"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach

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"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
Juli 2021

»Gott liebt diese Welt«
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
INHALT

              Vorwort ....................................................................... 3

              Thema
              P. Anselm Grün OSB zum Thema .............................. 4
              Alles zerstört bis auf die Hoffnung ............................ 6
              Du jammerst gar nicht ................................................. 8
              Vom Albtraum in die Realität ................................. 10
              Das Leben erscheitern ............................................... 12

              Hintergrund und Projekt

         6
              Kleine Freiräume in China ...................................... 16
              Das chinesische Recollectio-Haus .......................... 17

              Interview
              Anja Bayer ................................................................... 18

              Berichte aus der Abtei
              Gastfreundschaft: Schulseelsorge ............................                        20
              Vier-Türme-Verlag ..................................................                 22
              Berichte aus dem Kloster und der Welt .................                              24
              Jubilare .........................................................................   27
              Unser Haus in Schuyler ............................................                  28
              Rückblick .....................................................................      30

         20   Geistlicher Impuls
              Abt Michael Reepen OSB .......................................... 31

              Portrait
              Br. Alois-Maria Weiß OSB ....................................... 32

         24
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
VORWORT | 3

                                                                    Liebe Leserin,
                                                                    lieber Leser,
                                                                    „Warum gerade ich?“ Bei dieser wahrlich nicht originellen
                                                                    Frage ertappte ich mich vor drei Monaten, als ich mit Co-
                                                                    rona in Quarantäne saß. Seit es Menschen gibt, fragen sie
                                                                    nach Krankheit und Leid und warum Gott es zulässt. Manche
                                                                    machen die Erfahrung, dass ihnen in dieser Situation Kräfte
                                                                    zuwachsen, von denen sie vorher keine Ahnung hatten, andere
                                                                    werden an ihre Grenzen geführt.

                                                                    Der Sinn des Leides erschließt sich meist jedoch nicht, wenn
                                                                    es uns befällt, allenfalls im Rückblick, wie Hiob, der am Ende
                                                                    eines langen und schmerzerfüllten Weges über Gott sagen
                                                                    konnte: „Vom Hörensagen nur hatte ich von Dir gehört, jetzt
                                                                    aber hat mein Auge Dich geschaut.“ (Hiob 42,5). So kann
                                                                    Leid zu einem Ort der Gottesbegegnung werden. Dass damit
                                                                    aber kein Automatismus, sondern ein innerer Weg oder Pro-
                                                                    zess gemeint ist, bringt Dietrich Bonhoeffer zum Ausdruck,
                                                                    wenn er sagt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem
                                                                    Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht
                                                                    er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich
                                                                    glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstands-
                                                                    kraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im
                                                                    Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf
                                                                    ihn verlassen ...“

                                                                    Wie Menschen mit Leid, Not, Krankheit umgehen, welche
                                                                    Kräfte ihnen dabei zuwachsen, das versucht dieser „Ruf in
                                                                    die Zeit“ an verschiedenen Beispielen aufzuzeigen. Dabei
                                                                    wird deutlich, dass uns der Glaube das Leid nicht erspart, im
                                                                    Gegen­teil. Leben, das Christus nachfolgen will, muss auch „er­
                                                                    scheitert werden“, wie es in einem Beitrag heißt. Warum? Wir
                                                                    wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Christus uns am Ende
                                                                    die Auferstehung und das ewige Leben verheißen hat.

                          Juli 2021

                                                                    Ihr

                                      Gott liebt diese Welt – mit   P. Noach Heckel OSB
                                      Licht und Dunkelheit, mit
                                      Glück und Leid. Es geht
                                      daher für Christen nicht
                                      darum, Wunsch­welten
                                      herbei­zuphantasieren,
»Gott liebt diese Welt«               sondern mit der Realität
                                      klar­zukommen.
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
Pater Anselm Grün OSB
      Zum Thema »Lebensfreude«

Leid als Geburtswehen für Neues
Die Corona-Krise hat vielen Menschen die Freude am             erfülltes Leben. Es ist unsere Aufgabe, intensiv zu leben.
Leben verleidet. Andere haben in der Krise ihre Freude an      Dann ist unser Leben auch von Freude geprägt. Und es ist
den kleinen Dingen des Lebens entdeckt. Woher kommt            unsere Entscheidung, wie wir auf das reagieren, was uns
es, dass die einen sich durch die Schwierigkeiten, die durch   täglich begegnet.

                                                               »
die Krise jeden getroffen haben, alle Freude nehmen lassen,

                                                                                                    «
andere dagegen ihre Freude gerade in der Not und im Leid
wiederfinden?                                                        Auch in dunklen Situationen
                                                                     nach dem Licht schauen.
Die Freude kommt nicht von außen, sondern von innen.
Es liegt an uns, wie wir auf die Dinge des Lebens reagie-
ren, mit Traurigkeit und Bitterkeit oder mit Lebensfreude
und Fröhlichkeit.                                              Es gibt genügend Gelegenheiten, sich zu freuen, wenn wir
                                                               uns dafür entscheiden. Ich kann mich freuen über den

»
                                                               Sonnenaufgang am Morgen, über den neuen Tag, den Gott

                           «
                                                               mir schenkt. Ich kann mich freuen über die Begegnung
       Es ist unsere Aufgabe,                                  mit Menschen, über die Arbeit, die gelingt, über das Ge-
      intensiv zu leben.                                       schenk, das mir eine Freundin gemacht hat.

                                                               Ich kann über all diese Dinge aber auch hinweggehen
Freude kann man nicht befehlen. Wir freuen uns nicht,          und in meinem Jammern über mein unerfülltes Leben
wenn ein anderer uns dazu auffordert. Und doch liegt es        stecken bleiben. Die Freude geht nicht über die leidvollen
an uns, ob wir uns für die Freude entscheiden. Freude ist      Situationen des Lebens hinweg. Sie stellt sich auch der
Ausdruck von erfülltem Leben. Und sie ist Reaktion auf         Trauer über den Tod lieber Menschen. Doch sie vertraut
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
PATER ANSELM GRÜN ZUM THEMA | 5

darauf, dass es auch in allem Leid Momente gibt, an denen      überstandenem Leid eine tiefe innere Freude in uns spü-
wir uns freuen können. Und sie schaut auch in dunklen          ren. Wir haben dann das Gefühl, wie neugeboren zu sein.
Situationen nach dem Licht, das irgendwo aufleuchtet. Sie

                                                               »
schaut in der Trauer nach Menschen, die mich trösten und

                                                                                                             «
mich wieder mit der Freude in Berührung bringen.
                                                                      Jesus in der Tiefe
Freude ist eine gehobene Emotion – so sagt die Psycho-                unseres Herzens finden
logie. Sie bringt uns in Bewegung. Sie tut uns gut. Doch
die Freude ist mehr als eine Emotion. Das Johannesevan-
gelium geht davon aus, dass in jedem von uns eine Quel-        Diese Freude ist immer in uns auf dem Grund unserer
le der Freude fließt, auch wenn wir sie emotional nicht        Seele. Nur wir sind oft genug abgeschnitten davon. Wenn
wahrnehmen. Oft sind wir abgeschnitten von dieser Quelle       wir durch alle Sorgen und Ängste, durch Ärger und Eifer-
der Freude. Sorgen und Ängste, Traurigkeit und Bitter-         sucht und Schuldgefühle hindurchgehen auf den Grund
keit haben sich daraufgelegt. So dringt sie nicht in unser     unserer Seele, so entdecken wir dort als innersten Grund
Bewusstsein vor. Doch durch ein liebes Wort, das jemand        Jesus selbst. Und wenn wir Jesus in der Tiefe unseres Her-
zu uns spricht, durch eine schöne Musik, die uns erhebt,       zens finden, dann finden wir in uns eine Freude, die uns
kommen wir in Berührung mit dieser Quelle der Freude.          niemand mehr nehmen kann.

Jesus spricht im Johannesevangelium von der Freude, die        Unsere Aufgabe ist es, mit dieser inneren Freude immer
uns niemand nehmen kann. Damit meint er nicht, dass            wieder in Berührung zu kommen, indem wir uns für die
wir nicht auch Leid und Trauer erfahren. Die Freude ist        vielen kleinen Freuden des Alltags öffnen, für die Freude
mehr als eine oberflächliche Stimmung. Sie ist eine Grund-     am Leben, am Arbeiten, an der Begegnung, am Gespräch,
haltung, die letztlich von Gott her kommt. Er vergleicht       am Essen und Trinken. Die vollkommene Freude, von der
die Situation seiner Jünger mit der einer Frau, die gebiert.   Jesus spricht, braucht die vielen kleinen und manchmal
„Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil           unscheinbaren Freuden des Alltags, um in die Erfahrung
ihre Stunde da ist: aber wenn sie das Kind geboren hat,        zu treten. Wenn die Freude uns erfüllt, dann weitet sich
denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass         das Herz. Dann sind wir offen nicht nur für Gott, sondern
ein Mensch zur Welt gekommen ist. So seid auch ihr jetzt       für die Menschen um uns herum.
bekümmert, aber ich werde euch wieder sehen; dann wird
euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure
Freude.“ (Joh 16,21f)
                                                                 Pater Anselm Grün OSB
Jedes Leid können wir im Licht dieser Worte als Geburts-
                                                                 •   Geboren 1945 in Junkershausen
wehen für das Neue verstehen, das in uns geboren werden          •   Profess 1965, Priesterweihe 1971
will. Durch das Leid will ein neuer Mensch in uns geboren        •   Geistlicher Begleiter und Bestsellerautor christlicher Spiritualität
werden. So geht es uns manchmal, dass wir gerade nach            •   Lebt, betet und arbeitet in der Abtei Münsterschwarzach
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
6 | THEMA

Alles zerstört –
bis auf die Hoffnung
Benediktinische Mission in Mosambik / Von Abt Christian Temu OSB

E   s gibt eine afrikanische Weisheit,
    die besagt: Der Teufel wandert
nicht weit weg von den Engeln! In Mo-
                                           sen geworden ist. Die Mission begann
                                           recht gut. Eine Gemeinschaft von fünf
                                           Mitbrüdern begann ein gut struktu-
sambik haben wir das erlebt, als wir       riertes monastisches Leben von ora et
von der Abtei Ndanda in Tansania aus       labora. P. Valentine Kaniki arbeitete in
eine Missionsstation in dem Nachbar-       Mocimboa de Praia als Pfarrer, wäh-
land eröffnet hatten. Nur wenige Mo-       rend die anderen Brüder sich auf die
nate später wurde sie überfallen und       Entwicklung der Farm mit dem Mis-
zerstört. Wie soll man dann weiterma-      sionsoberen, P. Deusdedith Massao,
chen? Das ist die Eine-Million-Dollar-     konzentrierten. Von Oktober 2019 bis
Frage, wie die Amerikaner sagen.           Mai 2020 rodete er mit seinen Mitbrü-
                                           dern (Bruder Elia, Bruder Baltasar und
Es hatte alles so gut begonnen. Aus        Bruder Theobald) einen großen Teil
meiner Zeit als Missionsprokurator in      des Busches. Mais, Ananas, Bananen,
Ndanda von 2015 bis 2020 erinnere ich      Kohl, Bohnen und andere Feldfrüchte
mich an einen Brief an Wohltäter, den      ge­diehen. Rund um das neue Kloster
ich mit diesen Worten schrieb: „Die        begannen Blumen, Bäume und Sträu-
Abtei hat den Mut, die neue Mission in     cher zu wachsen. Morgens und abends
Mosambik zu eröffnen, nicht nur, weil      ertönte Musik aus der kleinen Kapelle,
wir viele engagierte Mitbrüder haben,      in der die Mönche ihre Gebete auf Por-
sondern auch, weil wir wissen, dass        tugiesisch sangen.
viele Missionsfreunde uns unterstüt-
zen.“ Und so kam es, dass im Okto-         Im Januar 2020 begann man mit dem          Bild der Zerstörung: Terroristen haben die Mis-
                                                                                      sionsstation in Mosambik überfallen und ausge-
ber 2019 das neue Missionskloster in       Bau des Gesundheitszentrums für die
                                                                                      raubt. Wie geht es weiter?
N‘nango eingeweiht werden konnte.          Dorfbewohner von N‘nango – unter-
Herzlichen Dank an die vielen Missi-       stützt wiederum durch die Missions-
onsfreunde, die Ndanda über die Mis-       freunde, die über Münsterschwarzach        Mitbrüder fliehen und nach Ndanda
sionsprokura von Münsterschwarzach         halfen. Sowohl in Ndanda als auch in       zurückkehren. Die Kämpfer hatten be-
unterstützen! So bekam Ndanda ihren        der Gemeinschaft in N‘nango erfüllte       reits die nahe gelegene Dörfer terrori-
ersten Sohn (oder war es eine Tochter?),   das Gefühl der Freude, der Hoffnung        siert und dabei einige Zivilisten getötet.
und die erste Benediktiner-Mission in      und des Erfolgs für die neue Einrich-      Bis heute ist diese Gruppe für mehr als
Mosambik wurde gegründet.                  tung die Herzen vieler.                    dreitausend Tote in Cabo Delgado ver-

»
                                                                                      antwortlich. Mehr als dreihunderttau-
                                           Doch bald sollte die neue Mission          send Menschen wurden aufgrund ih-

                          «
      Der Teufel wandert                   auf die Probe gestellt werden: Im Mai      rer brutalen Angriffe ins Landesinnere
      nicht weit weg                       2020 „besuchte“ eine Gruppe bewaff-        vertrieben.
      von den Engeln!                      neter Kämpfer, die im nördlichen Teil
                                           Mosambiks umherzieht, die Missions-        Und jetzt?
                                           gemeinschaft in N‘nango. Gebäude           Was tun angesichts der Bedrohung?
                                           wurden niedergebrannt, Gegenstände         Die Gemeinschaft in Ndanda hat ein
Über ein Jahr nach der Eröffnung der       gestohlen, auf das Hauptgebäude ein        ungeteiltes Herz, wenn es um die Missi-
Mission schauen wir auf dieses „Kind“      Brandanschlag verübt. Um ihre Si-          on in Mosambik geht. Gleich am ersten
zurück, um zu sehen, wie es erwach-        cherheit zu gewährleisten, mussten die     Tag, als die Missionare nach Tansania
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
THEMA | 7

zurückkehrten, versprachen sie, zu-
rückzugehen, sobald sich die Sicher-
heitslage verbessert.

»     Nicht neu
      in der Geschichte
                            «
Tatsächlich kehrten drei von ihnen in
die südliche Stadt Nampula zurück,
wo sie nun vier Monate lang ihre Por-
tugiesischkenntnisse vertiefen und in
der Pastoralarbeit eingesetzt werden.
Nachdem sie die Sprache gemeistert
haben, werden zwei von ihnen (Br.
Bernardo und Br. Baltasar) einen Kurs
für Krankenhausmanagement an der
Universität in Nampula belegen. Wäh-
renddessen warten die anderen Missio-
nare, die noch in Ndanda sind, auf den
besten Zeitpunkt, um nach Mosambik          Einweihung des Missionsklosters N‘nango im Oktober 2019.
zurückzukehren.

Glücklicherweise verbessert sich die        wäre die benediktinische Mission in
allgemeine Sicherheitslage allmählich,      Tansania nicht möglich gewesen. Der-
und es besteht die große Hoffnung,          selbe mutige Geist unserer Vorväter ist
dass in den kommenden Monaten eine          die treibende Kraft hinter der festen
dauerhafte Rückkehr zur Mission in          Absicht unserer Brüder, nach Mosam-
N‘nango möglich sein wird.                  bik zurückzugehen.

Was mit unserer Mission passiert ist,       Wir haben keinen Zweifel, dass die
ist bedauerlich. Aber es ist nichts Neues   Mission in Mosambik wieder aufleben
in der Geschichte der benediktinischen      wird – dank der Unverwüstlichkeit un-
Missionen. Als die ersten Missionare        serer jungen Missionare, und natürlich
                                                                                                           Abt Christian Temu OSB
aus St. Ottilien und Münsterschwarz-        dank unserer Wohltäter, die uns durch
ach Ende des 19. Jahrhunderts ins alte      ihr Gebet und ihre finanzielle Unter-                      · Geboren am 11. 12. 1970
Deutsch-Ostafrika gingen, wurden            stützung stark machen.                                     · Profess am 3. 7. 1999
einige getötet, Missionsstationen in                                                                   · Priesterweihe 17. 6.2004
                                                                                                       · Ab 2020 Missionsprokurator
Brand gesteckt und in einigen Fällen
                                                                                                         der Kongregation
mussten sie nach Europa zurückkeh-                                                                     · Seit Juli 2021 Abt von Ndanda
ren. Wären sie in Europa geblieben,
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
8 | THEMA

„Du jammerst gar nicht“
Norbert Waldorf über ein Leben
mit Einschränkungen – und Fügungen

„W      ie würden Sie Ihren Gesund-
        heitszustand beschreiben?“,
werde ich regelmäßig von der Uni­
klinik befragt. Wie beschreibt man
einen Gesundheitszustand, wenn man
von Medikamenten und regelmäßigen
medizinischen Maßnahmen abhängig
ist?

Und zwar lebenslänglich. Das hört
sich wie ein Urteil an und kommt mir
manchmal auch so vor: Morbus Crohn
seit dem 15. Lebensjahr, durch die an-
dauernde Entzündung lagern sich Ei-
weiße (so genannte Amyloide) in den
Nieren an, wodurch deren Leistungs­
fähigkeit langsam nachlässt. Nach ei-
ner missglückten Leistenbruch-Opera-
tion vor drei Jahren komplettes Nieren­
versagen. Seitdem dialysepflichtig. Die
Bauchfelldialyse muss ich viermal am
Tag durchführen; zu Hause habe ich
dafür einen extra Raum, wo ich in
diesen 20 bis 25 Minuten nicht gestört
werden darf – wegen der Infektions-
gefahr.

Mal spontan für ein paar Tage weg-
fahren – eine Tagesfahrt – ein Halb­
tagesausflug – das geht alles nicht mehr.
Nachmittagsunterricht – das geht auch
nicht mehr.

» «   Mein bisheriges Leben
      ist so nicht mehr
      möglich.

Ich bin Realschullehrer und zog bis
dahin einen großen Teil meiner Mo-
tivation aus den Aktivitäten am Nach-       Norbert Waldorf sieht trotz Krankheit und Einschränkungen lieber das Gute im Leben.
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
THEMA | 9

mittag: Theater, Musik, Robotik. Jetzt      mal wieder der Kreislauf spinnt oder      „Aber viermal am Tag zu Hause sein
muss ich mittags nach Hause, um zu          der Darm sein eigenwilliges Eigenleben    zu müssen – das ist doch eine wahn-
„dialysieren“ (eigentlich dialysiert mein   führt.                                    sinnige Einschränkung!“, kriege ich
Bauchfell, ich selber muss dazu vier                                                  immer wieder zu hören, oft mit diesem
Mal am Tag zwei Liter Dialyseflüssig-       Andererseits schaue ich viel lieber da-   mitleidigen Ton in der Stimme. „Mag
keit ablassen und wieder neue in den        rauf, was alles in meinem Leben gut       sein, aber ohne diese Maßnahme wäre
Raum zwischen den Organen einfüllen;        ist: 37 Jahre glückliche Ehe mit einer    ich tot“, ist meine vielleicht etwas radi-
das Bauchfell gibt die Giftstoffe in die    Frau, die mich mit ihrer ganzen Kraft     kale Antwort.
Flüssigkeit ab).                            und Liebe unterstützt, vier Kinder, die
                                            alle ihren Beruf gefunden haben und       Die vier Dialysephasen am Tag nutze
Also alles in allem eine ziemliche Be-      darin und in ihren Hobbys aufgehen.       ich, um Nachrichten zu schauen – ich
lastung. Mein bisheriges Leben ist so       Jetzt sind auch noch zwei Enkelkinder     war schon immer ein „Newsjunkie“
nicht mehr möglich aufgrund der vie-        dazugekommen, deren Entwicklung zu        – oder zum Telefonieren. Oder ich
len Einschränkungen.                        beobachten riesige Freude macht.          nehme spontan die Melodie auf, die mir

                                            »
                                                                                      gerade einfällt, da mein „Dialyse­
Und doch. Und doch treffe ich immer                                                   zimmer“ gleichzeitig mein Home­studio
wieder Menschen, die mir sagen: „Also             Die Kraft, die da war,              ist. Es ist Zeit für mich, keiner darf

                                                                  «
ich an deiner Stelle, ich wäre schon sehr         um durchzuhalten,                   mich stören.
niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie             erkennt man
du das machst, dass du trotz allem so             erst hinterher.                     Die Frage ist für mich immer, worauf
gut drauf bist.“ – „Anscheinend jam-                                                  ich meinen Fokus lenke: Betrachte ich
mere ich zu wenig“, antworte ich. „Du                                                 all das Schlimme, das mir wider­fahren
jammerst gar nicht.“                                                                  ist und vielleicht auch noch wider­

»
                                            Was noch Kraft gibt: Das Umsetzen         fahren wird? Oder schaue ich auf die

                           «
                                            musikalischer Ideen im Ministudio, die    schönen Dinge im Leben und freue
      Jeder Tag ist eine neue               Proben und Auftritte mit der Kirchen-     mich daran?

                                                                                      »
      Herausforderung                       band, auch wenn ich hier etwas kürzer

                                                                                                               «
                                            treten muss und jetzt coronabedingt
                                            gar nichts mehr läuft.                          Den Rest
                                                                                            gibt Gott dazu.
Stimmt eigentlich. Wozu auch? Mein          Der Glaube? Der schwingt immer im
Leben hat sich in einigen Bereichen         Hintergrund mit. Viele schwere Zeiten
stark verändert. Das ist so. Die Frage      lassen sich erst im Nachhinein deu-
für mich ist, wie es weitergehen kann.      ten. Die Kraft, die da war, um durch­     Ich habe es also zum Teil selber in der
Was soll da das Jammern bringen?            zuhalten, erkennt man manchmal erst       Hand oder in meinem Blick, ob das
Damit mache ich anderen das Leben           hinterher.                                Glas eher halbvoll oder halbleer ist.
schwer und mich selber zieht es auch                                                  Zum Teil? Ja klar, den Rest gibt Gott
runter.                                     Das ist dann auch die Zeit, dankbar zu    dann dazu. Das muss ich nicht selber
                                            sein für all die Fügungen und Brücken     machen.
Okay, jeder Tag ist eine neue Heraus-       und Türen, die in den unterschiedlichs-
forderung – manchmal geht es besser,        ten Krisen weitergeholfen haben. Letzt-   Und das ist erst recht kein Grund zu
mal schlechter und es dauert Stunden,       lich habe ich mich mit meinem Leben,      jammern.
bis ich „in die Gänge komme“, weil          soweit es geht, arrangiert.
"Gott liebt diese Welt" - Juli 2021 - Abtei Münsterschwarzach
10 | THEMA

Vom Albtraum in die Realität
Wie gehen wir mit dem Unerklärlichen um? / Von Br. Ansgar Stüfe OSB

A    b und zu werde ich von einem be-
     stimmten Albtraum geplagt. Er
beginnt damit, dass ich plötzlich eine
Dienstreise antreten soll. Das Ticket ist
bestellt, aber ich habe kein Visum für
dieses Land. Ich soll es am Flugplatz be-
kommen. Am Flugplatz angekommen,
sieht er anders aus als sonst. Ich muss
jeden Meter zu Fuß gehen und mein
Gepäck schleppen. Es gibt niemanden,
bei dem ich das Gepäck aufgeben kann.
Ich suche verzweifelt nach Menschen,
die mir beim Einchecken helfen. Das
Visum ist gar nicht mehr beschaffbar.
Zuletzt versuche ich allein zum Flugzeug
zu gelangen, was aber veboten ist.

Dann wache ich auf und bin erleichtert.
Ich liege im Bett und muss nirgendwo
hinreisen. Das entspannt mich unge-
mein.

»     Von Tatsachen

                          «
      umgeben sein,
      für die wir keine
      Erklärung haben

Wenn ich in diesen Tagen die Zeitung
aufschlage, fühle ich mich in meinen
Albtraum versetzt. Plötzlich ohne Vor-
warnung ist ein Virus aufgetaucht.
Zwar kommen mit ihm auch warnende
Informationen. Aber sie werden nicht
ernst genommen. Die Ansteckung lasse
                                                                  Zwischen Albtraum und Realität: Corona in der Abtei Münsterschwarzach.
sich vermeiden, wie müssen nur Atem-
                                                                                         Wichtig ist die Orientierung an der Wirklichkeit.
masken tragen und uns impfen lassen.
In ein paar Monaten werde die Krank-
heit vorbei sein.                           geben, wie sie infiziert wurden. Wie in      sich und eine Impfung findet anfangs
                                            meinem Traum muss ohne Rat gehan-            kaum statt. Ich möchte als Arzt imp-
Aber die Krankheit verläuft anders als      delt werden. Ein „Lockdown“ soll Hilfe       fen, aber auch das ist wie im Traum
vorgesehen. Von allen angesteckten          schaffen. Doch trotz „Lockdown“ stei-        verboten. Ich komme an den Impfstoff
Kranken können 80 Prozent nicht an-         gen die Zahlen wieder, das Virus ändert      nicht heran.
THEMA | 11

Jetzt wäre es an der Zeit, aufzuwachen     Zwei Frauen haben 2020 den Nobel-         Trotzdem hat mir dieser Mangel zu ei-
und erleichtert zu erkennen, dass unser    preis für Chemie bekommen. Sie haben      ner neuen Aktion verholfen. Ich habe
Leben nicht nur durch das Virus be-        in Bakterien ein Enzym entdeckt, das      die Zeit der wenigen Einladungen ge-
stimmt ist. Wir haben doch auch andere     die Nukleinsäure an einer bestimm-        nutzt und mehrere Wochen hinterei-
Perspektiven, die unser Leben schöner      ten Stelle schneiden kann. Damit kann     nander Intervallfasten eingehalten.
machen und die Lebens­freude zurück-       man aus Viren bestimmte Gene heraus-      Meine Lebensqualität hat dadurch
kehren lassen! Ist das aber wieder eine    schneiden. Mit Hilfe dieser Technik       deutlich zugenommen. Ohne den Aus-
neue Illusion? Können wir unser Leben      war es dann gelungen, in sehr kurzer      fall von Einladungen hätte ich die Fa-
mit einer Traumwelt vergleichen?           Zeit eine neue Art von Impfstoffen zu     stenperiode nie über mehrere Wochen
                                           produzieren. Der Impfstoff ist hervor-    hin durchgehalten.
Natürlich ist es umgekehrt. Träume         ragend und kann zum ersten Mal in
spiegeln unser Leben verfremdet wie-       der Medizin eine stärkere Abwehr des      Diese drei Beispiele sollen Mut machen,
der. Wenn wir unserer Träume ana-          Körpers produzieren als die eigentliche   Lebensqualität in schwierigen Zeiten
lysieren, gewinnen wir Erkenntnisse,       Infektion.                                zu entdecken. Jeder kann selbst sehen,
mit deren Hilfe wir mit unserem Le-                                                  welche Chancen ihm durch besonde-
ben besser zurechtkommen können.           Ohne die Corona Pandemie hätte es         re Zeit geboten werden, die er oder sie
Der geschilderte Traum zeigt, dass wir     diese neue Entwicklung nicht gegeben.     schnell nutzen können, bevor die „Nor-
tatsächlich in unserem Leben von Um-       Dies könnte der Beginn der Produkti-      malität“ wieder einkehrt.
ständen und Tatsachen umgeben sind,        on ganz neuer und besser verträglicher
für die wir keine Erklärung haben. Oft     Medikamente sein.
fehlen uns auch die Wegweiser und
Ratgeber. In dieser ratlosen Situation     So hat mir die Pandemie neue Ein-
habe ich ein paar neue Erfahrungen         sichten in die Wissenschaft und damit
gemacht.                                   auch neue Orientierung und Zuver-

»
                                           sicht verschafft. Außerdem bekam ich

                             «
                                           mehr ruhige Zeit geschenkt, als ich je
      Neue Einsichten                      in meinem Leben hatte. Dies machte
      in die Wissenschaft                  mir Mut, mich neben der Wissenschaft
                                           auch wieder ganz intensiv mit Literatur
                                           zu beschäftigen. Tatsächlich begann ich
                                           mit der Lektüre des Mammut-Romans
Ich sammelte erst einmal Informa-          von Marcel Proust: „Auf der Suche
tionen, denen ich traute und die ich       nach der verlorenen Zeit“. Ohne Coro-
                                                                                                Br. Ansgar Stüfe OSB
verstand. Dann zog ich meine eigenen       na hätte ich mich nie an ein solches
Schlüsse. Falls sich Informationen än-     Werk gewagt.
                                                                                       ·   Geboren 1952 in Bad Mergentheim
derten, passte ich meine Urteile an. So
                                                                                       ·   1971 Studium der Medizin
habe ich angefangen, mir Bücher zur        In der „Lockdown“-Zeit habe ich die         ·   1980 Promotion zum Dr. med.
Virologie und zu neuen Techniken           Vermeidung von Kontakten ernst ge-          ·   Klostereintritt 1979 in die
der Impfung zu besorgen. Die Lektü-        nommen. Als Arzt muss ich auch mei-             Abtei Münsterschwarzach
re dieser Bücher hat mich nicht nur        ne Mitbrüder schützen. Darunter leide       ·   1987 Aussendung nach Peramiho
                                                                                       ·   Bis 2003 Leitung des Krankenhauses
abgelenkt, sondern ungemein faszi-         ich am meisten. Ich vermisse den Kon-           in Peramiho
niert. Ich war geradezu begeistert, was    takt mit Menschen, die mir lieb sind        ·   2003–2018 Missionsprokurator St. Ottilien
sich den letzten paar Jahren in der Wis-   und mit denen ich mich gut unterhal-        ·   Seit 2019 Leiter des Vier-Türme-Ver-
senschaft getan hat.                       ten kann.                                       lages der Abtei Münsterschwarzach
12 | THEMA

Das Leben erscheitern
Haben wir in der Pandemie nur auf Leben gesetzt
und das gute Sterben vergessen? Von Wilfried Hagemann

L  eben erscheitern heißt, sich ent-
   schieden auf den Weg machen, um
angesichts von Sterben und Tod vieler
das Leben immer neu zu empfangen.
Darum lohnt sich ein Rückblick alle-
mal, um das Leben neu zu lernen.

Der Einsatz vieler Pflegekräfte und
Ärzte, aber auch von Angehörigen
und von Seelsorgern in der Pandemie
ist wie ein Leuchtturm in stürmischer
Zeit. Alle haben darum gerungen und
ausdrücklich daran gearbeitet, Schwer-
kranken das Leben und Überleben zu
ermöglichen, auch mittels gewaltiger
Einschränkungen bis hin zu Besuchs-
verboten und Ausgehverboten. Auf
diese Weise konnte vielen Menschen
geholfen werden.

»     Die Suche nach

      meldet sich.
                    «
      echter Spiritualität                      Herbert Falken:
                                                      ohne Titel.
                                                  Der Maler und
                                               Priester aus der
                                                Diözese Aachen
Und doch: Jeder einzelne Tote schmerzt,     hat in einem Zyklus
                                                    Christus als
tut weh, hat lange Nachwirkungen in
                                               Angeklagten vor
den Familien und bei den betroffenen        Gericht dargestellt.
Pflegekräften und Ärzten. Die Suche
nach echter Spiritualität meldet sich.

Ich denke an den 57-jährigen D. Er rief
mich ein halbes Jahr vor seinem Tod an
und fragte mich, ob ich ihn auf seinen    eine telefonische Begleitung möglich.        die kommt, einer Kirche, die aufbricht.
Tod vorbereiten könnte, er sei unheil-    Ich machte mich mit ihm auf den Weg.         Er gab das neue Leben, das Jesus mit
bar erkrankt an Krebs.                    Jeden Tag lasen wir ein Stück in der         seinem Wort in ihm freisetzte, weiter
                                          Bibel. Wir hörten hin, wir beteten, wir      an seine ganze Familie, an seine Frau
Ich kannte ihn gut, da ich ihn vor        vertieften uns in die Realität des Reiches   und die erwachsenen Söhne. Jemand
über 25 Jahren getraut hatte. Ich fand    Gottes. Mehr brauchte es nicht: Gott         geht auf den Tod zu.
es wichtig, mich auf die Bitte einzu-     unter uns, sein Wort, seine Liebe. Ich
lassen. Da wir an verschiedenen Orten     lebte es gemeinsam mit D. Ich wurde          Die Kräfte lassen nach. Es sieht aus wie
lebten, war wegen der Pandemie nur        mit ihm eins in Richtung einer Kirche,       ein Scheitern, wie ein Zugehen auf das
Thema | 13

                                                                                   zu, in ein Hospiz verlegt zu werden.
                                                                                   Die Eucharistiefeier mit seiner Fami-
                                                                                   lie und einigen Verwandten war wegen
                                                                                   der Pandemie erst sechs Monate später
                                                                                   möglich.

                                                                                   »     Eine neue Perspektive
                                                                                                                   «
                                                                                   Diese Eucharistiefeier als Danksagung
                                                                                   für ein tiefes gutes Leben, als Übergabe
                                                                                   dieses Menschen an Gott zeigte mir: D.
                                                                                   hat in seinem Sterben Leben erschei-
                                                                                   tert, es wurde ihm geschenkt und er
                                                                                   hat sich darauf eingelassen, im Schei-
                                                                                   tern Leben zu finden.

                                                                                   Leben erscheitern: Ist dies eine neue
                                                                                   Perspektive? Noch einmal steht mir
                                                                                   eine Person vor Augen, die ich 1993/94
                                                                                   bei der Vorbereitung auf den Tod be-
                                                                                   gleiten durfte. Es ist Bischof Klaus
                                                                                   Hemmerle von Aachen.

                                                                                   Im Mai 1993 bekam er eine Krebs­­
                                                                                   diagnose, wurde operiert und ist ent­
                                                                                   gegen aller Voraussagen schon nach
                                                                                   acht Monaten im Januar 1994 gestor-
                                                                                   ben. Als er nach Reha und Rekonvales-
                                                           Falken setzt sich in
                                                           seinen Werken mit
                                                                                   zenz nach Aachen zurückkam und den
                                                           der menschlichen        Dienst als Bischof wieder aufnahm, war
                                                           Kreatur, mit Krank-     ihm seine Situation ganz klar. Ganz
                                                           heit, der Welt und      direkt bat er mich in einem Tele­fonat:
                                                           Gott auseinander.       Kannst Du mir helfen, mich auf den Tod
                                                           „Kunst muss weh tun’,
                                                           sagt er. Nicht, um      vorzu­bereiten? Mit Zittern habe ich Ja
                                                           jemanden zu quälen,     gesagt.
                                                           sondern weil sie mit
                                                           dem Leben zu tun hat.   Nach Dienstschluss – ich arbeitete da-
                                                                                   mals als theologischer Referent beim
                                                                                   Zentralkomitee der deutschen Ka-
                                                                                   tholiken in Bonn – fuhr ich zwei- bis

                                          » «
                                                                                   dreimal die Woche nach Aachen. Sich
Nichts. Er aber entdeckt das Leben. Und                                            auf den Tod vorbereiten geht am besten
erlebte, dass er etwas geben konnte.           Lebenschaffendes                    durch klares mitbrüderliches Leben
                                               Verlieren…                          nach dem Evangelium. Dabei spielte
Gemeinsam fanden sie einen neuen                                                   sich wie von selbst ein zentraler Ge-
Zugang zu Gott im Wort, das immer                                                  danke von Hemmerle ein: Echtes Leben
sprechender wurde angesichts des si-                                               hängt doch daran, alles auf Gott hin
cheren Sterbens. Ich konnte sehen, wie    In den letzten Tagen seines Lebens       loszulassen, auch das eigene Denken
sich ein positives, lebenschaffendes      konnte er nicht mehr in der Familie      vom Fassen zum Lassen, zum Zulassen
Verlieren ereignete.                      gepflegt werden und stimmte tapfer       hin zu öffnen.
14 | THEMA

Wer sich ganz fallen lässt, diesen Ge-
danken hat er immer wieder ent­wickelt,
eine solche Person kann im Fallen dem
Heiligen, Gott selbst begegnen. Hem-
merle hatte schon vorher ein neues
Wort geprägt: „erscheitern“. Hemmerle
hat durch eigene Glaubenserfahrung
dieses Wort freigesetzt. Er-scheitern:
Etwas im Loslassen erfahren und emp­­­
fangen.

»     Das eigene Denken

                    «
      vom Fassen zum Lassen,
      zum Zulassen
      hin öffnen.

Gott dem Herrn im Scheitern des Todes
begegnen und so das Leben empfan-
gen. „Leben erscheitern“, Scheitern im
Leben und darin doch das Leben be-
stehen, Leben finden. Nicht alles richtig
machen zu können, Fehler zu haben –
auch als Bischof. Und auch Fehler an-
derer zu sehen und zu ertragen, zum
Beispiel miterleben zu müssen, dass
Priester ihr Amt aufgeben, einen an-
deren Weg gehen, vielleicht sogar einer
anderen Kirche beitreten, um auf diese
                                                 Christus tanzt vor
Weise als Priester heiraten zu können.                 dem Richter.
Solches schmerzte den Bischof Hem-                  Das Urteil wird
merle. Er erlebte dies zum Teil als per-      lauten: Kreuziget ihn!
sönliches Versagen, als eigenes Schei-
tern.

Was er dann trotzdem in solcher Si-
tuation tun konnte, das tat er. Er lud
diese Priester mit ihren Frauen einmal
im Jahr zu sich ins Bischofshaus ein.
Er sprach mit ihnen. Er hielt Gemein-
schaft. Er holte sie in eine neue Bezie-
hung des Lebens. Er lebte mit ihnen.
Die Eröffnung einer Kunstausstellung        ben. Das Scheitern ist nicht das letzte   und darin zur Erlösung. Diesen Weg
für Pfarrer Herbert Falken hat Hem-         Wort im Leben des Menschen. Die Be-       bezeugt der Künstler, auf ihn verweist
merle die Gelegenheit gegeben auszu-        gegnung mit einigen Bildern der Aus-      er in seinem alles fordernden Einsatz
drücken, was es für ihn bedeutet, Le-       stellung beim Aachener Katholiken­tag     im Schaffensprozess hin zum Gelingen
ben zu erscheitern. Er schaute in den       1986 „Herbert Falken, Christusbild        des künstlerischen Ausdrucks – beides
ausgestellten Bildern auf Menschen,         – Menschenbild“ lässt Hemmerle an         musste „erscheitert“ werden.
die gescheitert sind, die abgeschnitten     Ostern denken, an das Pascha, an den
sind vom Leben, dem Tod geweiht. Er         Weg Jesu durch das Kreuz in seinem        Ich zitiere gern Hemmerles kostbare
verstand: Ja, es gibt erscheitertes Le-     ganzen Ernst zur Auferstehung hin         Worte:
Thema | 15

                                                                                           und bezeugt es, der sich auch in seinem
                                                                                           Gestalten bis in dieses Innerste, bis in
                                                                                           die Dornenkrone seines Gehirns hinein-
                                                                                           gibt, der sich unter den Balken stellt,
                                                                                           der sich in den Block spannen lässt, der
                                                                                           sich aufsprengen und zermalmen lässt,
                                                                                           so dass seine eigene Form zerfließt. Der
                                                                                           Erstarrte und Zerflossene ist jener, der
                                                                                           uns Auferstehung erscheitert hat.“

                                                                                           Ich fasse zusammen: Es gibt ein Leben,
                                                                                           das den Tod in den Blick nimmt und
                                                                                           das Sterben offen macht für neues Le-
                                                                                           ben. Dieses Leben beginnt jeden Tag. In
                                                                                           dieser Perspektive ging Hemmerle auf
                                                                                           seinen Tod am 23. Januar 1994 zu, ge-
                                                                                           löst und bereit. Dies hat auch mich, den
                                                                                           Schreiber dieser Zeilen, tief bewegt. In
                                                                                           dieser Perspektive lebe ich auch heute,
                                                                                           im Jahr 2021.

                                                                   Der Angeklagte tanzt
                                                                   zur Auferstehung, zu
                                                                   Ostern hin … Wer sich
                                                                   aufs ganze Leben
                                                                   einlässt, wird
                                                                   unweigerlich mit Leid
                                                                   und Tod konfrontiert.
                                                                   Und mit dem ewigen
                                                                   Leben. Das ist die
                                                                   Botschaft.                        Dr. Wilfried Hagemann
                                                                   Die Bilder sind im
                                                                   Besitz der Abtei
                                                                   Münster­schwarzach.      · geb. 1938 in Duderstadt
                                                                                            · Priesterweihe während des Konzils
                                                                                              1963 in Rom
                                                                                            · Spiritual und Regens in Münster
                                                                                            · 1974 bis 1986 Katholische Akademie
                                                                                              Stapelfeld, Gründungsrektor und
„Ich habe neu Pascha halten, Kreuz und       alles eingesetzt und weggegeben, wenn            Gemeindeseelsorger daselbst
Auferstehung neu entziffern gelernt. Ich     nicht alles preisgegeben ist, wenn nicht       · Rektor im Zentralkomitee der Katholiken
muss Ostern nicht verschweigen, weil es      der letzte Tropfen Blut ausläuft, wenn         · Leiter des Zentrums für Spiritualität im
gerade nicht das glückliche Ende eines       nicht die letzte Reserve meiner Verbin-          Ökumenischen Lebenszentrum
                                                                                              Ottmaring 2009 bis 2018
verharmlosten Todes ist, sondern Os-         dung mit dem Vater weggegeben, ihm             · seit 2018 Pfarrer em. in Bocholt St. Georg
tern ist hier erscheiterte Erlösung: Erlö-   zur Disposition gestellt ist, dann bin ich     · Bücher: Freundschaft mit Christus,
sung – aber erscheitert. Gelingen muss       nicht ganz in der Liebe, die mich erlöst         Biografie über Klaus Hemmerle
immer erscheitert werden; Erlösung           und die bis zum Letzten geht. Und ge-
muss erscheitert werden. Wenn nicht          rade dieses Äußerste lässt jener erahnen
16 | Hintergrund

Kleine Freiräume in China
Wie die Benediktiner versuchen, ihren Glauben „normal“ zu leben
                                                                                                           betreuen seit über 20 Jahren
                                                                                                           eine Pfarrei in einem rasch
                                                                                                           wachsenden Städtchen mit
                                                                                                           mehreren dörflichen Au-
                                                                                                           ßenposten. In einem die-
                                                                                                           ser Dörfer betreiben sie ein
                                                                                                           Altersheim. Viele der Be-
                                                                                                           wohner sind die betagten
                                                                                                           Eltern von Schwestern und
                                                                                                           Priestern, die ohne diese Be-
                                                                                                           treuung der Eltern kaum die
                                                                                                           Freiheit hätten, um den seel-
                                                                                                           sorglichen Dienst zu verse-
                                                                                                           hen. Die Ein-Kind-Politik
                                                                                                           hat ja auch dazu geführt,
                                                                                                           dass für jedes Elternpaar
                                                                                                           nur noch ein Kind da ist,
                                                                                                           auf dem dann die Last der
Das kleine Recollectio-Haus im Nordosten Chinas mit Besuchern, die hier eine Auszeit nehmen.              Betreuung und Versorgung
                                                                                                          liegt. Am gleichen Ort ist vor

A     us China, und auch aus der dortigen katholischen Kir- einigen Jahren auch ein kleines katholisches Therapie-Zen-
      che, gibt es in letzter Zeit wenig gute Nachrichten. Die trum entstanden. Das ist ein Versuch, die guten Erfahrungen
Gesetze und Regeln für Religionsgemeinschaften sind ver- des Recollectio-Hauses von Münsterschwarzach auf die chi-
schärft worden, und immer wieder gibt es Berichte über nesischen Verhältnisse zu übertragen. In der fränkischen
Übergriffe auf religiöse Amtsträger, Kultbauten und Grup- Abtei können ja Priester und Ordensleute seit 30 Jahren in
pen von Gläubigen.                                                           längeren Aufenthalten therapeutische Hilfe erfahren.

Wie schon früher, gibt es aber auch in dieser neuen Welle            Und Menschen, die dieser Hilfe bedürfen, gibt es auch in Chi-
antireligiöser Politik große regionale Unterschiede. Die is-         na reichlich. Persönliche Krisen, Burnout, Abhängigkeiten –
lamischen Uighuren in Westchina sind einer regelrechten              zum Beispiel auch vom Internet, Spielsucht und manches
Verfolgung ausgesetzt, während anderswo mit unterschied-             andere kommt in den Klöstern und Pfarrhäusern genauso
licher Intensität der Herrschaftsanspruch der Partei durch-          vor, wie auch sonst. Im Allgemeinen ist das Bewusstsein für
gesetzt wird. Aus dem alten Missionsgebiet der Benediktiner          die Möglichkeit therapeutischer Hilfe aber noch sehr unter-
im Nordosten des Landes gibt es keine solch dramatischen             entwickelt. Hier profitiert die katholische Kirche von einem
Berichte. Es wird zwar weniger berichtet als früher. Aber            weltweiten Erfahrungsschatz. Es ist ein Vorteil, wenn man
es ist doch erkennbar, dass in den Pfarreien und auch in             zu einer weltumspannenden Gemeinschaft gehört!
den Priesterseminarien ein ziemlich normales Leben wei-
tergeht. Einschränkungen werden verordnet und auch                   Erster Leiter des Hauses war Pfarrer Xu, ein Diözesan­
durchgeführt. Aber es gibt auch eine typisch chinesische             priester mit medizinischer Ausbildung, der für diese Auf-
Alltagswiderborstig­keit, die sich die Chinesen wahrschein-          gabe freigestellt wurde. Über Jahre hat er die Kursarbeit im
lich schon zur Kaiserzeit angewöhnt haben, und die ihnen             Haus der Benediktiner aufgebaut und für Chinas Katholiken
auch in der Volksrepublik nicht ganz ausgetrieben wurde.             neue therapeutische Wege beschritten. Dadurch ist ein Ort
                                                                     entstanden, der den Teilnehmern Lebensfreude zurück­geben
Dabei geht es nicht um großen Protest, sondern eher da-              kann. Oder, wie eine teilnehmende Ordensschwester vor ei-
rum, sich kleine Freiräume im Alltag zu bewahren. So geht            niger Zeit sagte: Ich habe mich in meinem ganzen Leben
auch die kleine Gruppe der chinesischen Benediktiner im              noch nicht so frei gefühlt!
Nordosten weiterhin ihren Aufgaben nach. Die Mitbrüder                                                Abt Jeremias Schröder OSB
Projekt

Münsterschwarzacher Hilfsprojekt:

Das chinesische Recollectio-Haus
In einem kleinen Dorf im Nordosten Chinas betreiben die
chinesischen Missionsbenediktiner seit einigen Jahren ein
Mini-Recollectiohaus. Ähnlich wie das große Vorbild in
Münsterschwarzach können Priester und Ordensleute dort
eine Auszeit mit therapeutischer Begleitung mitmachen. Im
naturnahen ländlichen Umfeld, weit weg von den wuselnden
Städten und auch vom Druck in den Gemeinden, können die
Recollectio-Gäste Berufskrisen, Abhängigkeiten, Depressi-
onen therapieren.

Die Benediktiner bieten dabei ein Umfeld, in dem kein diszi-
plinarischer Druck ausgeübt wird. Das ist wichtig, denn so-
wohl von Regierungsseite wie auch von Seite der kirchlichen
Obrigkeit werden Probleme der Geistlichen gerne auf das
Thema von Gehorsam und Disziplin reduziert. Fragen der
persönlichen Reifung, der Bewältigung von Lebens­k risen,
von echter seelischer Heilung und Versöhnung mit der eige-
nen Geschichte werden dagegen kaum angegangen.

Eine Therapie-Gruppe unter der Anleitung des erfahrenen
Benediktiners P. Norbert und mit externer Beratung macht
es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern möglich, diese
Tiefenschichten ihres Lebens zu bearbeiten.

Vor allem in den ländlichen Regionen Chinas leben die Prie-
ster und Ordensleute von der Kollekte in den armen bäuer-
lichen Gemeinden. Das reicht so gerade zum Unterhalt, aber
eine mehrmonatige therapeutische Auszeit kann aus diesen       Im chinesischen Recollectio-Haus können sich Priester und Ordens­leute bei
Einnahmen nicht finanziert werden. Durch Spenden wird es       Seminaren oder Bibelstunden eine Auszeit gönnen – ganz ohne Leistungs-
den Benediktinern ermöglicht, diese Hilfe anzubieten.          druck.

So hilft Ihre Spende:                                              Stichwort: »Auszeit-Haus«
Ob 10 Euro, ob 100 Euro oder mehr –                                Bank: Liga Bank Regensburg
                                                                   IBAN: DE51 7509 0300 0003 0150 33
jeder Beitrag ermöglicht dem Auszeit-Haus im                       BIC: GENODEF1M05
Nordosten Chinas die Unterstützung und Beglei-
                                                               Gerne schicken wir Ihnen ein Dankschreiben und eine
tung von Ordensfrauen und -männern oder Welt-
                                                               Zuwendungsbestätigung, wenn Sie Ihre Adresse auf
priestern in Lebenskrisen oder bei einer Neuaus-               der Überweisung mit angeben.
richtung.
                                                               Dauerspenden geben Planungssicherheit
                                                               Helfen Sie nachhaltig durch einen Dauerauftrag oder fordern Sie bei
                                                               uns ein Formular für einen Lastschrifteinzug an: Tel. 0 93 24 / 20 275
18 | THEMA
     Dank

                                                                                          Anja Bayer strahlt ihre Lebensfreude
                                                                                          geradezu in die Kamera! Die schwere
                                                                                          Krankheit konnte ihr die Freude am
                                                                                          Leben nicht nehmen und hat ihr
                                                                                          inneren Frieden geschenkt.
                                                                                          In ihrer Praxis für Logotherapie hilft
                                                                                          sie anderen Betroffenen mit dieser
                                                                                          ernsten Situation umzugehen. Kurse
                                                                                          gibt sie hierzu auch im Exerzitienhaus
                                                                                          Himmelspforten. Thema: „Krebs spricht
                                                                                          Liebe”.

Anja Bayer
gibt Antwort

Ein Tumor als Bote
Im Alter von 43 Jahren ist Anja Bayer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Im Interview erzählt die Münchner
Logotherapeutin, Heilpraktikerin und Resilienztrainerin, wie sie trotz ihrer schweren Krankheit Sinn und Freude
empfindet und was ihr auf ihrem Weg geholfen hat.

Die erschütternde Diagnose Krebs hat Sie aus hei- Vokabular weniger gut. Ich habe mich bewusst für eine Spra-
terem Himmel getroffen. Wie haben Sie im ersten che der Liebe und des Friedens entschieden. Wichtig war für
Moment reagiert?                                  mich auch das Herzensgebet, das mich durch die schwie-
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als zum ersten Mal       rigsten Phasen getragen hat.
das Wort „Tumor“ fiel. Das war 2015, ich hatte mich nie mit
Krebs beschäftigt und nur eine sehr vage Vorstellung davon.     Kann man trotz Krankheit Lebensfreude und Sinn
Ich glaube, es war ein Moment der Gnade, dass ich im ersten     empfinden?
Augenblick nicht Angst und Abwehr empfand, sondern dass         Unbedingt! Meine schönste, längste und intensivste Urlaubs­
mein Gefühl eher weich und annehmend war. Ich hatte die         erfahrung habe ich nach meiner Diagnose gemacht. Und
klare Empfindung, dass dieser Tumor kein Feind ist, sondern     zwei der wichtigsten Entscheidungen der letzten Jahre habe
ein Bote, ein Gesandter der Seele, der zu mir gehört und eine   ich nur dank meiner Erkrankung getroffen. Die eine war von
Botschaft für mich hat.                                         der Stadt aufs Land zu ziehen. Ich wohne jetzt mit einem
                                                                wunderbaren Blick auf Wiesen, Felder und den Glocken-
Viele Menschen reagieren da sicherlich ganz anders…             turm von St. Ottilien. Die zweite Entscheidung war, eine
Phasen von Angst und Verzweiflung sind völlig normal bei        Stelle im öffentlichen Dienst aufzugeben. Ich habe meine
der Diagnose Krebs. Die hatte ich später auch immer wieder.     eingeschränkte Arbeitskraft akzeptiert und widme mich
Ich weiß, dass manche Menschen einen eher kämpferischen         nach zehn Jahren Doppelberuflichkeit endlich ganz meiner
Zugang haben. Man wird ja von außen oft aufgefordert zum        Tätigkeit als Therapeutin. Jetzt erlebe ich Tag für Tag, wie
„Kampf gegen den Krebs“. Anderen tut so ein kriegerisches       gut mir das tut.
Interview
                                                                                                          Interview
                                                                                                              Dank | 19

Worin liegt der Sinn eines Schicksalsschlags?                           Welche Hilfsmittel geben Sie an die Hand,
Gehören Leid-Erfahrungen vielleicht zu einem                            wenn jemand gar kein Licht mehr sieht?
gelingenden Leben dazu?                                                 Ich versuche, den Menschen beizubringen, akzeptierend
Ich würde erstmal sagen: Sie gehören zum Leben. „Es gibt                und freundlich mit belastenden Gefühlen umzugehen und
kein Leben ohne Leid“, sagt der Begründer der Logotherapie              negative Gedanken als das zu erkennen, was sie sind, näm-
Viktor Frankl. Diese Einsicht kann sehr entlastend sein. Lei-           lich nur Gedanken. Auf der Handlungsebene unterstütze
den ist eine urmenschliche Erfahrung. Es macht uns mitfüh-              ich sie dabei, zu erkennen, was sie selbst aktiv verändern
lender, und wir sind darin mit allen anderen, die gerade ein            können. Dann geht es darum, genau das in kleinen Schritten
Leid tragen, verbunden. Welchen Sinn es für uns persönlich              umzusetzen und immer wieder neu das zu tun, was erfüllt
hat, zeigt sich meist erst mit etwas Abstand. Schicksalsschlä-          und Energie gibt. Wichtig ist auch, in Kontakt mit anderen
ge sind ja oft Weichenstellungen im Leben. Welche wichtigen             zu bleiben, sich nicht zu isolieren, sondern Gespräch und
Erfahrungen hätte ich nie gemacht, wenn mir dieses Leid                 Nähe zu suchen. Und: In Bewegung kommen. Körperliche
nicht widerfahren wäre? Oft staunen Menschen, wie viel an               Bewegung in der Natur hilft der Seele, das Licht zu spüren.
Gutem da zusammenkommt. Sich diese Schätze bewusst zu                   Die Sonne ist ja nie weg, sondern wir können sie nur manch-
machen, hat viel mit gelingendem Leben zu tun.                          mal hinter den Wolken nicht sehen.

Frankl war davon überzeugt, dass das Leben „unter                       Unter dem Titel „Krebs spricht Liebe“ bieten Sie auch
allen Bedingungen und Umständen bedingungslos                           Kurse für Betroffene an. Worum geht es da?
sinnvoll“ ist. Starke Worte, die dem Menschen viel                      Die Kurse wollen einen sanften Umgang mit der Krankheit
abverlangen …                                                           fördern und die Selbstliebe stärken, die ein großer Heilfaktor
Viktor Frankl hat als Jude im Nationalsozialismus seine gan-            für Körper und Seele ist. Meine Erfahrung ist, dass Men-
ze Familie verloren. Er selbst hat drei Konzentrationslager             schen, die ein ähnliches Schicksal teilen, einander zum Segen
überlebt. Dass er damit ohne Hass und Verzweiflung um-                  werden können. Auch die Spiritualität ist ein Resilienzfaktor
gegangen ist, hat eine ungeheure Vorbildwirkung. Sein im-               von besonderer Tragweite. Deshalb gibt es in meinen Kursen
menses Lebenswerk kann aber auch einschüchtern. Hilfreich               neben Körperübungen, geführten Imaginationen, Entspan-
ist da für mich Frankls wunderbar auf den Kopf gestellter               nung und Austausch immer eine Einführung in die Medi-
Leistungsgedanke: Er hat immer betont, dass Menschen, die               tation und gemeinsames Sitzen in der Stille.
leiden, die höchste Lebensleistung vollbringen – und dass sie
im Innersten vollständig heil bleiben. Das war die Grund­               Kann „Sinn“ auch körperlich heilen?
überzeugung seiner „ärztlichen Seelsorge“.                              Das Leben gerettet haben mir die hervorragenden Operati-
                                                                        onen der Schulmedizin. Aber Sinnerleben unterstützt sicher
Als Logotherapeutin bieten auch Sie eine Art                            den Heilungsprozess, weil es mit Freude und Entspannung
therapeutischer Seelsorge an.                                           einhergeht und damit weniger Platz für Angst, Stress und
Was ist die Quintessenz der Logotherapie?                               Anspannung lässt. Jedes seelische Erleben wirkt sich auf den
Mit Schwierigkeiten verantwortungsvoll umgehen, Sinn im                 Körper aus und umgekehrt. Wenn wir Sinn verwirklichen
eigenen Leben entdecken, seine Entscheidungen danach aus-               und dadurch Glück empfinden, setzt der Körper Endorphine
richten, Schicksal annehmen und gestalten, Freude finden                frei, die nachweislich unser Immunsystem stärken und die
und weitergeben.                                                        Selbstheilungskräfte anregen.
                                                                                                          Das Interview führte Anja Legge

                    Ausblick zum Durchatmen und Innehalten
                    – der Blick auf den Glockenturm von St. Ottilien…
20 | THEMA

                                                                                      Br. Melchior Schnaidt OSB
                                                                                      ist Schulseelsorger am EGM

Gastfreundschaft
„Schulseelsorge am EGM“

Zwischen Pausenhof
und Mittagessen
Aus fünf schlichten Worten besteht der Slogan der Schulseelsorge am Egbert-Gymnasium der Abtei Münster-
schwarzach (EGM): „Wir sind für euch da!“ Was so einfach daherkommt, ist in Wirklichkeit ganz viel wert. Denn:
„Lernstoff ist das eine. Menschliche Begegnung und Beziehung das andere. Und das ist mindestens genauso wich-
tig“, ist Bruder Melchior Schnaidt OSB überzeugt.

Insgesamt sieben Mitarbeiter gehören zum Team der            Oft ergäben sich Gespräche auf dem Schulhof oder beim
Schulseelsorge am EGM: Neben Bruder Melchior, der            Mittagessen, das der Benediktiner bewusst im Speisesaal
im September 2020 die Nachfolge von Pater Jesaja Lan-        bei den Schülern einnimmt.
genbacher angetreten hat, sind das Michael Aust, Peter
Olschina, Katja Pohl, Martin Pohl, Antje Scheller und        Die Sorgen sind dabei sehr vielfältig: Leid, Krankheit
Judith Schmitt. Der Zeitpunkt des Wechsels war durch die     und Unglück in der Familie gehören ebenso dazu wie das
Corona-Einschränkungen schwierig, dennoch hat der Be-        Gefühl von Überforderung oder Zukunftsängste. „Junge
nediktiner, der seit 2010 als Lehrer und Erzieher am EGM     Leute können heute unglaublich viel entscheiden, die
tätig ist, schon einige Kontakte geknüpft.                   Auswahl an Möglichkeiten ist riesig, und das macht es
                                                             nicht leichter“, so Bruder Melchior.
Die Angebote der Schulseelsorge können alle Schülerinnen
und Schüler, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer sowie      Auch die Belastungen durch Corona spielen eine Rolle –
Eltern wahrnehmen. Das Team hat zwar in der Schule ein       wie für manche Neue, die durch den fehlenden Präsenz-
eigenes Büro, „doch wenn wir da sitzen bleiben würden,       unterricht nur schwer Anschluss finden. Viele Ältere sehen
könnten wir lange warten“, schmunzelt Bruder Melchior.       die Schulseelsorger auch als „eine Art Mentor, der außer-
„Das eigentliche Gespräch beginnt woanders“, berichtet er.   halb steht und doch weiß, worum es geht.“
Gastfreundschaft
                                                                                      Interview | 21

Sehr unterschiedlich sieht auch die konkrete Unterstützung     fest etwa entstand eine Steinschlange aus über 700 Mut-
aus: „Mal geht es darum, den Horizont zu weiten und neue       mach-Steinen, die Schule und Abtei verbindet. Und ganz
Perspektiven zu eröffnen“, so Bruder Melchior. In anderen      wunderbar leichtfüßig sind schließlich auch die Banner
Fällen brauche es vielleicht Begleitung in einer schwierigen   mit Segenssprüchen und Bibelzitaten, die an den Bauzäu-
Lebensphase oder Unterstützung bei der Lösung eines            nen rund um die Schule angebracht sind. „Auf diese Weise
Konflikts. Vor allem aber sollen die Ratsuchenden das          fügt sich der Glaube ganz selbstverständlich in den Alltag
Gefühl mitnehmen, dass sie nicht allein sind: „Du kannst       ein“, so Bruder Melchior: „Gott wird gewissermaßen zur
jederzeit wiederkommen. Dieses Signal senden wir bei           Grund-Melodie, die durchs Leben trägt.“
jedem Gespräch aus“, so Bruder Melchior.                       							Anja Legge

»     Junge Leute können heute
      unglaublich viel entscheiden,
      und das macht es nicht leichter.
                                             «
Als Schulsozialarbeiter will sich der Benediktiner aber
nicht sehen. „Mir ist wichtig, immer wieder Gott ins Spiel
zu bringen“, betont er. Einer seiner Vorgänger habe das
Schul-Kürzel EGM als „Engel gehen mit“ gedeutet, er selbst
mache daraus gerne die Worte „Einer geht mit“.

Neben der persönlichen Kontaktaufnahme nutzt das Team
auch digitale Wege. Auf der Schulplattform „mebis“ gibt es
mit der „Haltestelle“ einen eigenen virtuellen Raum; neu
ist dort die Gebetspinnwand, auf der Mönche, Lehrer und
Schüler ihre Lieblingsgebete anheften können.

Darüber hinaus fällt auch die Gestaltung des geistlichen
Lebens am EGM in den Aufgabenbereich der Schul-
seelsorge. Alljährlich gibt es Ankommenstage für die 5.
Jahrgangsstufe, Besinnungstage für die 9. Klassen, Firm-
vorbereitung und Schulfirmung sowie einen Auszeittag für
Eltern. Vor dem Abitur bieten die Seelsorger Einzelseg-
nungen an, die gerne angenommen werden. „Offenbar gibt
es da ein Bedürfnis, dass mir jemand etwas Gutes zu-
spricht und mich stärkt“, mutmaßt Bruder Melchior, „und
natürlich schwingt auch die Hoffnung mit, dass es was
hilft“, fügt er verschmitzt hinzu.

Darüber hinaus organisiert die                                                                     (oben) Eine Steinschlange ver-
Schulseelsorge zu „normalen“ Zeiten                                                                bindet die Abtei und die Schule.
Frühschichten in der Advents- und
                                                                                                   (unten) Mutmach-Steine – zur
Fastenzeit, bietet einen Pausen-Bibel-
                                                                                                   Corona-Zeit an vielen Schulen
kreis an und lädt zum Gebet in der                                                                 zu sehen – ein Aufruf zum
Schulkapelle ein. Weil die gemein-                                                                 Durchhalten und ein Zeichen
samen Gottesdienste von Kloster und                                                                der Zusammengehörigkeit .
Schulfamilie heuer nicht stattfinden
konnten, wurde gestreamt oder in
kleinen Gruppen gefeiert. Bei den
Klassen-Gottesdiensten zum Felizitas-
Die Bücher des Verlags
                                                                                               auch in anderen Sprachen

Vier-Türme-Verlag
Über das Glück

Eine Entscheidung
für das Leben, das du lebst
        Es gibt ein erfülltes Leben                            Auch die Mönche von Münsterschwarzach haben sich im-
                                                               mer wieder Gedanken gemacht, was das Leben gut werden
        trotz vieler unerfüllter Wünsche.
                                                               lässt. Im Allgemeinen wird
                                  (Dietrich Bonhoeffer)
                                                               gerne das Wort Glück als
                                                               höchstes erstrebenswertes
                                                               Gut angesehen. Br. Ansgar
Lebensfreude ist ein weiter Begriff. Im Wesentlichen bedeu-    Stüfe hat in seinem neu-
tet er die subjektive Freude am eigenen Dasein. Oft wird       en Buch die Titelfigur des
er auch mit den Begriffen Glück, Zufriedenheit, Vitalität      kleinen Mönches darüber
und Optimismus gleichgesetzt. Schon der heilige Benedikt       nachdenken lassen. Die
machte sich seine Gedanken zu diesem Thema.                    gleichnamige     Buchreihe

Bereits im Prolog seiner Regel macht er Vorschläge für ein
geglücktes und erfülltes Leben: „Wer ist der Mensch, der das
                                                                                  Ansgar Stüfe
Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht? Wenn du das
                                                                             Der kleine Mönch
hörst und antwortest, Ich, dann sagt Gott zu dir: ,Willst du
                                                                          und das große Glück
wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor                128 Seiten, gebunden,
Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse                            19,5 x 12 cm
und tue das Gute; suche Frieden und jage ihm nach!‘“                         mit Illustrationen
(RB Prolog).                                                                    von Elli Bruder
                                                                       ISBN 978-3-7365-0350-2
Vier-Türme-Verlag | 23

beschäftigt sich auf humorvolle Art und Weise mit den           den kann. Und in die-
Kernthemen der benediktinischen Spiritualität. In dem           sem Vertrauen werden
Band „Der kleine Mönch und das große Glück“ hat der             wir Freude und Sinn in
Protagonist einen schlechten Tag. Er ist traurig und schlecht   unserem Leben finden.
gelaunt, und nichts kann die Stimmung erhellen. Aber ein
Mitbruder weiß Rat: Er vergleicht das Glück mit einem Ap-       Eine     Aufforderung,
fel und zeigt dem kleinen Mönch, dass nicht das leckere saf-    das Leben zu genie-
tige Fruchtfleisch das wichtige an dem Obst ist, sondern die    ßen, verfasst Pater An-
kleinen, von außen unsichtbaren Kerne im Inneren. Ohne          selm in seinem kleinen
diese gäbe es keine neuen Apfelbäume. Diese wunderbare          Münsterschwarzacher
Geschichte dient als Grundlage für die Überlegungen von         Geschenkheft „Lebens-
Br. Ansgar Stüfe, wie Lebensfreude sich im klösterlichen        freude“. Hier schreibt
Leben widerspiegelt. Mit spannenden biografischen Erzäh-        er ganz konkret: „Freue
lungen zeigen er und der kleine Mönch, was Glück ist und        dich an dem, was Dir
wie man es finden kann.                                         täglich begegnet. Freu-
                                                                de ist eine Entschei-
Pater Anselm Grün                                               dung für das Leben,       Anselm Grün
sieht den Schlüssel                                             das Du lebst. Du willst   Jeder Tag ein Segen
für ein erfülltes Leben                                         und brauchst kein an-     52 Seiten, gebunden, 12,0 x 17,5 cm
in der Zufriedenheit.                                           deres.“                   ISBN 978-3-7365-0230-7
Doch wann kann ich
mit meinem Leben                                                Um wieder auf den heiligen Benedikt zurückzukommen, so
zufrieden sein? Was                                             machte er sich sehr große Gedanken um die Lebensquali-
brauche ich wirklich                                            tät und damit auch um die Lebensfreude seiner Mitbrüder.
zum Glück? Und was                                              So schrieb er auch in seiner „Regula Benedicti“ deutlich:
hält mich so oft davon                                          „Müßig­gang ist der Seele Feind“ (RB 48,1). Ein gutes Heil-
ab, mit dem, was ist,                                           mittel gegen Überdruss und Lebensunlust ist die harmo-
einverstanden zu sein?                                          nische Abwechslung zwischen Gebet und Arbeit, Freizeit
Anselm Grün denkt in                                            (Lesung) und Nachtruhe sowie die „stabilitas“, also Treue
dem Buch „Vom Glück                                             zum klösterlichen Leben, die Kraft schenkt, auch Schwereres
der kleinen Dinge“                                              durchzuhalten und durchzustehen.
über die verschiedenen
Aspekte von Zufrie-                                             Denn Lebensfreude ist nicht nur Glück und Unbeschwert-
denheit nach und dass                                           heit, sondern eine grundsätzliche (positive) Einstellung zum
es manchmal schon                                               eigenen Leben, das Gott uns geschenkt hat.
                            Anselm Grün
reicht, die Situationen     Vom Glück der kleinen Dinge
aus einer anderen Per-      126 Seiten, gebunden mit
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mit sich und seinem         ISBN 978-3-7365-0133-1                                                     Lebensfreude
Leben eins zu werden.                                                                                  32 Seiten, geheftet,
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Haltung der Dankbar-                                              10,3 x 14,9 cm
keit. Wer dankbar ist für den heutigen Tag, der kann das                                               ISBN 978-3-7365-0285-7
Glück auch in den kleinen Dingen finden, egal wie schwie-
rig die Zeiten auch sind.

Freude am Leben, Glück und Zufriedenheit werden ge-
meinhin als „Segen“ bezeichnet. Dass verschiedene – auch
scheinbar nicht so schöne – Situationen zum Heil werden
können, zeigt Anselm Grün im Buch „Jeder Tag ein Segen“.
In diesem Titel widmet er seinen Leserinnen und Lesern in
jedem Text Segensworte für verschiedene Anlässe. So ist er
überzeugt, dass man mit Gottvertrauen auch an Konflikten
wachsen, die Einsamkeit besiegen und Gerechtigkeit fin-
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