nossenschaftswohnungen. Doch auch hier spürt man, wie die Entwicklung in Zürich West
immer näher rückt, und dass Bauten wie die Prime Tower den Massstab setzen.57
       Es wird klar, wie allgemein gefasst der Begriff der Gentrifizierung ist. Das macht die
Definition zwar schwierig, doch gleichzeitig liefert er Basis für wichtige Diskussionen. Er

55     Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 14.
56     Holm, Andrej: Wir bleiben Alle!, S. 14.
57     Wolfinger, Dominik: Was wird bloss aus dem Industrie-Quartier?.

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Gentrifizierung Zürich West

fordert auf, über die negativen Seiten von Aufwertung zu sprechen und deren Opfer nicht zu
vernachlässigen. Er trägt dazu bei, differenziert über Urbanisierung zu sprechen und stellt
unsere Werte in Frage, denn er konfrontiert uns mit sozialpolitischen Themen. Der Begriff
ist kontrovers und oft emotionsgeladen, was Gespräche zwischen einzelnen Interessensgrup-
pen spannend und relevant macht.

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Maturitätsarbeit Susana Tavares

Form des Protestes: Im Frühling 2018 machen diese Plakate im ganzen Gebiet Aussersihl auf die Folgen der
Aufwertung aufmerksam und rufen zum “Kampf” auf. Diese Plakate habe ich auf der Hardbrücke (links) und
beim Viadukt (unten) gefunden.

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Gespräche
Gentrifizierung Zürich West

Gespräche
Altbewohner
       Die Altbewohner gelten als die primären Opfer der Gentrifizierung. Diese Gruppe
hat im Stadtgebiet gelebt, als es noch unbeliebt und heruntergekommen war. In Zürich
West ist es schwierig, diese Gruppe zu finden, da es ein Industriequartier war und somit
eine geringe Bevölkerung aufwies. Oft muss man, um die Folgen der Gentrifizierung zu
identifizieren, den ganzen Kreis 5 betrachten, also auch das Quartier Gewerbeschule, das
lange Zeit als Arbeiterviertel galt.
       Die Altbewohner sind in der Regel Leute der sogenannten A-Gruppe, also Aus-
länder, Arbeiter, Alleinerziehende, Arme, Alte. Diese Gruppe ist schwer zu identifizieren,
denn sie sind nicht diejenigen, die gegen die Aufwertung protestieren. Meistens bleiben sie
namenlos und ziehen lediglich weg.
       Im Gespräch mit Maya Kägi-Götz, SP-Gemeinderätin der Kreise 4 und 5, werden
viele Ansichten dieser Gruppe deutlich. Sie lebt seit neun Jahren im Kreis 5 und hat ihre
Kindheit im Kreis 4 verbracht. Um den Charakter des Viertels zu beschreiben, wirft sie
zu Beginn den Begriff „Kiez“ auf. Dieser stammt aus Deutschland und beschreibt Wohn-
bereiche in Städten, in denen die Leute stark miteinander verknüpft sind. Es gebe Begeg-
nungsorte und Netzwerke, um sich im Alltag auszutauschen, und genau das sei wichtig:
Die Bewohner sollen Interesse am Geschehen im Quartier zeigen, das schaffe Identität und
Zugehörigkeitsgefühl in der sonst anonymen Stadt. Eines dieser Netzwerke sei das 5 im foifi,
eine Bürgerinitiative, die sich dafür einsetzte, dass kleine Läden erhalten bleiben. Im Kreis
5 spüre man stark die Verdrängung kleiner Läden durch grosse Ketten.
       Schlecht an der Entwicklung in Zürich West sei nicht die Aufwertung, sondern die
Verdrängung. Um diese zu verhindern, könne die Stadt politisch eingreifen, indem sie be-
wusst freiwerdende Immobilien aufkaufe. In ihren Augen hat man zu wenig interveniert,
als Privateigentümer neu gebaut haben. Bei Neubauten solle man Privatgrund mit dem
öffentlichen Grund zusammendenken, das habe nicht stattgefunden. Ihr ist bewusst, dass
sich eine Stadt entwickeln müsse, schliesslich braucht man mehr Wohnraum, das solle aber
sozial und ökologisch getan werden. Eine Möglichkeit sei es, Gebiete sanft bewohnbar zu
machen. Man solle nicht immer möglichst viele Wohnungen und möglichst viel Gewerbe-
raum herauszuholen versuchen und alles für die Ewigkeit zubauen wollen. Viel mehr solle
man Projekten Zeit für die Entwicklung lassen, das heisst Frei- und Leerräume auch er-
lauben. Es müsse nicht alles bis ins letzte Detail fertig gedacht und gebaut werden, daher
mache eine modulare Entwicklung Sinn.

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