Gesundheitskompetenz, Lebenskompetenzen und die Suchtprävention
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
LEBENSKOMPETENZEN Gesundheitskompetenz, Lebenskompetenzen und die Suchtprävention 2018-4 Das Konzept der Gesundheitskompetenz wird in der Fachliteratur zu Jg. 44 Public Health und allgemeiner Gesundheitsförderung umfassend genutzt S. 5-13 und diskutiert. In diesem Text wird aus einer interdisziplinären Perspek- tive geprüft, inwiefern sich das Konzept der Gesundheitskompetenz vom Konzept der Lebenskompetenzen unterscheidet, das sowohl in der Gesund- heitsförderung als auch in der Suchtprävention als theoretische Grundlage genutzt wird.1 MARTIN HAFEN Sozialarbeiter HFS und Soziologe Dr. phil., Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Werftestr. 1, CH-6002 Luzern, Tel. +41 (0)41 367 48 81, martin.hafen@hslu.ch, www.fen.ch Das Konzept der Gesundheitskompetenz nau zu verstehen ist (Soellner et al. 2010: können, ist das Public-Health-Verständ- gewinnt in Public Health zunehmend 104), werden zuerst die wichtigsten De- nis breiter gefasst. Als Beispiel dafür an Bedeutung (Abel & Sommerhalder finitionen von Gesundheitskompetenz lässt sich die viel zitierte Definition von 2007). Die Gesundheitskompetenz eines vorgestellt. Weiter wird das Konzept Kickbusch (2006: 70) anführen: Menschen prägt seinen Lebensstil und aus wissenssoziologischer, neurobiolo- «Gesundheitskompetenz ist die Fähig- damit sein Gesundheitsverhalten. In der gischer und system- resp. strukturtheo- keit des Einzelnen, im täglichen Leben Suchtprävention wiederum sind Kon- retischer Perspektive analysiert und ein Entscheidungen zu treffen, die sich posi- zepte wie Lebens- oder Risikokompetenz Blick auf die Entstehungsbedingungen tiv auf die Gesundheit auswirken – zu von Bedeutung, die mit der Gesundheits- von Gesundheitskompetenz geworfen. In Hause, in der Gesellschaft, am Arbeits- kompetenz in Verbindung gebracht wer- der Folge wird das Konzept der Gesund- platz, im Gesundheitssystem, im Markt den können. Das lässt vermuten, dass heitskompetenz mit den Kompetenzkon- und auf politischer Ebene.» das Konzept der Gesundheitskompetenz zepten in Zusammenhang gestellt, die Nutbeam (2000) unterscheidet drei auch für die Suchtprävention von Bedeu- in der Suchtprävention genutzt werden Stufen der Gesundheitskompetenz: die tung sein könnte. Es gibt auch einzelne (Lebenskompetenz, Risikokompetenz). Stufe der funktionalen Kompetenzen wie empirische Befunde, die diese Hypothese Abschliessend wird die Frage diskutiert, Lesen und Schreiben; die Stufe der kom- unterstützen. So weisen etwa Chisolm wie das Konzept der Gesundheitskom- munikativen Gesundheitskompetenz, et al. (2014) nach, dass die Gesundheits- petenz für die Suchtprävention nutzbar die ein aktives Teilnehmen an und Inter- kompetenz von Teenagern einen Einfluss gemacht werden könnte und welche pretieren von gesundheitsrelevanten darauf hat, wie sie die Wirkung ihres Konsequenzen sich auf Massnahmen- Diskursen ermöglicht, sowie die Stufe Alkoholkonsums einschätzen. Eine gut ebene für die Verhaltens- und die Ver- der kritischen Gesundheitskompetenz, ausgebildete Gesundheitskompetenz hältnisprävention ableiten lassen. die eine ausgedehnte Kontrolle über die wirkt einer allzu positiven Erwartung der individuellen Lebenssituationen ermög- Alkoholwirkung entgegen, was zu einer Definitionen von licht. Soellner et al. (2010: 105) verwei- Reduktion der konsumierten Alkohol- Gesundheitskompetenz sen darauf, dass nur die erste Stufe von menge beiträgt. Nach Soellner et al. (2010: 104) lassen Nutbeams Modell empirisch hinreichend Das Ziel dieses Textes ist zu prüfen, sich zwei grundsätzliche Verständnisse erforscht sei und dem Modell auch vor- ob das Konzept der Gesundheitskompe- von Gesundheitskompetenz unter- geworfen werde, nichts wirklich Neues tenz in der Suchtprävention umfassen- scheiden: das klinische und das Pub- zur Diskussion beizutragen. Soellner et der als theoretische Grundlage genutzt lic-Health-Verständnis. Während das al. (2010: 110) schlagen in der Folge ein werden sollte, als dies heute geschieht. klinische Verständnis den Fokus auf eigenes Modell vor, das sie von einer um- Da in der Fachwelt bis heute kein Kon- die Fähigkeit beschränkt, medizinische fangreichen Befragung von Gesundheits- sens im Hinblick auf die Frage besteht, Informationen wie Beipackzettel zu expertinnen und -experten herleiten. Sie was unter «Gesundheitskompetenz» ge- Medikamenten lesen und verstehen zu unterscheiden dabei drei zentrale Di- 5
LEBENSKOMPETENZEN mensionen von Gesundheitskompetenz: Definitionen als bewusstes Wissen und hirns unbewusst. Dabei ist vor allem das «grundlegende Fertigkeiten» (literacy/ Gesundheitskompetenz als kognitive limbische System im Innern des Gehirns numeracy), «Wissen» (zur Gesund- Kompetenz verstanden. Besonders deut- von Bedeutung, weil hier die emotionale heit und zum Gesundheitssystem) und lich wird diese kognitive Ausrichtung in Prägung menschlichen Erlebens erfolgt, «Motivation» mit der Bereitschaft zur Kickbuschs Definition von Gesundheits- die (auch) für das Gesundheitshandeln Verantwortungsübernahme. Diese drei kompetenz als «Fähigkeit des Einzelnen, von elementarer Wichtigkeit ist. Die Ko- Dimensionen resultieren in der Haupt- im täglichen Leben Entscheidungen zu gnitionspsychologie (Kahnemann 2012) dimension der «Handlungskompetenz», treffen, die sich positiv auf die Gesund- wiederum belegt anhand zahlreicher die folgende Teilkompetenzen umfasst: heit auswirken». Nach Luhmann (2000: Experimente, wie stark unser Denken – Navigieren und Handeln im Gesund- 233) ist eine Entscheidung eine bewusste und Handeln durch Verzerrungen und heitswesen Wahl für (oder gegen) etwas und zwar ausgeblendete Widersprüche geprägt ist, – Kommunikation und Kooperation – und das ist besonders wichtig – vor was dazu führt, dass unsere scheinbare – Informationsbeschaffung und -ver- dem Hintergrund anderer Wahlmöglich- Rationalität in vielen Fällen alles andere arbeitung keiten. als rational oder vernünftig ist. – Selbstwahrnehmung und -regulation Nun gibt es aber viele gesundheits- relevante Verhaltensweisen, die wohl mit Gesundheitskompetenz als Dieses partizipativ erarbeitete Modell dem Konzept der (Gesundheits-)Kom- Möglichkeitsspielraum integriert nach Einschätzung von Soell- petenz umschrieben werden können, Wir gehen also in leichter Abwandlung ner et al. (2010: 111f.) die bestehenden aber nicht auf bewusste Entscheidungen der oben ausgeführten Definition von Modelle zu einem ganzheitlicheren An- zurückzuführen sind. Entsprechend Kickbusch davon aus, dass der Begriff satz. Das bringe die Schwierigkeit der ist – um die berühmte Unterscheidung «Gesundheitskompetenz» die Fähigkeit empirischen Überprüfung mit sich. Die- von Polanyi (1967) aufzugreifen – für eines Menschen umschreibt, sich im All- ser könne jedoch dadurch begegnet wer- das Gesundheitsverhalten nicht nur das tag gesundheitsförderlich zu verhalten, den, dass für die einzelnen Teilbereiche explizite (oder deklarative), sondern ungeachtet ob die Verhaltensweisen ausgehend vom Gesamtmodell Unter- auch das implizite (oder prozedurale) auf bewusste Entscheidungen (auf die modelle erarbeitet werden, die dann em- Wissen (tacit knowledge) von Bedeu- «gesunde Wahl») zurückgeführt werden pirisch überprüfbar sind. tung. Dieses Wissen ist z. B. immer können oder unbewusst erfolgen. Die Abel und Sommerhalder (2007: 4) dann relevant, wenn man sich gesund- aktuelle Gesundheitskompetenz eines schliesslich bringen in ihrer Auseinan- heitsförderlich verhält, ohne dass dieses Menschen kann dabei als das Ergeb- dersetzung mit dem Konzept zwei As- Verhalten bewusst ist oder gar mit Blick nis aller diesbezüglichen Erfahrungen pekte mit ins Spiel, die in den anderen auf seine günstige Wirkung auf die Ge- bezeichnet werden, die dieser Mensch Definitionen höchstens ansatzweise sundheit erfolgt. Wenn Abel und Bruhin im Laufe seines Lebens gemacht hat. beachtet werden. Zum einen stellen sie (2003: 129) Gesundheitskompetenz als Sie entspricht in diesem Sinn einem einen Bezug von Gesundheitskompetenz «wissensbasierte Kompetenz für eine immens komplexen Bündel von neuro- und Empowerment her. Sie sehen Ge- gesundheitsförderliche Lebensführung» nalen und psychischen Strukturen, die sundheitskompetenz als Komponente bezeichnen, dann macht es aus der hier sich im Laufe des Lebens gebildet haben. von Empowerment-Prozessen von In- verfolgten Optik Sinn, das Konzept der Strukturen werden in der Systemtheorie dividuen und sozialen Systemen (wie Gesundheitskompetenz nicht nur auf das als Möglichkeitsspielräume bezeichnet Organisationen, Gruppen, Familien), die explizite Wissen und damit die bewusste (Luhmann 1994: 384). Sie sind gleich- durch Gesundheitsfachleute angestossen Entscheidung zur «gesunden Wahl» zeitig das Resultat und die Grundlage werden. Zum andern verweisen Abel und («healthy choice») zu beschränken, unbewusster und bewusster Informa- Sommerhalder auf den Umstand, dass sondern auch unbewusste Aspekte einer tionsverarbeitung, die im Rahmen der Gesundheitskompetenz durch lebens- gesundheitsförderlichen Lebensführung Auseinandersetzung mit der relevanten lange Lern- und Sozialisationsprozesse einzubeziehen, die auf implizitem Wis- Umwelt erfolgt. Oder um es in den Wor- entsteht und die soziokulturellen und sen gründen. ten von Hüther und Krens (2008: 79) sozioökonomischen Lebensbedingungen Die neurobiologische Forschung hilft aus der Perspektive der Neurobiologie die Chancen der Entwicklung von Ge- dabei, diesen Einbezug des impliziten auszudrücken: sundheitskompetenz prägen. (und damit: prozeduralen) Wissens in «Man kann mit Hilfe seines Gehirns das Konzept der Gesundheitskompe- gar nichts Neues lernen, sondern Die unbewussten Aspekte von tenz weiter zu begründen. So führt Roth immer nur etwas Neues hinzulernen. Gesundheitskompetenz (2012: 84f.) aus, dass nur die Prozesse Das hat einen sehr einfachen Grund: Alle hier vorgestellten Modelle be- im assoziativen Cortex (einem Bereich Neues kann im Gehirn nur verankert trachten Gesundheitskompetenz als der Grosshirnrinde) bewusst wahrge- werden, indem es mit etwas verbun- «wissensbasierte Kompetenz […], die nommen werden. Das ist der Bereich den wird, das bereits vorhanden ist, primär durch Kultur, Bildung und Er- in dem die bewussten Entscheidungen das also bereits vorher erlernt worden ziehung vermittelt wird» (Soellner et al. getroffen werden. Auf der anderen Seite ist. Das gilt für Erwachsene ebenso 2010: 105). Wissen wird dabei in allen erfolgen ganz viele Prozesse des Ge- wie für Kinder.» 6
SUCHTMAGAZIN ——— 04/2018 Die verfügbaren neuronalen und die kompetenten Handelns (frz. «pouvoir») die Selbstregulationskompetenz, die psychischen Strukturen bilden dem- berücksichtigen. Im Supermarkt kosten- Stressverarbeitungsfähigkeit, das Ko- nach zu jedem Zeitpunkt die Basis für günstiges Gemüse an prominenter Stelle härenzgefühl, die Sozialkompetenz, das die Bildung von neuen Strukturen. Der anzubieten oder eine fussgängerfreundli- Einfühlungsvermögen und weitere Kom- Prozess dieser Neubildung kann ganz che Verkehrspolitik zu etablieren, sind in petenzen, die ein Kind dabei unterstüt- allgemein formuliert als (bewusstes oder diesem Sinn wirkungsvollere Strategien zen, den Herausforderungen des Lebens unbewusstes) Lernen bezeichnet wer- als die massenmedial verbreitete Auffor- zu begegnen, ohne krank zu werden. Die den (Hafen 2013: 23). Je komplexer der derung, regelmässig Gemüse zu verzeh- Stärkung dieser Kompetenzen kann nur Strukturreichtum in einem System ist, ren oder sich mehr zu bewegen. Diese gelingen, wenn – ganz im Sinne des Kon- desto schwieriger ist es, mittels isolier- Umweltbedingungen sind auch entschei- zepts der Gesundheitsförderung – die ter Interventionsversuche substanzielle dend, wenn wir nach den Entstehungs- sozialen und physikalisch-materiellen Strukturanpassungen (Lernprozesse) bedingungen der Gesundheitskompetenz Umweltbedingungen in den relevanten in diesem System zu bewirken. Darum fragen – eine Frage, die unvermeidbar Settings (Familie, Wohnumgebung, ist es im Erwachsenenalter so schwie- ist, wenn man die eben beschriebenen Spielgruppe, Kindertagesstätte etc.) ent- rig, «sich und andere zu ändern» (Roth Grundlagen des Strukturaufbaus in Sys- sprechend gestaltet werden. Die positi- 2012). temen ernst nimmt. ven Auswirkungen einer gut gelingenden Diese These der eingeschränkten frühen Lebensphase auf das weitere Veränderbarkeit von strukturreichen Die Bedeutung der frühen Kindheit Leben eines Menschen sind in zahlrei- Systemen gilt auch für die Gesundheits- Wenn wir davon ausgehen, dass neue chen sorgfältig durchgeführten Langzeit- kompetenz und den eng damit verbun- Strukturen immer auf Basis bestehen- studien belegt (Vgl. etwa Heckmann & denen gesundheitsrelevanten Lebensstil. der Strukturen gebildet werden, dann Masterov 2007). Die Aussicht, mit reiner Informations- liegt der Schluss nahe, dass die zuerst vermittlung über Broschüren oder Kam- gebildeten Strukturen im Leben eines Gesundheitskompetenz als pagnen substanzielle Veränderungen im Menschen von besonderer Bedeutung Lebenskompetenz Gesundheitsverhalten erreichen zu kön- sind. Diese Erkenntnis ist nicht neu, Die bisherigen Ausführungen haben nen, ist mit Blick auf die hier dargelegten und sie findet nicht nur in der Neuro- gezeigt, dass es Sinn machen kann, theoretischen Begründungen und die biologie, sondern auch in der Entwick- die Gesundheitskompetenz breiter zu vorliegende empirische Evidenz relativ lungspsychologie, der Tiefenpsycho- fassen, d. h. nicht nur als die Fähigkeit, gering. Jedes Individuum entwickelt sich logie, der Stressforschung und in vielen gesundheitsrelevante Entscheidungen von Beginn an in Auseinandersetzung andern wissenschaftlichen Disziplinen zu treffen. Vielmehr können ihr alle mit seiner relevanten Umwelt. Dieser umfassende Bestätigung. Damit rückt Kompetenzen zugeordnet werden, wel- gewinnt es (bewusst oder unbewusst) die frühe Kindheit in den Fokus von che einen Einfluss auf das gesundheits- laufend Information ab und baut Struk- Prävention und Gesundheitsförderung relevante Verhalten haben, ihre Wirkung turen wie die Gesundheitskompetenz (Schulte-Abel & Schneider 2012: 102). aber in der Regel unbewusst entfalten. auf. Je mehr Information es verarbeitet Die entsprechende These ist, dass viele Diese Kompetenzen (und damit auch die hat oder anders formuliert: je mehr Er- der wichtigsten Schutz- und Belastungs- Gesundheitskompetenz an sich) können fahrungen es im Rahmen der Auseinan- faktoren ihren Ursprung in der frühen – noch breiter gefasst – ganz generell dersetzung mit der Umwelt gemacht hat, Kindheit haben und dass es entspre- den «Lebenskompetenzen» zugeordnet desto solider sind die Strukturen und chend eine wirkungsvolle Strategie ist, werden, die in der Suchtprävention oft desto schwieriger können sie von aussen im ersten Lebensabschnitt (d. h. von der im Fokus von entsprechenden Program- verändert werden. Schwangerschaft bis zum Alter von vier men stehen. Schauen wir uns die Defini- Was bedeutet dies für Prävention bis fünf Jahren) möglichst günstige Ent- tion von Lebenskompetenzen der WHO und Gesundheitsförderung? Zu beachten wicklungsbedingungen bereitzustellen. (1998: 15) an: ist, dass die Massnahmen dieser Diszipli- Mit Blick auf die Prävention ist also «Lebenskompetenzen sind Fähig- nen nicht nur auf eine Verbesserung der dafür zu sorgen, dass ein Kind in dieser keiten für ein anpassungsfähiges und individuellen Gesundheitskompetenz Lebensphase möglichst wenig Stress aus- konstruktives Verhalten, das den In- und damit auf eine Veränderung des gesetzt ist und möglichst viele Schutz- dividuen ermöglicht, angemessen mit Lebensstils, sondern auch auf eine Ver- faktoren erwerben kann, die seine Resili- den Anforderungen und Herausforde- änderung der sozialen und infrastruk- enz (die Widerstandsfähigkeit gegenüber rungen des Alltags umzugehen.» turellen Möglichkeitsbedingungen für späteren Belastungen) stärken (Hafen eine «gesunde Wahl» ausgerichtet sein 2014/2015). Viele dieser Schutzfaktoren Die Lebenskompetenzen setzen sich ge- sollten (Schulte-Abel & Schneider 2012: können ohne weiteres als Elemente einer mäss der WHO aus personalen, interper- 102). Etwas anders formuliert: Gesund- umfassenden Gesundheitskompetenz be- sonalen (also sozialen), kognitiven und heitskompetenz umfasst nicht nur das zeichnet werden, die nicht das bewusste, körperlichen Kompetenzen zusammen. individuelle «Können» (frz. «savoir»); sondern auch das unbewusste Verhalten Diese Kompetenzen helfen den Men- sie muss auch die (Umwelt-)Bedin- prägt. Beispiele für solche Kompetenzen schen, ihr Leben aktiv zu gestalten und gungen der Möglichkeit gesundheits- sind die Selbstwirksamkeitserwartung, die Kapazität aufzubauen, mit den Um- 7
SUCHTMAGAZIN ——— 04/2018 weltbedingungen zurechtzukommen und dann erweitert sich die Zahl der Kompe- dungshandelns einander systematisch die Umwelt auch zu verändern. Als Bei- tenzen, welche Gesundheit ermöglichen. gegenüberstellen und sich dann für die spiele nennt die WHO: Entscheidungen Insgesamt lässt sich sagen, dass es sich günstigere Variante entscheiden kann. fällen, Probleme lösen, kreatives Den- sowohl bei den Lebens- als auch bei den Was man braucht sind «Heuristiken», er- ken, kritisches Denken, Selbsterkennt- Gesundheitskompetenzen um indivi- fahrungsbedingte Faustregeln, die einem nis, Empathie, kommunikative Kompe- duelle Schutzfaktoren handelt, wobei helfen, die «richtige» Entscheidung «aus tenzen, Kompetenzen für interpersonale fehlende Kompetenzen ganz schnell zu dem Bauch heraus» (intuitiv) zu treffen. Beziehung, emotionale Kompetenz oder Risikofaktoren für die allgemeine oder Diese Bauchentscheidungen helfen, die Fähigkeit, Stress zu regulieren. Die gesundheitliche Entwicklung werden die Komplexität der Entscheidungssi- WHO-Kompetenzen finden auch in der können. Schliesslich ist erneut darauf tuation zu reduzieren, weil man weiss, Praxis ihren Niederschlag, etwa im Le- hinzuweisen, dass die Gesundheitskom- was zu tun ist, ohne die Gründe dafür benskompetenzentwicklungskonzept, petenz genauso wie die umfassenden zu kennen. Das spart einerseits Zeit, das im Rahmen des Aargauer Gesund- Lebenskompetenzen von den Umwelt- andererseits hilft es, das eingeschränkte heitsförderungsprogramms «Gsund und bedingungen abhängen. Wie am Beispiel Gesichtsfeld der bewussten Beobachtung zwäg i de Schuel» entwickelt wurde (De- der frühen Kindheit gezeigt, umfassen zu erweitern. Die Forschung zeigt, dass partemente BKS/DGS 2012). die sozialen Systeme (Settings) in der diese Art, Entscheidungen zu fällen, Diese Beispiele aus dem WHO-Glos- Lebenswelt eines Menschen Risikofak- statistisch gesehen auch nachweislich sar für Gesundheitsförderung (1998) zei- toren (Stressoren), welche die individu- bessere Ergebnisse bewirkt, wenn sie auf gen, dass das Konzept der Lebenskompe- ellen Lebens- und Gesundheitskompe- einer ausreichenden Menge von entspre- tenzen alle Fähigkeiten umfasst, die für tenzen herausfordern. Auf der anderen chenden Erfahrungen gründet (Kahn- ein gelingendes Leben von Bedeutung Seite bieten sie auch Schutzfaktoren wie eman 2012). sind. In diesem Sinn bestätigt sich, dass soziale Unterstützung, Wertschätzung, Selbstverständlich hängt die Risiko- dieses Konzept auch das Konzept der emotionale Zuwendung etc., welche kompetenz eines Menschen nicht nur Gesundheitskompetenz umfasst, da die diese Kompetenzen ergänzen und gleich- davon ab, ob Entscheidungen mit viel Gesundheit ein wichtiger Aspekt des zeitig zu ihrem Aufbau beitragen. oder mit wenig Intuition gefällt werden. Lebens ist. Das zeigt sich auch daran, Bauchentscheidungen (z. B. bei der dass zwar ein Leben ohne Gesundheit, Risikokompetenz als Lebens- und Partnerwahl) können auch kontinuier- aber keine Gesundheit ohne Leben Gesundheitskompetenz lich falsch sein, und gerade Jugendliche möglich ist. Unter den oben erwähnten Wir haben weiter oben mit Bezug auf in der Pubertät treffen, bedingt durch Beispielen von Lebenskompetenzen han- Luhmann (2000: 233) argumentiert, dass die neuronalen Umstellungen im Ge- delt es sich bei einigen um eigentliche eine Entscheidung eine bewusste Wahl hirn, oft «aus dem Bauch heraus» die Gesundheitskompetenzen, etwa bei der für (oder gegen) etwas ist und zwar (zumindest aus der Perspektive der Fähigkeit, Stress zu regulieren. Ob aber – und das ist besonders wichtig – vor Gesundheitsfachleute) riskante und die Fähigkeit, Probleme zu lösen und dem Hintergrund anderer Wahlmöglich- nicht die gesunde Wahl. Die Risikokom- kreativ oder kritisch zu denken, einen keiten. Das Gegenstück der «gesunden petenz entwickelt sich wie die anderen positiven Einfluss auf die Gesundheit Entscheidung», der «healthy choice», Lebens- und Gesundheitskompetenzen hat, wäre eine empirische Frage, die mit ist in diesem Sinn nicht selten eine un- im Laufe des Lebens eines Menschen, entsprechenden Studien zu klären wäre. gesunde und damit auch riskante Wahl. und auch hier werden die Grundlagen Nutbeams Rede von «kritischer Gesund- Risikokompetenz kann entsprechend in der frühen Kindheit gelegt, denn dort heitskompetenz» legt nahe, dass sich als Schutzfaktor angesehen werden, der setzen die ersten Erfahrungen mit dem durchaus gut begründete Bezüge herstel- sowohl im Hinblick auf Suchtbildung als (bewussten oder unbewussten) Treffen len lassen. auch für die Gesundheit im Allgemeinen von Entscheidungen ein. Entsprechend Selbstverständlich stellt sich bei und für ein gelingendes Leben von Be- kann auch diese Kompetenz bereits in der Zuordnung der Gesundheitskom- deutung ist. Sie entspricht der Fähigkeit, der frühen Kindheit gefördert werden petenz zu den Lebenskompetenzen die Risiken angemessen einzuschätzen und (Ruhe 2013). Frage, wie man Gesundheit definiert. das Verhalten dieser Einschätzung an- Bei alldem ist zu beachten, dass auch Sieht man sie primär als Abwesenheit zupassen, ohne den Risiken grundsätz- die Risikovermeidung Risiken mit sich von Krankheit, dann entsprechen die lich auszuweichen. Die Risikoforschung bringen kann, für Jugendliche z. B. das Gesundheitskompetenzen den oben be- (etwa Gigerenzer 2013) zeigt, dass sich Risiko, aus einer Gruppe ausgeschlossen schriebenen bewussten und unbewus- auch die Fähigkeit, riskante Entschei- zu werden, wenn man sich an risiko- sten Fähigkeiten, welche die Menschen dungen «richtig» zu fällen, nicht auf reichen Aktivitäten wie Mutproben oder vor Krankheiten schützen. Definiert man Bewusstsein reduzieren lässt. Oft sind Rauschtrinken nicht beteiligt. Zudem Gesundheit nicht nur als Abwesenheit die im Rahmen des Entscheidungspro- kann die «gesunde Wahl» selbst zu einer von Krankheit, sondern auch als voll- zesses fokussierten Phänomene viel zu Obsession werden, die alles andere als ständiges psychisches, körperliches und komplex, als dass man im Sinne der öko- gesundheitsförderlich ist, so wie das z. soziales Wohlbefinden wie die WHO und nomischen Rational-Choice-Theorie Vor- B. bei einer Orthorexie (dem krankhaf- das Netzwerk Bildung und Gesundheit, und Nachteile des eigenen Entschei- ten Zwang, sich «gesund» zu ernähren) 9
LEBENSKOMPETENZEN der Fall ist. Schliesslich können nicht der Frage widmen, ob und mit welchen den Risikofaktoren zu wenig Beachtung nur die Entscheidungen von Individuen Massnahmen diese Faktoren bei welchen zu schenken. als mehr oder weniger risikokompetent Zielpersonen gefördert werden können. beobachtet werden, sondern die Ent- Die Konsequenzen auf der Ebene der scheidungen, die durch soziale Systeme Evidenzbasierte Suchtprävention Massnahmen getätigt werden. Als Beispiel kann das Etwas anders formuliert kann man sa- Die Ausführungen zum Kompetenz- wachsende Sicherheitsbedürfnis in päd- gen, dass Lebens- oder Gesundheitskom- begriff und zur Entwicklung und den agogischen Kontexten angeführt werden, petenzen für die Suchtprävention nur Entwicklungsbedingungen der Gesund- wo immer mehr Tätigkeiten von Kindern dann von Bedeutung sind, wenn sie sich heitskompetenz resp. der Lebenskom- (auf Bäume klettern, mit dem Fahrrad im Rahmen einer empirisch belegten petenzen haben angedeutet, dass eine zur Schule fahren etc.) aus Gründen der (ätiologischen) Theorie der Suchtent- konsequente Evidenzbasierung umfang- Risikovermeidung eingeschränkt werden stehung verorten lassen. Dies ist nicht reiche Auswirkungen auf der Massnah- und nicht beachtet wird, dass die Ein- gegeben, wenn die Suchtprävention von menebene hat. Es rücken dann Hand- schränkungen selbst (meist längerfris- einer allgemeinen Definition von Ge- lungs- und auch Politikbereiche in den tige) Risiken mit sich bringen, weil Kin- sundheits- oder Lebenskompetenz aus- Fokus, die oft nicht oder nur indirekt mit der gewisse Erfahrungen nicht machen geht. Diese Definitionen sind zu komplex Prävention und Gesundheitsförderung können (Hafen 2013). für eine Operationalisierung, was u. a. und ihren Massnahmen in Zusammen- auch damit zusammenhängt, dass die hang gestellt werden. Zum Abschluss des Die Konsequenzen für die Begriffe «Leben» und «Gesundheit» (ge- Textes sollen zwei dieser Bereiche näher Suchtprävention rade in der Fassung der WHO) eine im- angeschaut werden, die für die Entwick- Der Bezug dieser erweiterten Fassung mense Zahl an Aspekten umfassen. Der lung der Lebenskompetenzen sowie der von Gesundheitskompetenz zur Sucht- Funktionsbereich der Suchtprävention Gesundheits- und Risikokompetenz von prävention ist einfach herzustellen. ist viel stärker eingeschränkt. Es geht um besonderer Bedeutung sind: die frühe Niemand würde bestreiten, dass die die Verhinderung von Sucht, und diese Kindheit und die Schule. In der Folge «Fähigkeit, im täglichen Leben Entschei- kann nur gelingen, wenn die relevanten wird geschaut, welche Möglichkeiten die dungen zu treffen, die sich positiv auf Einflussfaktoren bekannt und klar defi- Suchtprävention auf unterschiedlichen die Gesundheit auswirken» auch für die niert sind. Ebenen hat, die Förderung der sucht- Prävention von Sucht wertvoll ist. Das Wie bei andern Präventionsthemen präventionsrelevanten Lebens- und Ge- gilt auch für die als Lebenskompetenzen reicht es für eine erfolgreiche Suchtprä- sundheitskompetenzen zu unterstützen. bezeichneten «Fähigkeiten für ein an- vention nicht aus, die Schutzfaktoren passungsfähiges und konstruktives Ver- zu kennen; sie benötigt auch Wissen zu Die Förderung von Lebens- und halten, das den Individuen ermöglicht, den relevanten Risikofaktoren. Zudem Gesundheitskompetenzen in der angemessen mit den Anforderungen und kann sich Suchtprävention nicht auf in- frühen Kindheit… Herausforderungen des Alltags umzuge- dividuelle (psychische und körperliche) Die oben dargelegten theoretischen hen». Für die Suchtprävention sind diese Faktoren wie die Selbstwirksamkeitser- Überlegungen zur Bedeutung früh ge- umfassenden Konzepte der Lebens- oder wartung und die genetische Disposition bildeter Strukturen und die reichlich der Gesundheitskompetenz insofern für eine Suchterkrankung beschränken, vorhandene empirische Evidenz deuten von Bedeutung, als die meisten der Teil- sondern muss auch die sozialen und darauf hin, dass die Grundlagen der kompetenzen Faktoren entsprechen, die physikalisch-materiellen Einflussfakto- meisten Lebens- oder Gesundheitskom- auch vor Sucht schützen. Einige davon ren (z. B. Gruppendruck oder die Be- petenzen in der frühen Kindheit gelegt wurden bespielhaft angeführt: die Selbst- schaffenheit von Suchtmitteln) in ihre werden (Hafen 2017). Qualitativ hoch- wirksamkeitserwartung, die Stressre- Überlegungen einbeziehen. Die Ätiologie stehende Massnahmen zur Förderung gulationskompetenz, die Fähigkeit zur der Sucht ist für eine evidenzbasierte von kleinen Kindern und ihren Familien Selbstregulation und die Risikokompe- Suchtprävention (Hoff et al. 2014) ent- im Rahmen von Kindertagesstätten, so- tenz. Welche Lebens- und Gesundheits- scheidend: Nur, wenn bekannt ist, wel- zialpädagogischer Familienbegleitung, kompetenzen für die Suchtprävention che Risikofaktoren zur Suchtbildung Sozialhilfe etc. erweisen sich in dieser neben den genannten Kompetenzen von beitragen und welche Schutzfaktoren vor Hinsicht als höchst wirkungsvoll und Bedeutung sind, ist letztlich eine empiri- der Suchtentstehung schützen, können insbesondere auch kosteneffizient. Das sche Frage. Sobald der wissenschaftliche die Zielgruppen und die zielführenden gilt ganz speziell, wenn sie sich an Kin- Nachweis gelingt, dass Kompetenzen Methoden bestimmt werden, um der der aus sozioökonomisch benachteilig- wie kreatives Denken, kritisches Denken, Suchtbildung effizient entgegenzuwir- ten Familien richten (Heckman & Mas- Selbsterkenntnis, Empathie etc. statis- ken. Stark generalisierende Konzepte zu terov 2007; Barnett 2011; Hafen 2014, tisch gesehen dazu beitragen, dass ein so schwierig bestimmbaren Phänomenen 2015). Es handelt sich dabei um genuin Mensch nicht süchtig wird, dann wird wie «Leben» oder «Gesundheit» erschei- settingorientierte Massnahmen, die sich diese Kompetenz zu einem präventions- nen vergleichsweise wenig nützlich und in der Regel nicht direkt an die Kinder relevanten Schutzfaktor. Erst wenn die- verleiten dazu, Massnahmen zu stark richten, sondern auf eine möglichst ser Nachweis erbracht ist, kann man sich individuumsorientiert auszurichten und entwicklungsfördernde Gestaltung der 10
SUCHTMAGAZIN ——— 04/2018 sozialen und der räumlichen Lebenswelt den Kindern und Jugendlichen ist insbe- Was es braucht, um solche Erfah- der Kinder ausgerichtet sind. Die Förde- sondere die dynamische Weiterentwick- rungsräume in der Schule nicht nur rung der Kinder erfolgt in diesem Sinn lung des Gehirns ein wichtiger Faktor, punktuell zu ermöglichen, ist – um es durch eine strukturelle (Kinderzulagen, der den Kompetenzaufbau beeinflusst. mit den Worten des Bildungsforschers Elternschaftsurlaub, familienfreundliche Die Gehirnentwicklung von Kindern und Ken Robinson (2015) zu formulieren – Arbeitszeitmodelle, Verkehrspolitik, So- Jugendlichen entspricht einem hoch- nicht eine Reformation des Schulwesens, zialraumgestaltung etc.) und professio- komplexen Prozess, der durch soziale, sondern eine eigentliche Revolution. nelle Unterstützung der Familien (medi- körperliche und psychische Faktoren be- Da eine solche Revolution wohl in ein- zinische Betreuung, sozialpädagogische einflusst wird und individuell sehr unter- zelnen (meist privaten) Schulen, nicht Familienbegleitung, Sozialhilfe etc.), schiedlich erfolgen kann (Blakemore aber im schweizerischen Schulsystem aber auch durch ein Angebot an qualita- 2012). im Gange oder wenigstens erwartbar ist, tiv hochstehender familienergänzender Als soziale Umwelt spielt die Schule liegt es an den einzelnen Schulhäusern, Kinderbetreuung, die den Familien und eine entscheidende Rolle. Der neue die Frei- und Erlebnisräume auszuwei- den Kindern zugutekommt (Hafen 2015). Lehrplan 21 zeigt, dass der Förderung ten, so weit wie dies in den gegebenen Dadurch verändert sich die relevante von Lebenskompetenzen wie Selbst- Rahmenbedingungen möglich ist. Diese Umwelt der Kinder, was zu verbesserten wahrnehmung, Gefühlsbewältigung, Möglichkeiten bestehen. Sie werden kognitiven, sozialen und emotionalen Empathie, Kritisches Denken, Kreatives in immer mehr Schulen auch genutzt Kompetenzen führt, die Schulkarriere Denken, Fähigkeit zur Stressbewältigung, und durch Programme wie «gsund und und den Berufseinstieg begünstigt und Kommunikationsfertigkeit, Fertigkeit, zwäg i de Schuel» (Departemente BKS & die Wahrscheinlichkeit von unterschied- Entscheidungen zu treffen, Problemlöse- DGS 2012) oder «Gesundheitsfördernde lichen sozialen und gesundheitlichen fertigkeit und Beziehungsfähigkeit in Zu- Schulen»2 auch tatkräftig unterstützt. Problemen und auch von Suchterkran- kunft mehr Gewicht zugemessen werden Diese Möglichkeiten umfassen eine kungen reduziert (vgl. dazu etwa Ander- soll als bis anhin (Departemente BKS & gesundheitsfördernde Umwelt sowie son et al. 2010). Dabei ist zu beachten, DGS 2012). Die Frage ist, ob die Förde- selbstbestimmtes Lernen, fächerüber- dass über diesen settingorientierten rung dieser Kompetenzen, die zu einem greifenden Unterricht, Projektarbeiten, Zugang nicht nur die Kompetenzen der grossen Teil auch Gesundheitskompe- Ausflüge, Schultheater und viele weitere Kinder gefördert werden, sondern auch tenzen darstellen, in den bestehenden Formen, die nicht nur den Ansprüchen darauf geachtet wird, dass stressaus- Schulstrukturen wirklich nachhaltig der Lerntheorie genügen, sondern auch lösende Risikofaktoren wie emotionale möglich ist. Der frühe Selektionsdruck, den Zielen einer Suchtprävention ge- Vernachlässigung oder Gewalt in der Fa- die auf Fehlervermeidung ausgerich- recht werden, welche die Förderung von milie so weit wie möglich reduziert wer- teten Prüfungen, die hohe Bedeutung Lebens- und Gesundheitskompetenzen den, denn wie viele Schutzfaktoren hat des Auswendiglernens im Hinblick auf anstrebt. auch eine hohe Stressbelastung in der diese Prüfungen, der isolierte Fächer- frühen Kindheit Auswirkungen auf das unterricht, die Trennung der Schüler Der Beitrag der Suchtprävention ganze Leben (Shonkoff & Garner 2012). und Schülerinnen in unterschiedliche Angesichts der Bedeutung der Frühen Insgesamt werden die Lebens- und Ge- Leistungsniveaus, das Fehlen von Ganz- Förderung für die körperliche und psy- sundheitskompetenzen von kleinen Kin- tagesschulen, die zu grossen Schul- chosoziale Gesundheit eines Menschen dern also nicht primär bei diesen direkt klassen – all dies sind Faktoren, welche stellt sich die Frage, welche Bedeutung gefördert, sondern dadurch, dass seine die Förderung der genannten Lebens- der «traditionellen» Suchtprävention relevante Umwelt möglichst stressfrei kompetenzen erschweren (Bauer 2007). noch zukommt. Beim Abschnitt zur und anregungsreich gestaltet ist und mit Lebens- und Gesundheitskompetenzen Schule hat sich gezeigt, dass das Ler- tragenden Beziehungen bereichert wird. lassen sich bekanntlich nicht unter- nen und die Entwicklung auch nach richten. Vielmehr basieren sie auf erfah- dem Ende der frühen Kindheit weiter- … und in der Schule rungsbedingten Lernprozessen und diese gehen und dass die Schule im Hinblick Selbstverständlich kann sich die Förde- sind nur möglich, wenn «sie in «eigener auf die Entwicklung von Lebens- und rung von Lebens- und Gesundheitskom- Regie», also selbstgewollt, selbstgesucht Gesundheitskompetenzen eine hoch petenzen nicht auf die frühe Kindheit oder sozusagen «selbstorganisiert» ge- relevante und bei weitem nicht immer beschränken. Die Fähigkeit zu lernen, macht wurden. «Wer also genau das nur günstige Umwelt darstellt. Die hört mit dem Erreichen des fünften fördern möchte, wem genau die Ent- Suchtprävention unterstützt schon Altersjahrs nicht einfach auf. Das gilt wicklung dieser heute viele Schulen mit Programmen zur auch für den Erwerb von Lebens- und am Herzen liegt, der erkennt sofort, Lebenskompetenzförderung dabei, er- Gesundheitskompetenzen. Kinder ste- dass es hierfür, neben liebevollen und wünschte Lernprozesse im Bereich der hen wie Erwachsene unablässig in Kon- respektvollen Vorbildern und Begleitern, Lebens- und Gesundheitskompetenzen takt mit ihrer Umwelt und gewinnen vor allem Räume braucht, in denen diese aktiv zu fördern und unerwünschte zu dieser Umwelt Information ab, die zu Erfahrungen gemacht werden können. verhindern, und es gibt keinen Grund erwünschten oder weniger erwünschten Erlebnisräume und Freiräume» (Hüther dafür, dass sie das in Zukunft nicht mehr Lernprozessen führt (Hafen 2013). Bei & Pilz 2012: 5). tun sollte. Bei einigen dieser Programme 11
LEBENSKOMPETENZEN konnte auch eine Wirkung auf den leute tun gut daran, ihre Massnahmen ter in den Vordergrund. Diese wiederum Suchtmittelkonsum belegt werden, vor aufeinander abzustimmen und sich im sind auch von Bedeutung, wenn es da- allem, wenn sie in Kombination mit an- Kontakt mit Auftrag- und Geldgebern zu rum geht, die Entstehungsbedingungen dern Programmen durchgeführt werden solidarisieren und so wenig wie möglich der Lebens- und Gesundheitskompeten- (Bühler & Thrul 2013: 8). Dazu kommt, zu konkurrieren. Je konsistenter und zen günstig zu beeinflussen. Mit ihrem dass sich das Verhältnis der Kinder und kohärenter die suchtpräventionsrelevan- Wissen und ihrer methodischen Kompe- Jugendlichen zu Suchtmitteln und ver- ten Impulse auf den Ebenen der frühen tenz kann die Suchtprävention Familien, haltensbezogenen Süchten zu verändern Kindheit, der Schule, des Gemeinwe- Schulen, Behörden, Gruppen und andere beginnt. Die allgemeine Gesundheits- sens etc. sind, die durch die Suchtprä- Systeme in der Lebenswelt von Kindern und Entwicklungsförderung wird dann ventionsfachleute und andere Akteure und Jugendlichen dabei unterstützen, immer mehr zu einer themenspezifi- erbracht werden, desto grösser ist die die für die Suchtprävention relevanten schen Suchtprävention, die zunehmend Wahrscheinlichkeit für Synergieeffekte Lebens- und Gesundheitskompetenzen auch Aspekte der Früherkennung und und damit auch für eine erhöhte Nach- zu fördern. der Frühintervention umfasst. Selbstre- haltigkeit und Wirkung der einzelnen Da sich Menschen als selbstorgani- gulation bezieht sich dann nicht mehr so Massnahmen. sierende Systeme nicht wie Maschinen sehr auf das verlockende Marshmallow Andererseits ist zu empfehlen, dass steuern lassen und zudem von vielen auf dem Teller wie in der berühmten die Suchtprävention ihre Identität wei- anderen Umweltfaktoren (Werbung, Untersuchung zur Selbstregulation von ter stärkt, trotz der vielfältigen Ziele, KollegInnen, Schulstress, Preise für kleinen Kindern (Moffit et al. 2011), son- die sie mit Aktivitäten zur Förderung Suchtmittel etc.) beeinflusst werden, dern auf den Umgang mit dem Smart- der Lebenskompetenzen, der Gesund- sind die Erfolge auf den unterschied- phone und den Konsum von Alkohol heitskompetenz oder der Gesundheit im lichen Ebenen nicht garantiert, aber sie oder Cannabis. Und die Schulung von Allgemeinen gemeinsam hat. Der Weg werden durch evidenzbasierte und gut Risikokompetenz kann sich dann ganz dazu kann nur über die Evidenzbasie- aufeinander abgestimmte Massnahmen spezifisch auf die Kompetenz im Um- rung führen. Die Suchtprävention hat wahrscheinlicher gemacht. Dabei ist im- gang mit psychoaktiven Substanzen be- gegenüber der Gesundheitsförderung mer auch möglich, dass die Massnahmen ziehen. Hierfür braucht es die Fach- und den grossen Vorteil, dass ihr Funktions- bei einzelnen Kindern und Jugendlichen Methodenkompetenz, welche die Sucht- bereich klar eingegrenzt ist. Ihr Ziel ist auch zu negativen Nebenwirkungen füh- prävention zu bieten hat. die Verhinderung von Sucht, und dieses ren können, etwa dann, wenn die Auf- Es ist klar, dass die diesbezüglichen Ziel kann nur erreicht werden, wenn klar klärung über die schädigende Wirkung Handlungsmöglichkeiten der Sucht- (was heisst: wissenschaftlich belegt) ist, von Substanzen das Bedürfnis auslöst, prävention nicht auf das Setting Schule welche Risikofaktoren die Wahrschein- diese Substanzen auszuprobieren. Evi- beschränkt sind. Die suchtpräventions- lichkeit der Suchtbildung erhöhen und denzbasierung in der Suchtprävention relevanten Risiko- und Schutzfaktoren welche Schutzfaktoren vor dem Einfluss ist entsprechend kein Königsweg, der können überall dort angegangen werden, dieser Risikofaktoren schützen. Das die Suchtprobleme einfach aus der Welt wo die Suchtprävention im Kontakt mit Konzept der Gesundheitskompetenz ist schafft. Sie ist jedoch eine professionelle den Jugendlichen steht (z. B. im Kontext in diesem Sinn für die Suchtprävention Notwendigkeit auf allen beschriebenen der offenen Jugendarbeit) oder dort, wo nur dann von Bedeutung, wenn bekannt Ebenen, auf denen Massnahmen gegen sie die Möglichkeit hat, indirekt auf die ist, welche Aspekte der Gesundheits- die Suchtbildung ergriffen werden kön- Entstehungsbedingungen der Kompe- kompetenz als Schutzfaktoren vor der nen. tenzentwicklung einzuwirken. Das kann Suchtentstehung schützen. Das Gleiche bei der Arbeit mit Familien der Fall sein, gilt für das Konzept der Lebenskompe- aber auch im Kontakt mit den Behörden, tenzen. Erst wenn diese Schutzfaktoren Literatur Abel, Thomas/Sommerhalder, Kathrin (2007): wenn es darum geht, in einer Gemeinde identifiziert sind, kann danach gefragt Gesundheitskompetenz: Eine konzeptuelle Rahmenbedingungen bereitzustellen, werden, in welchen Settings, bei welchen Einordnung. Bericht zuhanden des Bun- welche die Entwicklung der entspre- Zielgruppen und mit welchen Methoden desamtes für Gesundheit. Bern: Universität chenden Lebens- und Gesundheitskom- sie gefördert werden können. Bern, Institut für Sozial- und Präventivme- dizin. petenzen begünstigen. Wie mehrfach gezeigt, kann sich die Abel, Thomas/Bruhin, Eva (2003): Health Li- Suchtprävention nicht auf die Förderung teracy / Wissensbasierte Gesundheitskom- Abschliessende Bemerkungen von Schutzfaktoren beschränken. Sie petenz. S. 128-131 in: Bundeszentrale für Ob die Förderung von Lebens- und muss auch die Risikofaktoren beachten, gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbe- griffe der Gesundheitsförderung: Schwaben- Gesundheitskompetenzen, allgemeine welche die Wahrscheinlichkeit der Ent- stein a. d. Selz: Peter Sabo. Gesundheitsförderung oder die Verhin- stehung von Sucht erhöhen. Da diese Anderson, Kathryn H./Foster, James E./Fris- derung von Sucht angestrebt wird: Die Risikofaktoren bei weitem nicht nur bei vold, David E. (2010): Investing in health: The Ziele und Massnahmen sind in mancher den Individuen zu verorten sind, rücken long-term impact of Head Start on smoking. Economic Inquiry 48(3): 587-602. Hinsicht deckungsgleich und die Fach- settingorientierte Aktivitäten noch wei- 12
SUCHTMAGAZIN ——— 04/2018 Barnett, W. Steven (2011): Effectiveness of erfolgreiche Praxis. Bericht im Auftrag von Nutbeam, Dan (2000): Health Literacy as a pu- Early Educational Intervention. Science 333: Gesundheitsförderung Schweiz. Bern/Lau- blic goal. Health Promotion International 15 975-978. sanne: Gesundheitsförderung Schweiz (vor (3): 259-267. Bauer, Joachim (2007): Lob der Schule. Sieben Veröffentlichung). Polanyi, Michael (1967): The tacit dimension. Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hafen, Martin (2017): Die Entwicklung der Ge- New York: Anchor Books. Hamburg: Hoffmann & Campe. sundheitskompetenz in der frühen Kindheit. Robinson, Ken (2015): Creative Schools: The Blakemore, Sarah-Jayne (2012): Imaging brain Public Health Forum 25/1: 81-83. grassroots revolution that's transforming development: The adolescent brain. NeuroI- Heckman, James J./Masterov, Dimitriy V. education. In Zus. arbeit mit Lou Aronica. mage 61: 397–406. (2007): The Productivity Argument for Inves- New York: Viking. Bühler, Anneke/Thrul, Johannes (2013): Ex- ting in Young Children. Review of Agricultural Roth, Gerhard (2012): Persönlichkeit, Entschei- pertise zur Suchtprävention. Aktualisierte Economic 29 (3): 446-493. dung und Verhalten. Warum es so schwierig und erweiterte Neuauflage der ‹Expertise Hoff, Tanja/Klein, Michael/Arnaud, Nicolas/ ist, sich und andere zu verändern. 7. Auflage. zur Prävention des Substanzmissbrauchs›. Bühler, Annekke/Hafen, Martin/Kalke, Jens/ Stuttgart: Klett-Cotta. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Lagemann, Christoph/Moesgen, Diana/ Ruhe, Inke (2013): Mehr Sicherheit für die Aufklärung. Schulte-Derne, Frank/Wolstein, Jörg (2014): Kleinsten. Gefahrenbewusstsein und Chisolm, Deena J./Manganello, Jennifer A./ Memorandum Evidenzbasierung in der Risikokompetenz fördern in der Krippe. Kelleher, Kelly J./Marshal, Michael P. (2014): Suchtprävention – Möglichkeiten und Gren- klein&gross, Zeitschrift für Frühpädagogik Health literacy, alcohol expectancies, and zen. Köln: Deutsches Institut für Sucht- und 7/2013: 28-31. alcohol use behaviors in teens. Patient Präventionsforschung der Katholischen Shonkoff, Jack P./Garner, Andrew S. (2012): The Education and Counseling 97(2): 291–296. Hochschule NRW, Abt. Köln. lifelong effects of early childhood adversitiy Departemente BKS – Bildung, Kultur und Hüther, Gerald/Krens, Inge (2008): Das Geheim- and toxic stress. Pediatrics 129: e232–e246. Sport/ DGS – Gesundheit und Soziales des nis der ersten neun Monate. Unsere frühes- Soellner, Renate/Huber, Stefan/Lenartz, Nor- Kantons Aargau (Hrsg.) (2012): Schwer- ten Prägungen. Weinheim und Basel: Beltz. bert/Rudinger, Georg (2010): Facetten der punktprogramm ‹gsund und zwäg i de Hüther, Gerald/Pilz, Jürgen (2012): Nicht die Gesundheitskompetenz – eine Expertenbe- Schuel›. Aarau: BKS/DGS. Schule, sondern das Gehirn ist der Ort, wo fragung. Zeitschrift für Pädagogik 56 Beiheft Gigerenzer, Gerd (2013): Risiko: Wie man die gelernt wird. proJugend 4/12: 4-9. 56: 104-114. richtigen Entscheidungen trifft. München: Kahnemann, Daniel (2012): Schnelles Denken, WHO – World Health Organization (Hrsg.) Bertelsmann. langsames Denken. München: Siedler. (1998): Health Promotion Glossary. Geneva: Hafen, Martin (2013): Grundlagen der systemi- Kickbusch, Ilona (2006): Die Gesundheitsge- WHO. schen Prävention. Ein Theoriebuch für Lehre sellschaft. Gamburg: Verlag für Gesund- und Praxis. 2. vollst. überarb. Aufl., Heidel- heitsförderung. Endnoten berg: Carl Auer. Luhmann, Niklas (1994): Soziale Systeme. 1 Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen Hafen, Martin (2014): ‹Better Together› - Prä- Grundriss einer allgemeinen Theorie. 5. Aufl. aus der Schweizer Delegation des Forums vention durch Frühe Förderung. Präventions- Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Suchtprävention Deutschland, Österreich, theoretische Verortung der Förderung von Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Ent- Schweiz, Südtirol für die sorgfältige Durch- Kindern zwischen 0 und 4 Jahren. Überar- scheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeut- sicht der ersten Fassung dieses Textes und beitete und erweiterte Version des Schluss- scher Verlag. die konstruktiven Anregungen. berichtes zuhanden des Bundesamtes für Moffitt, Terrie E./Arseneault, Louise/Belsky, 2 www.radix.ch/Gesunde-Schule/ Gesundheit. Luzern: Hochschule Luzern Daniel/Caspi, Avshalom (2011): A gradient – Soziale Arbeit. of childhood self-control predicts health, Hafen, Martin (2015): Zur Bedeutung profes- wealth, and public safety. Proceedings of sioneller Arbeit im Kleinkindbereich – ein the National Academy of Sciences 108(7): Argumentarium mit Blick auf theoretische 2693–2698. Überlegungen, empirische Evidenz und 13
Sie können auch lesen